Luv von abgemeldet (one day) ================================================================================ Kapitel 5: Ludovika ------------------- Die dunklen Vorhänge bewegten sich im mäßigen Wind nur leicht und es wurde stickig in dem kleinen Zimmer der Pension, das Ludovika zugeteilt worden war. Sie hatte - natürlich - so getan, als berührten die Worte ihres Freundes sie kaum, als Raphael vor ein paar Momenten von seinen neuesten Entdeckungen berichtet hatte, doch wurde sie nun, da sie allein war, unruhiger mit jedem Herzschlag und ihre Gedanken ruhten noch immer auf der erschreckend weitreichenden Liste unbekannter Namen. Vermisste Menschen, vermisste Leben und geraubte Erinnerungen. Nun erinnerte sich niemand mehr an die vielen Personen, die in den letzten 90 Jahren, und möglicherweise schon viel länger, in dieser verfluchten Gegend verschwunden waren, doch Ludovika erschreckten sie. Sie schaute in den großen, geschwärzten Spiegel an der Wand. Ihr teuerster Besitz, dazu der einzige, an dem ihr etwas lag. Sein Rahmen war sehr groß, das Silber leicht angelaufen und das Glas selbst so schwarz wie ihre Gedanken. So dunkel...voll Vergessen. ihre Umrisse wirkten unecht in diesem Spiegel. Alles, was weiter als nur einen Schritt entfernt war überhaupt nicht zu sehen. Nur ihre eigene, milchige Silhouette. Sie ging noch einmal die Namen der Seite durch, die sie sich als einzige wirklich angeschaut hatte. Die Seite der jüngsten Opfer. Keine der Personen war ihr bekannt. "Edith Stark", sagte sie nüchtern und fest. "Witwe aus Gaunsiek", antwortete die Ludovika im Spiegel mit gleicher Stimme, "geborene Nagel." "Markus Ebeling." "Ältester Sohn des Walther Ebeling und seiner Frau Maria, geborene Stur. Geboren in einer Sommernacht, 23 Jahre zurück. Heute 14 Jahre alt." "Erna Witt." "Ging auf die andere Seite im Alter von 78 Jahren, ge.." Ludovika hörte nicht mehr darauf, was sie sich selbst im Spiegel mitzuteilen hatte. Vor 23 Jahren geboren und heute gerade mal 14? Wie sollte das möglich sein? Ihre Gedanken fuhren Karussell mit ihr. Barsch wischte sie ihr Spiegelbild hinfort, stellte sich das Bild einer gewaltigen Flutwelle im Inneren des schwarzen Sees vor ihren Augen vor. Die Reflektionen auf dem blankpolierten Glas wurden in ihren Gedanken zu Wellen, reißend, wild... Auch Raphael hatte die Stimmung in der engen Pension, die er einst für gemütlich gehalten hatte (wie lange musste das her sein?) nicht lange aushalten können und war dem Ruf des Waldes gefolgt. Der Wald, der so charismatisch war, vor dem sich niemand retten, niemand entziehen konnte. Das einzige Fleckchen Erde in dieser Gegend, das nicht verflucht zu sein schien. Er sah den Vögeln zu, wie sie behände von Zweig zu Zweig hüpften und ihm fröhlich nachblickten. Das Gras, das Schilf dort, wo der kleine Graben dem Weg etwas folgte, bevor im Nebel verschwand. "Nebel.." Er war hier so allgegenwärtig. Nicht nur im Wald selbst oder in diesem Dörflein. Nebel gehörte für die Menschen, die in diesem Teil des Landes aufwuchsen dazu, wie Sonne und Wolken es taten. Und der Wind, einhergehend mit dem Wasser der Flüsse und Graben. Überall Moor. Raphael bemerkte trotz seiner wehen Gedanken, wie die Geräuschkulisse mit dem Leben hinter ihm blieb. Der Wald wurde dichter, älter. Unheimlicher. Nun waren selbst die kleinen Vöglein zurückgeblieben, er kam dem Herz des Waldes schon sehr nah. Ein seltsames Wesen war dieser Wald, bot er doch Menschen und Luv, Geschöpfe des Tages und der Nacht, gleichsam Schutz. Zog sie beide gleichsam in seinen Bann aus Leere. Eine angenehme Leere. Sie war undurchdringlich und sanft, füllte einen Menschen vollends aus, sodass kein Platz mehr war für Schwermut und Angst. Und plötzlich blieb Raphael stehen. Um ihn waren nun keine Bäume mehr. Keine verkrüppelten Zypressen, keine peitschenden Äste und Zweige, Pappeln und Apfelbäume. Wieder etwas, das Raphael jedes Mal aufs Neue bewusst wurde: es gab so viele Arten von Bäumen in diesem Wald, Obstbäume, Eichen und Trauerweiden, wie dichte Gräser, Pfauenaugen und weiches Buschwerk. Nur keine Nadelbäume. Es war ihm ganz recht. "Laubbäume sind charismatisch. Sie suchen Nähe, wie wir Menschen, sie rufen nach einem." Und sie hatten ihm viel zu erzählen an diesem Tag... ------------------------- Shinya kletterte auf eines der vielen Autos, die bereits umgekippt auf den Straßen und Parkplätzen lagen, das Glas der Scheiben zersplittert, wie die Knochen der Insassen, sofern es denn welche gab. Schreie überall, Rufe, schreckliches Brüllen und das Rauschen des Meeres erfüllten Ludovikas Ohren und ließen sie taumeln. "Nein, Shinya, tu es nicht", hörte sie sich rufen, bis ihre Stimme verstarb, zu einem leisen Krächzen wurde. Neben ihr lag Ashling im Dreck, halb verblutet. Sie weinte, lautlos, und doch zuckte Ludovika zusammen. Ihr schmerzten die Ohren mit jeder Träne, die den rotschimmernden Boden unter ihr berührte. Sie ging auf die Knie, wischte sich mit der Hand aus dem Gesicht, was sie für Schweiß hielt und schmeckte Metall auf ihrer Zunge. Ashlings Augen wurden trüb, weinten ihre letzten Tränen. Nur entfernt nahm sie wahr, wie Phoebes rasende Wut außer Kontrolle geriet und dutzende Luv den Tod fanden. Sengende Hitze..Schreie, die nicht in diese Welt gehörten, Todesschreie, die doch so erleichtert klangen. Hunderte längst überfällige Seelen, die endlich zur Ruhe gerufen wurden. "Shinya, NEIN!" Und doch wusste sie, dass der junge Knabe seinen Zug bereits gemacht hatte, sah, wie er seine Hände über den Kopf hob und übereinander legte, weinte. Das Rauschen des Meeres in ihren Ohren schwoll an, ließ ihren Schädel nahezu bersten.. Und endlich, als auch ihre Trommelfelle endlich geplatzt waren, spürte sie das Grollen, sah den Tod in Milliarden der Tropfen. "Seltsam", dachte sie, "Wasser, der Ursprung allen Lebens, soll nun der Untergang so vieler Menschen sein." Vor ihren Augen brach Shinya zusammen, schrie und heulte hysterisch, völlig krank, zerfressen. Er hatte sich selbst getötet. Und sie alle würden nun mit ihm sterben. Sie war nur glücklich, seine Schreie nicht anhören zu müssen. "So sterben wir alle - und wieder gewinnt keine der beiden Seiten" Es war Leonce, er sprach direkt in ihr Herz und sie wusste, dass er recht hatte, noch ehe die Flutwelle über sie hereinbrach und sie gemeinsam starben... ----------------------------- Träge öffnete Raphael ein Auge und blickte das an, was einmal seine Beine gewesen waren. Beine wurden zu Borke, bohrten sich in die weiche Erde und schlugen Wurzeln, tranken die Milch seiner Mutter wie bittere Medizin. Er ließ den Blick schweifen, öffnete auch das andere Auge - und schrie. ----------------------------- "Ash, ich bring den Wagen weg, kannst du schonmal das Glas in die Container werfen?" Ashling lächelte ihrer Freundin zu und schlenderte zu den großen Glascontainern auf dem Parkplatz des Supermarktes, während die Jüngere den metallenen Einkaufswagen über das Kopfsteinpflaster schob und summte leise vor sich hin. "Hallo Schwester!" Erschrocken drehte die junge Frau sich um, um in das Gesicht ihrer Bekannten zu schauen, deren Stimme sie sofort erkannt hatte. "Oh hallo, eehm, wie heißt du noch gleich?" "Karfunkel", antwortete Morgenröte. "Karfunkel", wiederholte Ashling, "Schön, dich zu sehen." Ashling freute sich tatsächlich sehr, die junge Frau, die ihren Namen wechselte wie andere Leute ihre Hosen, zu treffen. Auch wenn sie ein wenig seltsam war, in ihrer Nähe fing man unwillkürlich ein wenig ihres Wesens mit ein und gewann so zum Beispiel den Eindruck, alle Menschen wären im Grunde ihres Herzens 'gut'. Heute trug Karfunkel einen buntgemusterten, fast Bodenlangen Poncho und Sandalen aus Kork. Sie hatte ihr langes Haar lässig mit einer Klammer zusammengefasst, sodass einzelne Strähnen fröhlich ihr gutmütiges Gesicht umspielten. "Was tust du hier?", wollte sie von ihr wissen und Ashling antwortete, sie sei mit einer guten Freundin zum Einkaufen hergekommen (manche Dinge behielt man lieber für sich, solange man seine 'Freunde' noch nicht allzu lange kannte), die sicher gleich wieder hier sein würde, woraufhin Karfunkel ihr erklärte, die Lebensmittel hier seien in Folie eingeschweißt, die nicht biologisch abbaubar sei und sie deshalb lieber in den Bioladen um die Ecke ging. Ashling erinnerte sich, dass Karfunkel vor ein paar Tagen mit einer Dose 'Powerade' ihren Durst gelöscht hatte, nachdem sie sich bei ihrem Tanz im Wald verausgabt hatte, behielt dies aber auch für sich. "Ah, da ist sie ja, Karfunkel, das ist Phoebe, meine Freundin.", strahlte sie ihre Geliebte an. "Phoebe, ich habe dir von Karfunkel erzählt." Die Reaktion ihrer Vertrauten fiel so sehr anders aus, dass Ashling anfangs überhaupt nicht begriff. Das Lächeln der Frau gefror erst, wurde schließlich zur Maske, bröckelte und wandelte sich in einen Ausdruck äußerster Missgunst, schließlich zu Zorn. Verwirrt wendete sie den Blick und sah Karfunkel an, um in ihrem Blick gar nichts zu finden. Sie stand da, streckte Phoebe die Hand hin und lächelte noch immer scheu. "Was hat sie denn, Ashling?" Ashling tat einen unsicheren Schritt auf Phoebe zu, die sie sogleich am Arm packte und an sich riss. Sie schlang ihren freien Arm um Ashlings Hüfte und spie Feuer. "DU!", kotzte sie den bunten Farbkleks in Korksandalen an. "Du wagst es tatsächlich. Ich fass es nicht." Der Farbkleks wackelte unruhig hin und her. "Du lullst vielleicht Ash in deine Masche aus Unschuld und so...aber ich erkenn' dich, du ekliges Balg! Wie kannst du es wagen, dich überhaupt an sie 'ranzutrauen?! Bist du so dumm, wie du aussiehst, Frau?" Ashlings Hutschnur riss. Erschrocken und verwundert über die dämliche Reaktion ihrer Freundin wand sie sich los, stürmte zu Karfunkel hinüber und stellte sich trotzig an ihre Seite. "Phoebe, verdammt, was ist in dich gefahren, hör dich doch an. Sie ist eine gute Freundin für mich geworden, wie kannst du glauben, dass sie etwas Schlechtes im Sinn hat?" Phoebes Atem beruhigte sich, sie richtete sich auf und grinste eine furchtbare Grimasse. Sie wirkte gefasst, aber Ashling kannte sie zu gut. Ein falsches Wort und die junge Frau vor ihr würde lichterloh brennen und Feuerspuckend um sich keifen. Vielleicht sogar sprichwörtlich. Ihre Stimme zitterte. "Sie ist eine von D E N E N, Ash, von den anderen." Sie ging einen Schritt auf die beiden zu, streckte die Hand aus, ließ sie wieder sinken. "Dass du sie nicht erkennst, Ash.. traurig. Was hast du mit ihr gemacht, Frau? Sie verzaubert? Mit Sprüchen belegt? Hast du sie einen Blick in deinen Zauberhut werfen lassen? Oder unter deinen Poncho?", sie spuckte aus, hielt Ashling abermals ihre Hand hin. "Ich..Karfunkel..." Überrumpelt griff sie nach der Hand ihrer 'Freundin', "..sag. Stimmt das?" Die junge Frau blickte Ashlings Hand an, als würde sie sie zum ersten Mal wirklich sehen und lachte dann. Es klang bitter. "So bist du also doch eine von ihnen, Ashling. Ich war so dumm, es tut mir leid..." Damit schüttelte sie die fremde Hand ab und rannte davon. Einen letzten Moment unentschlossen, drehte sich Ashling zu ihrer Geliebten um, sah ihr nach. Phoebe hatte sich die Einkäufe unter den Arm geklemmt und zog in Richtung Pension ab. Allein. Ashling wollte Gewissheit, rannte Karfunkel nach... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)