Phantomkräfte von Tea_Kaiba (Es geht ein Geist um in... Tokyo) ================================================================================ Prolog: Overtüre ---------------- Sie schien ja ganz nett zu sein. Nett auf eine seltsame, nervige Art und Weise, wie es nur Lehrer können. Ihr Gesicht sagte schon alles. Ich möchte, dass wir Freunde werden. Kaito und sein Freund und Leidensgenosse Hiroto wechselten einen genervten Blick. Neu. Sie musste neu sein. Neu an der Schule, denn sie hatten sie noch nie vorher gesehen. Und vielleicht überhaupt neu im Geschäft, eine dieser Lehrerinnen, die kaum selbst die Schule abgeschlossen hatten. Na toll. Sie konnten die Langeweile schon förmlich riechen. „Also...“, begann sie nach einer Weile. „Tomoe-san hat mir gesagt, ihr habt zuletzt über den Klimawandel gesprochen. Und darüber, was jeder dagegen tun kann. Vielleicht sollten wir damit einfach weiter machen, und ihr könnt ihr nächste Woche erzählen, was ihr gelernt habt.“ Wenigstens würde sie keine Zeit damit vergeuden, eine angeblich unterhaltsame Stunde auf die Beine zu stellen. „Wie ich sehe, habt ihr über Energiesparen zu Hause gesprochen, über öffentliche Verkehrsmittel und-“ Sie warf einen unsicheren Blick auf das Klassenbuch, in dem die Themen der letzten Stunden festgehalten waren. „ Die Dos und Don´ts beim Einkaufen. Laut dieser Liste sind als nächstes biologisch hergestellte Produkte an der Reihe, vor allem, was Kleidung betrifft. Kann mir einer von euch sagen, was biologisch bedeutet?“ Vielleicht war sie doch nicht ganz so schlimm. Kaito hob die Hand, während er sich an das erinnerte, was Anzu ihm letzte Woche erzählt hatte, nachdem er sie über die Stoffproben im Wohnzimmer ausgefragt hatte. „Ja... Kaito?“, forderte ihn die neue Lehrerin auf, nachdem sie den Namen auf seinem Schild entziffert hatte. „In diesem Fall heisst es, dass zum Beispiel die Pflanze, aus der ein Produkt hergestellt wurde, weder mit chemischen Düngemitteln noch mit Pestiziden behandelt wurde.“ Ein leichtes Lächeln zog ihre Mundwinkel nach oben. Kaito kannte dieses Lächeln, es war das selbe, mit dem ihn jeder Lehrer bedachte, wenn er merkte, dass Kaitos Wortschatz sich von dem eines normalen Neunjährigen unterschied. „Ein paar andere Dinge gehören auch noch dazu, aber alles in allem stimmt das.“ Die neue Lehrerin drehte sich um und schrieb Düngemittel und Pestizid an die Tafel. „Kann mir irgendjemand sagen, was das heisst?“ Ein paar von Kaitos Mitschülern hoben die Hände. „Yukiko?“ Das scheue, blauhaarige Mädchen in der letzten Reihe sah sich die Worte noch einmal an, als ob sie einen Punkt im Klassenzimmer suchte, an dem sie sich festhalten konnte, und sagte dann rasch, damit sich die allgemeine Aufmerksamkeit wieder jemand anderem zuwenden konnte: „Düngemittel gibt man den Pflanzen, damit sie schneller wachsen. Und Pestizide töten die Insekten, die einer Pflanze schaden könnten.“ Die junge Frau hinter dem Lehrerpult nickte ermutigend. „Wenn du das jetzt noch etwas lauter sagst, damit es alle hören können, ist es perfekt.“ Widerwilllig folgte Yukiko ihrer Aufforderung. Während die Lehrerin erklärte, was biologische Landwirtschaft mit ihrem momentanen Thema zu tun hatte, döste Kaito leise weg. Das hatte er alles schon von Anzu gehört, wozu sich noch mal damit belasten? „Kann mir jetzt jemand den Namen einer bekannten Firma nennen, die Kleider produziert? Masako?“ Einer nach dem anderen erschienen die Namen, die seinen Mitschülern einfielen, an der Tafel: Levis. S.Olivier. Nike. Er hob wieder die Hand. „Kaiba Corporation.“ Ein leichtes, freundliches Stirnrunzeln war die Antwort. „Aber Kaito. Kaiba Corp. produziert doch keine Kleidung, die Firma verkauft Spielzeug und betreibt Vergnügungsparks.“ Jetzt musste er ein Lächeln unterdrücken. Er liebte es, Dinge zu wissen, die Andere nicht wussten, nicht wissen konnten. „Noch nicht. Aber bald werden sie das tun.“ Er konnte das leise Gelächter hören, das sich im Klassenzimmer breit machte, weil die neue Lehrerin so offensichtlich nicht wusste, was Sache war. Sie ignorierte es, oder hatte es vielleicht von Anfang an nicht gehört. „Kaito, wirklich, da verwechselst du was. Mein Mann arbeitet für Kaiba Corp., also wenn es solche Pläne gäbe, dann wüsste ich davon.“ Anzu hatte ihm gesagt, er sollte das lassen. Aber es war einfach zu verlockend. „Ach, tut er das? Meinem Onkel gehört Kaiba Corp. Und er hat es mir erzählt.“ Wieder konnte er ein Lachen hören, aber diesmal war es die junge Frau vor ihm, von der es ausging. „Tut mir leid, Kaito. Ich wollte dich nicht auslachen. Aber wirklich, das kann nicht sein. Vielleicht leitet dein Onkel eine der Abteilungen... aber ihm gehört die Firma doch nicht. Kaiba Corporation gehört Seto Kaiba.“ Der schwarzhaarige Junge verdrehte die Augen. Für wie beschränkt hielt sie ihn eigentlich? Das wusste doch nun wirklich jeder in Domino. „Ich weiss. Seto Kaiba ist ja mein Onkel.“ Sie wurde nicht wütend, aber langsam sah sie etwas genervt aus. Vielleicht lag das an ihm, vielleicht auch an seinen Klassenkameraden, die immer noch lachten. „Kaito, nun hör doch auf, mich anzulügen. Du weisst, dass das nicht sein kann. Seto Kaiba hat nur einen einzigen Bruder, und wir wüssten doch, wenn Mokuba Kaiba Kinder hätte.“ Er wüsste es. Sie nicht unbedingt, aber das verkniff er sich, zu sagen. „Lass sie.“, wisperte Hiroto. „Sie ist neu, sie kann es noch nicht wissen.“ „Ich weiss.“, seufzte Kaito. „Aber wenn ich jetzt nichts sage, wird sie meinen, ich sei ein Lügner. Und das soll sie nicht.“ Laut sagte er: „Sie haben ja recht, er ist nicht mein Onkel. Ich nenne ihn nur so, weil es die Sache vereinfacht. Eigentlich war meine Mutter die Cousine seiner Frau.“ Die Lehrerin begann, etwas verwirrt auszusehen. Offensichtlich hatte sie nicht erwartet, dass ein Drittklässler eine so komplexe Lüge erzählen würde. Nur, dass es keine Lüge war, aber woher sollte sie das wissen? „Gut, von mir aus.“ Sie gab sich Mühe, amüsiert zu klingen. „Aber jetzt lass uns wieder zu unserem Thema zurückkehren.“ Kaito spang auf. „Wirklich, es stimmt! Ich kann ihn anrufen, wenn Sie mir nicht glauben!“ Auf einmal ging es hier nicht mehr nur darum, eine Lehrerin ein bisschen aufzuziehen, weil er mehr wusste als sie. Es ging um all die Leute, die meinten, Kaito Kusakabe-Kaiba sei ein Lügner. Aber natürlich war er der Einzige, dem das auffiel. Die Lehrerin dachte immer noch, er würde sich einen Spass erlauben. Also lachte sie jetzt nur und entgegnete: „Von mir aus. Ruf Seto Kaiba an, wenn du möchtest.“ Kaito griff nach seinem Handy – dem neuen, teuren Modell, das Seto ihm zum Geburtstag geschenkt hatte – und drückte einen einzigen Knopf. „Kaito? Was ist passiert?“ Für Notfälle, hatte er ihm eingeschärft, also hatte Seto jetzt einen gewissen Grund, besorgt zu sein. Aber er hasste es, wie sehr das in seiner Stimme offenbar wurde, dass jeder sofort hätte erkennen können, wie viel ihm dieser Junge bedeutete. Dabei war er, streng genommen, noch nicht einmal mit ihm verwandt. „Seto, meine Lehrerin glaubt mir nicht, dass wir in einem Haushalt wohnen. Und sie meint, Kaiba Corp hätte keine Pläne, Kleider zu vermarkten. Kannst du ihr das erklären?“ Die Spannung wich aus seinen Schultern, aber Seto gab sich Mühe, streng zu klingen, trotz des Lächelns, das sich jetzt auf seinem Gesicht breit machte. „Ich habe dir gesagt, du sollst mich anrufen, wenn es einen Notfall gibt. Nennst du das etwa einen? Du hast Glück, dass ich nicht gerade in einem Meeting war!“ Als Kaito jetzt antwortete, konnte er die grossen Augen, die er ihm gezeigt hätte, hätten sie sich gegenüber gestanden, färmlich sehen. Verdammt, Mokuba hatte diesem Kind eindeutig ein paar Tricks beigebracht. „Ich weis. Aber... kannst du? Bitte?“ Seto legte den Vertrag zur Seite, den er eben aufgesetzt hatte, und lehnte sich zurück. „Ich werde es ihr sagen. Aber das war das letzte Mal, dass du so eine Aktion startest, verstanden? Jetzt gib sie mir bitte.“ Es raschelte und eine weibliche Stimme meldete sich. „Hallo?“ Auf einmal fühlte er sich genervt. Er hatte Lehrer nie gemocht, am allerwenigsten diejenigen, die sich anhörten, als seien sie mehr Cheerleader als Pädagoge. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass er inzwischen verliebt in, und verheiratet mit, Yugi Mutos ehemaligem persönlichem Cheerleader Nummer eins war. „Hier spricht Seto Kaiba. Wie ich höre, hatten Sie eine kleine Auseinandersetzung mit Kaito. Ich mag es nicht, wenn er seinen Namen als Aushängeschild hernimmt, aber es stimmt, er ist das Patenkind meiner Frau und mein Adoptivsohn. Was die Frage zu unserer Produktpalette angeht, über die Sie anscheinend gesprochen haben, sehen Sie sich am besten heute Abend die Lokalnachrichten an. Guten Tag.“ Er legte den Hörer auf und liess seinen Blick gedankenverloren aus dem Fenster wandern. Wieder einmal fragte er sich, wie es wohl wäre, eigene Kinder zu haben. Nicht, dass er Kaito nicht liebte, im Gegenteil, der Junge war ihm so lieb wie ein eigener Sohn, aber Kinder, die nicht nur seine Erziehung, sondern auch seine Gene hatten... das wäre doch noch einmal etwas ganz Anderes. Er und Anzu waren überein gekommen, damit noch zu warten, weil sie immer gehofft hatten, Anzus Karriere würde wieder aufleben. Aber inzwischen waren fünf Jahre ins Land gegangen, seit sie das Tanzen ihm und Kaito zuliebe aufgegeben hatte, und noch hatte sich keine Chance aufgetan, wieder auf die Bühne zurück zu kehren. Vielleicht würde nie eine kommen. Anzu sprach nicht mehr von Kindern inzwischen. Sie schien vollkommen glücklich zu sein mit ihrem Leben, auch mit ihrem Job, obwohl sie „nur“ Kindern das Tanzen beibrachte, anstatt selbst im Mittelpunkt zu stehen. Vielleicht sollte er auch so glücklich sein, wie sie jetzt lebten. Vielleicht wollte Anzu gar keine Kinder mehr. Seto seufzte und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. „Anzu? Hast du eine Minute Zeit?“ Überrascht wandte sich die junge Frau von ihren Schülerinnen ab und sah ihre Vorgesetzte an. Dann nickte sie. „Natürlich. Ich verlasse mich darauf, dass ihr euch zu benehmen wisst, während ich weg bin, meine Damen.“ Die beiden Frauen traten auf den Flur hinaus und schlossen die Tür hinter sich. „Was ist passiert?“ Sakura, die Besitzerin der Tanzschule, sah ungewöhnlich ernst aus, fast etwas traurig. Einen Moment lang fühlte sich Anzu an den Moment vor fünf Jahren erinnern, als ihr jemand die Nachricht vom Tod ihrer Cousine und deren Mann überbracht hatte. Nein, wenn es eine solche Neuigkeit wäre, wäre Sakura wohl kaum so gefasst. Anzu wusste, dass ihr solche Dinge sehr schnell nahe gingen. „Ich hoffe du weisst, dass ich deine Arbeit sehr schätze, Anzu“, begann die ältere Frau etwas verlegen. Die Brünette sah überrascht aus, nickte aber. Sakura schien erleichtert. „Gut. Dann weisst du, dass ich dich gerne hier behalten würde. Du machst deine Arbeit mit den Kindern gut, mehr als das, du machst sie sehr gut. Aber du kannst mehr als das. Und weil ich dir dabei gerne helfen würde, habe ich mich bei ein paar Freunden und Bekannten umgehört.“ Anzu wusste noch immer nicht, worauf Sakura herauswollte, aber zum Glück schien diese auch keine Antwort zu erwarten. „Einer von ihnen hat sich bereit erklärt, dir eine Stelle zu geben. Als Tänzerin, wie du es eigentlich gelernt hast.“ Die Jüngere schwieg. Hatte sie das wirklich richtig gehört? „Bist du sicher?“, erkundigte sie sich als ihr klar wurde, dass Sakura nicht scherzte. „Du meinst, als aktive Tänzerin? Auf der Bühne?“ Sakura bestätigte mit einem Kopfnicken. „Um genau zu sein, würde der Job auch Singen erfordern, aber wenn ich mich recht erinnere, hast du das doch auch gelernt, oder? Mein Freund hat sich auf Musicals spezialisiert. Für den Anfang wärst du ein Mitglied im Chor und Ballett, aber wenn du deine Sache gut machst, und daran zweifle ich nicht, ist er bereit, dir nach und nach grössere Rollen zu geben.“ Ein Lächeln breitete sich auf Anzus Gesicht aus, während sie sprach. „Das ist ja wunderbar! Danke, Sakura, dass du das für mich getan hast. Du bist eine echte Freundin.“ Einen Moment lang zögerte sie, dann machte sie einen Schritt vorwärts und umarmte die Andere kurz, aber dankbar. „Um welches Theater geht es?“ Sakura seufzte. „Das ist das Problem. Das Theater ist nicht in Domino. Es ist das Tokyo City Theater.“ Er konnte Anzus Silhouette durch das Fenster sehen. Nach dem leichten Flimmern zu urteilen, der das ansonsten dunkle Wohnzimmer erhellte, schaute sie fern. „... Wird in fünf Designs erhältlich sein, die auf beliebten DuelMonsters-Themen aufbauen – Dunkler Magier, Schwarzes Magiermädchen, Kuriboh, Babydrache und selbstverständlich Kaiba Corps Hausmarke, der Weisse Drache mit eiskaltem Blick.–“ Als Seto die Tür öffnete, schaltete sie den Fernseher aus und kam zu ihm in die Eingangshalle, wo sie ihn mit einem Kuss begrüsste. „Hey. Wie war dein Tag?“ Er stellte seinen Koffer ab und legte die Arme um seine Frau. „Normal, bis auf die kleine Episode mit Kaito, aber ich bin mir sicher, das hat er dir schon erzählt. Was ist mit dir?“ Anzu hob den Kopf, der bis jetzt an Setos Brust gelehnt hatte, und sah ihn an. „Darüber wollte ich mit dir sprechen. Sakura hat mir einen neuen Job angeboten.“ Vorsichtig gab Seto sie frei und plazierte einen weiteren Kuss auf ihrer Stirn. „Warte auf mich. Ich will nur eben Kaito Gute Nacht sagen, dann können wir reden.“ Normalerweise fand Seto die Tür zu Kaitos Zimmer angelehnt und sein Adoptivsohn wartete schon auf ihn, wenn er kam, um ihm Gute Nacht zu sagen. Heute war die Tür geschlossen, und auf sein Klopfen erhielt er keine Antwort. Verwirrt drückte er die Klinke herunter und steckte den Kopf ins Zimmer. Kaito sass auf seinem Bett und sah ihn traurig an. Offensichtlich hatte er geweint. „Warum willst du nicht, dass ich irgendjemandm erzähle, dass ich dich kenne? Liegt es daran, dass ich nicht wirklich ein Kaiba bin?“, fragte er anstelle einer Begrüssung. Seto blinzelte überrascht, dann betrat er den Raum und schloss die Türe hinter sich. „Wie kommst du denn auf so etwas? Ich dachte, du wüsstest, warum ich das nicht mag.“ Kaito antwortete nicht, also setzte Seto sich zu ihm und sah ihn an. „Ich will, dass du lernst, deinen Namen nicht als Ausrede herzunehmen, nur weil er berühmt ist. Und ich möchte, dass du dir verdienst, was du willst, und es dir nicht erschleichst, indem du den Leuten sagst, wer du bist. Das ist alles.“ Sein Sohn sah ihn skeptisch an. „Dann macht es dir also nichts aus, dass ich nur deswegen Kaiba heisse, weil Anzu mich adoptiert und dich dann geheiratet hat?“ Wie könnte er, ausgerechnet er dagegen etwas haben? „Nein, es macht mir nichts aus, im Gegenteil. Es dürfte mir auch gar nichts ausmachen“, fügte er hinzu, mehr an sich selbst als an Kaito gerichtet. Der Junge hob den Kopf und sah ihn an. „Was meinst du damit, es dürfte dir nichts ausmachen?“ Eine Weile lang sagte Seto nichts. Dann fragte er: „Weisst du das etwa nicht? Hat Mokuba dir nie unsere Geschichte erzählt? Oder Anzu?“ Der Blick, den er traf, verriet nichts als Verwirrung. „Nein, haben sie nicht. Was für eine Geschichte?“ Der Ältere liess seinen Kopf zurück gegen die Wand sinken und schloss müde die Augen. Er mochte es nicht, diese Geschichte zu erzählen, um genau zu sein, bisher war er dem immer ausgewichen. Nie hatte er sie irgendjemandem erzählt, jedenfalls nicht die ganze. Aber Kaito hatte ein Recht, sie zu kennen. Und wahrscheinlich würde es nicht so bald wieder eine Chance geben, die Sache so schnell und einfach über die Bühne zu bringen. „Du weisst, dass meine Eltern tot sind, oder?“, fragte er. Kaito nickte. „Mokuba hat es mir erzählt. Aber er hat nie gesagt... warum? Ich meine, wie sind sie gestorben?“ Seto legte einen Arm um den Jungen und drückte ihn leicht an sich. „Meine Mutter ist gestorben, als Mokuba auf die Welt kam. Damals war ich fünf Jahre alt, und noch einmal fünf Jahre später hatte mein Vater einen Autounfall. Sie haben ihn ins Krankenhaus gebracht, aber es war zu spät. Er starb auch.“ Er schwieg, versuchte die Worte in seinem Kopf zu ordnen, bevor er sie aussprach. „Natürlich hatten wir Verwandte. Aber entweder konnten sie sich nicht um uns kümmern, oder sie wollten es nicht. Jedenfalls wurden Mokuba und ich in ein Waisenhaus gegeben. Weisst du, was das ist?“ Wieder bewegte Kaito zustimmend den Kopf. „Das ist ein Haus, in dem all die Kinder wohnen müssen, die keiner will.“ Ein bitteres Lächeln erschien auf Setos Gesicht, aber er ging nicht auf diese Definition ein. Stattdessen fuhr er fort. „Damals hiessen wir noch Hida. Das war der Name unserer Eltern. Einige Jahre später bekam das Waisenhaus Besuch von einem damals sehr berühmten Mann – Gozaburo Kaiba. Wahrscheinlich hast du schon einmal von ihm gehört, ihm hat Kaiba Corporation gehört, bevor ich die Firma übernommen habe. Jedenfalls war Gozaburo nicht nur gekommen, um ein bisschen gute Publicity zu sammeln, er war auch auf der Suche nach einem Erben für seine Firma, denn sein eigener Sohn war gestorben. Er bot an, mich zu adoptieren, weil er meinte, ich hätte das Potential, sein Nachfolger zu werden, aber ich wollte nicht ohne Mokuba gehen. Also habe ich ihm eine Wette angeboten: Wenn ich ihn im Schach schlagen könnte, würde er uns beide adoptieren. Natürlich hat Gozaburo das nicht ernst genommen. Er war Weltmeister im Schach, damals, wie sollte ein Zwölfjähriger ihn besiegen können, und wenn er noch so viel Glück hatte? Er hatte recht, mit Glück habe ich ihn nicht besiegt. Aber er hat den Fehler gemacht, mich zu unterschätzen, und wurde unvorsichtig. So sind Mokuba und ich in diese Familie gekommen... nicht durch Geburt, durch Adoption, genau wie du.“ Kaito sah Seto fasziniert an. Einige Minuten schwiegen sie, dann meinte er: „Also bist du genau wie ich.“ Seto strich ihm lächelnd über das schwarze Haar. „Stimmt. Nur, dass ich niemanden wie Anzu hatte, der sich um mich gekümmert hätte. Du hast grosses Glück.“ Der Junge lächelte und schlüpfte unter seine Bettdecke. „Ich weiss. Anzu ist toll.“ Etwas an seinen Worten liess Seto daran denken, wie viel sie beide der jungen Frau zu verdanken hatten. „Du hast recht. Das ist sie. Gute Nacht, Kaito.“ Seto brauchte länger, als sie erwartet hatte, und als er sich endlich neben ihr niederliess, sah er erschöpft aus. „Alles in Ordnung?“, erkundigte sich Anzu, während sie ihr Buch weglegte und den Kopf an Setos Schulter lehnte. Er nickte, und für einen Augenblick hatte seine Frau das Gefühl, er wolle etwas sagen, aber er entschied sich anders und begnügte sich damit, seine Finger durch ihr Haar gleiten zu lassen und die Augen zu schliessen. „Du hast gesagt, Sakura hätte dir einen neuen Job angeboten?“, fragte er nach einiger Zeit. „Hast du angenommen?“ Anzu setzte sich auf und seufzte. „Darüber wollte ich mit dir reden.“ Sie wiederholte, was Sakura ihr gesagt hatte. „Ich würde wirklich gerne annehmen. Du weisst ja, dass ich schon seit Jahren auf diese Chance warte, aber... Das Theater, das ihrem Freund gehört, ist in Tokyo. Ich müsste dort hinziehen.“ Seto überdachte das. Sie hatte recht, selbst wenn sie seinen Privatjet benutzte, konnte sie unmöglich jeden Tag hin und zurück fliegen, und in der Zwischenzeit auch noch arbeiten. „Du solltest es versuchen“, sagte er schliesslich. „Es wird nicht einfach sein, aber ich bin mir sicher, wir finden eine Lösung.“ Das hatte nicht ganz so ermutigend geklungen, wie er gehofft hatte, aber es war alles, was er im Moment aufbringen konnte. Die Aussicht, seine Frau nur noch am Wochenende zu sehen, war nicht gerade eine, auf die er sich freute. Kapitel 1: Enter´acte --------------------- Falls ihr euch über den Titel wundert: Ich habe geplant (und ich gehe davon aus, dass es auch klappt, nach allem, was ich bisher eingeteilt habe), jedes Kapitel dieser FF nach einem Titel aus dem "Phantom der Oper" zu benennen. Daher also der seltsame Name. “Du willst WAS?“ „Umziehen“, erwiederte Seto, obwohl er wusste, dass Kaito ihn ganz gut verstanden hatte. „Und als wollen kannst du es eigentlich nicht bezeichnen. Ich denke einfach, es ist das Richtige.“ Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und seufzte. „Deine-, ich meine, Anzu hat eine neue Stelle angeboten bekommen. In Tokyo. Sie hat lange auf die Chance gewartet, wieder als aktive Tänzerin arbeiten zu können, und ich denke, wir sollten es ihr ermöglichen, diese Gelegenheit wahrzunehmen. Aber wenn wir nicht alle umziehen, wird sie es allein tun müssen, und dann müssen wir hier ohne sie auskommen. Ich glaube nicht, dass einer von uns das will.“ Kaito sah ihn nachdenklich an. „Was ist mit meinen Freunden?“ Seto hatte diese Frage erwartet. Und gefürchtet. Er wusste, es würde nicht einfach werden für Kaito, aber wäre es wirklih so viel einfacher, fünf von sieben Tagen auf Anzu verzichten zu müssen? „Du kannst sie an den Wochenenden besuchen. Wir werden das Haus hier behalten, immerhin wird Anzu ihre Freunde auch sehen wollen. Und Mokuba wird hier wohnen bleiben, wir gehen also nicht ganz weg. Wir werden immer wieder zu Besuch nach Domino kommen.“ Anzu öffnete die Haustür und fand sich Kaito und Seto gegenüber, die beide breit grinsten. Ausserdem zeigte Setos Gesicht den Ausdruck, den sie schon von ihm kannte, wenn er kurz davor stand, eine seiner gloriosen Taktiken zu enthüllen. Offensichtlich hatten die beiden irgendetwas geplant, von dem sie nichts wusste. „Was ist los?“ Immerhin war es ihr Geburtstag, da waren Überraschungen nichts so Ungewöhnliches, aber etwas an ihren triumphierenden Gesichtern liess sie misstrauisch werden. „Komm. Wir haben Sushi gemacht“, erklärte Kaito fröhlich und nahm ihre Einkaufstaschen, um sie am Fuss der Treppe abzuladen. Anzus Augen schweiften ab, zu Seto. „Keine Sorge“, schob ihr Patenkind nach, „Ich meine, ich und Sayuri. Er hatte nichts damit zu tun.“ Einmal, vor einigen Jahren, hatte Kaito Seto überredet, mit ihm zu kochen. Keiner hatte je vorgeschlagen, sie sollten das Experiment wiederholen. Seto ermahnte ihn halbherzig: „Ich habe dir schon so oft erklärt, dass es heisst „Sayuri und ich“, nicht „Ich und Sayuri““, aber Anzu nickte nur und folgte Kaito ins Wohnzimmer, wo der Tisch mit dem Festtagsporzellan und Anzus Lieblingsblumen gedeckt war: Vergiss-mein-nicht und orangefarbige Rosen. Wieder tauschte sie einen Blick mit Seto, dieses Mal einen lächelnden. Es war ihr immer noch ein Rätsel, wie Seto herausgefunden hatte, dass feuerfarbige Rosen ihr am liebsten waren, aber er hatte ihr einmal einen ganzen Strauss davon in die Garderobe geschickt, als er noch dabei war, um sie zu werben. Ir Mann ergriff eine der zierlichen Blüten und steckte sie ihr an die Bluse, direkt über ihrem Herzen, bevor er sie an sich zog und sanft küsste. „Alles Gute“, flüsterte er, dann zog er einen der Stühle unter dem Tisch hervor und bot ihn ihr an wie ein perfekter Gentleman. Das Essen verlief ruhig, bis auf Anzus Versuche, herauszufinden, was die beiden Männer ihr verheimlichten. Aber alles, was sie aus ihnen herausbekam, war ein „Das wirst du schon sehen“. Also gab sie es irgendwann auf und gratulierte Kaito stattdessen zu dem köstlichen Sushi, das er gemacht hatte, obwohl ihr natürlich klar war, dass das meiste davon auf die Rechnung ihrer Köchin Sayuri ging. Nachdem sie das Essen beendet hatten, zog Seto sie aufs Sofa und stellte den Fernseher an, um die Domino News einzuschalten. Verwirrt sah seine Frau ihn an. „Was soll das? Ist etwas mit Yugi passiert? Oder Mokuba? Dann sag es mir lieber gleich.“ Es war natürlich absurd zu denken, dass Seto wollen könnte, dass sie so etwas über die Nachrichten erfuhr, ausserdem würde er niemals so gelöst aussehen, wenn seinem kleinen Bruder etwas zugestossen war. Aber es war die einzige Erklärung, die sie sich denken konnte. Seto lächelte nur und setzte sich neben sie, während Kaito den Platz auf ihrer anderen Seite wählte und sich an sie kuschelte. „Vertrau mir einfach“, meinte er und richtete seinen Blick auf den Bildschirm. Die Nachrichtensprecherin hatte ihre Einleitung beendet und begann, die Lokalnachrichten zu verlesen. „Domino. Wie heute bekannt wurde, beabsichtigt Seto Kaiba, Vorsitzender des grössten Unternehmens der Statd, die Zentrale des Konzerns nach Tokyo zu verlegen. Das Presseböro der Kaiba Corporation liess verlauten, dass damit kein Verlust von Arbeitsplätzen verbunden sei. Kaiba betonte, weder seine Angestellten noch die Wirtschaft der Stadt hätten unter der Veränderung zu leiden. Sämtliche Abteilungen werden in Domino verbleiben, wo Kaibas bisheriger persönlicher Assistent Roland Isono die Leitung übernimmt. Kaiba selbst beabsichtigt, sein neues Büro in der tokyoter Zweigstelle des Konzerns aufzuschlagen, wo zukünftig sämtliche nationalen und internationalen Besprechungen abgehalten werden. Unsere Wirtschaftsexpertin Noobu Miho hat einige Kommentare gesammelt.“ Seto stellte den Fernseher ab, als eine Frau um die Vierzig auf dem Bildschirm erschien, die in die Kamera nickte und eines der lächerlich riesigen Mikrophone, die zur Grundausstattung von Fernsehreportern zu gehören schienen, in der Hand hielt. Erwartungsvoll sah er Anzu an. Die starrte verständnislos zurück. „Heisst das...?“ Ihr Mann nickte. „Wir kommen mit dir. Ich habe meine Sekretärin angewiesen, nach passenden Wohnungen für uns Ausschau zu halten, wenn du willst, können wir am Wochenende hinfliegen und sie uns ansehen.“ Langsam wurde Anzu klar, was das bedeutete, und ein Strahlen machte sich auf ihrem Gesicht breit. Aber sofort sah sie auch wieder besorgt aus und wandte ihr Gesicht Kaito zu. „Das ist schon okay“, versicherte der Junge. „Er hats mir schon gesagt. Ich habe die Garantie, meine Freunde zwei mal im Monat besuchen zu drüfen“, fügte er noch hinzu, stolz, als hätte er dieses Abkommen durch lange und aufreibende Debatten erreicht. Wie der Vater, so der Sohn, dachte Anzu kurz, aber das traf es in diesem Fall natürlich nicht ganz. Kapitel 2: Zum Lachen, dieser Narr ---------------------------------- Die Ältere Dame griff nach einem der Stäbe, die – aus Gründen, die Anzu nicht ganz klar waren - an der Wand lehnten und klopfte damit in rascher Folge einige Male auf den blankpolierten Boden. „Guten Morgen, meine Damen... und mein Herr.“ Ihre Augen ruhten für ein paar Sekunden auf dem einzigen Mann im Raum, der sich grinsend zurücklehnte und das freundliche Gelächter seiner Kolleginnen hinnahm, als sei er an diese Art von Scherzen gewöhnt. Dann wandte sich die Aufmerksamkeit wieder der Leiterin der Gruppe zu, die fortfuhr: „Ich möchte Ihnen ein neues Mitglied unseres Balletts vorstellen, Madame Anzu Kaiba.“ Einen Moment lang wunderte sich Anzu, warum sie die französische Anrede benutzte, dann fiel es ihr wieder ein: Ihre neue Trainerin war Französin. Madame Giry. Was für ein Name für die Leiterin eines Balletts. Einige der Mädchen begannen mit einander zu flüstern, als sie ihren Namen hörten, und der junge Mann auf der rechten Seite schien gerade einen Witz gerissen zu haben, denn die Tänzerinnen um ihn herum lachten und er schien sehr zufrieden mit sich. „Ruhe bitte!“, rief Madame Giry. „Anzu – Ich hoffe, ich darf du sagen? So machen wir das hier üblicherweise.“ Die Brünette signalisierte ihre Zustimmung, sagte aber nichts weiter. Ihre Vorgesetzte schien zufrieden und wandte sich wieder den anderen zu. „Anzu wird bei uns bleiben und den Platz von Josie einnehmen, die, wie ihr ja alle wisst, in ihre Heimat zurückgekehrt ist, um näher bei ihrer Familie zu sein. Ich gehe davon aus, dass ihr sie alle freundlich aufnehmen werdet, aber diese Erinnerung sollte ja bei erwachsenen und vernünftigen Leuten wie euch nicht mehr nötig sein.“ Niemandem entging der strenge Blick, den sie dabei einigen jungen Frauen auf der linken Seite zuwarf. „Meg, würdest du jetzt bitte Anzu die Räumlichkeiten zeigen, während wir anderen anfangen zu üben.“ Ein blondes Mädchen erhob sich von ihrem Sitzt in der Mitte der Tänzerinnen und signalisierte Anzu, ihr zu folgen. Sie schien ein paar Jahre jünger zu sein als Anzu, zwanzig vielleicht. „Hey. Schön, dich kennenzulernen“, begrüßte sie sie lächelnd und führte sie zu einer der Türen an der Seite des Saales, während ihre Kolleginnen sich wieder zu unterhalten begannen. „Man sollte meinen, dass ausgerechnet Kaiba es sich leisten könnte, seiner Frau eine bessere Stellung zu ermöglichen, mit seinen Millionen. Oder dass sie gleich ganz zuhause bleiben könnte“, hörte Anzu eine von ihnen sagen, während sie an der letzten Sitzreihe vorbeigingen. Ärgerlich drehte sie sich um, um die Lästermäuler zum schweigen zu bringen, aber Meg hielt sie zurück. „Mach dir nichts draus. Sie sind einfach dumm, weiter nichts“, flüsterte sie und verdrehte die Augen, während sie Anzu lächelnd die Tür aufhielt. Die Ältere beruhigte sich bald und fand ihr Lächeln wieder. „Du heißst also Meg?“, wollte sie wissen und betrachtete dabei den blonden Zopf, der vor ihr auf und ab wippte. „Das ist kein japanischer Name. Du bist nicht von hier, oder?“ Der Korridor verbreiterte sich etwas und sie konnte nun neben dem anderen Mädchen hergehen, das nickte. „Nein, ich bin in Frankreich geboren. Ich bin Madame Girys Tochter“, fügte sie hinzu und grinste dann. „Ja, ich weiss. So ein Name, und dann noch zum Ballett gehen. Meine Mutter hatte immer eine gewisse Vorliebe für das Phantom der Oper. Und nachdem ihr Name praktischerweise schon mal Giry war, konnte sie nicht widerstehen und musste mich nach Christines Freundin benennen. Manchmal glaube ich, sie hat meinen Vater nur wegen seines Namens geheiratet.“ Ein Schmunzeln machte deutlich, dass sie den letzten Teil ihrer Erklärung nicht ganz ernst gemeint hatte. „Aber was ist mit dir? Bist du wirklich die Frau von Seto Kaiba? Ich kenne mich nicht so aus mit den Boulevardnachrichten, aber die Mädels da drin normalerweise schon, also gehe ich mal davon aus, dass sie Recht hatten?“ Anzus Miene verdunkelte sich etwas, als sie sich an das Gespräch erinnerte, das sie drinnen mitangehört hatten, aber sie nickte. „Ja, sie hatten Recht. In allem außer darin, anzunehmen, dass ich den Reichtum meines Mannes nutzen würde, um mir ein paar Sprossen auf der Karriereleiter zu ersparen. Ich möchte auch für das arbeiten, was ich bekomme.“ Sie seufzte. „Reden wir nicht darüber. Du solltest mir das Theater zeigen, erinnerst du dich?“ „Richtig.“ Meg richtete sich etwas gerader auf und grinste verlegen. „Entschuldige. Ich war einfach neugierig. Lass uns hier anfangen. Das sind die Umkleiden.“ Sie öffnete eine der Türen und trat ein. Die Wände flammten in grellem Weiß auf, als sie auf den Lichtschalter drückte, und entpuppten sich als kahl bis auf ein paar Spiegel. „Die richtigen Schauspieler bekommen natürlich ihre eigenen Kabinen. Aber wir müssen teilen, wir sind nicht wichtig genug für eine eigene Umkleide für jede von uns.“ Anzu fing ein kameradschaftliches Lächeln von der jungen Frau auf. „Und glaub mir, wenn du das hier mal ein paar Stunden lang mit den Klatschtanten geteilt hast, die du da grade das Vergnügen hattest, kennen zu lernen, wirst du noch mal drüber nachdenken, dir gewisse Privilegien zu erkaufen.“ Meg zeigte Anzu auch noch den Rest des Theaters, was fast zwei Stunden dauerte, dann kehrten sie in den Saal zurück, wo die Anderen gerade eine Pause machten. Einige der Tänzerinnen versammelten sich sofort um Anzu, während Meg davoneilte, um etwas mit ihrer Mutter zu besprechen. „Hi, ich bin Yu“, erklärte eine von ihnen und liess sich neben Anzu nieder. „Also... wie kommts, dass du dich unters Fußvolk mischst?“ Die Brünette blinzelte etwas verwirrt ob dieser seltsamen Frage, aber sie wurde von einem Lächeln begleitet, also vielleicht, sagte sich Anzu, war Yu einfach nicht besonders begabt darin, Smalltalk zu machen. Sie lächelte ebenfalls, wenn auch etwas unbehaglich, und antwortete: „Mir wurde die Stelle angeboten von meinem letzten Arbeitgeber, und ich dachte, es wäre eine gute Chance, wieder einen einstieg in meinen eigentlichen Beruf als Tänzerin zu finden, also... hier bin ich.“ Die anderen Mädchen hörten interessiert zu, aber es war wieder Yu, die sprach: „Natürlich, es muss schwer sein, nach so langer Zeit wieder einzusteigen. Fünf Jahre, oder? Wie kommts eigentlich, dass du diese Schule in New York übehraupt besucht hast?“ Es verwirrte Anzu, dass eine komplett fremde Person mit ihr sprach, als wisse sie einge ganze Menge aus ihrem Leben. Andererseits tat Yu das wahrscheinlich sogar, auf jeden Fall dachte sie es. Einige der Schlagzeilen der letzten Jahre fielen Anzu wieder ein. Seto Kaiba erlärt Verlobung mit ehemaliger Klassenkameradin – – Die Schöne und das Biest - Ist Seto Kaiba endlich gezähmt? – – Anzu Kaiba, eine kurze Biographie. Sie hatte den Gedanken nie gemocht, dass die Presse über ihr Privatleben berichtete, aber weder sie noch Seto hatten das immer verhindern können. „Naja... ich wollte schon immer Tänzerin werden, ausserdem war ich neugierig auf New York. Die Schule hatte einen guten Ruf, also habe ich angefangen, Geld zu sparen, und habe mich für ein Stipendium beworben. Ich habe es nicht bekommen, aber irgendwie habe ich es trotzdem geschafft, das Geld zusammenzukratzen. Was ist mit dir?“ Yu schänkte ihr ein Lächeln, das alles andere als ehrlich wirkte. „Ach... weisst du, ich musste mich eben so hocharbeiten. Nichts Spektakuläres wie bei dir.“ Sie erhob sich und ihre Freundinnen folgten. „Man sieht sich, Anzu!“ Baff sah sie ihnen nach. „Habt ihr gemerkt, wie wild sie darauf war, über sich zu reden?“, fragte eine im Weggehen, offenbar der Meinung, dass Anzu sie nicht mehr hören konnte – vielleicht war es ihr auch einfach egal. Eine andere fügte hinzu: „“Ich konnte das Geld zusammenkratzen.“ Für wie blöd hält sie uns eigentlich? Was denkt ihr, wo sie gekratzt hat, in Kaibas Bett vielleicht? Der Mann ist so naiv.“ Meg war zurückgekehrt und legte eine Hand auf Anzus Schulter, woraufhin diese erschrocken herumfuhr. „Mach dir nichts draus, ignorier sie einfach. Ich habs dir ja gesagt, sie sind idiotisch. Aber mach dir keine Sorgen, die Anderen sind alle ganz nett.“ Anzu merkte überrascht, dass sich Tränen in ihren Augen gebildet hatten. Sie blinzelte sie weg. „Danke. Aber es ist einfach so... unfair. Wir waren nicht mal ein Paar zu der Zeit, weit davon entfernt!“ Die Blonde seufzte. „Na und? Denkst du, das interessiert die? Sie sind neidisch, weil du etwas hast, das sie auch gern hätten – du bist reich und berühmt. Ausserdem ist ihnen langweilig, also wenn es nichts gibt, über das sie sich auslassen könnten, denken sie sich eben etwas aus. Je skandalöser, desto besser. Jetzt komm, wir müssen dir ein Kostüm suchen. Hast du Joseph and the amazing technicolor dreamcoat jemals auf der Bühne gesehen?“ Das Leben einer professionellen Tänzerin wieder aufzunehmen, war schwerer, als Anzu gedacht hatte. Natürlich hatte sie gewusst, dass sie jeden Tag, ausser an Wochenenden, mehrere Stunden würde trainieren müssen, und manchmal, wenn die Premiere näher rückte, auch an Samstagen und Sonntagen. Was sie nicht erwartet hatte, war dass das so viel anstrengender sein würde, als Mädchen aus allen Altersstufen zwischen vier und vierzehn Jahren zu unterrichten. Natürlich hatte ihre Stimme davon profitiert, dass nun jemand anders für das Schreien verantwortlich war, sonst hatte ihr die Bemühung, die Aufmerksamkeit ihrer Schülerinnen zu erlangen, oft genug Halsschmerzen eingetragen. Aber ausser der körperlichen Erschöpfung, die sich meistens durch Schlaf und das Wissen um die Unterstützung ihrer Familie kurieren liess, war da noch die mentale Belastung, die die Stunden für sie darzustellen begannen. Obwohl Madame Giry sich bemühte, den Frieden zu wahren, und Anzu alles daran setzte, ein respektiertes Mitglied der Gruppe zu werden, schienen einige ihrer Mittänzerinnen es darauf anzulegen, nur das Schlimmste von ihr zu denken. Die meisten benahmen sich zwar freundlich oder nahmen ihre Anwesenheit schweigend hin, aber Yu und ihre Clique nutzten immer noch jede Gelegenheit, alle wissen zu lassen, was sie von Anzus Erfolg hielten. Sie waren so hartnäckig, dass Anzu sich an manchen Tagen selbst fragte, ob ihr Name nicht doch eine Rolle gespielt hatte dabei, dass der Direktor sie eingestellt hatte. War es möglich, dass er sie nur eingestellt hatte, um ihrem Mann zu gefallen? Oder, schlimmer noch, hatte Seto seine Kontakte oder sein Konto spielen lassen, um ihr die Stelle zu ermöglichen? Sie hatten immerhin lange gewartet, und vielleicht war Seto das ewige Warten, Hoffen und die Enttäuschung, wenn wieder eine Absage eintraf, einfach zu viel geworden. Vielleicht glaubte er auch nicht mehr daran, dass Anzu es allein hätte schaffen können, dass ihr Talent ausreichte, ihr eine neue Stelle zu verschaffen. So jedenfalls gingen ihre Gedanken manchmal, wenn sie allein war. Wenn sie dann heimkam und Seto bis zum Hals in wichtiger Arbeit steckend vorfand, machte sie sich selbst Vorwürfe, weil sie im Ernst glaubte, er könnte sich auch noch um ihre Karriere kümmern, wenn ihn seine eigene doch schon so auf Trab hielt. Und wie konnte sie ihn überhaupt beschuldigen, hinter ihrem Rücken die Fäden gezogen zu haben, wo doch in seinem Blick jedes Mal Stolz und Liebe aufleuchteten, wenn sie von ihrer Arbeit sprachen? Natürlich sagte er nie etwas oder zeigte, was er von den Talenten seiner Frau hielt, aber in den vergangenen fünf Jahren hatte sie gelernt, die Zeichen zu deuten. Jedenfalls war Anzu davon überzeugt, bis sie wieder ins Theater zurückkehrte, und ihre Überzeugung erneut durch Zweifel erschüttert wurde. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Noch jemand, der die deutsche Fassung dieses Musicals nicht mag, geschweige denn die Songtitel, so wie ich? Obwohl ich auch nicht weiss, wie ich "Poor fool, he makes me laugh" besser übersetzt hätte. Naja. Der Abschuss war immer noch "Engel der Muse" beziehungsweise "Engel der Lieder". Verzeiht mir bitte schon im Voraus, wenn ich da von der Musical-Übersetzung abweiche und "Engel der Musik" nehme, denn DAS kann ich meinem geliebten Musical nun wirklich nicht antun. Kapitel 3: Maskenball --------------------- Etwas erschöpft, hauptsächlich durch die Sorgen, die sie sich die ganze Zeit gemacht hatte, aber auch glücklich darüber, dass „ihre“ erste Premiere ein Erfolg gewesen war, betrat Anzu hinter ihrer blonden Freundin die Umkleidekabine. Einige Mädchen unterhielten sich, aber die meisten warfen nur ihre Kleider ab und machten sich auf den Weg zu den Duschen, es war ein langer Tag gewesen. Auch Anzu griff nach einem Handtuch und zog sich aus, bevor sie sich mit einer ausgiebigen, warmen Dusche für ihren Beitrag zur Vorstellung belohnte. Einige Minuten später kehrte sie zurück, die Haare in einen Turban gewickelt und sich selbst mit einem weiteren Handtuch bedeckend, und öffnete ihren Spind, um die frischen Kleider herauszuholen, die sie anziehen wollte. Geistesabwesend streckte sie die Hand aus, erstarrte aber im nächsten Augenblick. Sorgfältig auf ihre Unterwäsche gebettet, wartete da ein blassblauer Briefumschlag auf sie. Und direkt daneben lag eine wunderschöne, voll aufgeblühte Blume und verbreitete ihren betörenden Geruch. Jemand war an ihrem Sprind gewesen und hatte ihn geöffnet. Sicher, das war nicht besonders schwer. Aber trotzdem ein Einbruch in ihre Privatsphäre, der Anzu schwummerig werden ließ. Wer würde das versuchen? Ihr erster Gedanke war Seto, aber als sie es endlich wagte, die Blume aus dem Dämmerlicht des Schrankes zu nehmen, stellte sie fest, dass es sich dabei um eine samtig-blutrote Hibiskusblüte handelte. Seto schickte ihr nie etwas anderes als orangefarbige Rosen. Nie. Ausserdem, warum sollte er ihr eine Überraschung in ihren Spind legen, wenn er doch selbst in der Vorstellung gewesen war und sie sich in ein paar Minuten sehen würden? Sehr zu ihrem Ärger musste Anzu feststellen, dass ihre Finger zitterten, als sie schliesslich den Umschlag aufhob. Es gab wirklich keinen Grund, nervös zu werden! Vermutlich war das ganze nur ein dummer Scherz. Bravo, Mademoiselle!, las sie. Schon wieder Französisch? Ihr Tanz war ausgezeichnet, ich hoffe darauf, dass ich noch Gelegenheit haben werde, mehr davon zu sehen, ungestört von den unkontrollierten Bewegungen Ihrer unfähigen Kolleginnen. Arbeiten Sie weiter so fleißig, ich denke, Ihnen ist eine große Zukunft vorherbestimmt. Ein Verehrer Anzu runzelte die Stirn. Das klang wirklich mehr nach einem ungeschickten Schulkinderwitz als nach etwas, das ein wirklicher Verehrer schicken würde. Außerdem wusste doch wohl jeder hier inzwischen, dass sie glücklich verheiratet war? Aufmerksam studierte sie die kleine Karte, um einen Hinweis auf den Urheber zu finden. Vielleicht hatten Yu und ihre Clique sich mal wieder einen kleinen Scherz erlaubt? Allerdings hatte Anzu in den letzten Monaten einige Gelegenheiten gehabt, sich mit dem Humor dieser Bande vertraut zu machen, und das war nicht, was sie von ihnen erwartet hätte. Schon wollte sie die Karte wegstecken, als ihr Blick auf etwas fiel, das zuvor ihre Finger verdeckt hatten: versteckt in der untersten, rechten Ecke befanden sich zwei weitere Buchstaben. O.G. „Sieh mal einer an, Seto. Wer hätte je gedacht, dass du mal mit einer so hübschen, virtuosen Tänzerin verheiratet wärst?“ Seine Schwägerin grinste schelmisch, sodass man hinter der Fassade immer noch das zehnjährige Genie erkennen konnte, als das er sie einmal kennengelernt hatte, auch wenn sie inzwischen schwanger war und ein umwerfend elegantes Abendkleid trug. „Stimmt.“ Mokuba schlang einen Arm um die Hüften seiner Frau und drückte sie an sich. „Ist ja nicht so, als ob du sie verdienst, Mister Ich-heirate-wenn-die-Hölle-zufriert. Ich wette, Satan macht gerade Skiurlaub.“ Seto wollte missbilligend die Stirn runzeln, aber trotz seiner Bemühungen schmunzelte er. Mokuba zog ihn schon damit auf, seit Anzu und er ein Paar waren, und Rebecca leistete ihm Gesellschaft, seit sie ein regelmässiger Gast in der Villa geworden war. Inzwischen hatte er sich daran gewöhnt. „Wenn man bedenkt, dass ihr zwei euch auf unserer Hochzeitsfeier in einander verliebt habt, solltet ihr euch wohl besser nicht beklagen, würde ich sagen“, erklärte er gelassen. Es war das zum Leben erweckte Klischee gewesen: Eine von Anzus Brautjungfern und Setos Trauzeuge. Rebecca hatte sogar den Brautstrauß gefangen, um dem ganzen die Krone aufzusetzen. Den Rest des Abends hatte sie ausschließlich mit Mokuba getanzt, was all diejenigen überraschte, die insgeheim damit gerechnet hatten, sie würde noch einmal bei Yugi ihr Glück versuchen, jetzt, wo ihre größte Konkurrentin offiziell aus dem Weg geräumt war. Anzus schlanke Gestalt, die jetzt in einer der Türen auftauchte, riss ihn aus seinen Gedanken. Sogar aus dieser Entfernung sah sie erschöpft aus. Sie trafen sich in der Mitte der Halle, wo Rebecca sofort die Arme um ihre Freundin warf und rief: „Du warst wundervoll. Ich bin immer noch nicht ganz sicher, wer aus dem ganzen Haufen du warst, aber ich bin mir sicher, dass du es warst.“ Anzu lächelte müde und bedankte sich bei ihr, wurde aber sofort von Mokuba unterbrochen: „Kommt, lasst uns irgendwo hingehen und was trinken, zur Feier des Tages. Immerhin war das dein erster Auftritt seit Jahren! Und die Babysitterin ist sowieso noch eine Stunde da.“ Sie hatten Kaito unter der Aufsicht einer Tochter von einem von Setos neuen Angestellten zurückgelassen, obwohl er behauptete, er sei inzwischen zu alt für einen Babysitter. „Ach, nein... können wir das bitte auf ein anderes Mal verschieben? Ich bin einfach totmüde. Ich will nur noch ins Bett.“ Anzu trat zu Seto und lehnte sich an seine Schulter, sodass keiner auf die Idee kam, ihre Aussage zu bezweifeln. „Na gut.“ Ihr Schwager lächelte und umarmte sie kurz. „Dann sehen wir uns alle morgen, zum Mittagessen. Halb zwölf im Palace, richtig?“ Seto nickte, schließlich hatten sie sich für den nächsten Tag verabredet, bevor Mokuba und Rebecca wieder nach Domino zurück flogen. „Bis dann.“ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Ungeduldig schritt er die Wände des halbdunklen, nur von ein paar fast heruntergebrannten Kerzenleuchtern erhellten Verließes ab, das ihm als Wohn- und Arbeitszimmer diente. Was für ein Jammer, dass falsche Spiegel dieser Tage nicht mehr in Mode waren! Er hätte zu gerne gesehen, wie sie auf seine Nachricht reagiert hatte. Aber einen in ihrem Spind zu installieren? Das hätte selbst für ihn eine Herausforderung dargestellt. Was hatte sie gedacht, hatte sie etwas gesagt? Hatte sie sich geschmeichelt gefühlt und den Brief ihren Freundinnen gezeigt, oder hatte sie ihn heimlich eingesteckt, als ein nur ihr allein bekanntes Pfand einer Bewunderung, die ihr entgegengebracht wurde von jemandem, den sie zwar noch nicht kannte, aber gerne kennenlernen würde? Oder hatte sie Angst bekommen? Nein, sicher nicht. Sie war nicht eine dieser albernen Balettratten, die jede Gelegenheit wahrnahmen, in Ohnmacht zu fallen. Und sie hatte schon viel Schlimmeres durchgemacht. Was war mit ihrem Mann? Ein Gefühl benebelten Schwindels ergriff ihn. Machte es überhaupt einen Unterschied, was sie jetzt dachte, was sie fühlte, was sie tat? Er hatte alles genau geplant, es war unmöglich, dass sie seinen unbemerkt gestellten Fallen entrinnen würde. Je sicherer sie sich bis dahin fühlte, desto besser. Und doch, und doch... Er riss die Maske von seinem Gesicht und starrte auf das Bild, das das fleckige, bleigraue Glas des alten Spiegels zurückwarf. War es wirklich möglich, dass eine moderne junge Frau sich in jemanden wie ihn verliebte, ob er nun eine geheimnisvolle Aura auf seiner Seite hatte oder nicht? Er war nicht gerade das, was man als einen Traumprinzen bezeichnen würde, und er hatte den größten Teil seines Lebens in Abgeschiedenheit verbracht. War es ihm möglich, eine Frau zu bezaubern? Er durfte nicht vergessen, dass diese Frau, für die sein Begehren entbrannt war, bereits in Seto Kaiba verliebt war. Seto Kaiba, den niemand anders als in jeder Hinsicht perfekt nennen konnte. Es schien einfach zu viel der Hoffnung zu sein. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Entgegen ihrer Behauptung Mokuba und Rebecca gegenüber ging Anzu nicht sofort und ohne Umschweife zu Bett, als sie zuhause ankamen. Stattdessen ließ sie sich mit Seto im Wohnzimmer ihres neuen Apartments nieder, nachdem sie Kaito begrüßt, den Babysitter bezahlt und ihren Sohn zu Bett gebracht hatten. „Was ist los?“, fragte er, der sehr wohl merkte, dass sie nicht einfach nur erschöpft war. Seine Frau zuckte wegwerfend die Schultern. „Nichts, wirklich. Nur was ich schon gesagt habe, ich bin müde. Sieh mal, was ich heute in meinem Spind gefunden habe.“ Mit einem leichten Schmunzeln zog sie die Karte aus ihrer Tasche und reichte sie Seto. Der las die wenigen Zeilen, die darauf standen, und sah sie scheinbar tief besorgt an. „Muss ich mir etwa Sorgen machen? Oder weiß der Kerl, was ich ihm antun werde, wenn er versucht, meine Frau zu verführen?“ Anzu grinste. „Was genau wäre das denn? Nur für den Fall, dass er hier auftaucht, während du nicht da bist. Damit ich ihn vorwarnen kann.“ Seto gab vor, einen Augenblick ernsthaft zu überlegen. „Wie wäre es mit einem blauen Auge, für den Anfang? Natürlich kommt das ganz darauf an, wie weit er sich traut, zu gehen.“ Die junge Frau gähnte und rutschte auf dem Sofa zur Seite, bis sie sich hinlegen und ihren Kopf in Setos Schoß betten konnte. „Gut, ich werde es mir merken. Nicht, dass ich vorhabe, dich zu betrügen, aber man weiß ja nie. Vielleicht muss ich mal einen nicht ganz so heimlichen Verehrer in die Flucht schlagen.“ Eigentlich war sie nicht in der Stimmung für Scherze, aber das wollte sie nicht zeigen. Immerhin, was hatte sie denn für einen Grund, Angst zu haben? Zwei harmlose Buchstaben. Sie konnte sich nicht einmal erinnern, woher sie sie kannte, aber aus irgendeinem Grund hatten die beiden Lettern O.G. sie auf der Stelle ernüchtert und davon überzeugt, dass es sich hier nicht einfach um einen dummen Scherz handelte. „Würdest du dich für mich wirklich auf einen Kampf einlassen?“, fragte sie in die Dunkelheit hinein. Zur Antwort fühlte sie kurz darauf das beruhigende Gewicht von Setos Hand auf ihrem Scheitel. „Selbstverständlich.“ Kapitel 4: Denk an mich ----------------------- Es war dunkel, als er die Augen öffnete, nein, nicht dunkel. Lichtlos. Schwarz wie in einem Grab. Er seufzte erleichtert auf. Licht, selbst der entfernteste Schimmer, hätte ihn misstrauisch gemacht, aufmerksam, aber er hatte schon lange keine Angst mehr vor der Dunkelheit. Er kannte diese Dunkelheit, er konnte damit umgehen. Sie war sein Zuhause, seine Nahrung, seine Seele. Oh, die Nacht! Manchmal, wenn es so dunkel war wie jetzt, konnte er so tun, als hätte er überhaupt keinen Körper, als hätte er aufgehört, zu existieren, hätte sich aufgelöst, sei nichts mehr als Geist und Sehnsucht und Musik, die den endlosen Raum durchschwebten. Narr! Gnadenlos wie ein blendend weißer Blitz durchzuckte der Schmerz sein Gehirn, hüllte ihn für eine endlose Sekunde ein in Pein und Folter. Wach auf! Erinnere dich daran, wer du bist, was du hier tust! Erinnere dich an sie, erinnere dich an Anzu! Anzu. Sie würde sicherlich nie im Dunkeln schlafen. Ihr Körper würde eingehüllt sein vom Mondlicht, das durch ihr Fenster fiel, liebkost von einem silbernen Schein. Sie hätte sicherlich ein Nachtlicht neben der Tür, nur für den Fall, dass ihr Sohn irgendwann Nachts nach ihr suchen sollte... Sie war so anders, so verschieden von ihm. Anzu. Anzu... „Schau sie dir an, die Schlampe. Sie macht mich krank.“ Yu verzog angeekelt das Gesicht, und drehte Anzu und Meg, die eben plaudernd den Raum betreten hatten, demonstrativ den Rücken zu. „Als hätten wir sie nicht längst durchschaut. Was für ein Theater! All die Rosen und geheimnisvollen Nachrichten und Pralinen... Nicht sehr schwer für sie, sich all das schicken zu lassen, oder? Immerhin hat sie das Vermögen ihres Mannes zur freien Verfügung.“ Ihre Freundin Midori ging in die Hocke und schnürte sich die Schuhe. „Ich weiß nicht... Vielleicht ist sie es ja gar nicht selber. Vielleicht ist es ja ihr Mann? Ich meine, wer will schon, dass er mitten in der Probe von einem Regen aus Rosenblüten übergossen wird... das muss ihr doch peinlich sein.“ Anzu hatte sich inzwischen ausgezogen und war in der Dusche verschwunden. Yu sah ihr ungehalten nach. „Vielleicht. Aber glaubst du nicht, dass ihr Mann eigentlich Besseres zu tun hat? Außerdem hat Kaiba nun auch nicht gerade den Ruf, sich als romantischer Charmeur zu betätigen. Schon gar nicht gegenüber seiner eigenen Frau. Warum sollte er auch? Er hat sie schließlich schon.“ Ein gehässiges Grinsen verzog ihre Mundwinkel. „Es ist natürlich auch möglich, dass unser Fräulein Fehlerlos einen Liebhaber hat... oder zumindest einen Verehrer. Das würde jedenfalls die Nachrichten erklären. Ich meine, komm schon. Welcher Ehemann braucht seiner Frau einzureden, sie soll „sich ihren dunklen Leidenschaften hingeben“?“ Die junge Frau schmunzelte bei ihrer Anspielung auf eine der Karten, die Anzu in ihrem Spind gefunden hatte, sogar noch nachdem man das Schloss ausgetauscht hatte und dazu übergegangen war, die Kabine abzuschließen, sobald alle Tänzerinnen sie verlassen hatten. Es lag zwar nicht in Anzus Absicht, solche Dinge zu verbreiten, aber in einer Gruppe wie dieser war es nicht leicht, ein Geheimnis für sich zu behalten. „Sie sieht blass aus“, stellte ein anderes Mädchen mitleidlos fest. „Nicht gerade wie das Paradebeispiel der glücklichen Ehefrau. Eher wie jemand mit Schlafproblemen. Vielleicht hält ihr schlechtes Gewissen sie wach?“ – „Zurecht, wenn ihr mich fragt! Ich wette, sie betrügt ihren Mann...“, warf Yu eilig ein. Meg warf ihr einen tadelnden Blick zu, als sie vorbeiging. „Hört auf mit euren grundlosen Anschuldigungen, ihr drei. Ihr wisst doch, wie hart Anzu für ihren Soloauftritt trainiert, natürlich ist sie manchmal erschöpft.“ Mit Nachdruck warf sie die Tür zu den Duschen hinter sich ins Schloss. Midori verdrehte die Augen. „Ihr Solopart. Uh.... wie lange dauert er noch mal? Zehn Sekunden?“ Die Mädchen sammelten ihre Besitztümer ein und machten sich auf den Weg zur Tür. „Anzu? Anzu!“ Meg entwirrte ihren dicken, goldblonden Zopf und schüttelte ihr Haar aus, während sie ihre Freundin besorgt musterte. Die Brünette stand statuenhaft still unter dem warmen Wasser der Brause, beide Arme um ihren Oberkörper geschlungen, als wollte sie sich vor etwas schützen. Sie sah müde aus, erschöpft sogar, und schien Meg nicht zu hören. „Anzu!“ Madame Girys Tochter ergriff ihr Handgelenk und schaffte es endlich, auch ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. „Du nimmst das Ganze zu ernst. Ich weiß, du willst alles perfekt machen, aber es nützt doch niemandem, wenn du bei der Vorstellung vor Erschöpfung zusammenbrichst, weil du zu wenig Schlaf bekommen hast. Außerdem ist das hier nicht gerade eins der großen Musicals. Natürlich wollen wir auch das nicht in den Sand setzen, aber...“ Anzu seufzte und ließ sich zu Boden sinken. „Du hast ja Recht. Es ist nur so... die Arbeit ist im Moment so viel einfacher, verglichen mit dem, was Zuhause auf mich wartet. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie es mir im Moment daheim geht! Ich fühle mich, als würde ich meinen Mann betrügen, dabei tue ich doch gar nichts!“ Die jüngere Tänzerin streckte ihre Hand aus, aber Anzu zuckte zurück, bevor sie sie auf ihre Schulter legen konnte. „Nein! Sag mir nicht, es wäre nicht meine Schuld oder dass ich nichts dagegen hätte tun können... Es IST meine Schuld! Ich hätte von Anfang an verhindern sollen, dass dieser Verrückte mir nachstellt. Wenn ich nur wüsste, was! Ich kann doch nicht zur Polizei gehen und sagen, ich fürchte mich, weil mir jemand Pralinen schickt. Es ist schließlich nicht so, als würde ich seltsame Anrufe bekommen oder immer wieder dunkle Schatten sehen, wenn ich über die Schulter schaue.“ Meg öffnete den Mund, um etwas Tröstliches zu sagen, aber bevor sie die richtigen Worte fand, hörte sie ihre Mutter draußen nach ihr rufen. „Ich komme!“, rief sie und wandte sich dann noch einmal an Anzu. „Hm... versuch bitte, dir nicht allzu viele Sorgen zu machen. Und entspann dich ein bisschen. Wenn du denkst, dein sogenannter heimlicher Verehrer könnte gefährlich sein, sag ihnen trotzdem bescheid. Das ist ihr Job, sie werden dich auf jeden Fall anhören. Aber was auch immer du tust, versuch um Himmels Willen zu schlafen, und rede mit deinem Mann. Du betrügst ihn schließlich nicht wirklich, aber wenn du dich so benimmst... Versuch es einfach, ja? So kannst du nicht weitermachen.“ Sie strich tröstend über Anzus nassen Scheitel. „Ich muss gehen. Wir sehen uns am Montag, ja?“ Sie war so schön... so unglaublich schön. Er konnte sich gar nicht genug gratulieren zu dem Entschluss, endlich doch diese Spiegel zu installieren – nicht die wunderbaren, altmodischen Spiegel, durch die er sie gerne betrachtet hätte, aber immerhin, Spiegel. Wenigstens konnte er sie jetzt überhaupt sehen. Dieser moderne Firlefanz stand ihr überhaupt nicht, dachte er missbilligend. Dieser Körper... Ihn übermannte ein leichtes Schwindelgefühl. Wie eine orientalische Perle aus dem Herzen eines unbekannten Harems, samtweiche Kurven die jeden römischen Kaiser verführt hätten, die jedem trojanischen Helden weiche Knie beschert hätten vor Verlangen. Warum nur trug sie dann Hosen, die sie aussehen ließen wie die Parodie eines Protagonisten aus einem schlechten Western? Wie vulgär dieser blaue Baumwollstoff aussah, ganz gleich, wie eng er sich um ihre Hüften schmiegte. Ein fließendes, langes Kleid wäre so viel schmeichelhafter gewesen für ihre Figur. Doch das spielte jetzt keine Rolle, bald, bald würde er die Gelegenheit haben, sie zu all dem zu überreden, was ihnen beiden gefallen würde... Nur noch ein wenig Geduld. Endlich griff Anzu nach ihrem Handtuch, wickelte sich darin ein und kehrte zu ihrem Spind zurück. Keine Blumen, Karten oder Pralinen heute Nacht. Zum Glück. Wenn sie ein weiteres, verräterisches Indiz vor Seto hätte verstecken müssen – sie hätte nicht gewusst, was sie tun sollte. Natürlich war das alles mehr als unschuldig, sie hatte schließlich nicht darum gebeten, mit Geschenken überhäuft zu werden, aber dennoch... bildete sie sich vielleicht nur ein, dass Seto in letzter Zeit begann, sich eifersüchtig zu zeigen? Außerdem wollte sie ihm nicht noch mehr Sorgen machen. Er hatte bereits genug Sorgen für sie beide. „Ah, Mademoiselle...“ Sie zuckte zusammen und bedeckte ihre nackte Brust mit ihrem T-Shirt. Ängstlich sah sie sich um, eingeschüchtert von dem Gedanken, dass jemand – eine unbekannte, männliche Stimme! – sich allein mit ihr in diesem Raum befand, vielleicht allein im gesamten Korridor, wenn die übrigen Darsteller bereits gegangen waren. Aber die junge Frau konnte niemanden entdecken, was sie allerdings keineswegs beruhigend fand. Warum versteckte er sich vor ihr? Oder war sie etwa schon dabei, verrückt zu werden? Hatte er sie gerade „Mademoiselle“ genannt? Nein, das war nicht möglich. Ihr Pralinen zu schicken, war eine Sache. Aber er würde doch nicht wagen – „Oh, machen Sie sich keine Mühe damit, mich ausfindig zu machen, Mademoiselle, ich werde mich zur rechten Zeit offenbaren.“ Sie musste ihre ganze Kraft aufbringen, um den Rhythmus ihres ängstlich schlagenden Herzens zu ignorieren und sich daran zu erinnern, wie man sprach. „Wer sind Sie? Hören Sie auf, sich zu verstecken, und zeigen Sie sich, wenn Sie mir etwas zu sagen haben!“, verlangte sie mit fester Stimme, obwohl ihr ganz und gar nicht heldenhaft zu Mute war. Körperlose Stimmen – sie hatte immer geglaubt, ihre Begegnungen mit übersinnlichen Phänomenen hätten ein Ende gefunden, als sie sich von Atemu verabschiedet hatten. Hatte sie davon nicht genug gehabt für mindestens zwei Leben? Allerdings klang das Gelächter, das jetzt in ihren Ohren klang, beunruhigend menschlich. „Ich bin untröstlich, Mademoiselle, aber das wird leider noch eine Weile warten müssen. Aber fürchten Sie sich nicht, es liegt nicht im Entferntesten in meiner Absicht, Ihnen ein Leid geschehen zu lassen. Erlauben Sie mir für den Augenblick, mich als Ihren Engel der Musik vorzustellen... Jemanden, der Ihr Talent erkannt hat und Ihnen Wegbegleiter sein möchte auf dem Weg zu Prominenz und Perfektion.“ Der Engel der Musik? Natürlich! O.G.! Der Operngeist! Sie hatte doch gleich gewusst, dass die Signatur ihr bekannt vorkam. Am liebsten hätte Anzu laut aufgelacht vor Erleichterung, dass alles auf einmal einen Sinn zu ergeben schien. Das Phantom der Oper. Warum war sie nicht früher darauf gekommen? Das ganze Theater schien voll zu sein an Anspielungen auf dieses Musical. Der große Kronleuchter im Saal, Madame Giry, Meg... Vermutlich war das hier eine Art Willkommenszeremonie, ein Spiel, das sie mit jedem Neuankömmling trieben. Ein grausames Spiel, das musste sie zugeben, schließlich hatte Meg gewusst, wie ernst sie ihren „heimlichen Vereher“ nahm. Aber solche Traditionen hatten nunmal die lästige Angewohnheit, unangenehm zu sein. Sie konnte vermutlich froh sein, dass diese Zeremonie nicht von ihr verlangte, Wasser aus einer Toilette zu schlürfen oder eine andere ekelerregende Aufgabe zu erfüllen. Auf der anderen Seite war das hier natürlich ein Theater und ihre Mittänzerinnen waren nicht Jonouchi und Honda. „Mein Engel? Mein persönlicher Fremdenführer auf dem Weg zum Ruhm?“, fragte sie und versuchte noch nicht einmal, den herausfordernd-spielerischen Ton ihrer Stimme zu verbergen. „Nun dann, mein Engel, sprich zu mir, ich höre.“ Dieses Mal schien die Stimme einen Moment zu zögern, bevor sie antwortete. „Es freut mich, dass Sie ihre Furcht abgelegt zu haben scheinen. Das wird unsere Bekanntschaft für beide Seiten sehr viel einfacher und bereichernder gestalten. Aber gegnug nun von diesen Ausführungen. Ich verstehe natürlich, dass Sie es vorziehen würden, mich in Fleisch und Blut vor sich zu haben. Wenn Sie mir die Ehre erweisen wollen, Ihr Lehrer zu sein, würde ich Sie mit dem größten Vergnügen in der Kunst des Singens unterweisen. Sagen wir, morgen um zwei Uhr nachmittags? Übungsraum vier wird dann frei sein.“ Anzu öffnete den Mund, um zu antworten, aber es schien keinen Grund mehr dazu zu geben. Sie war plötzlich überzeugt, dass wer immer ihr auch diese Illusion vorgegaukelt hatte, verschwunden war. Woher willst du das wissen?, fragte sie sich mit leichtem Schaudern. Und woher willst du wissen dass es wirklich nur ein Scherz ist? Es könnte genausogut irgendein perverser Stalker sein, der sich hier immer noch versteckt und dich beobachtet. Sie schüttelte den Kopf über ihre eigenen Zweifel. Unsinn. Du erwartest schon wieder hinter jeder Ecke ein Mysterium. Morgen wirst du Yugi anrufen und ihn fragen, ob der Pharao zurück ist. Sie schmunzelte. Ich frage mich, was Seto zu solchen Gedanken sagen würde. Auf einmal erinnerte sie sich, was sie gerade hatte tun wollen, zog sich ihr T-Shirt über und knöpfte ihre Jeans zu. Es hatte keinen Zweck, sich den Kopf zu zerbrechen. Morgen um zwei würde sie es wissen – so oder so. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ So, das ist die Übersetzung der Kapitel, so weit ich sie in Englisch bereits umgesetzt habe. ^^ Aber wenn ich Glück habe und meine Muse noch eine Weile in Kusslaune ist, wird auch das sechste Kapitel bald fertig. Ich hoffe, ihr bleibt mir so lange treu! Kapitel 5: Engel der Musik -------------------------- Als Anzu am nächsten Tag das Theater betrat, stellte sie erstaunt fest, dass Meg bereits auf sie wartete. „Schon wieder hier? Hab ich dir nicht gesagt, du sollst dich ein bisschen ausruhen?“ Sie schien sich allerdings nicht sehr an der Tatsache zu stören, jedenfalls nicht genug, um das warme Lächeln von ihrem Gesicht zu vertreiben. Anzu lachte in sich hinein. „Als ob du nicht wüsstest, dass ich hier etwas zu erledigen habe!“ Die blonde Tänzerin schüttelte ungläubig den Kopf. „Ich habe noch nie jemanden getroffen, der so verbissen arbeitet wie du, Anzu, und glaub mir, ich kenne jeder Menge ehrgeizige Tänzer. Du wirst entweder ein Star werden oder eines viel zu frühen Todes sterben, wenn du so weiter machst. Dein Mann hat mich angerufen und mich gebeten, darauf zu achten, dass du dich nicht übernimmst.“ Seto hatte Meg angerufen? Warum hatte er ihr nicht einfach selbst gesagt, sie solle daheim bleiben? Aber wenn sie genauer darüber nachdachte... das hatte er getan. Anzu fühlte, wie ihr schlechtes Gewissen sie einholte. „Das werde ich nicht... aber du weißt doch, dass ich erst noch etwas erledigen muss.“ Meg schien nicht zu wissen, ob sie amüsiert oder besorgt aussehen sollte. „Ich weiß. Wir haben sowieso schon einen anderen Weg gefunden, dafür zu sorgen, dass du dich mal wieder ein bisschen entspannst. Ich hoffe, es gefällt dir. Oh, meine Güte, dann geh doch“, fügte sie lachend hinzu, als sie merkte, wie Anzu in Richtung der Proberäume schielte. „Ich werde dich bestimmt nicht aufhalten, ich schätze, das würde ich sowieso nicht schaffen.“ Damit winkte Meg ihr schmunzelnd zu und rauschte davon. ~~~~~~~~~~ Ich hoffe, es gefällt dir. Dann war das alles also wirlich ihre Idee gewesen, und Meg versuchte nicht einmal mehr, es zu verheimlichen. Nun ja, vermutlich hätte das nach dem Vorfall gestern ohnehin keinen Sinn mehr gehabt. Aber warum hatte sie sich angehört, als hätte sie irgendeine besondere Überraschung vorbereitet, um Anzu ihre Sorgen vergessen zu lassen? Reichte es nicht, dass sie endlich sicher sein konnte, dass es eben keinen heimlichen Verehrer gab, der ihr vielleicht Ärger machen konnte? Die Brünette zuckte mit den Schultern. Na, wenn ihre Mittänzerin jetzt ein schlechtes Gewissen hatte, geschah ihr das ganz recht, entschied sie. Immerhin hätte sie die Geschichte beenden können, bevor sie Anzu schlaflose Nächte beschert hatte. Übungsraum vier kam in Sicht, die Tür immer noch fest verschlossen, aber als Anzu versuchte, einzutreten, ließ sie sich leicht öffnen. Neugierig trat sie ein und sah sich um. Der Raum schien leer zu sein bis auf einen seltsamen weißen Vorhang, der eine Ecke des Zimmers gegen Blicke abschirmte. Was hatte das denn zu bedeuten? War dieses Ding irgendwann einmal Teil eines Bühnenbilds gewesen? Es sah jedenfalls nicht aus wie etwas, das nur zu Übungszwecken benutzt wurde. Eine leise Brise bewegte den dünnen Stoff – aber nein, die Fenster waren ja alle geschlossen. Stand da etwa jemand hinter dem Vorhang? Neugierig trat Anzu näher. ~~~~~~~~~~ „Bleiben Sie, wo Sie sind, Mademoiselle.“ Anzu verharrte auf der Stelle. Komisch, dass ihr ausgerechnet jetzt auffiel, dass ihr „Engel der Musik“ sie immer als „Mademoiselle“ anredete – hätte es nicht eigentlich „Madame“ heißen sollen? Immerhin war sie verheiratet. Auf ihre Französischkenntnisse konnte sie sich nicht verlassen, also würde sie Meg fragen müssen, um ganz sicher zu gehen. Anscheinend war dieses Spiel noch nicht zu Ende. Aber jetzt, da sie sich nicht länger Sorgen zu machen brauchte, fing Anzu an, richtig Spaß an der Sache zu haben. Ihre Kolleginnen hatten sich jedenfalls einige Mühe gegeben hiermit! Und wenn ihre eigene Rolle nicht schwieriger war als einfach den Anweisungen ihres „Engels“ zu folgen und die Show zu genießen, würde sie das gerne tun. „Guten Tag, mein Engel. So darf ich dich doch nennen, oder nicht? Ansonsten müsstest du mir wohl leider deinen Namen verraten...“ Schatten begannen, auf den Stoffbahnen zu tanzen, und Anzu wurde klar, dass jemand dahinter eine Kerze entzündet haben musste. Sie unterdrückte ein Kichern. Sie benutzten ja nicht einmal elektrisches Licht, um die Illusion perfekt zu machen! „Für den Moment dürfen Sie mich gerne als Engel anreden, Mademoiselle“, antwortete die Stimme, die ihr schon so vertraut erschien, als hätte sie sie viele Male gehört. Auf einmal wurde ihr eine Zeile aus dem Stück ins Gedächtnis gerufen, dass die Theatergruppe der Einrichtung im Moment probte: Noch haben meine Ohren keine hundert Worte Von deiner Zunge Schlag getrunken, doch ich kenn´ den Klang.“ Was probten sie denn eigentlich im Moment? „Ein Sommernachtstraum“? Nein. „Romeo und Julia“? Ja, das wars. Vielleicht hatte Meg einen der Schauspieler von dort überredet, die Rolle ihres „Engels“ zu übernehmen, vielleicht kam ihr die Stimme deshalb so vertraut vor. Wer auch immer es war, er hatte inzwischen noch mehr Kerzen hinter dem Schleier entzündet, sodass sich auf dem Stoff jetzt klarere Formen abzeichneten anstatt der Schatten, die sie zuvor gesehen hatte. Wenn Anzu sich nicht irrte, erkannte sie den Umriss eines Klaviers, und gleich daneben, mit eleganten, fließenden Bewegungen auf und ab schreitend, die Silhouette eines Menschen. Sie hätte nicht sagen können, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte, denn die Person schien einen altmodischen, langen Umhang zu tragen, aber sie vermutete, dass es der Mann war, der sich selbst als „Engel der Musik“ vorgestellt hatte. „Warum versteckst du dich hinter diesem... Ding? Hast du nicht gestern noch gesagt, wir würden uns heute von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen?“, fragte sie neugierig. Trotzdem machte sie keine Anstalten, den Vorhang anzuheben oder dahinter zu schauen, warum, hätte Anzu selbst nicht sagen können. Die Person hinter dem Schleier drehte sich um und schien sich leicht zu verbeugen. „Ich habe Ihnen versprochen, in Fleisch und Blut anwesend zu sein, Mademoiselle, und das bin ich“, erklärte er mit einem Lächeln in der Stimme. „Ich habe meine Gründe, Ihnen mein Gesicht nicht zu zeigen. Es wäre mir lieber, unsere erste Stunde nicht mit einer so unangenehmen Ankündigung beginnen zu müssen, aber sollten Sie jemals versuchen, hinter mein Geheimnis zu kommen, bevor ich es Ihnen ausdrücklich erlaubt habe, wird unser Unterricht sofort zu einem Ende kommen müssen. Und das wäre ein Jammer, wenn ich so sagen darf, denn Sie haben eine sehr vielversprechende Stimme. Mit nur ein wenig Übung sollten Sie bald in der Lage sein, sich auf eine weit bessere Stellung als die einer Balletttänzerin zu bewerben.“ Anzu verharrte in erstauntem Schweigen. Sicherlich, sie wusste ja, dass sie eine ganz gute Stimme hatte, und vermutlich wäre sie in der Lage, mehr daraus zu machen als jetzt, wo ihre Leidenschaft ausschließlich dem Tanzen galt. Aber wie konnte dieser Fremde das beurteilen? Sie konne sich nicht erinnern, innerhalb dieser Mauern jemals mehr gesungen zu haben als ein paar wirklich simple Melodien. Es ist nur ein Spiel, rief sie sich ins Gedächtnis, Es gehört zu seiner Rolle, das zu sagen. Meg, und vielleicht auch Seto, waren anscheinend der Ansicht, es würde ihr guttun, ein wenig Ablenkung vom Tanzen zu bekommen, und dass sich das bewerkstelligen ließe, indem man ihr ein bisschen Gesangsunterricht ermöglichte. Aber dennoch, er hatte so ernsthaft, beinahe feierlich geklungen, als er das sagte! „Gibt es einen bestimmten Grund, warum ich dein Gesicht nicht sehen darf?“, fragte sie schließlich. Ob sie nun einfach auf das Spiel einging, oder ob sie vielleicht für einen Moment vergessen hatte, dass es überhaupt ein Spiel war, hätte Anzu nicht sagen können. Als ihr „Engel“ antwortete, hatte sie einmal mehr das Gefühl, sie könnte den Ausdruck auf seinem Gesicht erahnen, obwohl sie sein Gesicht noch nie zuvor gesehen hatte. Schauer rannen ihr den Rücken hinunter. War es möglich, dass diese Stimme irgendwie mehr ausdrückte, als Stimmen das normalerweise taten? Oder bildete sie sich das nur ein? „Oh, ich ziehe es einfach vor, incognito zu bleiben. Es kann manchmal sehr anstrengend sein, auf der Straße wiedererkannt zu werden, finden Sie nicht?“ Ein leichtes, ironisches Lächeln, und Anzu erinnerte sich an sich drehende Köpfe, an Mädchen, kaum jünger als sie selbst, die ihre beste Freundin am Ärmel zerrten und zu tuscheln begannen. „Ist das nicht Anzu Kaiba?“ „Du meinst diese Tänzerin, die Seto Kaiba geheiratet hat?“ „Wer denn s o n s t? Sie ist es wirklich! Oooh, schau mal, sie kauft Spielsachen! Ich frage mich, ob sie vielleicht schwanger ist?“ Ja, Anzu konnte definitiv verstehen, warum jemand vielleicht lieber nicht erkannt werden wollte. „Wir werden mit ein paar simplen Übungen beginnen, um Körper und Geist der heiligen Kraft der Musik zu öffnen. Würden Sie sich bitte in die Mitte des Raumes begeben, und stellen Sie die Beine etwas auseinander, Sie werden einen festen Stand brauchen. Ja, so ist es richtig. Spüren Sie die Erde unter Ihren Füßen, und jetzt schließen Sie die Augen. Atmen Sie tief ein, aber bleiben Sie entspannt. Nicht zu gezwungen. Ich werde jetzt etwas für Sie singen... und Sie werden in dieser Position stehenbleiben und sich einfach vollkommen einhüllen lassen von der Musik.“ Ein paar Töne genügten, und Anzu merkte, wie die Schauer zurückkehrten, die sie bereits zuvor gespürt hatte. Das hier war mehr als nur Musik, mehr als irgendein Lied, es war... ja, was? Sie hatte keine Worte dafür. Die überirdische Melodie füllte den Raum um sie her bis zum Rand, lullte sie ein und schien sie sogar ein paar Millimeter vom Boden anzuheben, gerade genug, um sie völlig ohne Mühe vorwärtsgleiten zu lassen. Ihr Körper erstarrte, und als sie die Augen aufriss, erkannte sie, dass der Abstand zwischen ihr und dem Vorhang sich tatsächlich verkleinert hatte. Das Lied brach ab, sobald die ersten unbarmherzigen Sonnenstrahlen sich in ihre geweiteten Pupillen bohrten und sie schmerzhaft blendeten. „Was war das?“, keuchte Anzu, die Mühe hatte, ihr Gleichgewicht zu wahren. Sie spürte, wie er sie mit einer Mischung aus Traurigkeit und Amüsiertheit ansah. „Das, Mademoiselle... war eine kleine Kostprobe davon, was Sie irgendwann erreichen könnten, wenn ich Sie richtig unterrichte.“ Aber das war nicht, was Anzu gemeint hatte, jedenfalls nicht alles. Was sie gemeint hatte war, welche Musik, welche Sprache konnte ihren Körper dazu bringen, so zu reagieren? Auf eine Weise, die sich beinahe unanständig, ehebrecherisch anfühlte. „Das nächste Mal, wenn Sie mit etwas Fremdem konfrontiert werden, öffnen Sie ihren Geist ein wenig, anstatt sich sofort verschreckt zurückzuziehen. Ansonsten werde ich kaum in der Lage sien, Ihnen irgendetwas beizubringen.“ Sie hörte auf einmal einen gefährlichen Unterton aus seiner Stimme heraus. „Nicht alles, was Sie nicht kennen, ist automatisch gefährlich und hassenswert, das sollten Sie als Allererstes lernen! Gehen Sie jetzt! Nächste Woche, um die selbe Zeit, treffen wir uns wieder – dann werden wir hoffentlich beide in der Lage sein, mit dem wirklichen Unterricht anzufangen – und etwas regelmäßigere Zeiten dafür festzulegen.“ ~~~~~~~~~~ Immer noch zitternd schloss Anzu die Tür zu ihrer Wohnung auf. Inzwischen war sie überzeugt, dass weder Meg noch Seto etwas mit ihrem seltsamen „Verehrer“ zu tun hatten – einerseits, weil sie wusste, dass Seto niemals etwas in die Wege leiten würde, das so viele übernatürliche Elemente beinhaltete. Sie glauben zu machen, dass sie einen Verehrer hatte, war eine Sache – und vielleicht gar nicht so unwahrscheinlich für einen Mann, der sich von seiner Frau in letzter Zeit vernachlässigt gefühlt hatte. Wäre es da nicht verständlich, wenn er versuchen würde, ihre Treue ein wenig zu testen? Aber diese bizarre Wendung passte einfach nicht zu Seto. Außerdem... sie hatte ja nun doch schon einige Erfahrung mit übernatürlichen Phänomenen. Und das, was diese Musik mit ihrem Körper angestellt hatte, fühlte sich nicht an wie ein Trick. Sie schlüpfte aus ihrer Jacke - Hatte es draußen etwa geregnet? Oder fühlte sie sich einfach so klamm, dass sich sogar ihre Kleider für sie feucht anfühlten? – und hängte sie an einen der Haken in der Eingangshalle. Als sie sich allerdings zu Kaitos Zimmertür umdrehte und ihm mitteilen wollte, das sie heimgekommen war, legten sich von hinten zwei Arme um sie, die definitiv nicht ihrem Adoptivsohn gehörten. „Es ist lange her, dass wir mal ein bisschen Zeit allein hatten, findest du nicht?“ Einen Moment lang fühlte sich Anzu überrumpelt, aber die einladende Wärme und Vertrautheit, die sowohl Setos Umarmung als auch seine Worte verbreiteten, sorgten schnell dafür, dass sie sich wieder entspannte. „Definitiv.“ Sie schloss die Augen und fühlte, wie ihre Muskeln sich entspannten, wie sie das nur nach einer langen Zeit der unbewussten Anspannung konnten. „Wie kommt es, dass du schon daheim bist?“ Ihr Mann drehte sie zu sich um und sah mit einem Schmunzeln auf sie herab. „Sagen wir, ich habe meine anderen Termine verschoben. Meine Geschäftspartner werden sicherlich einsehen, dass manche Meetings sich einfach nicht verschieben lassen.“ Beinahe mühelos hob er sie auf und hatte sie schon halb vor einer einladend dampfenden Badewanne entkleidet – also hatte sie sich die Kälte draußen nicht nur eingebildet! –, als Anzu ihn stoppte. Sie warf einen besorgten Blick auf die Badezimmertür, die noch immer nur angelehnt war. „Was ist mit Kaito?“, fragte sie unbehaglich und versuchte hastig, den BH wieder zurechtzurücken, den Seto gerade geöffnet hatte. Eigentlich sah es Seto gar nicht ähnlich, ein solches Hindernis zu übersehen. Gleich darauf bat Anzu in Gedanken einen imaginären Kaito um Verzeihung, weil sie ihn Hindernis genannt hatte, und verpasste darüber beinahe den kurzen Ausdruck von verletztem Stolz auf Setos Gesicht. „Ein bisschen mehr Vertrauen in meine Planung, bitte. Deine Freundin Meg kümmert sich um ihn, er schläft heute ausnahmsweise bei ihr.“ Damit enthakte er wieder den Verschluss ihres BHs und begann, ihren Nacken mit sanften Küssen zu bedecken. ~~~~~~~~~~ Später, als sie sich im Bett neben Seto zusammengerollt hatte, angenehm warm und entspannt von dem heißen Bad und dem Champagner, den ihr Mann bereitgestellt hatte, ging Anzu auf einmal auf, was Meg gemeint hatte mit „ Wir haben sowieso schon einen anderen Weg gefunden, dafür zu sorgen, dass du dich mal wieder ein bisschen entspannst.“ Wenn sie noch irgendeinen Beweis gebraucht hätte, dass diese Äußerung nichts mit irgendwelchen Gesangsstunten zu tun gehabt hatte, dann hatte sie ihn hiermit erhalten. Gähnend kuschelte sich Anzu enger an Seto. Es spielte schließlich keine Rolle. Wer auch immer ihr mysteriöser Lehrer war, er wollte ihr nichts Böses. Das... wusste sie einfach. Wusste es, wie sie auch wusste, wie er sie ansah, obwohl sie sein Gesicht nicht sehen konnte. Alles andere würde sie schon noch früh genug herausfinden. ~~~~~~~~~~ Sie fand sich inmitten eines elegant gekleideten, seltsam unpersönlichen Theaterpublikums wieder, das zusammen mit ihr von einer Art Empore herab auf die Bühne sah. Eine seltsame Erregung hatte von ihr Besitz ergriffen, sie konnte fühlen, wie ihr Herz klopfte und ihr Puls raste. (Natürlich war sie auch schon zuvor aufgeregt gewesen angesichts einer Bühne, aber das hier war anders. Es fühlte sich an wie eine Mischung aus Lampenfieber und dem atemberaubenden Gefühl erster Verliebtheit.) Begierig machte sie ein paar Schritte nach vorn und erkannte, welches Stück gespielt wurde. Das Phantom der Oper entfaltete sich vor ihren Augen in all seiner dramatischen Pracht. (Aber hatte es je eine Szene gegeben, in der Lianen eine Rolle spielten?) Die Musik ergriff Besitz von ihr, drang in sie ein, brachte jedes Atom ihres Körpers zum prickeln. Eine schlanke, dunkle Gestalt griff nach einer der Lianen und bevor sie wusste, wie ihr geschah, segelte er durch die Luft auf sie zu. Ja, sie erinnerte sich jetzt... in dieser Szene ging es in irgendeiner Form darum, dass Erik Christine entführte, es würde jetzt jeden Moment passieren... (Warum dachte sie an ihn als Erik? Das war doch im Musical überhaupt nicht sein Name! Er hatte keinen Namen!) Und war das nicht der Grund, warum diese Inszenierung so berühmt war? Wie hatte sie das vergessen können? Jeden Abend wurde eine andere Frau aus dem Publikum ausgewählt, um Christines Rolle in dieser Szene zu übernehmen! Einfach atemberaubend, diesen Prinz der Dunkelheit auf sich zusegeln zu sehen, zu erleben, wie er einen mit sich riss in sein Königreich der Zauberklänge... Der Grund, aus dem sie hier waren, sie alle! (Was dachte sie denn da? Es gab keine Szene, in der Erik – das Phantom! – mit Christine an einer Liane schwingend flüchtete!) Und dann war er da. So unmittelbar, so real, waren da wirklich noch andere Leute um sie herum? Oder waren sie allein? Ohne dass es ihr jemand zu sagen brauchte, wusste Anzu, was sie zu tun hatte. Sie griff nach seiner Schulter, ein paar vertraute Bewegungen, ihr so in Fleisch und Blut übergegangen wie Atmen und Schlafen, und dann rauschten sie beide davon, ließen das beeindruckte Publikum weit hinter sich. Es war ein Märchen, mehr nicht. Angeblich war jede Nacht eine andere Frau an der Reihe, diese Rolle zu spielen, dafür zahlten sie schließlich alle, für die Chance, einmal, nur ein einziges Mal, die Eine zu sein, die er sich erwählte. Aber sie waren es nie. Er kam immer zu ihr, jede Nacht. So war es schon immer gewesen, so würde es immer sein. Sie waren jetzt allein. Das Gefühl seines Körpers an ihrem war vertraut, und Anzu fühlte, wie eine starke Strömung von ihr Besitz ergriff... oder vielleicht war sie auch die Strömung. Vielleicht war er es. Wie in Trance lüftete sie die Maske von seinem Gesicht und legte eine dicke, rot glänzende Narbe frei, die beinahe sein gesamtes Gesicht entstellte. Das Gefühl der Zärtlichkeit, der Sehnsucht, verstärkte sich noch mehr. Langsam, sehr langsam begann sie, jeden Zentimeter dieser unauslöschlichen Wunde mit sanften Küssen zu bedecken. Und immer noch war da diese unauslöschliche, über Leben und Tod entscheidende Begierde. Sie erwachte keuchend, nicht aus Angst oder Erschöpfung, sondern aus schierer, unerträglich aufgestauter Erregung. Einer Erregung, die sie erst einmal gespürt hatte – in der spannungsgeladenen, musikerfüllten Atmosphäre von Übungsraum nummer vier. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Hallo ihr Lieben! Es tut mir furchtbar leid, dass ich in letzter Zeit immer so lang brauche, um mal wieder ein neues Kapitel hochzuladen... ich würde euch auch gern versprechen, dass es besser wird, aber das kann ich leider nicht. Hoffentlich habt ihr trotzdem noch Spaß an dieser FF. Ich habe den Verdacht, so langsam wirds Zeit, mal eine kleine Erklärung für diejenigen Leser zu starten, die das "Phantom der Oper" nicht kennen, also: "Das Phantom der Oper" ist ein Roman von Gaston Leroux, auf dessen Grundlage der geniale Andrew Lloyd Webber ein gleichnamiges Musical geschaffen hat. Im Grunde handelt es sich natürlich beide Male um die gleiche Geschichte, einige Einzelheiten sind allerdings im Musical anders dargestellt, hauptsächlich auch deswegen, weil dort das Phantom selbst mehr in den Mittelpunkt gerückt wird, während es im Originalroman mehr die Spukgestalt ist, die allen Probleme macht. In meiner FF orientiere ich mich hauptsächlich am Musical, obwohl ich beispielsweise in diesem Kapitel ja mehrfach den Namen "Erik" habe fallen lassen, den das Phantom nur im Roman trägt (sowie in einem "Hintergrundroman" von Susan Kay mit dem Titel "Phantom" bzw. "Das Phantom", der sowas wie die Biographie des Phantoms darstellt). Eigentlich wollte ich euch an dieser Stelle gern eine Zusammenfassung des Musicals geben, aber ich stelle fest, dass das noch mal ungefähr eine Din-A4-Seite füllen würde, wenn ichs richtig machen will. Die Zusammenfassung von Wikipedia (http://de.wikipedia.org/wiki/Das_Phantom_der_Oper_%28Musical%29#Handlung_und_Inszenierung_.7BIn_Klammern_Titel_der_Lieder.7D) ist halbwegs brauchbar, vielleicht schaut ihr da mal rein, wenn es euch interessiert. Um ganz kurz das zusammenzufassen, worauf ich bereits angespielt habe (Erklärungen nach der Musicalversion, nicht dem Roman): - Die weibliche Hauptrolle des Musicals, Christine, ist Baletttänzerin an der Pariser Oper. Die Choreographin (oder wie auch immer man das beim Balett nennen würde) ist Madame Giry, ihre Tochter Meg ist mit Christine befreundet. - In der Pariser Oper tauchen immer wieder Nachrichten auf, die mit "O.G." (Opera Ghost bzw. Operngeist) unterzeichnet sind. - Das Phantom der Oper trägt eine Maske, was aber Anzu verständlicherweise wohl etwas misstrauisch machen würde... daher der Vorhang. - Es gibt eine Szene, in der das Phantom Christine durch einen Spiegel beobachtet (und sie später durch die Tür dahinter entführt), darauf spielte die Bemerkung in einem der früheren Kapitel an, wie schade es doch für Anzus Verehrer ist, dass falsche Spiegel nicht mehr in Mode sind. Kapitel 6: Prima Donna ---------------------- Gleich vorweg: Ich habe schlechte Nachrichten. Ich werde diese FF erst mal nicht weiter fortsetzen. Das liegt nicht daran, dass sie mir nicht mehr gefällt, ich hatte wirklich viel Spaß damit, und die ganze Story war schon im Voraus geplant. Ich habe im Moment einfach keinen Kopf für Fanfiction, YGO schon gar nicht. Es tut mir wirklich leid für diejenigen, die die Fic immer noch gern lesen, falls da noch jemand ist. :D Aber wenn ihr neugierig seid, wer Anzus Verehrer ist, wie alles ausgeht, etc. - ich werde in den nächsten Tagen die Zusammenfassung hochladen, die ich am Anfang als Orientierung für mich geschrieben hatte. Kann schon sein, dass ich irgendwann weitermache, aber im Moment nicht. Dieses Kapitel konnte ich euch dann aber doch nicht ganz vorenthalten, ich fand, es war höchste Zeit für etwas mehr Azure-Handlung, auch wenn der Kitsch jetzt so dick aufgetragen ist, dass vermutlich jedem Nicht-Fan schlecht wird... Viel Spaß dabei! ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ “Bravo, Mademoiselle. Ausgezeichnet. Sie machen außergewöhnlich gute Vortschritte.“ Anzu lächelte, halb dachte sie darüber nach, ihren Lehrer zu verbessern – er bestand immer noch darauf, sie „Mademoiselle“ zu nennen – aber im Moment war sie einfach zu zufrieden mit ihren Fortschritten, glücklich und ein wenig außer Atem. Und was spielte es schon für eine Rolle? Er nannte sie jetzt schon sechs Monate lang so, warum sollte er ausgerechnet jetzt damit aufhören? „Ich denke, es wird Zeit, dass wir uns größeren Aufgaben zuwenden. Immerhin wäre es jammerschade, Ihre Talente für immer in diesem kleinen Raum hier einzusperren. Sie wissen natürlich, dass das Theater plant, ein neues Stück zu inszenieren? Wahrscheinlich haben Sie auch schon gehört, dass es sich dabei um den „Tanz der Vampire“ handeln soll.“ Einen Moment lang schlich sich ein breites Ginsen auf ihr Gesicht. Dies war einer der seltenen Momente, in denen sie ihren Lehrer dabei erwischte, dass er eine menschliche Schwäche zeigte. Ganz offensichtlich hatte er versucht, möglichst beiläufig zu klingen, wo sie doch seiner Stimme genau anhörte, dass er schon lange darauf brannte, dieses Thema anzuschneiden. “Ja, natürlich weiß ich das. Ich dachte sogar... naja... es würde vielleicht nicht schaden, wenn ich mich einmal für das Casting bewerbe, oder?“ Schüchtern wagte sie einen Blick in Richtung des geheimnisvollen Vorhangs. Ihr „Engel“ hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass er glaubte, ihre Stimme hätte ein enormes Potential, im Gegenteil, manchmal fand sie sogar, dass er entschieden zu dick auftrug. Aber auf der anderen Seite konnte er auch unglaublich aufbrausend werden, wenn er das Gefühl hatte, dass sie nicht sorgfältig genug übte, und ihr stundenlange Vorträge darüber halten, wie viel sie noch zu lernen hatte, bevor sie überhaupt daran denken konnte, vor Publikum aufzutreten. Er war nicht nachsichtig, was persönliche Schwächen anging. Vielleicht würde er im nächsten Moment all ihre Hoffnungen mit einem einzelnen, schroffen Wort zunichte machen...? „Ich meine, es muss ja nichts Großes sein. Eine kleine Rolle, das ist alles, was ich will, vielleicht ein paar Zeilen...“ „Nein.“ Seine Antwort war nicht so schroff, wie sie befürchtet hatte, er hatte noch nicht einmal die Stimme erhoben. Trotzdem schien sie in ihrem Körper nachzuhallen und ließ Anzu rot werden. Sie öffnete den Mund, um eine Entschuldig zu murmeln, aber sie kam nicht dazu, sie auszusprechen. „Sie werden Ihr Talent nicht auf unwichtige Nebenrollen verschwenden. Ich beabsichtige, Sie in ein paar Monaten als Sarah auf der Bühne zu sehen.“ Völlig überrumpelt spürte Anzu, wie das Rot ihrer Wangen sich noch vertiefte. „Aber, Engel! Die Rolle werde ich doch niemals bekommen! Es gibt an diesem Theater so viele Sänger, die mehr können als ich, und selbst wenn ich gut genug wäre, würden sie mich zu Recht dafür hassen, wenn ich als Neuling gleich die Hauptrolle bekommen würde...“ Ihr Lehrer ließ ein wegwerfendes Lachen hören. „Oh, machen Sie sich darüber keine Sorgen. Ich werde mich schon um Ihre Rivalen kümmern, sollte das nötig werden. Im Moment werden wir uns darauf konzentrieren, Sie für das Casting vorzubereiten. Sie kennen die Lieder?“ Natürlich kannte sie sie! Selbst wenn Anzu sich nicht angewöhnt hätte, überall, wo sie war, eine Musical-CD griffbereit zu haben – zu Hause, in ihrem Auto und sogar im Flugzeug auf dem Weg nach Domino, was Seto gehörig auf die Nerven ging – selbst dann hätte sie es nicht geschafft, sich der allgemeinen Aufregung zu entziehen, die die gesamte Theatercrew ergriffen hatte. Die gesamte Belegschaft war dieser Tage damit beschäftigt, einige der eingänigeren Melodien aus „Tanz der Vampire“ vor sich hinzusummen. „Gut. Dann werde ich Ihnen jetzt eines davon vorspielen, und danach versuchen wir, es gemeinsam zu singen. Ich denke nicht, dass wir unsere Zeit damit vergeuden sollten, vom Blatt zu singen, Sie werden die Stücke ohnehin auswendig können müssen.“ Er hatte bereits angefangen zu spielen, und Anzu musste sich mit aller Kraft gegen die unwiderstehliche Anziehung wehren, die seine Musik auf sie ausübte. „Engel...“ Die Musik brach ab. „Was ist denn nun schon wieder?“ War er schon immer so reizbar gewesen? „Ich... Würde es dir etwas ausmachen, wenn wir das üben auf die nächste Stunde verschieben?“ Um Himmels Willen, sie war eine erwachsene Frau, kein kleines Schulmädchen mehr, das die Erlaubnis seines Lehrers brauchte! „Ich muss gehen, Seto wartet auf mich.“ Darauf war er nicht gefasst gewesen. „Wer?“ “Seto. Mein Mann, schon vergessen? Wir haben heute unseren Hochzeitstag.“ Eine beruhigend-sanfte, perlende Bambusflöten-Melodie plätscherte aus clever versteckten Lautsprechern an der Decke, während ein fröhlich sprudelnder Springbrunnen in der Mitte des Raumes seinen Rhythmus gluckernd aufgriff. Überall um sie herum saßen Pärchen und kleine Gruppen an runden Tischen, lachten, unterhielten sich und genossen ihr Essen. Aber so sehr sich Anzu auch anstrengte, ihren Mann konnte sie unter ihnen nicht entdecken. Das hätte ich ja wissen können. Seto konnte peinlich genau auf Pünktlichkeit achten, er konnte es mit privaten Verabredungen aber auch entnervend locker nehmen, und das Problem war, dass man bei ihm nie im Voraus sagen konnte, nach welchem Extrem er ausschlagen würde. Seufzend schritt Anzu über die noch leere Tanzfläche und suchte sich einen leeren Tisch am Fenster aus. Sie hatten es nicht für nötig gehalten, zu reservieren, für sie beide würde es hier immer einen freien Tisch geben – und darauf, von einem Reporter belagert zu werden, der sein drittklassiges Heftchen mit einem romantischen Schnappschuss von ihrem Candlelight-Dinner auffrischen wollte, falls sie ihren Aufenthaltsort zu früh preisgaben, konnten sie wirklich verzichten. Während ihre Augen sich über der vertrauten, samtschwarz-glitzernden Skyline von Tokyo verloren, erlaubte Anzu ihren Gedanken, ebenfalls abzuschweifen. Der Vorschlag ihres Lehrers heute hatte sie überrascht, aber sie konnte nicht leugnen, dass er seinen Reiz auf sie ausübte. Natürlich hatte sie darüber nachgedacht, sich für die Rolle der Sarah zu bewerben, sie hatte immerhin schöne Stücke in ihrem Repertoire. Aber der Gedanke war ihr einfach zu größenwahnsinnig erschienen, um ihn weiter zu verfolgen. Konnte ihr „Engel“ wirklich glauben, dass sie für solch eine Herausforderung bereit war, nachdem sie kaum sechs Monate des Trainings hinter sich hatte? Ihre Gedanken wurden unterbrochen, als warme Fingerspitzen ihren Nacken streiften. Seto hatte ihr Haar zur Seite geschoben, das sie nun etwas länger trug als während ihrer gemeinsamen Schulzeit, und eine Hand auf ihre Schulter gelegt. „Es tut mir leid. Ich hätte wirklich wissen sollen, dass ich keinen Anruf von Mhammad entgegennehmen sollte, wenn ich nur noch eine halbe Stunde Zeit habe.“ Anzu schmunzelte und erhob sich, um ihren Mann zur Begrüßung zu umarmen und ihn mit einem Kuss zu begrüßen, der nichts von seiner ursprünglichen Leidenschaft eingebüßt hatte. Als sie sich wieder trennten, ließ sie ihren Blick über seine schlanke, hohe Gestalt gleiten. Für Seto, der in seinem Beruf beinahe immer in Anzug und Krawatte anzutreffen war, bedeutete sich „in Schale zu werfen“ das genaue Gegenteil von dem, was die meisten Männer taten, wenn sie ihre Frauen oder Freundinnen beeindrucken wollten. Anstatt sich formeller zu kleiden als normalerweise, hatte er seine Arbeitskleidung gegen zwanglosere Kleidung ausgetauscht: Eine schwarze Jeans und ein mitternachtsblaues Hemd, darüber der weiße Trenchcoat, den er so oft in den frühen Tagen ihrer Bekanntschaft getragen hatte. Lächelnd hob er den Blumenstrauß, den er in der linken Hand hielt, und reichte ihn Anzu. „Danke.“ Anzu nahm den Strauß entgegen, leicht verblüfft über die Auswahl, die er getroffen hatte. Es amüsierte sie immer noch, dass Seto, der doch sonst keinen Hehl machte aus seiner Verachtung für überholte Angewohnheiten, an einer so altmodischen Ausdrucksform wie der Blumensprache festhielt. Selbst, wenn er das nur noch zu besonderen Anlässen wie heute tat. Von einem konventionellen Standpunkt aus betrachtet war das Arrangement, das er ihr jetzt überreichte, reichlich seltsam zu nennen, aber es war unübersehbar von einem Experten mit viel Geschmack gebunden worden. Sie erkannte die üblichen feuerfarbigen Rosen, vermischt mit Hyazinthen in einem tiefen, dunklen Blau. In einem plötzlichen Ansturm zärtlicher Gefühle erinnerte sie sich daran, wie er ihr die Bedeutung dieser Blumen erklärt hatte. War Blau im allgemeinen schon ein Symbol für Treue und Vertrauen, bedeuteten Hyazinthen im Besonderen: „Du bist die eine Person, der ich meine innersten Geheimnisse anvertraue.“ Der Strauß wurde abgerundet durch eine kleine, sorgfältig für diesen Zweck ausgewählte Sonnenblume, unkonventionell, aber sehr hübsch in ihrer leuchtend sonnigen Erscheinung. Anzu sah auf und traf dabei Setos Blick. „Was bedeutet die?“ Er lächelte wieder und nahm ihr das Bouquet aus den Händen, um es auf den Tisch zu legen, sodass er sie an sich ziehen konnte, ohne die Blumen zu beschädigen. „Das“, schmunzelte er, „ist vielleicht der wichtigste Teil meiner Botschaft an dich.“ Er nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände und zog sie noch näher an sich, sodass seine nächsten Worte nur noch ein Flüstern waren, das ihr Gesicht mit seinem warmen Atem umschmeichelte. „Du bist die Sonne meines Daseins, mein ganzes Leben wird durch dich erst schön.“ Ihr Gesicht hatte immer noch etwas von der erfreuten Röte, die es bei seinen Worten überzogen hatte, als Anzu sich schließlich gegenüber von Seto an den Tisch setzte. Das sollte er öfter tun, rief er sich selbst in Erinnerung. Anzu verdiente es, dass er ihr öfter sagte, wie viel sie ihm bedeutete, aber leider schaffte er es nie, das oft genug zu tun. Er war nicht gut darin, „Ich liebe dich“ zu sagen, vielleicht bedeutete ihm deshalb diese antiquierte Ritualsprache noch so viel, wo doch alles andere, was Gozaburo ihm über menschliches Zusammenleben beigebracht hatte, längst an Bedeutung verloren hatte. Er war froh, als Anzu schließlich den Faden des Gespräches wieder aufgriff. Schweigen konnte etwas sehr Erholsames sein, aber nicht, wenn er sich fühlte, als fehlten ihm die Worte für etwas so Bedeutsames. „Also, was wollte Mhammad von dir?“ Während ihrer Flitterwochen in Ägypten – Flitterwochen mit Familie, denn Anzu hatte es nicht übers Herz gebracht, Kaito zurückzulassen, und so hatten sie auch Mokuba mitnehmen müssen, um den Kleinen zu beaufsichtigen – hatte Anzu sich mit dem ägyptischen Ehepaar angefreundet, das die Suite neben ihnen bewohnte. Mit dem Urlaub hätte vielleicht auch die Bekanntschaft ein Ende gefunden, wenn Seto nicht zufällig mitbekommen hätte, dass der Mann der ehemalige afrikanische Champion in DuelMonsters war – und dass er auf der Suche war nach einer neuen Anstellung. Inzwischen war er Setos engster Berater und sein persönlicher Vertreter für Geschäfte im arabischen Raum geworden, eine Aufgabe, die recht anspruchsvoll sein konnte, wenn man versuchte, so spärlich bekleidete Monster wie das Schwarze Magiermädchen in traditionell veranlagten muslimischen Ländern zu verkaufen. Und obwohl der junge CEO das niemals zugeben würde, war er außerdem der engste Freund, den Seto hatte. „Oh, nichts Bestimmtes. Er wollte mir mitteilen, welche Fortschritte er mit unseren Saudi-Arabischen Partnern gemacht hat, und dass er ein vielversprechendes Grundstück für KaibaLand Egypt ausfindig gemacht hat. Es liegt in der Nähe von Hurghada, es sollten also genug Touristen da sein, um es am Laufen zu halten.“ Anzu verzog das Gesicht. Er wusste, was ihr Problem war, keiner von ihnen mochte Hurghada, das einfach viel zu sehr nach einer billigen Touristenfalle aussah. Aber für einen Vergnügungspark war es einfach der ideale Standpunkt. Natürlich war Anzu das genauso klar, also machte sie keinen Versuch, seinen Plänen zu widersprechen. „Wie geht es Hania und Yasmine?“, fragte sie stattdessen. Mhammads Frau und Tochter hatten sie erst vor zwei Monaten das letzte Mal besucht, und es gehörte zu Mhammads Lieblingswitzen zu behaupten, dass sie ihre Kinder nur oft genug zusammenbringen mussten, dann würden ihre Familien über kurz über lang durch eine Hochzeit zwischen Kaito und Yasmine vereint werden. „Gut, denke ich. Ich weiß es allerdings nicht genau, er war zu erpicht darauf, mir haarklein alles über die Hochzeit der Tochter des ältesten Sohnes seines Onkels zu erzählen. Das war es, was mich so lange aufgehalten hat.“ Beide unterdrückten ein Lachen. In mancher Hinsicht war Mhammad wirklich das lebendige Klischee eines orientalischen Familienmenschen. Aber bevor sie eine Chance hatten, das Thema weiter zu erörtern, trat eine Kellnerin an ihren Tisch. „Guten Abend, Mr. und Mrs. Kaiba. Darf ich Ihnen schon etwas bringen?“ Es nahm einige Zeit in Anspruch, sich auf einen Aperitif zu einigen und dann die Speisekarte zu studieren und zu entscheiden, was sie heute Abend essen wollten. Zwar waren sie nicht zum ersten Mal hier, aber schließlich war das Restaurant auch nicht irgendeine kleine Pizzeria, wo man sich jedes Mal sein Stammessen bestellte. Als sie also ihre Speisekarten wieder an die Bedienung zurückreichten und sich einander zuwandten, war bereits einige Zeit verstrichen, und der Faden ihres Gespräches war verloren gegangen. „Erzähl, woran arbeitest du im Moment?“ Seto warf einen flüchtigen Blick aus dem Panoramafenster, dann konzentrierte er seine Aufmerksamkeit wieder auf seine Frau. Anzu zuckte die Schultern. „Naja, ich denke, ich habe dir schon von dem neuen Musical erzählt, das sie im Moment vorbereiten. Ich habe mich dafür entschieden, am Casting teilzunehmen, aber bisher kann ich nicht sagen, welchen Part ich werde vorbereiten müssen – falls ich überhaupt einen bekomme.“ Seto nickte. Im Stillen glaubte er, dass Anzu es durchaus verdient hätte, eine der Hauptrollen zu spielen, aber er musste zugeben, dass er vermutlich etwas zu ihren Gunsten eingenommen war – und dass Musik außerdem, sah man einmal von Anzus Arbeit ab, nicht gerade sein Spezialgebiet war. „Also, worum geht es in dem Musical? Ich glaube, du sagtest, es heißt „Tanz der Vampire“?“ Jetzt war Anzu an der Reihe, zu nicken. „Ja. Naja, es ist nicht so einfach, zu erklären, worum es geht, es gibt verschiedene Versionen und jede hat eine leicht andere Handlung. Ursprünglich war es ein deutsches Musical, glaube ich, und das ist die Fassung, an die wir uns halten. Außerdem gibt es eine amerikanische Version, finanziell ein Desaster und deswegen schon lange nicht mehr aufgeführt, aber sie beantwortet ein paar Fragen, die das Originalmanuskript offen lässt.“ Sie nahm einen Schluck von dem Mineralwasser, das die Kellnerin ihr gebracht hatte, und lächelte Seto entschuldigend an. „Tut mir leid, ich habe mich schon wieder hinreißen lassen. Dabei wolltest du ja nur die grobe Geschichte wissen. Also, es geht um diesen deutschen Professor, sein Name ist Abronsius, und er studiert Vampire, weil er hofft, damit den Nobelpreis zu gewinnen. Er reist nach – Transsylvanien, glaube ich, und mietet sich dort zusammen mit seinem Assistenten Alfred in einer Gaststätte ein.“ Zwei weitere Kellner steuerten auf sie zu, von denen jeder einen Teller mit Salat trug, den sie vor Seto und Anzu absetzten. Die junge Frau ließ von dem Stück Brot ab, das sie zwischen den Fingern zerkrümelt hatte, und spießte eine geviertelte Cocktailtomate auf ihre Gabel. „Alfred jedenfalls verliebt sich auf den ersten Blick in die Tochter des Gastwirts, und Abronsius ist begeistert, weil das ganze Dorf geradezu süchtig zu sein scheint nach Knoblauch, also versucht er, aus den Leuten ein Geständnis herauszulocken, dass es in der Gegend Vampire gibt. Ich könnte dir jetzt noch die ganzen Verwicklungen in der Zwischenzeit erklären, aber am wichtigsten ist eigentlich, dass Sarah von einem Vampir namens Graf von Krolock entführt wird und Abronsius und Alfred sich aufmachen, um sie zu retten. Im Schloss des Grafen werden sie willkommen geheißen und haben die Gelegenheit, sich ein wenig umzusehen. Dadurch erfahren sie, dass bald ein großer Ball stattfinden soll, an dem Sarah zum Festmahl des Grafen auserkoren ist, während sie beide für den Rest der Vampir-Gang gedacht sind, einschließlich den schwulen Sohn des Grafen, Herbert. Sarah gefällt die ganze Aufmerksamkeit, die ihr zuteil wird, ganz gut, aber irgendwie schaffen sie es trotzdem, zu fliehen. Leider stellt sich auf dem Weg nach Hause heraus, dass Sarah bereits gebissen und zum Vampir geworden ist, sie beißt Alfred und vermutlich auch Abronsius, und irgendwie übernehmen die Vampire daraufhin die Weltherrschaft… na ja, wie ich bereits sagte, die Geschichte weißt ein paar Lücken auf.“ Seto hatte bis jetzt stumm seinen Salat gegessen und hob nun spöttische eine Augenbraue. „Scheint ja, als sei da sehr viel Mühe auf die Konstruktion dieses Musicals verwendet worden.“ Sein Gegenüber unterdrückte ein Kichern. „Ich weiß, es klingt bescheuert, aber die Musik ist wirklich gut.“ „Wenn du das sagst.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)