Luv von abgemeldet (one day) ================================================================================ Kapitel 1: Raphael ------------------ Eine schwer zu beschreibende Ruhe hatte den Jungen ergriffen. Sie hatte etwas von völliger innerer Stille, von Gewissheit und dem Abgrund verzehrender Trauer. Er musste an Tag denken und an Nacht und daran, wie sie hier, in diesem Wald, bedeutungslos waren. Hier, wo alles verschwamm, wo alles Eins und doch alles Nichts war, hier fühlte er sich für den Moment am Wohlsten. Zwischen all dem 'Abfall', den Luv, die ihre Freiheit und den eigenen Willen verloren hatten und nurnoch auf Befehl hin lebten oder starben fühlte er sich selbst heraufgesetzt. Besser als Sie. Menschlich. Luv. Nicht lebend, nicht fühlend, keine Liebe kennend. keinen Frieden...nur nackte Existenz. "Sie gehören nicht ins Leben", dachte Shinya, "sie sind keine Lebewesen, sie haben keine Gefühle. Sie dürften nicht hier sein, hätten nie erschaffen werden dürfen. Pervertiertes Leben..." Wie wurden die Luv geschaffen? Wann und warum erblickten die ersten lebenden Toten das fahle Licht des Mondes? Geschichten darum gab es viele, aber das gab Shinya keinen Frieden. Ebenso viele Entstehungsgeschichten und -Mythen hatten die Menschen für sich selbst erdacht, eine göttlicher und reiner, als die andere und doch war keine davon richtig und wahr sondern Narzismus der menschlichen Rasse. Darwins Theorie wurde weltweit anerkannt und für korrekt erklärt, auch wenn einige, vom Glauben geblendete, Narren noch immer auf eine Sieben-Tage-Welterschaffung beharrten. Eine Sage um die ersten Luv besagte, sie seien nichts, als des Teufels willenlose Armee, die sich zum Weltenende sammeln würden, um uns zu knechten und ebenfalls dem Gehörnten zu unterwerfen. Obwohl das natürlich wahnwitziger Unsinn war, gefiel Shinya diese Idee. Luv waren etwas, das er kannte, etwas, mit dem er umgehen konnte. Man löste ihre Existenz auf. Es wäre ihm kein Gräuel sie zu vernichten, in Scharen abzuschlachten und vielleicht dabei zu sterben. Man löschte sie aus, sie waren weg. Simpel. Aber Menschen zu töten, nur einen Einzelnen, oder zu verletzen, sie zu quälen...allein der Gedanke verzehrte einen Teil seiner Seele. Und welchen Sinn hatten tausend Tode, wenn die Gequälten ohnehin widererwachen würden? Nach ein paar Jahren Ruhe, die doch eine viel zu kurze Zeit darstellten, um die Seele wirklich zu heilen, einfach widergeboren, um von Neuem gequält zu werden? Und zu quälen... Er hatte genug vom Tod, hatte genug vom Leben, wollte einfach nur Ruhe finden, ewig und uneingeschränkt. Rein werden. All das Blut, all die Taten aus früheren Leben hafteten ihm an. Er stank danach, dass er sich selbst nicht mehr riechen konnte, geschweige denn ansehen. Keine Seife konnte all das fortwaschen. Ihm gefiel der Wald in diesem Moment, so voll der Ruhe. Irgendwie waren sie zu beneiden, die Luv. Der Tod hielt niemals ewig, das hatte er gelernt. Das Leben brachte Schmerz solange es währte, nur um dich schließlich doch abzustoßen und deine Seele erneut in die warme Geborgenheit der Dunkelheit zu stürzen, aus dem einzigen Grund dich viel zu schnell wieder ins Licht zu schleudern, geblendet, der Ruhe beraubt, zitternd und nackt im sterilen Neonlicht einer Klinik. Luv lebten nicht, konnten somit auch nicht leiden, konnten demnach auch nicht sterben und demnach auch keine Erlösung kosten, die sie dadurch widerum auch nicht vermissen mussten. Sie waren einfach da. Es musste schön sein...irgendwie. "Bist du so sicher?" Eine Stimme, männlich, tief... irgendwo, weit entfernt, viel zu weit, um aufzusehen... viel zu unwichtig. Natürlich war er sich sicher. Er hatte genug vom Leben. "Bist du dir sicher, dass du verzichten willst? Auf Liebe, auf Freunde, auf Partnerschaft?" Viel zu selten...wertlos, wenn Trauer und Angst überwiegten... "Bist du sicher, nicht lächeln zu können, wenn Freunde und Geliebte dir Wärme spenden? Wärme, die du nie erhalten wirst, niemals spüren wirst?" Tote missen nicht... "Du würdest sie zurücklassen ewiglich verdammt zu kämpfen, ohne dich, und dadurch ihr Leid noch steigern? Nein. "Dann ist das der Beweis. Luv sind arme Wesen, verdammt zu leiden." Verwirrt sah Shinya auf, strich sich mit der Hand über die kalten Knie. Ein metallisches Gefühl, weder Geschmack noch Geruch, machten ihm klar, dass einer der Beutel mit Fleisch-Abfällen, den er im Schoß abgelegt hatte, gerissen war und sich seine Hose bereits mit Blut vollgesaugt hatte. Ein Anflug von Ekel brach seine Paralyse. "Wer zum Teufel bist du?", flüsterte er dem Mann zu, der vor ihm in die Hocke gegangen war und ein trauriges Gesicht zog. "Ich bin verloren", sagte dieser und seine Augen wurden sanft, "Raphael." Raphael. Er war Raphael. Es wunderte Shinya nicht, seinen Gefährten aus früheren Leben hier wiederzufinden, in diesem Wald. An dieser Stelle. Wieder flackerten Bilder auf, die ihm zeigten, wie glücklich sie einst waren. Er schämte sich für seine Schwäche, schwieg. "Luv werden nicht in Leere geboren. Sie erblicken die Welt wie du und ich, wachsen und lernen zu leben. Sie sind Menschen, Shinya, mit Freude und Schmerz und Jugendproblemen. Erst später bilden sich die Gefühle zurück und schwächen den Luv so weit, bis nur noch totes Leben übrigbleibt. Von Melancholie zu Trauer und schließlich zur Depression, die zum Dauerzusatnd wird und somit alles abtötet. Luv haben keinen Herren, der sie kontrolliert, Shinya. Sie werden Sklaven ihrer eigenen Unfähigkeit zu leben." Er stand auf und wandte sich ab, holte ein gebrauchtes Taschentuch aus seiner Jackentasche und schnäubte sich, dann sprach er weiter. "Vielleicht ein Gendefekt. Ich weiß es auch nicht. Es sieht fast so aus, als würde ihr Körper eine Überreizung des Lebens erleiden, allergisch reagieren und das Leben irgendwann abstoßen, um das Fleisch zu schützen. Aber die Seele geht verloren. Hast du dich je gefragt, was sie tagsüber machen, Shinya? Ich meine, wo sie bleiben, wenn die Nacht vergeht?" "Sie verschwinden." "Sobald die Sonne aufgeht stöhnen sie, laufen fort, in panischer Suche nach schützender Dunkelheit. Ich habe sie beobachtet, Shinya, wie sie graben. Ich fand es scheußlich. Sie schaufeln Löcher mit ihren bloßen Händen in gefrorene Erde, bis sie blutig sind, und länger; bis die Erde sie verschluckt und sie unter ihr Verharren und auf die Nacht warten. Immer noch wimmernd, schrecklich leidend." Shinya war froh, Raphael nicht ins Gesicht sehen zu müssen. "Warum vertragen sie die Sonne nicht", fragte er. "Ich weiß es nicht. Ich hätte allenfalls eine Theorie." Er räusperte sich lautstark. "Wenn man, wie ich, davon ausgeht, dass ihre Unfähigkeit zu leben auf einen genetischen Defekt zurückzuführen ist, der es ihnen unmöglich macht, positive Gefühle zu ertragen, dann ließe sich das damit erklären, dass Sonnenstrahlen Glückshormone im Körper freisetzen. Ähnlich wie manche Speisen, wie Bananen oder Schokolade. Diese Glückshormone fügen ihnen den Schmerz zu. Das Ganze ist wie gesagt rein spekulativ und-" Knacken und Knistern erfüllte den Wald. Schritte. Laute. Die Männer blickten sich an. Luv. Sie hatten ihre Geschenke gefunden und sie würden es sich nicht wieder nehmen lassen. Raphael und Shinya rannten in Richtung Dorf. Der Wald schien endlos, die Nacht viel zu dunkel und die kalte Luft schmerzte in den Lungen. Und doch rannten sie weiter. Raphael war unheimlich schnell. Und groß. Für jeden Schritt seiner langen Beine brauchte Shinya zwei und seine breiten Schultern machten ihn zu einer der Personen, denen man ganz urtümlich Respekt entgegenbrachte. Sie ließen die letzten Bäume hinter sich, die Bäume raschelten, der Wald spuckte sie ins milchige Mondlicht. Beide schnauften und hielten sich die Seiten, die stachen, dass es dem Jungen in den Ohren pfeifte, doch langsam erholten sie sich von ihrem Sprint und als sie die ersten Schritte auf den Wanderweg setzten, der ins Dorf führte, hatte sich ihr Atem soweit normalisiert, dass sie sprechen konnten. Dennoch tat es keiner der beiden. Ein Spaziergänger schlenderte ihnen entgegen. Schon von weitem sahen sie einen hochgewachsenen Mann, der Silhouette nach die Hände in den Jackentaschen und sein leises Summen wisperte ihnen entgegen. Shinya wollte den Blick schon abwenden, um den Mann nicht ansehen zu müssen, wenn er an ihnen vorbeiging, als er den Spaziergänger erkannte... Kapitel 2: Shounen ------------------ Shinyas Gedanken rasten während der ganzen durchwachten Nacht. Von dem Moment an als Shounen und er sich getrennt hatten um unentdeckt zu entkommen, den gesamten Weg zurück und auch dann noch, als er endlich in der Pension angekommen war und die schwere Tür hinter sich schloss. Die Räume schenkten ihm keine Ruhe. Das ersehnte Gefühl des Schutzes, auf dass er gehofft hatte, blieb aus. Auch als er die heiße Dusche verließ und sich Teewasser aufsetzte kreisten seine Gedanken noch immer ruhelos um Shounens Silhouette, die im Dunkel der Nacht verschwand, wie er ihn wegschubste, ihm den sicheren Weg zurück garantierte, indem er zum Hafen zurückrannte. Hatte Shounen es geschafft den Schlägern und der, möglicherweise nach ihnen suchenden, Polizei zu entwischen? Hatte er es überhaupt versucht oder sich in eine zweite Keilerei geworfen? Wo wohnte er überhaupt und wie weit hatte er zu laufen? Hatte er dieses Zuhause in dieser Nacht überhaupt schon gesehen? War er ihm böse? Hatte Shounen den Sturmwind bemerkt, der Shinya entwichen war, ausgelöst durch Angst und Wut? Wusste er, dass mit Shinya etwas nicht stimmte? Konnte er sich denken was ? "Ich bin eben ein fröhlicher Mensch" "Ach, so siehst du aber gar nicht aus" Was wollte Shinya überhaupt von Shounen? Das war ein Gedanke, der dem Jungen bisher noch gar nicht gekommen war. Es war klar gewesen, irgendwie: Einfach bei ihm sein. "Einfach bei ihm sein", flüsterte er in die unbeleuchteten Räume und füllte eine Tasse mit heißem Wasser. Er zog eine Schublade auf und sah hinein. Ashling hatte wieder neuen Tee angemischt und in kleine Dosen abgefüllt. "Medial-Tee.", las er. Erkältungstees gab es, Bronchialtee und einen gegen Menstruationsbeschweden. "Gute Nacht-Tee". Nach kurzem Zögern griff er nach einer Mischung aus Schwarzem Tee und Ingwer, der belebend wirken sollte. Was war es, das Shinya so anziehend an Shounen fand? "Was ist so interessant an ihm", rätselte er, mit seiner Tasse zu einem der Fenster herüberlaufend. "Ist es Sehnsucht? Ist es Liebe? Habe ich mich in ihn verguckt? Er sieht sehr gut aus, auf jeden Fall." Doch das war es nicht, trichterte sein Hirn dem Herzen ein, als er auf dem breiten Fensterbrett Platz nahm. In den Rahmen gelehnt, die Beine angezogen. Er drehte die Teetasse in den Händen und genoss die Wärme, die die Porzellantasse freigab. Das Interessante (wobei ihm dieses Wort auch 'falsch' erschien) an Shounen waren nicht die tragenden Augen oder die Schöne Gestalt. Das Besondere an Shounen war einfach, dass er 'da' war. In seiner Nähe fühlte sich Shinya wohl und die welt war leichter zu ertragen. Was dachte Shounen von ihm? Wie sah er Shinya? Sah er glücklich aus, als sie sich am Abend zufällig begegneten? Sah er bei ihrem anschließenden Spaziergang glücklich aus? Hatte er Spass? Vielleicht...spätestens mit 'Ede' und Komparsen hatte der Spass ein witzloses Ende genommen. "Und wenn er doch etwas gesehen hat?" Das Schlimmste an der gesamten Situation war die Unsicherheit. Mit allem war fertig zu werden. Jeder Fehler war zu beheben. Jede Situation zu ertragen..doch das Schlimmste am Leben war die Ungewissheit. Nichts ließ sich tatsächlich beweisen. "Das Leben kennt keine Kontrolle..." --------------------------------- Phoebe lag mit offenen Augen im Bett; konnte nicht schlafen, fand keine Antworten...nur immer mehr Zweifel. Warum musste es so anfangen? warum musste es immer wieder passieren? Warum gibt es kein Ende? Keine Erlösung. Sie sah hinüber zu Ashling, die auf der anderen Betthälfte schlief. Ihre Brust hob und senkte sich langsam, gleichmäßig. "Oh, Ash. Ich wollte, dass es anders wird. Dass wir glücklich werden. Warum kann sich die Spirale nicht ein Mal aufwärts bewegen, warum geht alles beständig den Bach runter, immer wieder? Ich dachte - ich habe gehofft - dass dieses Mal alles anders kommen würde. Dass wir beide Ruhe haben. Ich wollte dir mein Leben zeigen, deine Eltern kennen lernen, sehen, wo du groß geworden bist.... Ich wollte, dass wir dieses Mal einfach 'wir' sein können. Einfach ein ganz normales Paar. Keine Toten, keine Zauber und keine Zweifel. Nur wir. Nur Momente, keine Zeit...Ash..." Sie hatten es verdient. Es war Phoebes Überzeugung. Und selbst wenn sie es nicht verdient hatten, war es trotzdem ihr Recht. Ein ganz normales Leben führen... Wir könnten zusammen Urlaub machen", lächelte sie ihrer Geliebten zu. Sie konnten es immer noch schaffen. "Uns nur nicht hängen lassen." Sie mussten zusammen halten, eine Einheit werden. Sie und Ashling und all die anderen. An einem Strang ziehen. Ja, dann war alles offen, dann würden sie siegen und alles beenden. Diesmal endgültig. Und dann hatten sie immernoch genug Zeit für Urlaub. "Palmen, Strand und Meerwasser...nur wir beide, Ashling. Und morgen fangen wir an dafür zu sparen." Und endlich fand sie Schlaf. ------- Raphael hatte keine Schwierigkeiten die Pension zu finden. Sie war schon immer dort gewesen. Das Mal zuvor und auch das Mal davor hatten sie immer dort gelebt. In dieser Zeit der Entscheidung. Er nahm sich Zeit für den Weg, wollte die Nacht noch ein wenig genießen und den Kopf frei bekommen und so dehnte sich der Heimweg aus und wurde zu eineme rfrischenden Spaziergang. Fern des Waldes war die Nacht wunderschön und tat ihm gut. Er kam sich selbst ein Stück näher. Raphael dachte über Shinya nach, über seine Gedanken an Tod und Erlösung und daran, wie jung er noch war. Zu jung für diese Bürde? Er dachte an den Mann, den sie getroffen und mit dem er den Jungen hatte ziehen lassen und daran, dass es ihm dem Bekannten vielleicht gut tat jemanden zu kennen, der nicht in irgendwelche Betimmungen und Entscheidungen eingeflochten war. Und er dachte an Ashling. Die 'Mutter' der Gruppe, die immer ein offenes Ohr hatte, niemanden wegschickte und der keine Aufgabe zu groß oder zu viel war. Und wie es sie selbst zerfraß. Und wie diese Umstände auch an Phoebe nagten und wie sich die Frauen trotzdem ausglichen und ergänzten. "Es wird schon werden", sagte er sich. Wie er es erwartet hatte sah er eine Gestalt in einem der Pensionsfenster sitzen und konnte den nährenden Duft des Schwarztees fast riechen... Kapitel 3: Morgenröte --------------------- Raphael verkniff es sich ans Fenster zu gehen und anzuklopfen, vorerst. Der Mann ging um das kleine Häuschen herum, wählte dabei den weg, der nicht an dem Tee-Fenster vorbeiführte. Zum einen wollte er Ashling - für ihn bestand kein Zweifel, dass es sich bei der träumenden Person, die dort im Fenster sitzen musste, um die junge Frau handelte. So hatte sie es damals schon gerne getan. Zum anderen glaubte Raphael den Tee deshalb so intensiv wahrzunehmen, weil er magisch angereichert war. Tee und Magie. Das war ein Tee von Ashling. Raphael musste schmunzeln. Er hatte den sehr kleinen Garten der Pension erreicht. Der Garten erschien vor allem deshalb so klein, weil er schlichtweg zugewuchert war. Kirsch- und Apfelbäume standen nebeneinander in einem Dschungel aus Gestrüpp und Unkraut, Beete gab es nicht. Dennoch sah er nicht hässlich aus, sondern einladend und sehr natürlich. So sahen es zumindest die meisten Urlauber, die ihn zu Gesicht bekamen. Eine Bank stand unter einem der Bäume, einige hölzerne Blumenkübel waren hier und da zu finden, gliederten sich perfekt in das natürlich gewachsene Gartenparadies ein. Ein freieres Plätzchen inmitten des Gartens erschien Raphael am geeignetsten, um eine heilige Zone zu erschaffen, da dort nichts wuchs, dass seine Aufmerksamkeit übermäßig erregen und ihn so ablenken könnte und er nahm seinen Platz dort auf dem weichen Grasboden ein, konzentrierte sich auf seinen Atem. Er atmete bewusst ein und aus. Behielt die Luft mit jedem neuen Atemzug einen Moment bei sich. stieß sie dann gelassen wieder aus. Bald wurde er so ruhig, dass er die Atmung nicht mehr kontrollieren musste und lenkte sein inneres Auge auf seine Umgebung. Die Blumen, Kräuter, Bäume und Sträucher. Auf die nächtliche Stille, die Energie in Luft, Dunkelheit und Erde. In Pflanzen und Tieren und in sich selbst. Bald nahm er die Energieflüsse um sich herum ganz gelöst wahr, ordnete sie in Bahnen und Muster und ließ sie Kreise bilden. Um sich, in sich, durch sich. Er sammelte und konzentrierte sie innerhalb eines Zirkels weniger Schritte um sich herum und verköstigte sich daran. Er war eins mit ihnen. Eins mit der Natur und dem Leben und eins mit dem Tod. Zeit wurde bedeutungslos, er vergaß ihre Existenz und ihren Sinn, vergaß das Einzelne. Er nahm keine Geräusche und Gerüche mehr wahr, er war das Geräusch. War der Geruch. Sein verschmutzter Kharmalkörper wurde gereinigt, langsam und fließend, wie das Leben selbst und er genoss es....wollte nie mehr aufstehen...... ----------- Shinya sinnierte noch lange über Sinn und Unsinn von Leben und Tod und bemerkte die ersten Sonnenstrahlen des angebrochenen Tages erst, als sie so weit an Kraft gewonnen hatten, dass sie ihn blendeten. Das Haus schlief noch immer und er nahm sich vor, seinen Freunden etwas Gutes zu tun und ins Dorf zu fahren, um frische Brötchen zu kaufen. Er verdankte ihnen sehr viel und zu selten bot sich die Gelegenheit ihnen dafür zu danken. ------------ Als die Vögel begannen zu singen und das erste Licht den Tag einläutete öffnete Raphael seine Augen letztlich doch noch. Er lag im feucht-kalten Gras, die Glieder von sich gestreckt und der Körper von sanftem Rauhreif bedeckt. Seine Gliedmaßen waren kalt und ungelenk und sein Kreuz schmerzte, doch sein Kopf war so frei und seine Gedanken so klar, wie seit langen Monaten nicht mehr. Der Kampf sollte kommen, er war bereit dazu. "Zeit für einen alten Mann, dass er aufsteht und seine rostigen Knochen bewegt, bevor sie faulen." Er gähnte und kratzte sich am Rücken, während er seinen Zirkel auflöste und den Garten verließ, dem Haus und seinem Schaumbad entgegen. Er wollte gerade an der Tür klopfen, als diese unerwartet aufschwang und jemand herauskam. "Shinya", einen Schlüsselbund im Mund, die Jacke unter einen Arm geklemmt, in der anderen einen Müllbeutel, "so früh schon unterwegs?", fragte Raphael. "Oh, Raphi. Du bist's. Ja, ich geh kurz ins Dorf, Brötchen holen, ich nehm' an, du willst bei uns einziehen?" Seine Stimme war kehlig, das Gesicht matt und ausgelaugt. Er hatte nicht geschlafen. "Hab ich das nicht immer schon getan? Ja, gib mir die Schlüssel, ich kann dich ja später reinlassen. Klopf ans Küchenfenster, wenn du wiederkommst, ich setz' dann schon Teewasser auf, ja?" "Für mich nicht, ich brauch' 'nen Kaffe, wenn ich wieder da bin...sag mal, hast du kein Gepäck?", fragte der Jüngere stirnrunzelnd. "Doch, im Garten. Ich hol sie gleich rein. Und jetzt entschuldige mich bitte, ein Bad wartet auf mich." Raphael lachte und nahm Shinya die Schlüssel aus dem Mund. Spöttisch wedelte er dem Jungen damit vor der Nase herum und schüttelte den Kopf. "Na na, mein Junge. Das ist schlecht für die Zähne, weißt du das nicht?" Damit schlüpfte er an Shinya vorbei durch die Haustür und schloß diese hinter sich. Shinya blinzelte verdutzt in die Luft und machte sich auf den Weg zur Bäckerei. In der Pension ließ sich Raphael zunächst Badewasser ein und setzte Teewasser auf. Er gab sich Mühe, die Schlafenden nicht aufzuwecken, als er den Frühstückstisch vorbereitete, erst dann ging er wieder ins Bad zurück, zog seine klammen Kleider aus und stopfte sie in einen großen Behälter, den die Pensionsleiterin alle drei Tage leerte, um die Wäsche zu waschen. Die Kacheln waren kalt und er beeilte sich in die Wanne voll heißem Wasser zu steigen. Seufzend genoss er das Prickeln unter seiner Haut, als das Badewasser seine Verspannungen löste und schloss entspannt die Augen. 'Zuhause' in der kleinen Pension, um ihn herum der mit Kaffee, Tee, Wurst- und Fleischwaren, Honig, Marmelade und vielem mehr gedeckte Tisch, saß Raphael und trommelte mit den Fingern auf der dicken Tischplatte. "Wo bleiben die alle?", stöhnte er zum vierten mal in den Raum hinein und stand auf. "Nicht zu fassen", schimpfte er weiter und schlenderte an zum Küchenfenster, um zum widerholten Mal hinauszusehen und den Kopf zu schütteln. Kaffee und Tee waren längst kalt, der Morgen schon lange verstrichen. "Meinst du, es ist ihnen etwas passiert?", fragte Shinya unsicher und ging ebenfalls zum Fenster hinüber. "Ich hoffe nicht", antwortete Raphael und zeigte einer Amsel, die ihn immer wieder neckisch anstarrte und trällerte, wenn der Mann den Kopf schüttelte, den Mittelfinger. Eine Frau auf der anderen Straßenseite, die sich zweifellos als Opfer dieser Geste betrachtete, stieß einen entrüsteten Laut aus. Die Amsel flog am Fenster vorbei und sang ihr Spottlied. ------------------------------------------------------------------------------- Morgenröte schlenderte durch das verschlafene Dörfchen und lächelte in sich hinein. Eine Hexe, eine echte Hexe, eine Frau wie sie. Wahnsinnig spannend fand sie diese Entdeckung und fragte sich gleichzeitig, ob sie eine der Ihren war. "und wie schönes Haar sie hat", dachte sie ein wenig neidisch, während ihre Füße sie in die Verwirrung trugen. 'Verwirrung' offenbarte sich ihr in Form einer niedlichen Wohnsiedlung, die eher Wege, als Straßen hatte, noch verschlafener wirkte, als der Rest des Dörfchens und ihr vollkommen fremd war. Unsicher lief sie die peinlich sauberen Wege entlang, kehrte dann und wann um, um wieder zurückzukehren und büßte auf die Art noch mehr ihrer Orientierung ein. "Entschuldigung", begrüßte sie einen ergrauten Mann, der sie bereits eine Weile beobachtet hatte, nun jedoch wieder völlig vertieft in seine Gartenarbeit schien. Er riss den Kopf hoch und tat erstaunt. "Können sie mir sagen, wo ich hier bin und wie ich wieder zurück zur Hauptstraße komme?" "Aaah, die junge Dame. Schön, sie mal wieder hier zu sehen...." -------------------------------------------------------------------------------- Raphael stemmte die Hände in die Hüften und lächelte seinem jungen Freund aufmunternd zu. "Hat ja keinen Sinn, sich zu ärgern", sagte er und setzte sich wieder an den liebevoll gedeckten Tisch, dem nur die Brötchen und zwei jungen Frauen fehlten. "Tee?", fragte er im Plauderton, während er sich selbst eine Tasse des abgekühlten Aufgusses einschenkte. "Gerne." Shinya setzte sich artig. "Raphael? Darf ich dich was fragen?" "Sicher", antworte Raphael, dem anzusehen war, wie sehr er sich darüber freute, ein paar kluge Ratschläge geben zu dürfen. "Angenommen es gäbe einen Menschen, der dir sehr wichtig wäre und den du nicht verlieren möchtest." Kopfnicken. "Angenommen, du hängst so sehr an ihm, dass du dir gar nicht ausmalen möchtest, was aus dir werden solle, wäre dieser Mensch plötzlich nicht mehr da." Kopfnicken. "Angenommen es besteht die Möglichkeit, dass er dich beim Wirken von Magie gesehen hat und du gern Gewissheit hättest...naja, du weißt, er echt was mitgekriegt hat..." Kein Nicken. "Wie würdest du es anstellen?" Es folgte ein kurzer Moment, der Stille (einzig unterbrochen durch eine fröhliche Amsel, die hingebungsvoll in Ashlings Blumenkästen wühlte und dabei munter trällerte). Dann: "Du sprichst von dem jungen Mann von gestern." Es war eine Feststellung, keine Frage; Shinya nickte nur. Es wurde wieder ruhig genug, dass man das Scharren von Krallen auf Terracotta hören konnte. Dann: "Ich denke nicht, dass du dir deshalb Sorgen machen musst, Shinya." Er dachte kurz über den gesamten Inhalt der gestellten Frage nach und kurz legte sich seine Stirn in Falten. "Darf ich dir auch eine Frage stellen?" "Sicher", schoss es aus dem Jungen und Tee spritzte über den Tisch und benetzte ein Stück Hartkäse. Raphael verkniff sich einen Kommentar. "Kannst du dich an ALLES erinnern, was damals geschah?" "Mmmh..was meinst du mit damals?" "Der letzte Kampf." "Oh", brachte Shinya enttäuscht hervor, "sicher. So geht es uns allen. Oder ist es bei dir anders?" "Ich denke nicht", kam die Antwort, "ich weiß, was ich aus meinem früheren Leben wissen SOLLTE." "Und die früheren Leben? Unsere vielen Kämpfe, die Veränderungen der Welt, die vielen Opfer?" "Bruchstücke...Moment..willst du damit sagen, du erinnerst dich an ALLE früheren Kämpfe?" Schinya senkte den Kopf. "Ich weiß es nicht, was meinst du, waren es mehr, als ein Dutzend?" Raphael hielt sich vor Unbehagen die Hände vor den Mund. Dutzende.... -------------------------------------------------------------------------------------- "Wie heißen sie?", fragte der Alte die junge Dame, während er ihr mit dem rechten Arm den Weg zur Hauptstraße wies. "Oh, Entschuldigung, ich war so in Gedanken. Ich bin Marianne, schön, sie kennenzulernen." Kapitel 4: aufgegeben --------------------- Des Abends - das Frühstück wurde in Übereinkommen aller schließlich sausengelassen - saßen Ashling und ihre Freundin gemeinsam im Garten, fanden zum ersten Male an diesem Tag Zeit für sich und genossen die sanfte Ruhe, die Pflanzen und Tiere auf sie ausübten und die Nähe der anderen. Doch Angst und Unsicherheit, böse Vorahnung und schwarze Gedanken holten sie viel zu früh wieder in die Wirklichkeit zurück und bald warteten beide, dass die andere ein Gespräch anfing. Das Warten wurde unangenehm, regte das Hirn zu noch grausameren Ahnungen an und schließlich war es Ashling, die es als erste nicht mehr auszuhalten glaubte und die Stille brach. "Du, Phoebe?", fragte sie zögerlich und fuhr dann doch auf ein Nicken hin fort, "glaubst du es gibt mehrere wie uns?" Eine kurze Pause trat ein. Anscheinend wusste Phoebe nichts zu erwidern. "Wie meinst du das?", fragte sie. "Naja, ich meine Menschen wie uns, du, Raphael, Shinya und die anderen." "Die anderen haben wir bisher nicht gesehen." "Doch, tot.", sagte Ashling, der anzusehen war, wie sie in ihrem Kopf noch einmal die schrecklichen Bilder der Vergangenheit aufrief. "Aber das meinte ich nicht. Glaubst du, es gibt nur uns paar Menschen, die hier Generation für Generation kämpfen? Oder gibt es noch andere, die damit gar nichts zu tun haben und die gleiche Kraft besitzen?" "Wen hast du gesehen", fuhr Phoebe auf und packte Ashling am Arm, ließ ihn aber sofort wieder los, als diese unter ihrem heftigen Griff zusammenzuckte. "Du kennst mich zu gut", lächelte sie. "Heute morgen, im Wald." "Wer?" "Das ist es ja, Babe. Ich kenne sie nicht. Eine junge Frau. Sie war (sie überlegte einen Moment) ...seltsam. Wunderschön und mit langem Haar. Ihr Tanz hatte etwas mitreißendes und.." "Tanz?" "Ja, sie hielt ein Ritual ab, eines, wie meine. Sie benutzt die gleiche Magie wie ich, Phoebe. Die Magie der Hexen. Und ihr Zauber war so mächtig und so alt, dass ich es schon aus der Ferne bemerkte und ihrer Schwingung folgen konnte. Sie...ist ganz nett. Ich meine, sie ist keine von uns. aber auch keine von ihnen, Phoebe." "Und woher willst du das so genau wissen?" Ashling zuckte betroffen mit den Schultern, hob die Hände und ließ wie wieder sinken. Sie setzte zu einer Antwort an, hob wieder die Hände und ließ sie abermals zurück in den Schoß sinken. "Ich..ich weiß es nicht. Aber es ist ihre Magie, Phoebe, du warst nicht dabei. Sie...so viele Tiere saßen zu ihren Füßen und haben ihrer Magie gelauscht. Es sah fast so aus, als würden sie ihr beim Tanzen zusehen." Phoebe sah sich langsam im Garten um, schüttelte den Kopf und stand schließlich von der alten Holzbank auf, um doch wieder vor ihrer Freundin in die Hocke zu gehen. "Ich habe mit ihr geredet, Phoebe. Sie ist (und wieder brauchte Ashling einen kleinen Moment, um nach dem passenden Wort zu suchen, schüttelte aber wieder nur den Kopf) komisch. Irgendwie.. Sie wollte, dass ich ihr einen Namen gebe und hat sich furchtbar gefreut eine andere Hexe zu treffen. Sie war so nett, Phoebe..ich weiß es nicht." Lächelnd nahm Phoebe ihre Hand und tätschelte sie. "Aber sie beschäftigt dich." Zum sicherlich hundertsten Mal dachte Phoebe darüber nach, ihrer Geliebten von ihrem Treffen mit Shounen zu erzählen, verwarf den Gedanken aber doch wieder. Sie konnte es halten, wie sie wollte: entweder, sie erzählte Ashling von ihrer Begegnung mit dem Mann und riskierte heute Nacht keinen Schlaf zu finden, weil Ashling mit aufgerissen Augen neben ihr lag und ihr ein dermaßen schlechtes Gewissen bereitete, dass ihr der Magen drückte, mehr noch, als hätte sie es ausgesprochen. 'Phoebe, du hast uns alle verraten'. Vielleicht. Sie hatte in einem schwachen Moment Shounen und seinem Pack Narrenfreiheit versprochen, ihn 'Verbündeten' genannt. Oder sie behielt ihr Gespräch mit Shounen in der Kneipe für sich, was Ashling schnell merken würde. Sie hatten nie Geheimnisse gehabt, nicht das Kleinste, hatten stets alles zusammen gelöst. Würde sie, Phoebe, jetzt damit anfangen, wäre es wie ein Ölfleck auf dem Spiegel ihrer Beziehung. Er würde beschmutzt und fleckig und immer weiter verdrecken, bis er schließlich blind wäre. Ganz so, wie es in den meisten Beziehungen irgendwann der Fall war. Ihre Beziehung sollte 'rein' bleiben. Aber war so etwas überhaupt möglich? "Was werden wir morgen machen?", fragte sie endlich, um ihr Gewissen abzulenken. "Ich weiß es nicht. Die Kräuter sind gereinigt, geweiht und zum Trocknen aufgehängt, das Zimmer mit der Leiche gereinigt, der Tote verscharrt. Was können wir tun, außer warten?" "Warten? Warten?! Oh, babe, auf was denn warten?! Darauf, dass Shounen seine Luv sammelt und an unserer Tür klingelt? Darauf, dass auch seine letzten Verbündeten angereist sind? Dass mehr von uns sterben?!" "Auf unsere Freunde, Phoebe." Und damit stand sie auf und ging ins Haus, während Phoebe mit einem flauen Gefühl im Magen zurückblieb. Raphael saß mit einer Bürste und einer Flasche Scheuermilch bewaffnet in der Duschwanne der Pension und schrubbte in scheinbar unzerstörbarer Ruhe das Bad. Das kleine Radio auf dem kaum größeren Heizkörper dudelte leise vor sich hin und eine handvoll junger Frauen säuselte ihm zu, sie würden ihn immer noch lieben. Wer ihn nicht kannte mochte meinen, seine einzigen Sorgen seien die Wasserflecken an den gekachelten Wänden... "Dutzende Leben", dachte er immer wieder. "Wie kann er lachen, wenn er all das dutzendfach erlebt hat? Kann es sein? Macht er sich wichtig...er ist so ehrlich...aufrichtig? Wer weiß...vielleicht. Aber dutzende Generationen, immer ein und der Gleiche Kampf, kein Ausweg, kein Ende, kein Sieg, ständige Niederlagen...auf beiden Seiten. Wie oft haben wir tatsächlich schon gekämpft? Wie alt ist meine Seele? Wie hat alles angefangen? Es gibt keinen Sieg. Nur Niederlage...." Lonely days and lonely nights since you've been gone I miss your touch I miss your smile Always by my side "Keine Ruhe, kein Erbarmen, kein Waffenstillstand...." If I could sing my song to you I let you know my heart is broken too From any corner of the world I let you know I'll always be your girl "Waffenstillstand.. Frieden." Wieso hatte er nie daran gedacht? Wie konnte es sein, dass er in all der Zeit nie auf den Gedanken an Frieden gekommen war, wo er Gewalt doch immer gehasst hatte? "Wieso Krieg? Kann Frieden entstehen oder sind unsere Ziele zu unterschliedlich? Wofür kämpfen wir? Wofür kämpfen die anderen? Ich kann mich nicht erinnern..." I'm still in love with you Ein Klingeln an der Haustür riss ihn aus seinen Gedanken und ließ ihn vergessen, woran er noch eben gedacht hatte. War es wichtig? Shinyas dumpfe Schritte, vom Teppichboden geschluckte Geräusche, das Öffnen der Tür. Hatten die Frauen den Schlüssel nicht mit hinausgenommen, als sie sich verabschiedet hatten? "Mein Name ist Leonce und ich bin wie ihr. Habt ihr mich schon vermisst?" Leonce? Eilig stand Raphael auf und ging zur Tür, in der noch immer Shinya stand und ziemlich dümmlich aussah. "Leonce", rief Raphael und öffnete die Arme zur Begrüßung. Leonce ging an Shinya vorbei, lächelte und ließ sich umarmen, dann stellte er seine sichtlich schwere Reisetasche ab und umarmte seinerseits Shinya. "Schön euch wiederzusehen", sagte er. Von draußen in der Tür erschien Ashling und ließ den Unterkiefer hinunterklappen. "Leo", ächzte sie und hob dann die Stimme zum Ruf. "Phoebe, komm schnell her, es ist Leo. Leo ist da!" "Hallo Schwester", strahlte der Mann und sie umarmten sich, bis Phoebe ihre Freundin ablöste. "Ich hab euch vermisst." Jeder rief noch ein paar Worte zum Gruß, die Tür blieb offen stehen. "Endlich zuhause", lachte Leonce, "und nicht allein. Ich hab Ludovika mitgebracht, wir sind komplett." Wie, um seine Worte zu unterstützen, erschien eine etwa 20-jährige Frau mit kurzen, in allen Farben leuchtenden Haaren hinter Phoebe im Türrahmen und grinste ihnen frech entgegen. Sie trug zerrissene Hosen und ein viel zu weites Shirt und war überall mit Piercings und Tattoos bedeckt und behängt. "Verdammt schwer, hier nen Parkplatz zu finden." „Heute ist einer der schlimmeren Tage, meine Glieder schmerzen fürchterlich und das Sonnenlicht lässt mich zurückweichen. Das Leben scheint zu schrill und bunt, hat zu viele Farben, ist viel zu laut. Alles ist extrem, die Menschen sind Extreme. Keine Ruhe, kein Ausgleich, einzig Hoch und Tief. Vielleicht ist es morgen bereits besser und ich werde aufstehen. Ludovika und Leonce sind hier, auch sie werden sterben, der Tod klebt an allen von uns. Alle sterben wir, nach und nach.... Wieder sind die es diese Gedanken, Sinneswahrnehmungen (Visionen?), die mir am schlimmsten zusetzen. Ich fürchte mich vor mir selbst, schlimmer noch, als vor allem anderen. Ich spüre es, ich bin anders, ich war es immer; heute ganz besonders. Ich sehe Tote. Frauen und Kinder, keine Männer. Sie liegen da, verschmiert vom Blut, die Augen leblos, starr und doch sehen sie mich, wie ich mich über sie beuge, sie küsse, ihre sanfte Haut streichle, den Duft einatme, nicht mehr loslassen kann, das Verlangen wird größer mit jedem Moment. Ich werfe den Kopf in den Nacken, ich blecke die Zähne und dann... Ich möchte allein sein und niemand lässt mich. Shinya“ Es war erdrückend in dem kleinen Raum, der so vollgestopft mit dicken Wälzern, erschreckend großen Buchrücken, dass man die Wände kaum noch sah. Nicht viele Menschen hier schienen sich für die Geschichte ihres Dörfchens zu interessieren, denn die Bücher des Archivs wiesen bereits eine dünne Staubschicht auf, sodass anzunehmen war, dass selbst die Putzfrauen es nicht für nötig hielten, diesen Raum zu reinigen. Sie hatten ihre Gründe. Innerhalb der letzten halben Stunde war Raphael immer unruhiger geworden, hatte erst auf seiner Unterlippe gekaut, später auch an seinen Fingernägeln, schließlich an der Haut drum herum. "Unglaublich", stammelte er und machte eifrig Notizen. Ein paar Jahreszahlen, zumeist etwa 20 Jahre auseinanderliegend, einzelne Worte. Eine Zahl kreiste er schließlich ein und machte ein Fragezeichen darüber, dann schlug er das letzte Buch zu, stellte es ins Regal zurück und rief nach der Sekretärin, um zu fragen, ob es Bücher gäbe, die weiter zurückreichten. Als die junge Frau mit der hohen Stimme verneinte verließ Raphael das Archiv und stieg in den nächsten Bus Richtung Stadt. Er musste es genauer wissen. Das Netz öffentlicher Verkehrsmittel war hierzulande furchtbar. Busse kamen zu spät oder gar nicht, waren meist vollkommen leer und rochen nach Bier und Katzenurin, doch solang sie ihn zur Zeitung der kleinen Kreisstadt fuhren, wäre ihm auch ein Traktor recht gewesen. Als er schließlich ausstieg war Raphael froh, den verächtlichen Blicken des beleibten Busfahrers nicht länger ausgesetzt zu sein und atmete tief ein. Diese Stadt war alt, die Straßen schmal geblieben und die Luft relativ gut. "Kopfsteinpflaster", grinste Raphael. Er betrat den Verlag nicht, ohne sich zuvor an einem Eis mit Sahne gestärkt zu haben.... Shinya saß zusammengekauert in der Ecke seines Zimmers in der Pension und wartete auf das silbrige Licht des Mondes, das ihn beruhigen würde. Er trug einen warmen, engen Stretchpulli und weite Hosen mit Gummibund, beides von schwarzer Farbe, seine Haut schimmerte weiß. "Ich möchte allein sein", brummte er eintönig, als er die Anwesenheit einer zweiten Person warhnahm, "Bitte geh." Keine Raktion. "Bitte." Wieder nichts. Shinya schaute auf, um zu sehen, wer ihn nun, zum vierten mal innerhalb von zwei Stunden, zu nerven gesuchte. Es war nicht Ashling. Es war nicht Phoebe. Es war auch kein Mensch. "Lange nicht gesehen, Shinya. Wie ich sehe, hast du noch all deine Gliedmaßen, das ist schön. Ich freue mich, dass es dir gut geht." Der Ton dieser kristallklaren Stimme stand ihm Widerspruch zu seinem Inhalt, viel jedoch kaum auf, denn er redete weiter. "Was machen die anderen?" Shinyas Augen weiteten sich, Angst ergriff ihn und er zog unwillkürlich die Beine enger an sich heran. "Du bist.." "..aufgegeben", endete aufgegeben den Satz. "Aber wie kann das sein, ich habe dich raus..im Wald...die Luv haben dich gefressen, sie.." "Meine T e i l e", er sprach das Wort, als wäre es Latein und er ein Dozent für Geschichtswissen, "nicht mich." "Du bist TOT, du kannst nicht hier sein." "Nicht tot, aufgegeben. Auch du bist aufgegeben, wenngleich du auch noch alle Körperteile beisammenhast. Steh auf, ich bring dich zu ihm." Wieder weiteten sich die Augen des Jungen am Boden. Etwas im Klang dieser Stimme ließ ihn erschauern. Tote Stimmen waren nicht für lebende Ohren bestimmt. "Zu ihm?" aufgegeben lächelte müde. "Du willst ihn doch sehen, oder?" Shinya stand auf, zitterte wieder, als er sah, wie jung aufgegeben zu Lebzeiten tatsächlich noch war. Ein Kind, höchstens 13 und genauso klein und zierlich. Er war spindeldürr. "Deswegen sitzt du doch hier. Und nun komm, nimm meine Hand." Shinya entging nicht, dass aufgegeben ihm die Hand reichte, die er selbst vor ein paar Tagen in den Mund genommen hatte. "Kommst du nun?" ------------------------- "Was ist denn jetzt? Raus damit, Raphael, ich hab nich' ewig Zeit." "Noch nicht.", sagte Raphael und nahm wieder im Sessel Platz. Sein Gesicht pochte vor Ungeduld, er wippte unablässig mit dem linken Bein. Leider bewegte sich sein Mund fast überhaupt nicht. "Ich weiß, dass du uns hier alle(!) sehen wolltest, Raphi..", begann Leonce, "..aber auf Shinya kannst wohl noch'n Weilchen warten, würd ich sagen.", endete Ludovika den Satz für ihn. "Den hab ich nämlich schon seit Stunden nich' gesehen." Sie nahm ihren Kaugummi aus dem Mund und verscharrte ihn liebevoll in einem von Ashlings Kräutertöpfen. Der Basilikum tat Ashling leid, Ludovika hatte den Kaugummi schon den ganzen Tag im Mund. "Zumindest dürfte der Basilikum sich über die vielen Nährstoffe freuen", dachte sie etwas säuerlich. Es hatte heute Eintopf gegeben... Raphael warf einen letzten, gehetzten Blick auf die Uhr. "Ach verdammt soll ich sein!", rief er in das kleine Wohnzimmer hinein, in dem sie alle mehr oder weniger begeistert herumstierten. Nun starrten alle Raphael an. "Ich hab euch erzählt, dass ich ins Archiv fahren wollte, um Nachforschungen zu betreiben, weil ich der Meinung bin, dass diese Geschichte stinkt." Alle nickten stumm. "Nun, ich bin tatsächlich dort gewesen, wenn auch nicht besonders lang. Das Archiv ist ein Scherz; schlecht geordnet, verstaubt, uninteressant und unvollständig. Und es reicht nicht sonderlich lang zurück. Zweihundert Jahre, wenngleich dieses Dorf hier natürlich weit älter ist." Er blickte sie nacheinander an. „Und?" fragte Ashling. Die einzige, die tatsächlich seinen Worten zu folgen suchte. "Was sagt uns das?" Sie wirkte unsicher. "Ja, Mann", lächelte Ludovika. "Die Ergebnisse sind trotzdem hochinteressant", plapperte Raphael weiter, als er es selbst nicht mehr aushielt. "Ich bin nach meinem Besuch im Rathaus in die Stadt gefahren und habe der Zeitung einen Besuch abgestattet. Sie verfügen über ein sehr viel detailliertes Archiv. Ihr wisst, alte Zeitungen, Schlagzeilen und das alles." Wieder versuchte er eine Spannungspause einzulegen, scheiterte aber und ließ die Bombe gleich platzen. "Es passieren viele Katastrophen in dieser Gegend". Seine Augen verdunkelten sich. "Immer im Abstand von etwa 20 Jahren." Nun waren auch die anderen Feuer und Flamme und drängten sich an ihn heran, drängten ihn, weiterzusprechen und der charismatische Mann fügte sich nur zu gerne. Er sprach von Bränden, verschwundenen Menschen, Umweltkatastrophen, Hysterie, Überschwemmungen und immer wieder von vermissten Kindern. "Was soll denn an der Überschwemmung so besonders sein? Immerhin sind wir von Mooren, Flüssen und Tümpeln umgeben. Ins Meer kann man quasi schon reinpinkeln", fragte Phoebe. "Ich meine, das müssten die Leute hier doch fast schon gewohnt sein?" Raphaels Augen blitzten, er überschlug die Beine. "Wenn das Wasser aus der Innenstadt kommt?", fragte er und alle wussten, dass es bereits die Antwort war. "Und dieser Brand", flüsterte Ashling und nur Leonce sah sie betreten zu Phoebe hinübersehen, ihre Augen voll Angst. "Alles Asche und ausgerechnet DER WALD bleibt stehen?", keuchte Ludovika. Sie starrten wieder in verschiedene Richtungen. "Diese vermissten Leute", brach Leonce die wiederkehrende Stille, bevor sie sie gefangen nehmen konnte Jeden in einer anderen, furchtbaren Welt, "ich nehme an, dass es jedes Mal sieben sind?" "Nein", antwortete Raphael ihm, suchte in seinen Kopien und reichte dem Jugendlichen eine Liste mit Namen. Es waren viele, viel zu viele, mehr als sieben. Und er kannte keinen der Namen... Kapitel 5: Ludovika ------------------- Die dunklen Vorhänge bewegten sich im mäßigen Wind nur leicht und es wurde stickig in dem kleinen Zimmer der Pension, das Ludovika zugeteilt worden war. Sie hatte - natürlich - so getan, als berührten die Worte ihres Freundes sie kaum, als Raphael vor ein paar Momenten von seinen neuesten Entdeckungen berichtet hatte, doch wurde sie nun, da sie allein war, unruhiger mit jedem Herzschlag und ihre Gedanken ruhten noch immer auf der erschreckend weitreichenden Liste unbekannter Namen. Vermisste Menschen, vermisste Leben und geraubte Erinnerungen. Nun erinnerte sich niemand mehr an die vielen Personen, die in den letzten 90 Jahren, und möglicherweise schon viel länger, in dieser verfluchten Gegend verschwunden waren, doch Ludovika erschreckten sie. Sie schaute in den großen, geschwärzten Spiegel an der Wand. Ihr teuerster Besitz, dazu der einzige, an dem ihr etwas lag. Sein Rahmen war sehr groß, das Silber leicht angelaufen und das Glas selbst so schwarz wie ihre Gedanken. So dunkel...voll Vergessen. ihre Umrisse wirkten unecht in diesem Spiegel. Alles, was weiter als nur einen Schritt entfernt war überhaupt nicht zu sehen. Nur ihre eigene, milchige Silhouette. Sie ging noch einmal die Namen der Seite durch, die sie sich als einzige wirklich angeschaut hatte. Die Seite der jüngsten Opfer. Keine der Personen war ihr bekannt. "Edith Stark", sagte sie nüchtern und fest. "Witwe aus Gaunsiek", antwortete die Ludovika im Spiegel mit gleicher Stimme, "geborene Nagel." "Markus Ebeling." "Ältester Sohn des Walther Ebeling und seiner Frau Maria, geborene Stur. Geboren in einer Sommernacht, 23 Jahre zurück. Heute 14 Jahre alt." "Erna Witt." "Ging auf die andere Seite im Alter von 78 Jahren, ge.." Ludovika hörte nicht mehr darauf, was sie sich selbst im Spiegel mitzuteilen hatte. Vor 23 Jahren geboren und heute gerade mal 14? Wie sollte das möglich sein? Ihre Gedanken fuhren Karussell mit ihr. Barsch wischte sie ihr Spiegelbild hinfort, stellte sich das Bild einer gewaltigen Flutwelle im Inneren des schwarzen Sees vor ihren Augen vor. Die Reflektionen auf dem blankpolierten Glas wurden in ihren Gedanken zu Wellen, reißend, wild... Auch Raphael hatte die Stimmung in der engen Pension, die er einst für gemütlich gehalten hatte (wie lange musste das her sein?) nicht lange aushalten können und war dem Ruf des Waldes gefolgt. Der Wald, der so charismatisch war, vor dem sich niemand retten, niemand entziehen konnte. Das einzige Fleckchen Erde in dieser Gegend, das nicht verflucht zu sein schien. Er sah den Vögeln zu, wie sie behände von Zweig zu Zweig hüpften und ihm fröhlich nachblickten. Das Gras, das Schilf dort, wo der kleine Graben dem Weg etwas folgte, bevor im Nebel verschwand. "Nebel.." Er war hier so allgegenwärtig. Nicht nur im Wald selbst oder in diesem Dörflein. Nebel gehörte für die Menschen, die in diesem Teil des Landes aufwuchsen dazu, wie Sonne und Wolken es taten. Und der Wind, einhergehend mit dem Wasser der Flüsse und Graben. Überall Moor. Raphael bemerkte trotz seiner wehen Gedanken, wie die Geräuschkulisse mit dem Leben hinter ihm blieb. Der Wald wurde dichter, älter. Unheimlicher. Nun waren selbst die kleinen Vöglein zurückgeblieben, er kam dem Herz des Waldes schon sehr nah. Ein seltsames Wesen war dieser Wald, bot er doch Menschen und Luv, Geschöpfe des Tages und der Nacht, gleichsam Schutz. Zog sie beide gleichsam in seinen Bann aus Leere. Eine angenehme Leere. Sie war undurchdringlich und sanft, füllte einen Menschen vollends aus, sodass kein Platz mehr war für Schwermut und Angst. Und plötzlich blieb Raphael stehen. Um ihn waren nun keine Bäume mehr. Keine verkrüppelten Zypressen, keine peitschenden Äste und Zweige, Pappeln und Apfelbäume. Wieder etwas, das Raphael jedes Mal aufs Neue bewusst wurde: es gab so viele Arten von Bäumen in diesem Wald, Obstbäume, Eichen und Trauerweiden, wie dichte Gräser, Pfauenaugen und weiches Buschwerk. Nur keine Nadelbäume. Es war ihm ganz recht. "Laubbäume sind charismatisch. Sie suchen Nähe, wie wir Menschen, sie rufen nach einem." Und sie hatten ihm viel zu erzählen an diesem Tag... ------------------------- Shinya kletterte auf eines der vielen Autos, die bereits umgekippt auf den Straßen und Parkplätzen lagen, das Glas der Scheiben zersplittert, wie die Knochen der Insassen, sofern es denn welche gab. Schreie überall, Rufe, schreckliches Brüllen und das Rauschen des Meeres erfüllten Ludovikas Ohren und ließen sie taumeln. "Nein, Shinya, tu es nicht", hörte sie sich rufen, bis ihre Stimme verstarb, zu einem leisen Krächzen wurde. Neben ihr lag Ashling im Dreck, halb verblutet. Sie weinte, lautlos, und doch zuckte Ludovika zusammen. Ihr schmerzten die Ohren mit jeder Träne, die den rotschimmernden Boden unter ihr berührte. Sie ging auf die Knie, wischte sich mit der Hand aus dem Gesicht, was sie für Schweiß hielt und schmeckte Metall auf ihrer Zunge. Ashlings Augen wurden trüb, weinten ihre letzten Tränen. Nur entfernt nahm sie wahr, wie Phoebes rasende Wut außer Kontrolle geriet und dutzende Luv den Tod fanden. Sengende Hitze..Schreie, die nicht in diese Welt gehörten, Todesschreie, die doch so erleichtert klangen. Hunderte längst überfällige Seelen, die endlich zur Ruhe gerufen wurden. "Shinya, NEIN!" Und doch wusste sie, dass der junge Knabe seinen Zug bereits gemacht hatte, sah, wie er seine Hände über den Kopf hob und übereinander legte, weinte. Das Rauschen des Meeres in ihren Ohren schwoll an, ließ ihren Schädel nahezu bersten.. Und endlich, als auch ihre Trommelfelle endlich geplatzt waren, spürte sie das Grollen, sah den Tod in Milliarden der Tropfen. "Seltsam", dachte sie, "Wasser, der Ursprung allen Lebens, soll nun der Untergang so vieler Menschen sein." Vor ihren Augen brach Shinya zusammen, schrie und heulte hysterisch, völlig krank, zerfressen. Er hatte sich selbst getötet. Und sie alle würden nun mit ihm sterben. Sie war nur glücklich, seine Schreie nicht anhören zu müssen. "So sterben wir alle - und wieder gewinnt keine der beiden Seiten" Es war Leonce, er sprach direkt in ihr Herz und sie wusste, dass er recht hatte, noch ehe die Flutwelle über sie hereinbrach und sie gemeinsam starben... ----------------------------- Träge öffnete Raphael ein Auge und blickte das an, was einmal seine Beine gewesen waren. Beine wurden zu Borke, bohrten sich in die weiche Erde und schlugen Wurzeln, tranken die Milch seiner Mutter wie bittere Medizin. Er ließ den Blick schweifen, öffnete auch das andere Auge - und schrie. ----------------------------- "Ash, ich bring den Wagen weg, kannst du schonmal das Glas in die Container werfen?" Ashling lächelte ihrer Freundin zu und schlenderte zu den großen Glascontainern auf dem Parkplatz des Supermarktes, während die Jüngere den metallenen Einkaufswagen über das Kopfsteinpflaster schob und summte leise vor sich hin. "Hallo Schwester!" Erschrocken drehte die junge Frau sich um, um in das Gesicht ihrer Bekannten zu schauen, deren Stimme sie sofort erkannt hatte. "Oh hallo, eehm, wie heißt du noch gleich?" "Karfunkel", antwortete Morgenröte. "Karfunkel", wiederholte Ashling, "Schön, dich zu sehen." Ashling freute sich tatsächlich sehr, die junge Frau, die ihren Namen wechselte wie andere Leute ihre Hosen, zu treffen. Auch wenn sie ein wenig seltsam war, in ihrer Nähe fing man unwillkürlich ein wenig ihres Wesens mit ein und gewann so zum Beispiel den Eindruck, alle Menschen wären im Grunde ihres Herzens 'gut'. Heute trug Karfunkel einen buntgemusterten, fast Bodenlangen Poncho und Sandalen aus Kork. Sie hatte ihr langes Haar lässig mit einer Klammer zusammengefasst, sodass einzelne Strähnen fröhlich ihr gutmütiges Gesicht umspielten. "Was tust du hier?", wollte sie von ihr wissen und Ashling antwortete, sie sei mit einer guten Freundin zum Einkaufen hergekommen (manche Dinge behielt man lieber für sich, solange man seine 'Freunde' noch nicht allzu lange kannte), die sicher gleich wieder hier sein würde, woraufhin Karfunkel ihr erklärte, die Lebensmittel hier seien in Folie eingeschweißt, die nicht biologisch abbaubar sei und sie deshalb lieber in den Bioladen um die Ecke ging. Ashling erinnerte sich, dass Karfunkel vor ein paar Tagen mit einer Dose 'Powerade' ihren Durst gelöscht hatte, nachdem sie sich bei ihrem Tanz im Wald verausgabt hatte, behielt dies aber auch für sich. "Ah, da ist sie ja, Karfunkel, das ist Phoebe, meine Freundin.", strahlte sie ihre Geliebte an. "Phoebe, ich habe dir von Karfunkel erzählt." Die Reaktion ihrer Vertrauten fiel so sehr anders aus, dass Ashling anfangs überhaupt nicht begriff. Das Lächeln der Frau gefror erst, wurde schließlich zur Maske, bröckelte und wandelte sich in einen Ausdruck äußerster Missgunst, schließlich zu Zorn. Verwirrt wendete sie den Blick und sah Karfunkel an, um in ihrem Blick gar nichts zu finden. Sie stand da, streckte Phoebe die Hand hin und lächelte noch immer scheu. "Was hat sie denn, Ashling?" Ashling tat einen unsicheren Schritt auf Phoebe zu, die sie sogleich am Arm packte und an sich riss. Sie schlang ihren freien Arm um Ashlings Hüfte und spie Feuer. "DU!", kotzte sie den bunten Farbkleks in Korksandalen an. "Du wagst es tatsächlich. Ich fass es nicht." Der Farbkleks wackelte unruhig hin und her. "Du lullst vielleicht Ash in deine Masche aus Unschuld und so...aber ich erkenn' dich, du ekliges Balg! Wie kannst du es wagen, dich überhaupt an sie 'ranzutrauen?! Bist du so dumm, wie du aussiehst, Frau?" Ashlings Hutschnur riss. Erschrocken und verwundert über die dämliche Reaktion ihrer Freundin wand sie sich los, stürmte zu Karfunkel hinüber und stellte sich trotzig an ihre Seite. "Phoebe, verdammt, was ist in dich gefahren, hör dich doch an. Sie ist eine gute Freundin für mich geworden, wie kannst du glauben, dass sie etwas Schlechtes im Sinn hat?" Phoebes Atem beruhigte sich, sie richtete sich auf und grinste eine furchtbare Grimasse. Sie wirkte gefasst, aber Ashling kannte sie zu gut. Ein falsches Wort und die junge Frau vor ihr würde lichterloh brennen und Feuerspuckend um sich keifen. Vielleicht sogar sprichwörtlich. Ihre Stimme zitterte. "Sie ist eine von D E N E N, Ash, von den anderen." Sie ging einen Schritt auf die beiden zu, streckte die Hand aus, ließ sie wieder sinken. "Dass du sie nicht erkennst, Ash.. traurig. Was hast du mit ihr gemacht, Frau? Sie verzaubert? Mit Sprüchen belegt? Hast du sie einen Blick in deinen Zauberhut werfen lassen? Oder unter deinen Poncho?", sie spuckte aus, hielt Ashling abermals ihre Hand hin. "Ich..Karfunkel..." Überrumpelt griff sie nach der Hand ihrer 'Freundin', "..sag. Stimmt das?" Die junge Frau blickte Ashlings Hand an, als würde sie sie zum ersten Mal wirklich sehen und lachte dann. Es klang bitter. "So bist du also doch eine von ihnen, Ashling. Ich war so dumm, es tut mir leid..." Damit schüttelte sie die fremde Hand ab und rannte davon. Einen letzten Moment unentschlossen, drehte sich Ashling zu ihrer Geliebten um, sah ihr nach. Phoebe hatte sich die Einkäufe unter den Arm geklemmt und zog in Richtung Pension ab. Allein. Ashling wollte Gewissheit, rannte Karfunkel nach... Kapitel 6: Kaen --------------- "Leonce?" Zwischen den Scherben ihres Spiegels keuchte Ludovika atemlos den Namen ihres langjährigen Freundes. "Ludovika." Du hast meinen Spiegel kaputtgemacht, Leonce." "Ich weiß", antwortete der junge Mann, während er aus dem Türrahmen kam und sich zu ihr setzte, "es tut mir leid." Fahrig fuhr die junge Punkröhre durch ihr totgefärbtes Haar. "Ich hätte die Energie, die du mir angeboten hast, nicht annehmen müssen, oder?" Leonce hob eine der größeren Scherben auf, drehte sie nachdenklich in seiner Hand und prüfte ihre Schärfe. "Der Spiegel war alles für dich", gab er zu bedenken. "Das war er", gab sie ihm Recht. "Du hast durch mich gesehen?" "Ja." "Es war schlimm." "Das war es." Eine Weile saßen sie einfach nur da und versuchten zu verarbeiten, was sie eben gesehen hatten. Was sie wiedererlebt hatten. "Es wird nicht wieder passieren, Ludovika." "Da kannste drauf pissen, ich werd schon dafür sorgen.." "Ashling?" "Karfunkel?" "Danke." Ashling hatte ihre Freundin länger als eine Stunde quer durch das ganze Dorf gejagt, hatte sie schließlich zwischen ein paar halbfertigen Neubauwohnungen eingeholt und am Arm gepackt, woraufhin beide gestürzt waren. Keuchend saßen sie beide am Straßenrand, völlig verdreckt und schwitzend, und grinsten über beide Ohren. "Du bist eine von denen", sagte Karfunkel, als sie den Atem dafür gefunden hatte. "Ja", gab Ashling zu, "und du bist eine von Denen." Wieder mussten sie grinsen. "Deine Freundin hasst mich", lenkte die junge Frau im Poncho ein. "Sie hat allen Grund dazu", gab ihre Freundin ohne Poncho zu. "Ashling, wir wollen nichts Böses...wirklich. Wir, ich meine.." "So?" Nachdem die Hexe sich erhoben hatte schlenderte sie unruhig vor dem bunten Poncho auf und ab, klopfte Ihre Röcke ab und fischte Dreck und Blätter aus ihrem Haar. "Und was wollt ihr?" Karfunkel ließ sich mit ihrer Antwort Zeit, doch Ashling ahnte bereits, dass ihre Freundin es wahrscheinlich einfach nicht wusste. Genauso wenig wie sie selbst sich sicher war, was sie denn wollte. "Darf ich dir zeigen, was ICH will?", fragte die Jüngere sanft. Ashling nickte. Sehr langsam, fast gemächlich, führte Karfunkel sie zu einem der leerstehenden Häuser, stellte sich auf den Treppenabsatz vor die Tür. Ashling runzelte zweifelnd die Stirn. "Da rein?, fragte sie. "Vertrau mir." Karfunkel nestelte einen Moment unter ihrem Poncho herum, beförderte ein Stück weißer Kreide zu Tage und malte mit einer übertrieben theatralischen Geste ein Symbol an Augenhöhe an die hölzerne Tür. Ashling erkannte es als Keltische Rune, konnte aber nicht sagen, wofür sie stand oder was sie bedeutete und wartete ab, was geschehen würde. Ihre Freundin steckte die Kreide weg, ergriff entschlossen ihre Hand und gemeinsam gingen sie durch das Holz der Tür in einen dichtbewachsenen Wald. Völlig entgeistert blieb Ashling stehen, warf einen Blick über ihre Schulter zu der bemalten Tür, die mitten aus einem borkigen Baumstumpf wuchs. Tiere gab es keine, doch war die Luft erfüllt mit bunten Luftballons und Konfetti und an einem Baum zu ihrer Rechten wuchsen kandierte Äpfel und Halbfettmargarine. Schweigend gingen sie noch ein Stückchen weiter und mit jedem Atemzug duftete es intensiver nach Zuckerwatte und gebrannten Mandeln. Eine psychedelische Zirkusmusik drang von weit her in ihre Ohren und ließ sie schaudern. "Wo sind wir hier?", fragte sie staunend. "Das hier ist mein Reich", sagte Karfunkel stolz. "Ich habe es für die Menschen gemacht. Hier können sie alle glücklich sein. Sie haben alles, was sie möchten oder sich je erträumt haben, manchmal auch mehr, und es gibt immer und immer mehr Platz, egal, wie viele herkommen." Sie lächelte aufmunternd und wies ihnen den Weg aus dem Wald heraus auf einen hektischen Jahrmarkt, einen der alten, wie sie nur noch in Filmen zu sehen waren, ohne künstliches Licht und Lautsprecher, sondern mit Laternen und Drehorgeln, Schießbuden und Gauklern und Clowns. "Einige Menschen kamen ihnen entgegengelaufen. Ein kleines Mädchen auf einem Steckenpferd, ein turtelndes Pärchen mit einem Liebesapfel, ein ergrauter Mann und eine Schar Jugendliche. Alle wirkten fröhlich und grüßten, es fiel nie auch nur ein böses Wort, selbst als Ashling eine Frau mittleren Alters unsanft in die Rippen boxte, nur, um deren Reaktion zu sehen. Ashling fühlte sich in einem Bilderbuch wiedergefunden. "Was sind das für Leute, Karfunkel, ich verstehe nicht.." "Hallo Sabine", grüßte ein kleiner Junge Karfunkel und hielt ihr seine Zuckerwatte hin. "Hast du wieder jemanden mitgebracht?" "Vielleicht, Florian.." "Wie heißt die?", fragte er und seine Augen wirkten auf sie wie Scheinwerfer auf ihrer Seele. "Ich heiße Ashling, mein Kleiner. Hallo." Der Junge war davongerannt, noch ehe sie ihr schüchternes Lächeln aufsetzen konnte. "Er scheint mir...ein wenig schüchtern?", fragte sie ihre Begleiterin unsicher. Doch Karfunkel lächelte nur und führte sie weiter. Sie zeigte ihr Karussells und Attraktionen, führte sie in diese und jene Show, in denen die skurrilsten Dinge gezeigt wurden. "Das muss ich dir unbedingt noch zeigen!" Ashling bekam Akrobaten zu sehen, junge Mädchen, die sich verbiegen konnten wie Brezeln und muskelbepackte Gewichtheber in knappen Hosen. Alle Leute hier wirkten sehr glücklich auf sie und langsam konnte die junge Frau sehr gut nachvollziehen, warum. "Du hast nur einen Teil von hier gesehen, Ashling. Komm mit, ich muss dir was ganz Tolles zeigen!" Und schon waren sie wieder unterwegs. Ashling bekam andere Umgebungen zu sehen. Innerhalb eines Tages waren sie in Afrika, den Anden und auf dem Himalaja gewesen. Hatten in einer riesigen Rennaissance-Kathedrale Kuchen gegessen und in einem griechischen Garten Tofu gegrillt. Alles hier war so unglaublich groß und weitläufig und dennoch musste man sich nur wünschen, an einem bestimmten Ort zu sein und schon konnte man quasi hinüberschlendern. Dabei schien es egal zu sein, ob dieser Ort nun tatsächlich existierte oder nur in der Phantasie des Einzelnen. Bald war Ashling müde und erschöpft von den vielen Wundern, die sie zu sehen bekommen hatte. Sie sah Menschen, immer wieder die selben Gesichter, erkannte den kleinen Jungen, der heute morgen von ihr fortgelaufen war und fragte sich, ob er denn nicht auch müde sein musste. "Sag mal, Kafunkel, gehen diese Leute denn nie zurück nach Hause? Sie müssen doch irgendwann schlafen gehen." Karfunkel warf ihr einen verständnislosen Blick zu, lächelte dann aber aufmunternd und nickte. "Ach ja richtig, du bist noch nicht lang hier. Wenn du erstmal ein paar Tage hier bist, dann wirst du nicht mehr so schnell müde werden." "Tage? Karfunkel, ich muss bald zurück nach Hause, die anderen werden sich bestimmt schon fragen, wo ich bleibe." "Du musst überhaupt nichts", erwiderte ihre Freundin und ihr Gesicht wurde plötzlich sehr ernst. "Du kannst bleiben, solange du willst." "Gut, dann will ich jetzt bitte zurück." "Willst du, oder glaubst du nur, dass du es musst?", hakte Karfunkel nach und Ashling wurde misstrauisch. "Du? Diese Leute hier...sie KÖNNEN doch zurück nach Hause, oder? Ich meine, sie können diesen Ort verlassen, wenn sie es möchten?" "Wenn sie es möchten, ja. Aber jetzt lass' uns nicht trübsinnig werden, es gibt hier noch so viel zu sehen. Du hast nicht einmal einen Bruchteil gesehen! Warte, ich weiß! Ich stelle dir ein paar der anderen hier vor, okay? Dann kannst du selbst mit ihnen reden." Das schien Ashling eine gute Idee zu sein und sie nickte erleichtert und zustimmend. "Sieh dich ruhig noch ein wenig um, wir finden dich dann schon." Und schon war sie zwischen dichtem Buschwerk verschwunden. Ashling drehte sich ein Mal um sich selbst, betrachtete ihre Umwelt. Alles wirkte echt, die Blätter, das Gras...Bäume, Büsche und der Himmel. Es roch nach Natur. Das einzige, was irgendwie ungewohnt wirkte, war der nahezu greifbare Frohsinn, der die Luft und die Herzen der Menschen, die hier lebten, erfüllte. Und irgendetwas, das es in der "echten" Welt, hinter der Holztür, überall gab, das hier aber fehlte. Ashling dachte angestrengt nach, doch sie kam nicht darauf, was es war. War es denn wichtig? Bestimmt nicht. Lächelnd suchte Ashling den Weg aus dem Wald heraus und trat auf das Kopfsteinpflaster einer fast schon märchenhaften Straße, die gesäumt von Alleebäumen und hochgewachsenen, teilweise etwas wirren oder windschiefen Häusern. Sie wollte gerade in ein besonders buntes Haus hineinhüpfen, als sie ihn zum ersten Mal sah: Ein Junge, schlaksig und ganz in schwarz gekleidet; Shinya. Gerade wollte sie ihm nachlaufen, als eine Hand sie am Oberarm packte und durch die rosafarbene Tür ins innere des Hauses zog. "Hallo, junge Dame. Sind sie gekommen, um sich meine berühmte Kunstsammlung anzusehen?" Nein, das war sie nicht. Doch die alte Dame, die ihr voller Vorfreude entgegenlächelte, ließ sie nicken und eintreten. Noch bevor Ashling den spartanisch eingerichteten Vorraum hinter sich gelassen hatte, war der schlaksige Junge vergessen.... ------------------------- "Ich kann einfach nicht glauben, dass Ashling sich mit dieser verlogenen Schlampe einlassen konnte", polterte sie Raphael entgegen, der ihr sanft den Arm auf die Schulter legte und an einem Lächeln scheiterte. "Sie muss es doch auch sofort gesehen haben! Verdammte Scheiße, sie weiß doch sonst alles." "Phoebe, beruhig' dich doch endlich, gib ihr ein wenig Zeit das alles zu verarbeiten, sie hat das Mädchen für eine Freundin gehalten.." "Leon, Mann!", bellte Phoebe, "Die Alte ist EINE - VON - DENEN". Sie betonte es für ihn, als verstünde er ihre Sprache nur teilweise. "Und weshalb können sie deswegen nicht befreundet sein?", unterbrach sie Raphael. Sie wusste, dass er die Frage ernst meinte, also fuhr sie nicht sofort wieder aus der Haut, sondern erklärte es ihm nüchtern. "Weil wir seit was-weiß-ich-wievielen Generationen Krieg mit denen führen, Raphael, darum." Raphael ballte die Hände zu Fäusten, atmete einmal laut aus. "Phoebe, wann versteht ihr das endlich, es kommt nur zu Kriegen, wenn Menschen sie zulassen. Wenn wir Freunde werden, dann GIBT ES KEINEN KRIEG!" Er hatte die letzten Worte beinahe geschrieen und nicht nur Phoebe war sichtlich überrascht. Raphael behielt immer die Fassung. Raphael zählte Fakten auf und wertete sie aus. Raphael war der Fels, wenn alle anderen wie Sand im Meer schwammen. "Meinetwegen sollen sich die Beiden doch gleich nach Amerika absetzen", giftete Phoebe, "solange sie ihre Freundschaft damit pflegen." Ludovika stopfte ihren Kaugummi in die Ritze zwischen den Beiden Hälften des Sofas, auf dem sie saß. "Ich finde Amerika scheiße." "Ludovika hat in ihren Spiegel gesehen", versuchte Leonce das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. "Sie hat nach ein paar der Namen auf deiner Archiv-Liste mit den verschwundenen Leuten gesucht, Raphael." "Tatsächlich?", Raphael hatte seine Fassung wiedergefunden und fuhr sich mit der Rechten durchs Haar. "Hast du etwas gesehen, Ludovika?" "Nich’ wirklich", sagte sie. "Der Spiegel ist da sehr undeutlich", ergänzte Leonce. Ludovika gähnte demonstrativ, bevor sie weitersprach. "Irhendwie sind einfach alle abgehauen. Irgendwas, das... also das is echt schwer...das gibt’s nich. Nich’ für uns. Also kein anderes Kaff oder sowas, ok? Weiß auch nich’, ne Zwischensphäre...na ja, und ein oder zwei davon sind heute genauso alt, wie damals, als die abgehauen sind. Mehr weiß ich auch nicht." Mmmh" , machte Raphael., "meinst du, du kannst noch mehr rausfinden?" "Ne." "Der Spiegel ist zerbrochen", erklärte Leonce. "Da ist nicht viel zu retten." "Zerbrochen." Raphaels braune Augen ruhten mitleidvoll auf dem jungen Punkmädchen. "Tut mir leid." "Mach dir mal nich' ins Hemd, Mann", lachte diese. "Der war sowieso viel zu sperrig. Damit fällste überall auf." Sie grinste frech, doch Leonce fiel auf, dass sie Raphael die Vision der Flutwelle verschwieg. Vielleicht war es besser so. Er konnte nicht wissen, dass Raphael ihnen ebenfalls etwas verschwieg.... "...noch heute stehen die Ruinen dieser Burg in den Wäldern hinter meinem Haus. Du musst ein Stück laufen, aber dann, gleich hinter der Gartenlaube, findest du sie. Man munkelt, die Gebeine von Prinzessin Sofia liegen unter dem Burgfried begraben." "Die Geschichte nimmt einen wirklich mit", versuchte Ashling der Erzählung der Alten Respekt zu zollen, "Sie wissen wirklich viel über unsere Welt." Die alte Frau lächelte gutmütig und schenkte ihnen noch einmal Tee nach. "Alles, meine Kleine." "Wie alles?", zweifelte Ashling. "Niemand weiß "alles". Alles existiert quasi überhaupt nicht." "Versuch's", grinste ihre Gastgeberin und verschränkte die arme vor ihrer schlaffen Brust. "Wann kommt endlich Karfunkel?", fragte sich 'die Kleine' in Gedanken, "Sie hat doch gesagt, sie käme bald mit den anderen." Hatte sie sie vergessen? Ashling bekam ein flaues Gefühl im Magen. Möglicherweise hatte sie das wirklich. Bei Karfunkel wusste man nie... Sie suchte nach einem Ding, etwas über das sie gut Bescheid wusste und womit sie die alte Frau prüfen konnte. Etwas Schwieriges. "Natürlich, ich hab’s!" Sie schnippte mit ihren schlanken Fingern. "Habichtskraut. Was wissen sie darüber?" Die Alte lachte wieder. "Habichtskraut, soso. Du bist ein aufgewecktes junges Ding", bescheinigte sie. "Meine Tochter Ilse war auch so eine. Nun, Habichtskraut. Botanischer Name 'Hieracium pilosella', im Übrigen Dukatenröschen, Mauseohrkraut und Mäuseöhrchen genannt. Im Herbst ausgesät, kann man das Habichtskraut in seiner Blütezeit von Mai bis Oktober ernten und trocknen. Das Habichtskraut dient in erster Linie zur Vorbeugung von Krankheiten und Stärkung der Körperabwehr, außerdem wirkt es blutbildend." Ashling schluckte. Dass Habichtskraut Blutbildend wirkte, hatte sie nicht gewusst. "Oh, fast hätte ich es vergessen. Du kannst es außerdem sehr gut gegen Schweißfüße und Fußgeruch einsetzen", endete die Oma. "Woher weiß ich, dass es stimmt, was sie sagen?", fragte Ashling. "Ich gebe dir mein Wort", versprach die Alte. "Und wenn ich es sicher wissen will?" Schmunzeld verschwand "Erna" hinter ihren Unmengen von Bücherregalen und kam wenige Zeit später mit einem dicken Einband zurück. "Mutter Kunigundes Kräuterallmanach", las Ashling leise. "Hier steht es", wurde ihr gesagt und ein knochiger Zeigefinger tippte auf die entsprechende Stelle in dem Wälzer. Völlig baff winkte Ashling ab. "Sie wissen tatsächlich sehr viel, Frau Witt. Haben sie alle diese Bücher gelesen?" Plötzlich kam ihr ein weiterer Gedanke und eilig hängte sie ihn an: "Sind sie schon lange hier?" "Jedes einzelne", freute sich Erna über ihr geerntetes Lob. "Und mehr. Ich habe jedes Buch der Welt gelesen und hier drin (sie tippte sich an ihre Stirn) gespeichert. Was du mit "hier" meinst, musst du mir allerdings noch mal erklären." "Na diese merkwürdige Welt", sagte Ashling, "wo wurden sie geboren, wo haben sie ihre Familie zurückgelassen? Wurden sie auch von Karfunkel hergeführt?" "Ich kann dir nicht helfen, junges Fräulein. Ich lebe schon immer hier, was meinst du damit?" "Dies hier ist nicht die natürliche Welt, Frau Witt. Sie ist...künstlich." "Künstlich?" Das alte Weib runzelte müde die Stirn. "Ja, das ist nicht die Wirklichkeit. Ich meine...wie soll ich es erklären?" Ein Gedanke kam ihr. "Tiere!", rief sie aus. "Es gibt keine Tiere in dieser Welt." "Tiere..." Erna Witt sah aus, als versuche sie sich an etwas zu erinnern, dass sie einmal gekannt, jedoch schon sehr lange vergessen hatte. "Tiere...", wiederholte sie noch einmal und verschwand zwischen ihren Büchern. Diesmal brauchte die Frau sehr lange, um mit einem Buch zurückzukehren und sie lächelte nicht. "Du hast tatsächlich Recht, mein Kind. 'Tiere' ist tatsächlich ein Begriff, den es gibt. Hier, schau nur, hier steht, etwas von 'Katze' in Verbindung mit Tieren. Außerordentlich. Seltsam." "Was ist das für ein Buch, Frau Witt?", wollte Ashling wissen." "Oh, eigentlich völlig uninteressant. Ein altes Tagebuch von mir, ich hatte es längst vergessen. Als ich vor Jahren hierher gezogen bin von...ich weiß es nicht, hier ist auch nichts vermerkt...als ich hier einzog hatte ich viele dieser Tagebücher, aber das Mädchen, das du Karfunkel nennst, sie hat sie sich nacheinander alle ausgeliehen, weil sie sich dafür interessiert hatte. Aber sie ist ein unordentliches Mädchen und hat sie alle verloren oder irgendwo verlegt. Ich habe keins davon je wiedergesehen, deswegen habe ich dieses eine auch behalten. Ich hab es versteckt, aber irgendwie muss ich es dann vergessen haben..." Vergessen. Das passierte einem hier ständig, in dieser abgedrehten Welt und Ashling beschlich wieder die Angst, hier nie wieder herauszukommen. Wenn Phoebe doch nur hier wäre, sie würde ihr beistehen. Mittlerweile fragte sich Ashling, ob es nicht doch so war, wie Phoebe gesagt hatte und Karfunkel nicht zu trauen wäre. Auf dem Buchrücken des Tagebuchs stand in gewundenen Lettern "Erna Witt, Herbertweg 25, Tagebücher / 9" Also hatte auch Erna alles aus ihrem wahren Leben vergessen. Oder wurde dazu gebracht... "Ashling! Na endlich! Ich hab schon gedacht, ich finde dich niemals wieder, was machst du denn ausgerechnet hier?" "Karfunkel, ich.." "Kein Problem", grinste Karfunkel, "ich hab dich ja schließlich doch noch aufgespürt. Guten Tag, Frau Witt." Die Alte zeigte keinerlei Reaktion. "Stimmt was nicht mit ihr?", fragte Karfunkel etwas leiser und schien sich wirklich zu sorgen. "Nein, nein, alles in Ordnung, wirklich. Sie hat nur...eine alte Leidenschaft neuentdeckt." "Hat sie das", lächelte Karfunkel, "das ist ja wirklich schön." Sie schob Ashling sanft von der alten Frau, die völlig abwesend in ihr Buch starrte und mit leerem Blick den Zeilen folgte und flüsterte ihrer Freundin ins Ohr: "Sie mag mich, glaube ich, nicht besonders. Wollen wir vielleicht rausgehen? Ich möchte dir jemanden vorstellen." "Gern", log Ashling und gemeinsam verließen sie, ohne Erna Witt Auf Wiedersehen zu sagen, das Haus. "Ganz schön schräg drauf", kicherte Karfunkel und deutete in Richtung von Ernas Haus, als sie bereits auf der Straße standen. "Ja, aber sie weiß eine ganze Menge", hörte Ashling sich selbst sagen. "Zumindest glaubt sie das....aber zu Wichtigerem. Ashling, ich möchte dir jemanden vorstellen. Das ist Kaen, ein guter Freund von mir. Kaen, das ist Ashling." Erst jetzt bemerkte Ashling, dass vor ihr auf der Straße noch jemand stand und sie selig anlachte. Ein junge von etwa 17 Jahren mit rabenschwarzem Haar und in dunkle Kleider gehüllt winkte ihr aufgeregt zu und reichte ihr die Hand. "Hallo Ashling, schön dich kennenzulernen", begrüßte er sie und lachte wieder. Das war er. Der Junge, den sie für Shinya gehalten hatte. Sie hatte sich geirrt. Trotzdem, die Ähnlichkeit war verblüffend. Zu verblüffend. Sie glichen sich, wie ein Ei dem anderen..das heißt: war es so? Irgendetwas stimmte nicht, doch Ashling konnte sich für den Moment nicht entsinnen, was... "Wie kann das sein?", dachte sie. Shinya hier. Shinya war auf keinen Fall hier, Shinya war nun mit den anderen in der Pension. Aber wenn er hier und doch dort war, war sie selbst dann auch noch in der "realen" Welt? Konnte es sein, dass sie gerade mit Phoebe sprach, sich ihre Vorwürfe anhörte und es nicht merkte? "Wenn das wahr wäre", dachte sie, "dann wäre das ein sehr trauriger Gedanke." Trotzdem zwang sie sich zu einem offenen Lächeln. "Hallo Kaen. Freut mich." Karfunkel wirkte sehr zufrieden mit sich und grinste über das ganze Gesicht. "Ich wusste, ihr würdet euch mögen", flötete sie und schlenderte zu einem der vielen Maronenverkäufer hinüber, die in dieser Teil der "anderen Welt" so zahlreich vertreten waren und kaufte gleich drei Tüten der dampfenden Leckerein. "Sollen wir ihr unseren Lieblingsort zeigen, Kaen? Was meinst du?" "Ich weiß nicht", grinste Shinya und setzte gleich darauf eine perfekte Unschuldsmine auf (Ashling war im Stillen sehr erstaunt. Sie hatte immer geglaubt, Shinyas Gesicht könnte nur 3 Minen formen. Das Traurige, das Gleichgültige und das Trotzige). "Sie muss sich vorher als würdig erweisen" "Bitte?", entfuhr es Ashling, die ihre beiden Freunde langsam sehr kindisch fand. Karfunkel hatte bereits Feuer gefangen und stimmte ihm eifrig zu, nur wer den Test bestünde, wäre es Wert, den Ort sehen zu dürfen. "Dann lass mal sehen, was du so draufhast", schrie Shinya - immer wieder durch das Lachen Karfunkels unterbrochen - der verdutzten jungen Frau zu, seine Stimme durch das Heulen und Tosen des Sturmes schlecht zu verstehen. In der letzten halben Stunde (oder war es der ganze Tag gewesen? Ashling konnte sich nicht wirklich entsinnen) hatten ihr die Beiden gezeigt, wie man mithilfe von Magie glitzernde Kristallbäume, durchscheinende Schmetterlinge in allen möglichen (und unmöglichen Farben), singende Luftballons und geflügelte Torten erschuf und ihr Werk nur unterbrochen, um in schallendes Gelächter und beinahe hysterisches Kichern auszubrechen und "Mein Bauch, mein Bauch" zu heulen. Zu guter Letzt hatte jeder der Beiden noch sein persönliches "Meisterstück" präsentiert, das bei Karfunkel ein sprechender rosa Hundehaufen von der Größe eines Feldhasen und dem Duft hunderter Pfingstrosen und bei Shinya ein Wirbelsturm, der sie alle durch die Gegend wehte und "Jingle Bells" sang, war. Ashling war sich nicht sicher, ob es richtig war, Magie für solche Spirenzchen zu missbrauchen, aber sie hatte nun lange genug zugesehen, wie die anderen Zwei ihren Spass ohne sie hatten. Außerdem war dies die erste Gelegenheit für sie, mit ihrer Magie anzugeben, da andere Menschen sie entweder entsetzt angeblickt oder gleich die Polizei gerufen hätten. "Also gut", wetterte sie. "Ihr habt es so gewollt." Sie nahm einen festen Stand ein, hob die Hände über den Kopf und konzentrierte sich auf ihren Energiefluss, das Rauschen des Blutes in ihren Ohren, den Wind, die Macht der Erdenmutter und des Gottes, ihrem Gemahl. Sie sah sie lächeln, begann die gesammelte Kraft umzuwandeln.... -------------------------------- Shinya wusste später nicht zu sagen, wie lange er in diesem vermoderten Wohnzimmer auf dem knarrenden Holzstuhl gesessen und die zerfetzten Vorhänge angestarrt hatte, um nicht wahnsinnig zu werden, während ihm 'aufgegeben' abwechselnd die Schläfe massiert und ihm mit unmenschlich langen Fingernägeln die Haut zerkratzt hatte. Er wusste nicht, an wie vielen Stellen die spindeldürre Leiche mit ihrer rauhen, kalten Zunge an ihm geleckt hatte, um in seiner Angst zu baden. Er hatte sich Mühe gegeben nicht zuzuhören, was ihm der Junge unablässig ins Ohr flüsterte. Obszöne Dinge, gemeine Dinge, Liebesbekundungen und Morddrohungen waren es gewesen. Dennoch gingen ihm zwei Sätze später, als alles vorbei war, nicht mehr aus dem Kopf: "Du bist Schuld an ihrem Tod" und "Liebe und Hass sind zwei Seiten einer Münze – Der Lust." Er wusste nicht, wie lange er in weiche Kissen gebettet auf dem strahlend weißen Federbett mit diesem wunderschönen Baldachin darauf gewartet hatte, dass es von vorn geschah, dass IRGENDETWAS geschah. Und noch immer lag er hier. Viel zu ängstlich, sich zu rühren. Viel zu müde zu denken. Zu schwach zu schreien. "Shinya", flüsterte der Wind an sein Ohr. ~Shinya~ Endlich traute er sich, die Augen zu schließen. Sein einziger Schutz davor, dem Tod in die Augen zu sehen, verrückt zu werden. ~Du kennst meinen Namen also endlich, Shinya~ "Kluges Kind!" 'aufgegeben' stand direkt neben ihm, beugte sich über ihn. Sein Atem war kalt und warm zugleich. Süßlich-faulig. Schwer. "Du hast mich belogen, aufgegeben." Die Worte kosteten den Jungen beinahe mehr Kraft, als er noch hatte und die Welt begann sich um ihn zu drehen. "Du hast gesagt, du würdest mich zu ihm bringen." Die Nägel des Todes bohrten sich unter die Lider des Knaben, zwangen ihn, der Perversion in die gebrochenen Augen zu sehen. Er zwang Shinya, sich selbst aufzugeben. Er machte ihn abhängig, versklavte ihn durch seinen Blick. "Zu ihm?", fragte er schelmisch. "Ich kann mir nicht denken wen du meinst, mein kleiner Shinya." "Du weißt, wen ich meine", stöhnte Shinya und weinte. "Du lügst." "Weiß ich es?", lächelte der Tod und bleckte die Zähne. "Vielleicht." Er gab die Lider seines Opfers frei und lachte diabolisch. "Ich will, dass du es sagst", schrie er. "Sag es, du Made, oder ich hole dich hier und jetzt zu mir und wir haben alle Zeit dieser Welt, um die Sache auszudiskutieren. SAG ES! (Er riss ihm derart abrupt die Augen auf, dass Shinya Angst hatte, aufgegeben würde ihm die Lider ausreißen) Ich will wissen, an wen du in den düstersten Stunden deines Daseins denkst, während deine sogenannten FrEuNdE wenige Schritt weiter im nächsten Raum sitzen und sich den Kopf über dich zerbrechen. SAG ES ENDLICH!" "Ich kann nicht", weinte Shinya, die Tränen rot vom Blut der aufgerissenen Augenlider. "Ich kann es nicht.." "SAG ES!" Er knabberte an der zitternden Unterlippe des Jungen, hechelte aufgeregt. "Wer ist es, der es als einzigster Wert ist, dass du an ihn denkst, Shinya?" "Bitte..." "SPRICH!" "Shu". Sein Herz zersprang.. "Shu", wiederholte der Tod. "Der Mann, der euer erklärter Feind ist." Er kicherte böse. "War er es nicht, der damals deiner Freundin Phoebe das Herz ausgerissen und seinen Luv zugeworfen hatte... lachend? Der vor ein paar Jahrzehnten ein ganzes Dorf umgebracht hat? Frauen..Kinder...Alte und Wehrlose? Etwa der Mann, der seit Jahrhunderten einer derer ist, die euch immer wieder in den Schlund der Hölle werfen, um dann selbst in dessen Feuer zu verbrennen?" Shinya schrie vor Schmerz laut auf, wollte sich die Ohren zuhalten, doch aufgegeben hielt sie mit unnachgiebiger Kraft fest gepackt. "Aber... ist es nicht eben DER Mann, der dir das Schlimmste angetan hat, dass ein Mann einem Mann antun kann? Ihn vögeln bis er nicht mehr sitzen kann? Unsagbar erniedrigend. Die größte Schmach...der Schmerz, wenn man das harte Glied eines fremden Mannes, eines erklärten Rivalen, im eigenen Körper hat. Sozusagen zu seinem Weib zu werden - ich mag es mir gar nicht vorstellen." Shinya wollte ohnmächtig werden. Er hatte es gewusst. Alles gewusst. Er hatte immer gewusst, dass Shounen ER war, alles das war, was aufgegeben ihm nun ins Hirn spcukte. Er hatte sich erinnert...aber nicht erinnern wollen. Es verdrängt. Nicht einmal das. Er hatte es gewollt. Er wollte Shounen. Shu. "Ich wusste es", flüsterte aufgeben, "die ganze Zeit über. Immer schon. Du bist so erbärmlich, Shinya. Vielleicht sollte ich dich lieber schnell töten, um dich von deinem Leid zu erlösen...aber das wäre ein Verstoß, Shinya, so leid es mir tut. Das kann ich nicht tun, du musst mich verstehen. Der Tod wartet auf seine Besucher, er lädt nicht zum Kaffe. Ich werde dich mit der Gewissheit, dass du der Abschaum der menschlichen Rasse bist, zurücklassen müssen. Vielleicht bringst du dich am besten selbst um. Als dein Freund würde ich es dir raten...wobei...das kannst du ja nicht. Natürlich nicht. Du würdest deine Freunde verraten. Sie wären zum wiederholten Mal der Hölle ausgeliefert und damit kannst du nicht leben. Du kannst mit gar nichts leben, Shinya. Aber eben auch nicht sterben.. Eine ausweglose Lage..." Kapitel 7: Leonce ----------------- Ashling vermochte später nicht zu sagen, ob sie nun 4 Stunden oder vier Tage geschlafen hatte. Nach ihrer kleinen Magievorstellung hatte sie sich gefühlt, als sei einer der Traktoren, die in dieser ländlichen Gegend so zahlreich zu finden - vor allem aber zu hören - waren, über sie hinweggerumpelt. Trotzdem war es ein befreiendes Gefühl gewesen. Sie hatte all den aufgestauten Druck und die gesammelten Ängste von sich abfallen zu spüren geglaubt und nun, da sie auch endlich die verlorenen Stunden des Schlafes aufgeholt hatte, fühlte sie sich schlicht neu geboren und zu allem fähig. Sie hatte vorgehabt, Karfunkel, die nun den klangvollen Namen "Kirschkern" angenommen hatte, nach diesem Ort zu befragen, ihr seine Geheimnisse zu entlocken, denn sie war sich nun sicher, dass diese den Schlüssel in Händen hielt, der ihr hier alle Türen öffnen würde. Türen, hinter denen Antworten zu finden waren und nicht nur immer weitere Fragen und Rätsel. Doch hatte sie sich damals einfach zu erschöpft gefühlt, es aufgeschoben und schließlich einfach vergessen. Vergessen, das geschah hier, an diesem einerseits wunderschönen idyllischen Ort, sehr schnell. Andererseits war sich Ashling schmerzlich bewusst, dass gerade seine vollkommene Schönheit das gefährlichste an dieser Welt hinter der Welt war. Man vergaß, dass auf Erden nicht nur Schönheit und Frieden auf seine Bewohner warteten. Sie erinnerte sich an den Klang von Elektrogeräten, an das Piepsen des Funkweckers oder den Alarm eingeschlagener Schaufenster und sie erinnerte sich an ein lautes Röhren und Hupen, wie ein Horn, aber seltsam verzerrt, unecht. Künstlich? Kurz überlegte sie, kam dann jedoch zu dem Schluss, dass etwas, dass so schnell in Vergessenheit geraten konnte, keinen allzu großen Wert haben konnte und schüttelte energisch den Kopf. Vergessen. Es war einfach. ---------------------- Fensterglas barst und streute glitzernde Geschosse, regnete in Kaskaden glänzender kleiner Kristalle auf die drei herab und schnitt Ludovika über Gesicht und Unterarme. Sie riss Leonce mit sich auf den Boden, suchte Schutz hinter dem kleinen Sofa und warf sich schützend über seinen Körper, wobei sie sich die Arme über den Kopf riss und laut fluchte. Raphael handelte nicht weniger geistesgegenwärtig und sprang mit einem Satz hinter die offenstehende Tür, wo nun auch er von den schlimmsten Salven verschont bleiben würde. Für einen Moment glaubte Ludovika die Scherben in der Luft singen zu hören, schloss erwartungsschwer die Augen und horchte in sich hinein. Sie nahm die Gegenwart zweier Menschen in diesem Raum wahr. Leonce und Raphael. Es roch nach Angst und Verwirrung, aber auch nach Gefahr. Sie spürte zwei weitere Individuen, die sich unmittelbar hinter den beiden zerschlagenen Fenster aufhalten mussten. Sie waren groß, menschlich. Ein Mann und eine Frau. Sie waren sehr angespannt. Und kampfentschlossen. "Verdammt, verdammt!" Leonce' Stimme riss sie zurück in die Gegenwart. Die Zeit, die gerade noch so mitfühlend langsam verlaufen war, rastete beinahe hörbar ein und so schien nun alles unglaublich schnell zu geschehen. Ludovika hatte Mühe das Geschehen zu verfolgen. Zu beiden Seiten des Raumes stieg eine Person in das Zimmer ein. Eine hielt eine Handfeuerwaffe, die andere schien die Hände frei zu haben. Weit entfernt glaubte die junge Frau einen Alarm zu hören, der fast synchron mit Leonce' keuchendem Atem anschwoll und wieder nachliess, fast versiegte, um sofort wieder lauter zu werden. Erschrocken riss Ludovika den Kopf von ihrem geliebten Freund los, sah nach Raphael, doch der hatte sich fest an die Wand gepresst, um hinter der Tür nicht gesehen zu werden und sah sie fast beschwörend an. Was wollte er von ihr? Zu spät bemerkte sie, dass sich das Bild der beiden Fremden erschreckend geändert hatte, seit sie das letzte mal zu ihnen herübergelugt hatte. Sie sah schwere Schuhe direkt vor sich. Stiefel. Ähnlich ihrer eigenen. Ein Klicken, der Geruch von Siegesgewissheit, dann der Schuss. Sie spürte den Schmerz vor lauter Überraschung kaum, sehr wohl spürte sie aber ihr eigenes Blut, wie es warm über ihre Schulter floss. Sie biss die Zähne zusammen, krampfte sich schier um ihren Freund, um wenigstens ihn vor weiteren Schüssen zu bewahren, spannte die Muskeln zum Zerreißen an und wartete. Der erwartete zweite Schuss blieb aus, dafür erklang über ihr ein überraschter Aufschrei, ein dumpfer Schlag. Raphael musste sich von hinten an den Kerl herangeschlichen haben. Ludovika wusste auch ohne hinzusehen, dass er dem Fremden eines von Ashlings dicken Büchern um die Ohren geknallt hatte. Es roch nach Staub und Altertum und ihre tierischen Instinkte waren um vieles sensibler, als die der Menschen. Blitzartig sprang die Punkerin auf, hob den Kopf an und traf damit den Unterkiefer ihres Angreifers, bereute ihre Heldentat jedoch im selben Moment schon wieder, als sie sich der Schusswunde bewusst wurde, die plötzlich viel zu stark zu schmerzen schien. Sie rang die bunten Lichtblitze vor ihren Augen nieder und hieb nach dem Mann, verfehlte aber. Mit einem seltsam gedämpften Laut schlug sie auf dem Boden auf. Leonce stöhnte leise unter ihr. Ihr blieb keine Zeit zu denken, sie musste handeln, reagieren. Sie musste ihr Menschsein für diesen Moment ausschalten. Der Mann trat nach ihren Rippen, sie wusste, dass er es tat, bevor er zum Tritt ansetzte, konnte seine Freude riechen, und fing den Stiefel ab, drehte ihn herum. Der Angreifer verlor sein Gleichgewicht und wedelte mit den Armen nach einem festen Stand, was Ludovika ausnutzte, um ihrerseits wieder auf die Beine und von Leonce herunterzukommen. Sie schaffte es beinahe schnell genug. Die zweite Person hatte ihre freie Handlungszeit genutzt. Sie hatte es irgendwie geschafft von hinten an sie heranzukommen, um ihr etwas metallenes in die Hüfte zu rammen. Die Luft im Raum roch nach Blut. Ludovika nahm auch das Blut Raphaels wahr. War er also auch schon ausgeschaltet? Im selben Moment, in dem sie zum zweiten Tritt ansetzte, erreichte die Waffe in ihrer Seite etwas scheinbar sehr wichtiges, denn sie spürte, wie sie erneut zu Boden ging, wunderte sich darüber, dass sie nicht wieder auf Leonce knallte und verlor für einen winzigen Moment das Bewusstsein. Oder träumte sie es nur, weil es ihr Wunsch war? Die Punkerin versuchte noch einmal, hochzukommen. Beim zweiten Mal wurde dieser Versuch mit weiteren Tritten belohnt. Ludovika spürte, wie die beiden Angreifer einen langen Blick austauschten, ein Windhauch. Jemand wedelte mit der Hand. Der Mann verließ den Raum. Schritte, Metall. Die Frau beugte sich über Raphael...plötzlich verbannte die Präsenz von Leonce jede Wahrnehmung in ihr. Sie tastete nach seiner Hand, fand sie direkt über ihrem Kopf. Sie lauschte seinem Atem, er hatte die Situation bereits erfasst. Unsicher öffnete sie ihre Augen, schloss sie mühselig. Leonce durchflutete sie, nistete sich in jede Faser ihres Körpers. Er besetzte intime Gedanken, verbannte jede Privatsphäre. Ludovika zwang sich dazu, sich nicht zu verkrampfen und ihn damit auszusperren, sondern ließ ihn tun. Kraft... Ein Moment, der sich ausdehnte, kaum zu erfassen, doch nahezu unerträglich lang. Hunger... Pulsieren, Die Präsenz schwoll ab, Leonce verkroch sich, räumte ihr ein wenig Handlungsfähigkeit ein. Wille. Mit einer fließenden Bewegung spürte sie sich selbst auf die Füße kommen, dann setzte ihr Bewusstsein in jeder Hinsicht aus. Schließlich kniete sie über dem Körper der Frau, deren Blut ihre Kehle benetzt. Ekstase. Ludovika war bereits aus dem Zimmer gestürzt... Kapitel 8: Erna --------------- „Leon?“ Fast vollkommene Stille. Nach dem überraschenden Auftauchen der beiden Fremden in der Pension und dem folgenden Kampf, bei dem Ludovika ihren Kräfte letztendlich unterlag und verschwand, war es nun fast unheimlich still. Die Luft knisterte noch immer, doch bildeten die einzigen wirklichen Geräusche, der Wohnzimmervorhang, der sanft im Wind schaukelte und Raphaels eigenes Schnaufen, und somit ein eigenwilliges Ensemble. „Leon?!“ Etwas – JEMAND! – bewegte sich. Es war deutlich zu hören. Aus der Richtung der Couch wohl.. Leonce. Also war er am Leben. Eine gute Nachricht. „Ja..“ „Leon, geht es Dir gut? Bist Du verletzt? Kannst Du aufstehen?“ Müde Bewegungen. Leonce schien sich unendlich langsam zu bewegen, kraftlos. „Ja. Was ist mit Dir, Raphael, bist Du in Ordnung?“ „Oh, ehm..“ Darüber hatte der Ältere noch gar nicht nachgedacht. Ganz automatisch hatten seine ersten Gedanken Ludovika und Leonce gegolten. Er war erleichtert, dass es zumindest Leon gut zu gehen schien, wollte sich aber unbedingt selbst überzeugen und dazu war es wichtig, dass er es schaffte aufzustehen und hinter der Tür hervorkam, hinter die er nun zum zweiten Male geflüchtet war. Seine Deckung. Vorsichtig versuchte er sich aufzurichten. Seine Hüfte schmerzte und der Schädel schien zu bersten, bis er an die Wand gelehnt dasaß. An aufstehen war nicht zu denken und er war dankbar nicht schon wieder zu seinem Freund hinüberbrüllen zu müssen. Leonce stand bereits vor ihm. Müde sah er aus, mit dunklen Ringen unter den Augen, die Haut fahl, fast grau. Man sah ihm seine sonst unverwüstliche Lebensfreude kaum mehr an. Leon. Er war immer ein ruhiger Mensch gewesen, der niemals vorschnell das Wort ergriff und lieber zuhörte, als dass er selbst sprach. Dennoch wirkte er nie traurig, passiv oder teilnahmslos, sondern versprühte diese gehauchte, nicht greifbare und doch immer präsente Zuversicht, die ihn umgab und sofort auf seine Gefährten übergriff. Wie ein Nervengift. Jeder war gern mit Leonce zusammen, und sei es nur, um sich anzuschweigen. Seine sonst so schönen, glatten und schwarzen Haare (Raphael erinnerte sich, beim ersten Zusammentreffen kurz an die Beatles gedacht zu haben, verwarf das aber schnell wieder) klebten nun strähnig und verschwitzt an seiner Stirn, das bübische Gesicht, seine edlen Züge, all das wirkte nun eingefallen und kränklich. Ein Geäst blauer Adern zeichnete sich unter seiner blassen Haut ab. Dennoch lächelte er, als er Raphaels mitleidigen Blick empfing, unvermittelt und ein Teil seines alten Charismas kehrte zurück. „Nun schau nicht wie ein Auto und lass Dir lieber aufhelfen, alter Mann. Mir geht es gut und wird es sehr schnell besser gehen, aber deinen Kopf sollten wir uns ansehen, Du musst ordentlich eins auf den Deckel bekommen haben.“ Er beugte sich zu Raphael herab, stützte ihn und half ihm aufstehen. Da auch er noch recht wacklig stand stellte sich das Unterfangen als recht holprig heraus, aber es gelang ihnen schließlich – jeder gestützt vom anderen – in eines der Schlafzimmer, wo sie nebeneinander aufs Bett fielen und jeder für sich durchschnaufen und das Geschehene verarbeiten konnte. Schließlich war es Raphael, der zuerst sprach: “Was ist mit Ludovika geschehen, Leon?“ Es dauerte eine Weile bis dieser antwortete. Raphael war sich nicht sicher, ob er nur nachdachte, oder bereits eingeschlafen war, doch schließlich: „Sie ist ihrem Ruf gefolgt. So hat sie es selbst mal genannt. Wenn zu viel Adrenalin um sie, in ihr, aufpeitscht und ihre Kräfte ausreichen, dann übernimmt das Tier die Kontrolle und sie wird zum Wolf. Sie ist kein wirklicher Wolf, natürlich. Aber wenn Du sie siehst – in diesem Zustand – Du hast augenblicklich Respekt vor ihr. Und Du nimmst Abstand. Das ist auch der Grund für ihre ablehnende Haltung. Sie will sich keine Freunde machen, die sowieso wieder abhauen, sobald sie Wind von ihr bekommen.“ Er schnaufte. „Ludovika ist eine liebenswerte Person, ich hab sie sehr gern. Sie wird eine Weile draußen rumrennen und den Mond anheulen, in ein paar Stunden ist sie erschöpft und kommt von allein zurück. Um sie müssen wir uns keine Sorgen machen.“ „Greift sie Leute an?“ „Wen soll sie denn angreifen? Sie wird von ganz allein Richtung Wald rennen, weil der Ruf dort am Stärksten ist, und dort geht niemand hin.“ „Bis auf uns.“ „Bis auf uns.“ Beide schliefen sie ein. „Kirschkern?“ Kirschkern rührte sich nicht, doch Ashling war sich sicher, dass diese sie gehört hatte und nur deshalb nicht reagierte, weil sie bereits wieder einen anderen Namen angenommen hatte und die Errungenschaft auskosten wollte, darum wartete sie einfach kurz ab. Kirschkern war unfassbar neugierig und sobald sie sicher sein konnte, dass Ash sie kein zweites Mal ansprach, würde sie von sich aus die Augen öffnen und zu ihr rübersehen. Vielleicht würde sie sogar aus dem Gras aufstehen und zu ihr hinüberkommen, sobald sie die Spannung nicht mehr ertragen konnte. „Mhhm?“ Na also. „Meinst Du etwa mich? Ich bin nicht Kirschkern, mein Name ist Uriella.“ Sie lächelte und kam zu Ashling herüber getrottet. „Was ist mit Dir?“ „Ich bin traurig.“ „Traurig?“ Uriella machte große Augen. „Aber warum denn?“ Sie setzte sich neben ihrer Freundin ins Gras und hatte plötzlich zwei Waffeln Eis in den Händen, von denen sie eine an Ashling abgab. „Ich vermisse Jemanden.“ „Du vermisst Jemanden? Aber wen denn? Wenn Du Kaen suchst, der...“ „Nein, nicht Kaen. Jemand anders.. ich weiß nicht genau. Es ist zum weinen. Ich versuche mich zu erinnern, laufe Stunden hier durch die Gegend, in der Hoffnung, ich seh’ sie zufällig und komme doch nicht darauf. Als wäre sie vom anderen Stern. Verstehst Du? Und trotzdem vermisse ich sie so sehr, dass es wehtut.“ Betroffen sah Uriella zu Boden. „Ich verstehe..“ „Es ist eine Frau“, Ashling dachte noch immer nach und schien weit weg, „und sie trinkt unglaublich gern Tee. Ich glaube sie macht ihn selber? Keine Ahnung...“ Uriella stand auf und streckte ihrer Freundin die Hand entgegen. „Ashling.“, Sie ließ sich von ihr aufhelfen, sodass sich die Frauen nun direkt gegenüber standen. Das Eis schmolz und tropfte ins blaue Gras. „Du gehörst nicht hierher. Es tut mir sehr leid, dass ich so selbstsüchtig war dich hierher zu bringen und egal was in den nächsten Stunden passiert, bitte glaub mir was ich dir jetzt sage: Du bist mir die beste Freundin und ich werde dich nie vergessen. Ich wollte immer nur das Beste für Dich und könnte Dir niemals schaden. Hast Du das verstanden, Ashling, ja?“ Ashling nickte und schüttelte den Kopf. „..ja. Uriella, ich..“ „Psst! Hier, nimm diesen Brief und steck ihn in die Jackentasche. Mach ihn bitte nicht auf. Geh zu Erna und lass Dir ihren Geräteschuppen zeigen.“ „Geräteschuppen? Was sind Geräte?“ „Sie wird sie Dir zeigen, Ashling. Und jetzt geh. Und denk bitte dran, ich hab Dich lieb, okay?“ „Kommst Du denn nicht mit?“ Ashling wunderte sich. Sie trennten sich sonst nie. Vor allem nicht vor der Delphinshow und dem Wasserballett. „Nein. Ich muss Tina noch beibringen wie man Schleifen bindet. Geh ruhig schon vor, ich komm dann bald nach, okay?“ „Okay. Also bis später“ Ängstlich sah Uriella ihrer Freundin hinterher. Kapitel 9: Shinya ----------------- „Shu...“ Wimmernd und schluchzend, unfähig sich zu bewegen, außer Stande sich zu erheben, saß Shinya noch immer in seinem knarrenden Stuhl, als der Mond bereits zum Fenster herein schien und sein Gesicht mit einem feinen Schleier überzog, sodass die noch immer fließenden Tränen in seinem Licht glitzerten. Aufgegeben war bereits vor Stunden abgezogen und hatte ihn allein mit seinem Schmerz zurück gelassen. Einige Zeit noch waren seine Schreie und sein unnatürlich hohes Lachen weiter hinten im Haus zu hören gewesen, bis nur noch Shinyas eigene Laute die Luft erfüllten. Er nahm sie nicht war. Er nahm überhaupt nichts war. „Shinya.“ Seine Stimme war weich. „Shinya, ich liebe Dich.“ Wie der Klang einer gut gespielten Violine streichelten die Worte die Haut des Jungen und berührten sein Innerstes wie nichts sonst. Der Satz hallte in Shinya nach, wärmte ihn, schützte ihn. Er erwachte. „Shu.“ Langsam hob der Knabe den Kopf, sah nichts als das beschienene Fensterbrett, sah sich um, fand nichts und bemerkte schließlich den leisen Druck auf seiner Schulter. Eine Hand lag auf ihr, groß und warm. Sie war geschaffen, um bei ihm zu sein. „So bist Du also endlich aufgewacht, mein Engel.“ Der Druck ließ nach, die Hand verließ die Schulter, strich ihm über den Hals, tat gut. Nie wieder wollte er etwas anderes spüren als die Nähe und die unbeschreibliche Wärme, die in dieser Berührung lag. Er liebte sein Leben für diesen einen Moment, begann zu weinen. Sogleich strich die Hand ihm über die Wange, wischte seine Tränen fort, störte sich nicht an denen, die nachflossen, berührten seine Unterlippe. Der Daumen strich sanft über den geschlossenen Mund, die Hand verblieb auf der Wange, tröstend. Shinya genoss die Geborgenheit, die in dieser Geste lag, kostete den Moment aus, nahm den feinen Geruch war, der von der Hand ausging, ließ sich fallen. „Ich vermisse Dich, Shinya.“ Seine Stimme, die Worte, surreal. „..Shinya.“ Der Druck auf seinem Gesicht erhöhte sich, der Geruch verblasste. „Shinya!“ Mit einem Mal fühlte sich die fremde Haut auf seiner Haut unangenehm und schmerzhaft an. Noch weiter erhöhte sich der Druck, er wurde geschüttelt. Der Moment erstarb. „SHINYA!“ Ludovika. Erschrocken schlug der Junge die Augen auf. „Na endlich, ich hab schon Du wachst gar nich’ mehr auf, wie bist Du verdammt noch mal hierher gekommen?! Bist Du okay?“ Benommen berührte Shinya seinen Mund und die Wange, auf der noch eben die Hand seines Geliebten geruht hatte. Ihm war, als könne er seinen Geruch im Raum wahrnehmen, doch musste er sich täuschen. Shu war niemals hier gewesen, es war ein Traum. Ein sehr schöner Traum. „Ist in Ordnung, wie hast Du mich gefunden?“ „Ist nicht in Ordnung.“ Wieder presste sie ihre Hand auf seinen Leib und drückte den bereits Aufstehenden zurück in den Stuhl, der unter der so plötzlich erhöhten Last ächzte. „Ich bin nicht doof. Genauso wie Ashling, Phoebe, Leo und Raphael. Ich weiß, dass etwas mit Dir nicht stimmt, ich hab nur keinen Dunst, WAS. Meinen Spiegel kann ich leider nicht mehr fragen, aber lass Dir gesagt sein, dass ich das sowieso nie vorhatte. Ich hab gehofft, Du sagt es uns so. Ich kann vielleicht noch verstehen, dass Du es nicht MIR auf die Nase binden willst, aber was ist mit Ash? Hat sie’s nich’ verdient, so wie sie immer für Dich da ist? Raphael weiß was, aber der hält dicht. Also rede, oder ich drück’n bisschen fester zu.“ Einen Moment blieb der Junge unschlüssig, überrumpelt von Ludovikas seltsamen Verhalten wusste er nicht, was er tun sollte. Er konnte sie in dem Zustand überhaupt nicht einschätzen und so wählte er den ungefährlicheren und trotzdem unsagbar schwierigen Weg der Wahrheit: „Ich habe Angst. Ich fürchte mich, wenn ich aufstehe, was der nächste Tag bringen wird und habe Angst vor der Nacht mit all seinen Monstren. Blicke ich zurück sind Trauer und Schmerz alles was ich sehe, richte ich den Blick nach vorn erwarten mich Pein und Tod. Ich meide das Leben aus Angst zu sterben und fürchte den Tod, weil er ein neues Leben bringen wird. Ich meide die Sonne, Ludovika. Und trotzdem habe ich Angst vor den Schatten, denn sie bringen was ich fürchte zu werden. An manchen Tagen kann ich das Haus nicht verlassen, weil das Licht mich blendet und die Sonne mir auf der Haut brennt. Ich lache nicht, weil es weh tut, Berührungen bereiten mir Kopfschmerzen. Von fester Nahrung wird es mir schlecht, allein der Gedanke, etwas anderes zu trinken, als Wasser, dreht mir den Magen um. Ich brauche meine Freunde als Stütze, trotzdem schmerzt ihre Nähe. Ich will euch nicht gefährden – aber auch nicht verlieren. Ich liebe einen Mann. Dieser Mann ist unser Feind. Er hat bereits Generationen von uns sterben lassen, er hat mich getötet. Auch diese Liebe tut weh, verwirrt, macht mir Angst. Ich will ihn sehen, fühle mich aber als Verräter. Mir wird warm, wenn ich an ihn denke. Und trotzdem hasse ich mich dafür und fühle mich schwach. Ich würde alles dafür geben, um ihn jetzt hier bei mir zu haben. Dabei weiß ich, dass es mein Tod wäre. Ich bin allein, Ludovika. Ich glaube, ich bin ein Monster.“ Glasig sah ihn das Mädchen an. Ihre bunten Haare hingen ihr strähnig ins Gesicht, die Kleider starrten vor Dreck, sie roch nach Hund und frischer Luft. Shinya fiel trotz der Situation auf, dass sie keinen Kaugummi im Mund hatte. Sie setzte sich auf den Boden vor dem Stuhl und kramte in ihrer Brusttasche nach den Zigaretten. Langsam öffnete sie die Schachtel und nahm eine heraus. Sie war abgebrochen. Auch die zweite herausgefingerte Zigarette war zerbrochen und Ludovika leerte die restlichen Glimmstengel auf den Boden und fand so eine einzelne unversehrte Kippe, die sich ansteckte. Shinya hatte sie noch nie rauchen sehen. Sie zog ein paar mal ruhig an der Zigarette, dann reichte sie sie ihm. „Du bist nicht allein. Jedenfalls nicht wenn Du den Mund aufmachst und uns endlich vertraust. Wir sind deine Freunde, Mann, und das nich’ erst seit gestern. Oder red’ ich Mist? Ist doch so, also, welchen Grund hast Du anzunehmen, dass wir abziehen, wenn Du mit offenen Karten spielst? Du bist verliebt, Herrgott, welcher Mann ist das nicht irgendwann. Der Typ is’n Kerl – ja und? Hallo, Spießer?“ Sie grinste. „Du hast Angst? Perfekt, ich nämlich auch. Und, verdammte Scheiße, ich versprech’ Dir: alle anderen auch. Von den anderen Problemen hab ich keine Ahnung, aber ich hab auch schon genug geholfen, find ich. Ich hab Dich gefunden, ich hab Dich aufgeweckt und zusammengeschissen und Du schuldest mir ne Schachte Zigaretten, für Kopfschmerzen und Monatsblutung is Ashling da und wenn Du Probleme mit dem Oberstübchen hast, dann geh zu Raphael. Du hast so viele Leute die für Dich da sind und sich Sorgen machen und ich versprech’ Dir eins: keiner von denen wird Dich jemals weg schicken, wenn Du mit einem Problem an sie rangehst, aber wenn Du uns weiter alle ausschließt und einen auf einsamer Wolf machst, dann wirst Du nicht nur krank und ängstlich bleiben, Du wirst sie verlieren. So UND so, wir sind ein Team und wir funktionieren auch nur so. Also, Tiger..“ Sie reichte ihm die Hand, um ihm beim Aufstehen zu helfen. „Hoch mit Dir!“ Kapitel 10: Phoebe ------------------ „Guten Tag, Tante Erna, Uriella schickt mich, sie sagte, sie würden mir gern ihren Geräteschuppen zeigen.“ Die alte Frau im Türrahmen blinzelte ein paar Mal verwirrt, ehe sie zögerlich antwortete: „Meinen Schuppen willst Du sehen, tatsächlich? Und sie sagt; ich soll ihn Dir zeigen.“ Sie nahm ihre abgewetzte Jacke vom Haken neben der Tür, steckte den Schlüssel ein und schloss Dir Haustür. „Nun, ich weiß zwar nicht was ihr Kinder so spannendes an einem Haufen Gerümpel und Spinnen finden könnt, aber komm’ nur mit.“ Sie umrundeten das Haus zur Hälfte und Frau Witt führte das Mädchen zu einem windschiefen, sehr alt aussehenden Schuppen, von dem Ashling sicher war, dass er bei ihren vorherigen Hausbesuchen bei Frau Witt nicht dort gestanden hatte. Frau Witt kümmerte diese Tatsache wenig und als Ashling sie darauf ansprach, dass an etwa der gleichen Stelle, an der nun der scheußlich uninteressante Geräteschuppen stand, vor ein paar Tagen noch ein Märchenschloss und zuvor ein Fußballstadion gestanden hatten, zuckte sie nur mit den alten Schultern und steckte den Schlüssel ins Schloss. Mit einem kaum hörbaren Knarren schwang die Tür auf. Es roch muffig, abgestanden und ein wenig nach ..Öl? „Frau Witt, woher kommt dieser beißende Geruch? Ich bekomme Kopfschmerzen.“ „Das ist Diesel, mein Kind, den brauchen wir für den Traktor.“ „Traktor?“ „Ja.“ Ashling stand unschlüssig im Türrahmen, nach ein paar Atemzügen hatte sich ihre Nase an den Geruch gewöhnt und sie nahm ihn nur noch durch das Leise Pochen in ihrem Schädel war. Zögerlich machte sie einen Schritt vorwärts. Sie sah eine interessante Konstruktion aus – sie ging hinüber – Metall? „Was sind das für Gebilde, Frau Witt?“ „Na was wohl, Gartengeräte, Engelchen.“ „Gartengeräte“, wiederholte Ashling. „Ja.“ Noch einmal sah sich Ashling den Apparat an. Er besaß vier Räder, eine Schnur zum ziehen und einen Griff, mit dem man das ganze Gefährt scheinbar schob oder zog. Blinzelnd schaute sich Ashling im Raum um, konnte aber nicht allzu viel erkennen. Erna Witt machte ebenfalls einen Schritt in die Hütte hinein und tastete an der Wand. „So mach Dir doch Licht an, Mäuschen, oder wie willst Du hier sonst irgendwas finden...“ Sie drückte einen kleinen Schalter an der Wand – und Ashling erinnerte sich. Immer noch vor Wut knisternd kehrte Phoebe den Rückweg an. Sie war gelaufen, gerannt. In den Wald, wieder hinaus, zum Hafen, wieder in den Wald. Sie hatte auf Bäume eingedroschen und Feuer gespuckt, nach Feinden verlangt, geschrien. Schließlich jedoch hatte sie sich verfeuert. Abgebrannt kehrte sie in die Pension zurück, in der festen Annahme, Ashling wäre längst daheim. Immerhin, es war es bereits stockfinster und Phoebe rechnete mit einer zu Tode betrübten reuigen Freundin, die seit Stunden auf die Rückkehr ihrer Liebsten wartete und ihr in dem Moment, in dem die Tür aufging, schluchzend um den Hals fiel. Sie stritten nicht. Phoebe hatte nie darüber nachgedacht, erschien es ihr doch als das Natürlichste überhaupt, doch wenn sie nun in ihrem Gedächtnis kramte, so konnte sie sich tatsächlich nicht an einen kleinen Streit oder auch nur ein hitziges Wortgefecht erinnern. Ashling war ihr Ruhepol, ihr Ozean, Heimat. Bei ihr war ihr Herz zuhause und erholte sich von der harten Realität. Sie war ihr Ausgleich. Müde schloss sie die Tür des Gästehauses auf, warf ihre Jacke in die erstbeste Ecke und zog die Schuhe aus. Von Drinnen kam kein Laut. Sie ging zuerst in die Küche, dem sozialen Zentrum des Hauses; leer. Vorsichtig geworden, doch mit einem Mal hellwach, bewegte sich Phoebe nun noch langsamer und horchte bei jedem Schritt auf, doch nichts war zu vernehmen. Sie gelangte ins Wohnzimmer, dessen Tür offen stand und wo sich ihr ein wahres Trümmerfeld auftat. Die Fenster waren zerbrochen, der Teppich blutig, Möbel umgeworfen oder zerfetzt. Sie fand Spuren von verdreckten Stiefelsohlen, Kleiderfetzen. Am Boden lagen ganz eindeutig Patronenhülsen und an mehreren Stellen entdeckte sie sogar so etwas wie Kratzspuren, denn für Messer waren die Schlitze und Risse zu schmal und zu gleichförmig. Menschen (oder Tiere) fand die Frau keine. Der Raum war leer. Alarmiert warf Phoebe einen Blick über die Schulter zurück in den Flur. Alle sonstigen Türen waren verschlossen. Sie wählte das Zimmer, das sie zusammen mit Ashling bewohnte zuerst, obwohl es nicht das naheliegendste war. Lautlos öffnete sich die Tür und offenbarte einen verlassen wirkenden Raum. Einen Herzschlag lang. Dann sah sie sie. Leonce und Raphael lagen aneinander geschmiegt auf dem Bett und schliefen. Beschämt und verwirrt wollte sie bereits hastig das Zimmer verlassen, als ihr gewahr wurde, dass Leonce, dessen Gesicht sie von der Tür aus sehen konnte, vor Dreck starrte. Auf Zehenspitzen schlich sie näher ran. Blut klebte verkrustet an seiner Stirn, welche die Raphaels berührte. Raphaels Gesicht schien unversehrt, seine Hand jedoch, die sacht auf Leons Hüfte lag, war kaum mehr als solche zu erkennen und auch die zerrissenen Hosen gaben blutige Auskunft. Fragen gingen Phoebe durch den Kopf. Sie hatte das Wohnzimmer nicht vergessen und auch die Frage nach dem Verbleib von Ashling nagte an ihr und zog sie bereits wieder vom Bett fort, doch fragte sie sich unwillkürlich, in welchem Verhältnis Leonce und Raphael zueinander standen. Waren sie mehr, als nur Freunde und Verbündete? Wie lange bestand dieses Verhältnis schon? Hatte sie ihren Freunden so wenig Zeit gewidmet, dass sie das Offensichtliche schlicht nicht sah? Einen letzten Blick schenkte sie Beiden, dann schlich sie vorsichtig zurück zur Tür, die sie in Zeitlupe schloss, um keinen der Männer jetzt noch zu wecken. Unwillkürlich stellte sie fest, dass die Beiden ein schönes Paar waren. „Kaen?“ „Ja, Uriella?“ „Meinst Du, dass sie mir verzeihen wird?“ „Sie ist eine von Ihnen.“ „Was immer das bedeutet...“ Kichernd hastete aufgegeben der Hütte entgegen. Es war ein ausgedientes Wohnhaus, zweistöckig, baufällig, doch sehr gut versteckt, bot es ihm und seinesgleichen Schutz bei Tage und bei Nacht und war überdies der einzige Ort des Waldes, der nicht von Insekten beherrscht war. Tiere mieden das Gebäude. Und nun war es der Ort, an dem Shinya, sein bester Freund, der Mensch, der ihn nach seinem Tod zerschnitt und im Wald verscharrte, wo die Luv in fressen sollten. Er hatte sich der Leiche entledigt, ihn entsorgt und verwertet. Sein Blut klebte an den Händen des Jungen, auch wenn dieser es nicht war, der ihn getötet hatte, so war er doch mit schuld an seinem Tod. Aufgegeben hasste ihn. Aufgegeben hasste das Leben. Voller Freude lief er mit all den anderen Luv zur Hütte, in der der Junge nun festsaß. Er war so gut wie tot, auch wenn das Herz noch schlug, so war es doch nur eine Frage der Zeit, bis das Organ versagte, weil die Seele es nicht ertrug zu atmen. Doch diesen Tod konnte aufgegeben nun nicht mehr erwarten. Es sollte gleich geschehen, sofort. Zusammen mit den anderen Luv würde er das Haus stürmen, die Treppe hinaufhetzen und sich auf ihn stürzen und dann würden sie ihn vernaschen. Jetzt, wo er noch lebte, bis zu seinem letzten Herzschlag. „Zuerst die Ohren“, dachte aufgegeben und musste schlucken. Sie waren immer das Beste, dann die Lippen – nein, zu viel Blut – die Augen, Zehen, die Brustwarzen. Und dann würde er warten, bis das Blut heraus- und die Brust herablief und es mit der Zunge auflecken, überall wo es floss. Ganz vorsichtig, um ja nichts zu vergeuden. Und dann, wenn er tatsächlich tot war, dann kämen die Lippen. Und nach den Lippen das Herz. Aufgeregt hetzte er die Treppe hinauf, rangelte mit den anderen um die Führung, sprang durch die Tür, landete im Raum und.... „NEIN!“ ...leer. Kapitel 11: Ashling ------------------- Nachdem sie sichergestellt hatte, dass sich außer ihr selbst und den beiden schlafenden Männern, Leon und Raphael, niemand mehr im Haus befand, setzte sich Phoebe mit einer Tasse Kaffee an den Küchentisch und blickte die Wand an. In ihrem Kopf arbeitete es rege, äußerlich schien sie gefasst. Das Wohnzimmer war verwüstet, die Fenster zerstört, die Vermieterin wusste wahrscheinlich noch nichts von alledem. Zwei ihrer besten Freunde lagen Arm in Arm in ihrem Bett, von Ashling fehlte noch immer jede Spur, was Ludovika und Shinya anstellten wusste der Geier. Die junge Frau strich sich genervt das Haar zurück und schnaufte, als es an der Tür klingelte. Sie zuckte zusammen und sprang auf, rannte fast zur Tür. „Ludovika. Shinya?“ Da standen sie, sahen sie an wie Lämmer, sie sahen grässlich aus. „Wie seht ihr denn aus? Kommt rein“, sagte sie und machte Platz. Sie schloss die Tür hinter ihnen. „Wo kommt ihr her, dass ihr dermaßen abgewetzt ausseht?“ Ludovika grinste hämisch. „Du meinst: beschissen?“ „Wenn Du es schon weißt, ja. Kommt in die Küche, ich hab Kaffe gekocht. Wisst ihr, wo Ashling ist?“ „Nein“, antwortete Ludovika, „müsstest Du das nicht wissen? Sie is’ deine Flamme.“ Entrüstet wollte Phoebe antworten, da erschien, leicht torkelnd und sichtbar schlaftrunken, Leonce in der Küchentür. „Morgen“, nuschelte er und kratzte sich am Kopf. „Morgen“, sagte Ludovika und setzte sich auf die Eckbank. „Was ist mit Ashling?“, fragte Leonce. „Gar nichts ist mit ihr“, sagte Phoebe hastig und beendete damit das Thema. „Sag mir lieber mal, was mit unserem Wohnzimmer passiert ist!“ „Wir sind überfallen worden“, sagte Leonce. „Die hätten uns um ein Haar kalt gemacht“, platzte Ludovika dazwischen und erntete einen mürrischen Blick von Phoebe. Leon sah sie dankbar an, schwieg jedoch. Sie verstand und dankte ihm im Geiste für seine Kameradschaft. „Wer sind ‚Die’“, wollte Phoebe wissen. „Kein Plan“, antwortete der Punk gelassen. „’n Mann und ne Frau, eigentlich hübsch, beide.“ „Hübsch? Sag mal, bist Du irre? Wo kamen die her, wo sind sie jetzt?“ „Keinen Dunst. Der Typ ist tot.“ „Woher weißt Du das?“ „Ich weiß es.“ „Okay, und was ist mit der Frau?“ „Weg.“ „Sagt mal, Leute, was ist denn das für ein Krach?“ Raphael, scheinbar durch ihre Unterhaltung geweckt, war neben Leon im Türrahmen erschienen. Auch er sah müde und ausgelaugt aus. „Ich hab mir nur gerade den Werdegang unserer neuen Wohnzimmer-Deko schildern lassen“, blaffte Phoebe. Sie leerte ihre Kaffeetasse, doch Raphael meinte sie hinter ihrem Pott leicht erröten zu sehen. Er zog die Brauen hoch. Dann erst fiel ihm auf, wie erbärmlich Ludovika Und Shinya aussahen. Besonders der Junge wirkte eher tot, als lebendig: asch-fahl, die Haut trüb, die Lippen rissig, das Haar strähnig und wirr, verdreckt. Raphael schnüffelte kurz in die Küche. Er und Ludovika rochen furchtbar. Zusammen ergaben sie einen Note aus Blut, Dreck, Staub und Hund. Welcher Duft von jeweils welcher Person ausging war schwer zu sagen. Er erinnerte sich an das, was Leonce ihm über Ludovika erzählt hatte und verzichtete daher auf die Frage nach ihrer Herkunft, doch konnte er auch Shinya nicht fragen, ohne das Thema auf Ludovika zu bringen. Er tapste müde in die Küche und nahm sich einen Becher aus dem Schrank. Während er sich die Kaffeekanne reichen ließ, beschrieb Ludovika der noch immer fahrig wirkenden Phoebe das Aussehen der geflohenen Fremden. „Sie war schlank, europäische Bauart, lange Haare, geile Stiefel, parfümiert. Keine Ahnung, wie die in den Gamaschen rennen konnte, aber als ich hinterher war, war die Alte über alle Berge – nichts.“ „Aber den Kerl habt ihr umgelegt?“, wollte Phoebe wissen. „Nich’ direkt.“, zögerte Ludovika, „Ich war es.“ Sie hatte einen Entschluss gefasst. Während ihrer Predigt für Shinya schon hatte sie gewusst, dass sie mit dem, was sie über ihn sagte, eigentlich über sich selbst sprach. Es war an der Zeit ihren eigenen Rat zu befolgen. Sie sah die Tischplatte an. „Ich möchte, dass ihr mir jetzt alle mal zuhört. Leonce weiß es schon, ihr anderen sperrt die Ohren auf. Wir kennen uns schon verdammt lange, auch wenn wir zwischendrin immer mal wieder abgekratzt sind, aber wenn wir nur die Stunden zusammenrechnen, die wir tatsächlich hier gewohnt haben in all den Leben, kommen wir auf ne hübsche Summe. Uhm..ich war nich’ ganz offen zu euch, oder sagen wir, ich hab euch was verschwiegen, weil ich Angst hatte, ihr würdet mich hängen lassen, wenn ich’s euch sage...“ Ein Klingeln and er Tür unterbrach sie. Unschlüssig warteten sie alle einen Moment ab, ehe es erneut klingelte und Leonce, der noch immer im Türrahmen lehnte, öffnete. Sie hörten Ashling hereinkommen und ihre Jacke ablegen. Still warteten sie alle in der Küche, einige Worte wurden im Flur gewechselt, Leonce schien ihr etwas zu sagen, doch auf die Entfernung konnte dies außer Ludovika niemand verstehen. Wortlos kamen sie zu zweit in die Küche zurück, Ashling nickte in die Runde und Leonce bedeutete seiner Freundin mit einer Handbewegung, fortzufahren. „Vor einigen Jahren bin ich von den Alten abgehauen, hab angefangen mich mit Punks zu treffen. Wir sind in der Stadt rumgegammelt, am Bahnhof Geld schnorren, Sprüche klopfen, Bier saufen und rauchen. Einfach so. Irgendwann wurd’s denen zu Hause zu bunt und sie haben mich ganz rausgeschmissen. War nich’ schade, ein paar Kumpels hatten ne Bruchbude am Stadtrand, da bin ich untergekommen. Heizen war nich’ und die Martratze haste teilen müssen, aber ich fand’s eigentlich geil - damals. Naja, irgendwann musst’ ich nachts noch mal raus – Kippen Hol’n. Und da isses dann passiert. Ich bin die Abkürzung über den Ostbahnhof, weil ‚n Automat gleich dahinter war und bin in ne Schlägerei reingelaufen. Da war’n mehrere schräge Typen, die hatten einen eingekreist und der hat geschrieen. Dass die alle komisch ausgesehen haben und gestunken haben is’ mir leider zu spät aufgefallen, sonst wär’ ich wohl gleich weggelaufen, aber als ich geschnallt hab was geht war’s schon zu spät. Zwei von denen ha’m sich auf den Männe geworfen und den gerissen – ge ris sen. Nich’ vermöbelt oder zusammengetreten, die haben sich auf den gestürzt, der hat geschrieen – aber nich’ lange. Ich bin dann auch sofort losgerannt, aber die waren gleich da. Ich will’s nich’ ausschmücken, also sag ich’s frei raus: ich bin ein Monster. Wenn ich aufgeregt bin oder angegriffen werde kann ich’s nich’ mehr zurückhalten und ich dreh’ durch. Wenn ich so drauf bin, kann es sein, ich greif euch an. Deshalb hab ich nich’ viele Freunde, ich hab Angst, ich tu’ euch was.“ Eine Sekunde verstich lautlos. „Du bist kein Monster“, sagte Leonce. „Du hast schärfere Sinne als wir, Du bist impulsiv, Du bist sehr stark und vielleicht ein bisschen instabil. Aber Du bist kein Monster. Wir mussten kämpfen und wir wurden fast getötet und wenn Du nicht gewesen wärst, dann wären Raphael und ich jetzt kalt. Du hast uns gerettet. Und Du hast unterschieden zwischen Freund und Feind.“ „Oh, bitte, Leon. Ihr lagt am Boden und die beiden anderen haben mich angegriffen, klar bin ich auf sie los. Den Typen hab ich erwischt, der ist Matsch, sieht bestimmt lecker aus..ich hab’ nicht mal ´ne Ahnung, wo er liegt.“ „Ich glaub auch, dass Du es beherrschen kannst“, warf Ashling ein und erntete dankbare Blicke. „Ja, genau, Du musst es eben trainieren.“, meinte auch Phoebe. „Und wir helfen Dir dabei.“ Das war Raphael. „Und so lange Du Dir noch nicht sicher bist müssen wir eben alle besser aufpassen. Jetzt, wo wir es wissen, ist das doch kein Problem mehr.“ „Genau.“ Shinya, der bisher als einziger geschwiegen hatte, neigte den Kopf, blickte Ludovika in die Augen. Was ist damals passiert, am Bahnhof?“ Ludovika sah aus dem Fenster, schien weit weg. Es dauerte einen Augenblick, ehe sie antwortete. „Ich spürte, wie mir etwas Schweres von hinten in den Rücken fiel, knallte hin. Das ist alles sehr, sehr schnell gegangen. Ich wurde gebissen, es war überall Blut. Drei Männer...ich bin wohl sehr bald ohnmächtig geworden.“ „Und anschließend?“ Noch immer sah er sie an, Ludovika gab sich Mühe, an seinem Gesicht vorbei zu schauen. „Die Tage darauf waren ätzend. Ich bin ständig auf 180 gewesen und die Kumpels aus der Hütte haben mich bald an die Luft gesetzt, weil sie’s unheimlich fanden. Die Nägel wuchsen, die Stirnhöhlen traten hervor. Zahnschmerzen. Sah scheiße aus. Weil ich nix zum pennen hatte, bin ich jede Nacht zum Ostbahnhof. Na, wo es passiert ist eben. Ich dachte, jetzt, wo ich so bin wie sie..eine von denen.. ich dachte die nehmen mich auf. Aber ich hab sie nich’ wieder gesehen. Irgendwann wurde es besser, ich hab gelernt es zu unterdrücken und solange der Adrenalinwert nicht zu sehr ansteigt sieht man auch nichts mehr. Aber wenn, geht alles recht schnell. Ich hoff’ ihr müsst das nie sehen.“ „Hat es lange gedauert, bis du dich daran gewöhnt hast, dass Du so bist?“ Warum sah er sie so an? „Ja. Anfangs hatte ich kein Zeitgefühl. Ich bin sehr oft Bestie gewesen, an vieles, was während der Zeit passiert ist, kann ich mich nich’ richtig erinnern. Ist schon gut so. Ist hart, wenn Du nicht nachdenken kannst. Nur Triebe, Angst, Hunger, Lust. Ich weiß nich’ wie oft ich morgens inner fremden Stadt aufgewacht bin und ‚ne Beratungsstelle gesucht hab, weil mir Fetzen vom Vorabend im Kopf rum sind. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was das für Stunden sind, wenn man auf das Ergebnis von ´m Aidstest wartet.“ Ein Husten aus Ashlings Richtung. „Bitte?!“ Ludovika musste lachen. „Kannste Dir vorstellen, was ´nen Rudel Wölfe machen, wenn sie sich nachts am Stadtrand über den Weg laufen?“ Phoebe verzog den Mundwinkel zu einem Grinsen, nahm die Hand vor den Mund. Leonce schaute sich die Bodenfliesen an, Raphael zog seine rechte Augenbraue hoch und Ashling schwang die Faust nach Phoebe. „Sau!“ Kapitel 12: Camilla ------------------- „Na, mein Schätzchen...noch immer traurig wegen deines Lovers? Ich fühle mit dir. Es ist nicht leicht, wenn man so enttäuscht wird, wohl wahr. Ja... Sag, liebst du ihn wirklich? Mit allem was dazu gehört? Ernsthaft? Ich habe nur ein Mal geliebt und es ist viele Jahre her. Viele Leben liegen dazwischen. Unser Leben ist hart, das wohl. Doch um wie viel härter trifft es dich, der du unglücklich verliebt bist und wartest. Verzehrt es dich? Dieses stechende Sehnen nach Nähe, die Bilder in deinem Kopf? Schreit er denn nicht förmlich, dein Körper, nach ihm?“ Eine Hand legt sich auf Shounens Brust. Er liegt im Sessel, der Blick leer, weit weg. Er hört sie kaum, die Stimme, die ihn vergiftet. Die Schlange. „Tut es hier weh?“, fragt sie und erwartet keine Antwort. „Oder sitzt er im Bauch, der Schmerz? Ach, wenn er Dich nur auch so lieben könnte, wie viel einfach wäre doch alles, nicht wahr, mein Engel? Ablehnung tut weh.“ Sie legt ihren Kopf auf seinen Bauch, horcht. „Wenn er nur sehen könnte, wie viel ihm gehört, der arme Junge. Stattdessen wird er benutzt und ausgebeutet von diesem Pack, dass sich seinesgleichen schimpft. Ich sage es dir, sie werden sein Tod sein...hach, wie traurig. Da pumpt dein Herz Blut in jede Faser, da strafft deine Brust sich gleich einem Schild, im Stillen bereit ihn vor allem zu schützen und allem zu trotzen, nur für diesen einen Menschen. Und alles vergebens. Dein Bauch, der Schöne, das viele Blut, dein Antlitz... der hohe Wuchs. Wofür? Mir bricht das Herz bei dem Gedanken, ich möchte sterben“, sagt sie und erhebt sich. Geht ans Fenster. „Nicht genug, dass sie ihn gefangen halten, das Pack, elendes. Vergiftet haben sie ihn bereits mit ihrer Doktrin. Hast du ihn dir angesehen, mein Lieber? Wie er aussieht, kränklich. Hager, fahl.. er leidet unter ihnen, sie werden ihn umbringen, ich spüre es. All die Zweifel, die sie ihm einreden, all die Schuld, das ist zu viel, dieser zierliche kleine Körper.. wie lange wird er das durchstehen? Mein Herz ist schwer vor Sorge, glaube mir. Oh, wie allein er sein muss, so einsam... Und doch: er ist ein Mann. Er ist gerade dabei seinen Körper kennen zu lernen, so jung ist er. Ein Mann, der ihm seine Liebe erklärt, es würde ihn womöglich abstoßen, was meinst du, Schätzchen, hmm? Ich meine, zwei Männer, so natürlich, wie es für dich sein muss, er wird es womöglich anders sehen, nicht wahr? Es könnte ihm Angst machen, oder wütend. Wo doch die Distanz zu ihm schon so schmerzt, nicht auszudenken, um wie viel schrecklicher es sein muss, seinen Hass zu ertragen. Was denkst Du, Shounen?“ Sie tritt hinter ihn, legt ihm die kalten Hände auf die Wangen, als wolle sie seinen Kopf stützen, ihm beistehen. „Ich kann deine Verzweiflung nur zu gut verstehen, mein Liebster, auch ich habe, wie ich dir bereits sagte, einmal geliebt. Ein Mann so schön, dass es weh tat, ihn anzusehen und Augen, die so tief blickten, so unendlich klar strahlten. Oder so lüstern blitzten, dass allein ein Blick aus ihnen meinen Körper zum Beben bringen konnten. Ich habe ihn vergöttert, diesen Mann. Die Tage, die wir gemeinsam verbrachten, ließen mich glauben, wir würden ewig leben. Und ewig sollte unser Glück sein. Doch als ich alterte und er noch immer jung und schön war, weißt du, was er tat? Der Mann, für den ich nach wie vor ALLES getan hätte, ahnst Du es? Er ließ mich fallen!“ zischt sie und wirft seinen Kopf hinfort, lässt ihn allein in seinem Sessel zurück. Camilla. Leise zog Shinya die Tür hinter sich ins schloss, achtete darauf, keinen Laut zu verursachen. Nur nicht auffallen. Er nahm die Abkürzung durch den Garten, den Deich hinauf, um den dahinter liegenden kleinen Wald zu erreichen. Er hatte nicht vor ihn zu betreten, wollte ihn nur von außen betrachten, ihm nahe sein. Es war bereits seit Stunden dunkel und die anderen schliefen tief. Die Nacht war schön, das Wetter lau, er wollte die Stunden der Ruhe nicht verschenken. Beruhigend, wie viel besser es ihm nun ging, zu dieser Nachtzeit. Vielleicht hatte Ludovikas Beichte doch etwas in ihm berührt, ihm eine Last, oder zumindest Furcht genommen. Die anderen würden ihn nicht verlassen, nur weil er anders war als sie. Sie würden ihm helfen. Der Virus war in ihm, das war ihm bereits vor Wochen klar geworden, auch wenn er es sich damals selbst noch nicht eingestehen konnte, er würde ein anderer werden. Es beeinträchtigte ihn in seinem Tagesablauf, der Nahrungsaufnahme, dem Stoffwechsel. Stimmungstiefs und –schwankungen wechselten sich ab mit Kopfschmerzen und Kreislaufproblemen, aber er konnte damit leben. Zumindest vorübergehend. Wie würde es weiter gehen? Würde er jemals völlig zu einem werden oder wäre ein Teil von ihm bis zum Schluss Shinya? Waren alle Infizierten wie er oder sollte sein Zustand etwas Neuartiges sein, eine Ausnahme? Tatsache war, dass es wohl niemand wusste. Die Infizierten schwiegen und zogen sich zurück. Die meisten starben wohl oder begingen Selbstmord. Die wenigsten vegetierten in diesem Zustand weiter, selten wurde die Metamorphose komplett. Und alle hatten sie eines gemeinsam: sie waren allein. „Bin ich gefährlich?“, überlegte Shinya. „Wahrscheinlich. Aber Ludovika ist es auch und sie hat gelernt sich zu kontrollieren. Sicher werde ich es auch lernen.“ Hoffnung. Das war es, was ihn in dieser Nacht beherrschte. Eine seltsame Gelassenheit durchflutete ihn, sättigte und köstigte ihn wie Nahrung. Er setzte sich ins Gras und betrachtete den Wald, der still vor ihm lag. Er sah fast friedlich aus. Überhaupt nicht bedrohlich, einladend. Heimat. Eine Weile genoss er einfach den Anblick und diesen flüchtigen Moment, dann schweiften seine Gedanken ab und er besann sich der vielen Erinnerungen an diesen Wald und wie oft hier gekämpft, gestritten und geweint, aber auch gelacht wurde und etwas in ihm erwachte von Neuem zum Leben: Lebensmut, Kampfgeist. Er würde nicht aufgeben. Jetzt nicht mehr. „Shounen...“ Kapitel 13: Günther ------------------- „Eines Tages werde ich dich lieben. Ich werde Arm in Arm mit dir aufwachen, mich in deine Armbeuge kuscheln und deinen Duft einatmen. Wir werden zusammen aufstehen und frühstücken, ein normales Leben führen. Und am Wochenende besuchen wir unsere Freunde. Niemand wird von Tod sprechen, Shounen. Hörst du? Wir werden uns lieben. Irgendwann.“ Damit erhob sich der Junge leichtfüßig, warf einen letzten Blick auf den ruhenden Wald und drehte sich um. Dann sah er es. „Ich weiß, dass es nicht richtig von mir war, dich einfach so zu entführen, ohne dir zu sagen worum es geht, aber ich dachte... nein, ich wollte...so geht es auch nicht. Ashling, wir kennen uns noch nicht sehr lange, aber ich wollte dir nur sagen...nie! Was nun? Ach, es ist zum Verzweifeln.“ Schritte im Dunkeln. Eine Stimme. „Du weißt ich bin eine Hexe und ertrage es nicht, wenn Lebewesen leiden. Deshalb war es mir wichtig...nein, das klingt auch blöd, ich will mich ja nicht rechtfertigen. Sie soll nur die Wahrheit wiss-..ich glaub, jetzt hab ich mich schon wieder verlaufen. Erna Witt und all die anderen sind eigentlich tot. WÄREN eigentlich tot. Ich hab sie sozusagen nur gerettet. Irgendwie. Nein, nein, nein, nein, nein!“ Wildes Stampfen. „So find’ ich’s nicht. Moment.“ Unverständliches. Gemurmel. Ein Funken, dann Stille. Günther M. beugt sich ein wenig weiter aus dem geöffneten Fenster, doch das Mädchen, dass nun bereits vier Mal an seinem Heim vorbei gelaufen ist, mit jedem Male lauter vor sich hin faselnd, ist weg. Schon will er seine Zigarette ausdrücken und das Fenster schließen, als er die Stimme wieder hört. „Ashling, es tut mir leid, dass ich es dir so spät sage, aber ich dachte, du würdest mich nicht mehr mögen, wenn du es weißt: ich bin eine von Ihnen...“ Pause. Günther M. sucht die Quelle der Wörter, erschrickt, als er sie einige Meter über der Straße in der Luft schweben sieht. Vor lauter Verblüffung fällt ihm der Aschenbecher aus der Hand. Es gibt ein dumpfes Geräusch, Asche bedeckt seine Socken, Kippen liegen am Boden. Ein gemurmelter Fluch, egal. Nur nichts verpassen. Nochmal hingucken. Tatsächlich: sie schwebt in der Luft. Sie ist bereits zu weit weg, ihre Stimme ist nur noch ein Säuseln. Verwirrt kratzt sich Günther M. am Kopf. Sachen gibt’s. Erna Witt. Erna Witt... Irgendetwas regt sich in Günther M.’s Gedächtnis. Der Name sagt ihm etwas. Erna Witt. Eine Weile noch steht er am geöffneten Fenster, muss noch eine rauchen. Bald fällt ihm der Aschenbecher ein. Und die Kippen, die jetzt vor ihm auf dem Teppich liegen. Muddel wird schimpfen... Camillas Gift sickert durch seine Poren und lähmt jede Handlung, jedes Tun, jedes Denken. Einsamkeit. Hass. Angst. Verlust. Untreue. Vage erinnert sich Shounen an sein letztes Leben. Nichts ist greifbar, nur Schemen spuken durch sein Gedächtnis. Einzig das letzte Zusammentreffen ist klarer. Einzelne Gesichter tauchen vor ihm auf. Elias. Camilla. Margarethe. Er versucht sich zu erinnern. Selbst einzelne von Denen sind noch in seinen Erinnerungen hinterlegt. Sahen sie ALLE schon immer so aus? Die beiden Mädchen, die Lesben, gab es die schon? Er kann sich an sie nicht erinnern. Oder hat er sie nur vergessen? Und dieser Mann, der große dunkelhaarige? Er war bei dem Ersten Zusammentreffen mit Shinya dabei. Sicher ist er auch einer von ihnen. Keine Erinnerung. Doch etwas anderes fällt ihm auf. War nicht auch Shinya bei ihrem ersten Treffen am Waldrand seltsam befangen? Es war süß, sehr sogar. Aber war seine Reaktion für ein unbekümmertes Zusammentreffen nicht etwas irritierend für einen Jungen seines Alters? Überhaupt war der ganze Abend merkwürdig. Wieso ist er denn mit einem erwachsenen Mann, einem komplett Fremden, am Hafen spazieren gegangen, wenn nicht, weil er Gefühle für ihn hegt? Pubertät hin oder her, Hoffnung entflammte in Shounen. Sein Herz begann zu pochen, er konnte es in seiner Brust wüten hören, fühlte sich mit einem Mal rastlos. Alle Lethargie, jede Lähmung war hinfort geblasen. Er konnte nicht länger still bleiben, er musste ihn besuchen. Shinya. Sie waren Männer. Es war ihm egal. „Oh mein...“ In der Zeit, in der Shinya am Waldrand gesessen und fantasiert hatte, war in der Pension unten Feuer ausgebrochen. Das komplette Gebäude stand bereits in Flammen, es musste also sehr schnell gegangen sein. „Wie ist das möglich?“ Wie viel Zeit hatte er hier oben verbracht? Eine Stunde? Zwei? Oder Länger? Er mochte es nicht zu sagen, zu isoliert hatte er sich gefühlt, abgeschnitten vom Rest der Welt. Er hatte Kraft getankt und währenddessen ging nun sein Heim und das seiner wenigen Vertrauten in Flammen auf. Vertraute. „Die anderen!“ Hastig, ohne nachzudenken rannte der Junge die Anhöhe hinab auf den Brand zu, spürte bereits die Wärme im Gesicht. Hatten sie sich in Sicherheit bringen können? Standen vielleicht draußen und betrachten ihr Leben in Flammen aufgehen? „Sie wissen nicht, dass ich fort bin.“ Möglicherweise suchten sie nach ihm, brachten sich seinetwegen in Gefahr. Möglicherweise... Nein. Schon erreichte er den Garten der Pension, spürte die Hitze, ein Pulsieren. „Hier stimmt was nicht.“ Irgendetwas war falsch. Etwas verunsicherte ihn, ohne dass er ausmachen konnte, was es war. Er suchte die Einfahrt und den Garten nach seinen Freunden ab, fand niemanden, suchte nochmals, fand Gewissheit und fasste einen Entschluss. Er ging rein. An der Tür fiel ihm noch auf, dass aus den Fenstern überall Rauch und Flammen heraus züngelten, die Tür war verschlossen. Er versuchte die Klinke zu drücken, verbrannte sich die Hand, warf sich gegen die Tür, doch nichts geschah. Nach dem dritten Versuch gab das Holz nach und eine Wand aus Flammen erschlug ihn. Einen Moment taumelte Shinya, dann besann er sich seiner Kraft, beschwor Wasser und bahnte sich, geschützt durch eine blaue Kuppel, einen Weg durch den Flur. Jeder Schritt kostete ungeheure Kraft. Zu viel Kraft. Weit würde er es nicht bringen. Er erreichte die Küche, leer. Umdrehen. Kämpfte sich zurück, Richtung Wohnzimmer, in den hinteren Teil der Pension. Schritt um Schritt. Er schwitzte, verbrannte sich, das Atmen schmerzte. Wie konnte es so unsagbar heiß sein? Und wo war der Brandherd? Von wo hatte sich das Feuer ausgebreitet? Er erreichte das Wohnzimmer – und sein Herz machte einen Sprung. Adrenalin wurde von Neuem in seinen Körper gepumpt. Vor ihm lagen zwei Menschen. Ashling und Raphael. Es war unmöglich sie zusammen heraus tragen zu wollen, er musste sich für eine Person entscheiden, konnte es aber nicht. Schließlich tat er das einzig Logische und schnappte sich die Person, die ihm am Nächsten war. Ashling. Zentimeter für Zentimeter zog er sie mit sich den Flur entlang, ihr Schutz aus Wasser schwand mit jedem Atemzug und schrumpfte weiter und weiter in sich zusammen. Damit stieg auch die Temperatur um Shinya wieder an und seine Haut brannte. Der Atem rasselte, die Knie wankten immer stärker, doch schließlich erreichte er die Haustür. Er schaffte Ashling nach draußen, legte sie hinter die Mülltonnen, damit sie vor den Flammen geschützt war, kümmerte sich nicht weiter um sie, stolperte zurück ins Haus. Ein Inferno. Das Atmen schien ihm unmöglich geworden, doch Shinya dachte nicht, setzte nur stoisch einen Fuß vor den anderen. Wollte sich an der Wand abstützen, tat es doch nicht. Er schwitzte Bäche, die Kuppel schwand, Flammen züngelten an Möbeln und Tapete, seine Knie gaben nach, er fiel, nahm kaum wahr, wie er aufschlug, driftete ab. Schlaf. Kirschkern sah denn Lichtschein bereits von Weitem. Rot. Tod. Sie sauste über die Dächern Richtung Waldrand. Zur Pension. Dorthin, wo sie Ashling vermutete. Dorthin, wo es brannte. Sie konzentrierte sich, versuchte noch schneller voran zu kommen, betete. „Lasst Ashling nicht zuhause sein, bitte..“ Als sie ankam bemerkte sie die pulsierende Energie in der Luft, eine so dominante Präsenz...sie war fast greifbar. Und Kirschkern wohl bekannt. Sie kam auf dem Boden auf, rannte sofort los Richtung Hauseingang und stieß fast mit einer weiteren Person zusammen. Shounen. Beide zuckten beim Anblick des Gegenübers zusammen. „Margarethe.“ „Hast Du den Brand gelegt?“, fragte Kirschkern und wusste bereits, dass der Mann unschuldig war. Er wirkte gehetzt, ängstlich. Wie sie. „Warst Du es?“, wollte er wissen. Sie waren Verräter. Beide. „Kannst Du das Feuer eindämmen?“, fragte Shounen und besiegelte damit ein Stilles Abkommen. Es war eine Übereinkunft und Kirschkern verstand. „Ein wenig, vielleicht. Und ich brauche Natur. Und Platz. Ich kann nicht hereingehen.“ „Dann fang an.“ Und Kirschkern fing an. Ein Tanz, ein Gebet, Gesang...Shounen vermochte nicht zu sagen, was die junge Hexe dort tat, aber ein Faden sponn sich um ihren Körper und folgte der Führung ihrer Bewegungen, tanzte in der Luft. Sie webte ihn mit ihren Händen zu einem dickeren Strang, ein blauer Strahl entstand, erinnerte an eine mächtige Schlange. Wolken zogen auf. Innerhalb von Sekunden verdunkelten sie den Himmel, der Mond verschwand und es krachte. „Regen.“ Die Luft wurde zäh, während die Schlange immer weiter wuchs und ihren Leib durch die Haustür wand. Shounen folgte ihr. Die Luftfeuchtigkeit stieg weiter an, Wasser tropfte von seinen Haaren, lief die Brust herab, verdampfte am Boden. „Shinya!“ Da lag der Junge. Wie schlafend ruhte er auf der Schwelle zum Wohnzimmer. Shounen warf einen Blick hinein, sah den Großen, schaffte zuerst den Knaben nach draußen. Hoffte. Die Welt draußen hatte sich verändert. Kirschkerns Tanz war zu einem wilden Ritt geworden. Scheinbar unkontrolliert zuckten Arme und Beine, archaische Laute wurden ausgestoßen. Die Luft um sie schien fast greifbar, das Gras auf dem sie stand war schwarz geworden und zu ihren Füßen saßen Tiere. Mäuse, ein Igel und eine Ratte, ein Eichhorn saß in ihrem Haar, Tiere, die Shounen nicht kannte und selbst eine Katze. Er überlegte, wohin mit dem Jungen, wollte ihn nicht zu Kirschkern legen. Zu weit entfernt erschien ihm die junge Frau, zu gefährlich. Er versteckte ihn zwischen den Mülltonnen nahe der Tür, entdeckte dort Ashling, die bewusstlos schien, rannte erneut ins Haus und schaffte es mit Hilfe der kühlenden Aura von Kirschkerns Schlange auch Raphael zu bergen. Erschöpft sank er neben dem reglosen Mann ins Gras, kroch hinüber zu Shinya, nahm dessen Hand. Seine Augen brannten, die Haut schälte sich, er roch verschmortes Haar und genoss den kühlenden Segen des Regens auf seinem Gesicht. Margarethes Gesang erstarb. Taumelnd sank die Hexe zu Boden, schien am Ende. Sie lächelte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)