Zwischen den Fronten von Kiajira ================================================================================ Der verbotene Wald ------------------ Kapitel 2: Der verbotene Wald Es dämmerte schon. Dabei war es noch nicht einmal Zeit fürs Abendessen. An Nachmittagen wie diesem merkte man, dass der Winter nicht mehr fern war. Der Himmel war von hellgrauen Wolken bedeckt, eine undurchdringliche Decke, die weder der Sonne, noch dem Mond oder einem Stern erlaubte, seine Strahlen hinunter auf die Erde zu werfen. So ging das jetzt schon seit mehreren Wochen. Ginny konnte es den Wolken nicht verübeln. Sie schienen ihre Stimmung zu teilen. Und es war schon mehr als einmal vorgekommen, dass Ginny mit ihnen im Einklang geweint hatte. Zu diesen Zeiten wurde sie meist, genau wie die Wolken, von einer Mischung aus unbändiger Wut und endloser Trauer und Enttäuschung geschüttelt. Damals hatte sie sich gewünscht, sie könnte ebenso wie der Himmel Blitze abschießen, um sich abzureagieren. Leider hatte sich dieser Wunsch bis heute nicht erfüllt, und ein Haufen von Ginnys Wut hatte sich in ihrer Seele gestaut. Und sie war kurz davor, heraus zu brechen. Das einzige, was sie noch zurückhielt, war Angst. Und obwohl Ginny jeden Tag mit der Angst vor Alecto, Amicus und Snape gelebt hatte und diese ein Bestandteil ihres Alltags geworden war, verspürte sie in diesem Moment eine riesige Furcht, die sie nur mit Mühe davon zurückhalten konnte, zu blanker Panik auszuarten. Jetzt die Nerven zu verlieren, war das letzte, was sie brauchen konnte. Doch etwas hielt sie zusammen. Und dieses Etwas war kurioserweise wieder die Wut, die in ihr brodelte. Wut und Angst waren in der letzten Stunde beide ins Unermessliche gestiegen, doch noch hielten sie sich das Gleichgewicht. Noch. Ginny wusste, sobald eine Seite auch nur ein klein wenig zuviel abbekam, würde sie auseinander brechen. Ob aus Wut oder Panik, wäre dann ziemlich egal. Es käme aufs Gleiche heraus. Sie holte tief Luft. Warum geschah denn immer noch nichts? Sie stand zwischen Neville und Luna auf einer Lichtung im Verbotenen Wald, so weit von der Schule entfernt, dass sie außerhalb der Schutzbanne und des Anti-Apparierzaubers waren. Wen auch immer Snape hierher befohlen hatte, er würde jeden Moment ankommen. Snape stand zu Lunas rechter Seite, Amicus zu Nevilles linker, und Alecto stand vor ihnen und spielte nervös mit ihren Zauberstäben. Auch Amicus und Snape schienen nervös. Aus der geflüsterten Unterhaltung vorhin, bei ihrem Marsch durch den Wald, hatte Ginny mehrfach die Worte „Dunkler Lord“ und „Meister“ herausgehört. Snape war doch wohl nicht so lebensmüde, Voldemort hierher zu bestellen? Sie hatte gehört, dass Voldemort seine Untergebenen manchmal nicht besser behandelte als seine Opfer. Wollte Snape sich umbringen, indem er Voldemort mit einer Kleinigkeit wie drei rebellischen Hogwarts-Schülern behelligte? Wollte er sein Lehrer-Pärchen umbringen? Ginny dachte nicht darüber nach, was mit ihr selbst geschehen würde, wenn der, den sie erwarteten, wirklich der war, den sie im Verdacht hatte. Sie wollte es nicht wissen. Sie sah sich nach ihren Freunden um. Luna lächelte verträumt. „Wir werden sterben, nicht wahr?“, meinte sie so ruhig wie immer. „Dann werde ich Mum endlich wieder sehen. Darauf freue ich mich.“ Ginny sagte nichts. Luna hatte sich mit dem Tod abgefunden. Gut. Ein Problem weniger. Sie drehte ihren Kopf nach links. Neville biss sich die Lippe blutig, um seinem Gesicht einen ruhigen Ausdruck zu geben. Doch er hatte Angst. Das sah Ginny ganz deutlich. Sie griff nach seiner Hand. „Es ist bald vorbei. Dann bist du bei deinem Großvater. Du musst keine Angst haben.“ Sie wusste selbst nicht, wie diese tröstlichen Worte über ihre Lippen gelangten, ohne dass sie einen Schrei von sich gab. Schreien hätte einiges leichter gemacht, doch dann wäre sie geplatzt. Und den Triumph wollte sie Snape in ihren möglicherweise letzten Minuten nicht gönnen. Wenn sie sterben musste, dann ohne den Verstand zu verlieren. Jetzt schlich sich ein gequältes Lächeln auf Nevilles Gesicht. „Ich wünschte, es wäre sofort vorbei“, flüsterte er. „Dieses Warten macht mich wahnsinnig.“ Ginny nickte. „Mich auch.“ Sie holte tief Luft und schloss die Augen. Einatmen, ausatmen. Ein und aus. Ein und aus. Wer weiß, wie lange sie das noch konnte. Nicht die Nerven verlieren. Ein und aus. Ruhig bleiben. Ein und aus. Plötzlich ein kaum hörbares Rascheln, ein Schrei Alectos und das Geräusch von Körpern, die zu Boden gingen. Ginny holte ein letztes Mal Luft und öffnete die Augen. Sie blickten geradewegs in ein glühend rotes Augenpaar. Ginny schrie nicht. Sie verlor nicht die Nerven. Sie erwiderte den Blick ohne zu blinzeln. Der Kampf, der in ihrem inneren getobt hatte, war erloschen. Jede Gefühlsregung war ausgelöscht worden, als sie diese Augen gesehen hatte und wusste, dass dies ihr Ende war. Es gab kein Entrinnen. Wozu noch fühlen? Es hatte sowieso keinen Sinn. Er war hier. Es war vorbei. Ohne dass sie es bemerkte, schlich sich ein Lächeln auf ihr Gesicht. Jetzt wurde der ganzen Verzweiflung ein Ende gemacht, der Enttäuschung, die sich Jahr für Jahr in ihr angestaut hatte. Sie brauchte nicht mehr zu fühlen. Es war, als ob ihr eine schwere Last von den Schultern genommen wurde. Warum fürchteten alle den Tod? Für sie war er die baldige Erlösung, seit sie diese Augen gesehen hatte und gewusst hatte, dass der Tod ihnen hierher folgen würde. Diesen Augen, die immer noch die ihren gefangen hielten. Dann blinzelte sie und der Moment ging vorüber. Snape, Alecto und Amicus waren vor Voldemort auf die Knie gefallen. Nevilles Blick irrte panisch umher, während er wie versteinert dastand. Luna trat mit ausdrucksloser Miene von einem Bein auf das andere. Voldemort wandte seinen Blick von Ginny ab und blickte zu seinen Todessern hinab, die nun einer nach dem anderen den Saum seiner Robe küssten und sich erhoben. Er sagte kein Wort, doch Snape schien zu verstehen und begann leise zu erzählen. Voldemorts Augenbrauen wanderten stückweise immer weiter in die Höhe, während er lauschte. Ginny verstand nichts von dem, was Snape sagte, er war zu leise. Als der Tränkemeister geendet hatte, bedachte Voldemort ihn mit einem langen Blick, dann schweiften seine forschenden Augen über die Gesichter der drei Jugendlichen. An Ginnys blieb er am längsten hängen. Ginny erwiderte ihn wieder, ohne mit der Wimper zu zucken. Warum brachte er sie immer noch nicht um? Kaum hatte sie das gedacht, erschien ein unmerkliches Lächeln auf den schmalen Lippen Voldemorts. Sie fragte sich, ob er gerade einen Blick in ihren Geist warf. Nach scheinbar einer Ewigkeit wanderte sein Blick über Neville, der nach einer Sekunde wegschaute. Voldemort zog seinen Zauberstab und richtete ihn auf Neville. Kein Wort kam über seine Lippen, doch im nächsten Moment starrte Neville ihn mit glasigem Blick an. Also hat er doch in meinen Geist geschaut, dachte Ginny. Ich hab mich nicht gewehrt, also hat er nicht mehr als Blickkontakt gebraucht, keinen Legilimens. Voldemort schien zufrieden mit dem zu sein, was er gesehen hatte und wandte sich Luna zu. Sie leistete wie Ginny keinen Widerstand, und Voldemort ließ nach kurzer Zeit von ihr ab. Er nickte Snape zu und brach dann das erste Mal die Stille auf der Lichtung. „Gut, dass du sie zu mir gebracht hast. Sie werden mir von großem Nutzen sein.“ Snape lächelte und neigte den Kopf. Im nächsten Augenblick platzte Neville heraus: „Was? Von Nutzen sein? Eher bring ich mich um, als dass ich Ihnen helfe! Der Imperius zieht bei mir nicht!“ Er ballte die Hände zu Fäusten und funkelte Voldemort an. Dieser blickte belustigt drein. „Ah ja“, sagte er mit seiner eiskalten Stimme, die Glas durchtrennen könnte. Ginny schauderte unwillkürlich. Es war eine Stimme, so schön und schrecklich zugleich. Melodisch, aber gefroren zu einer Grausamkeit, die weiter ging, als Ginny sich vorstellen konnte. „Ganz der noble Griffindor, nicht wahr?“ Neville erwiderte seine Worte mit trotzigem Schweigen. „Ich brauche Leute wie dich. Du wärst genau das, was meinen Leuten fehlt. Eine starke Überzeugung und ein starkes Rückgrat. Und du bist ein Reinblüter, nicht wahr?“ Nevilles Blick verfinsterte sich. „Niemals. Verschonen Sie mich mit ihrem Gerede. Bringen Sie mich meinetwegen um-“, seine Stimme zitterte leicht, doch er hielt Voldemorts Blick stand, „-Aber versuchen Sie nicht mehr, mich auf Ihre Seite zu ziehen. Das zieht nicht. Niemals.“ „Hast du keine Angst vor dem Tod?“, wollte Voldemort wissen und ging einen Schritt auf Neville zu. Neville blieb stehen, begann jedoch zu zittern. „Nicht – nicht so sehr wie davor, meine Freunde zu verraten.“ Voldemort lächelte kalt. „Jaja, Griffindor durch und durch. Da kann man wohl nichts machen. Imperio!“ Nevilles Blick wurde trüb, seine Fäuste lösten sich und sein Gesicht bekam einen entspannten Ausdruck. „So, und jetzt zu der kleinen Ravenclaw“, meinte er und schritt an Ginny vorbei auf Luna zu. Ginny konnte einen kalten Luftzug spüren, der ihm folgte. „Wie sieht es mit dir aus?“, wollte Voldemort wissen. Luna lächelte träumerisch. „Ich habe keine Angst vor dem Tod. Also brauche ich auch keine Angst vor Ihnen zu haben.“ Voldemort zog die Augenbrauen hoch. „Wovor hast du dann Angst?“, wollte er wissen. Lunas Lächeln wurde breiter und sie schwieg. Voldemorts Gesicht verzerrte innerhalb eines Wimpernschlags zu einer Grimasse und er fuhr sie an: „Ich hab dich etwas gefragt! Antworte gefälligst! Crucio!“ Luna schrie und fiel zu Boden. Ihre Gliedmaßen zuckten unkontrolliert und sie schrie immer weiter. Ginny starrte sie gebannt an. Sie konnte den Blick einfach nicht abwenden, so Leid Luna ihr auch tat. Moment, fragte sie sich selbst. Tat Luna ihr denn überhaupt Leid? Sie forschte nach, doch sie fühlte nichts. Anscheinend waren ihre Gefühle bereits gestorben. Sie konnte nicht mehr bedauern. So betrachtete sie fasziniert, wie Luna sich am Boden wälzte. Plötzlich ertönte hinter Ginny ein Schrei. „Aufhören!! Lass sie in Ruhe!!“ Es war Neville. Voldemort ließ den Zauberstab sinken und Luna sank schluchzend in sich zusammen. Dann donnerte er Neville einen neuen Imperius entgegen, der ihn zum Schweigen brachte. Ginny beobachtete immer noch Luna, ohne etwas zu fühlen. Der Anblick schockte sie nicht, und er löste auch kein Mitleid in ihr aus. Sie sah auf – und wieder blickte sie in dieses rote, kalte Augenpaar. Voldemort hielt ihren Blick einen Moment, lächelte, dann belegte er auch Luna mit einem Imperius. Sie hörte augenblicklich das Weinen auf und erhob sich. Voldemort trat vor Ginny. „So, und was soll ich mit dir machen, Weasley?“ Ginny zuckte mit den Schultern. „Ist mir egal“, entgegnete sie gleichgültig. Voldemorts ebenmäßige Gesichtszüge entgleisten für einen Moment und offenbarten haltlose Überraschung, ehe sich wieder die weiße Maske über sein Antlitz legte. „Was?! Dir ist es egal? Also, das hat noch niemand zu mir gesagt.“ Ginny lächelte, sie konnte nicht anders. „Mag sein. Was haben SIE denn mit mir vor?“ Voldemort trat perplex einen Schritt zurück. Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Dann erwiderte er Ginnys Lächeln. „Keine Sorge, für dich fällt mir auch noch etwas ein.“ Er blickte einen Moment ins Leere, dann drehten sich Neville und Luna um und verließen die Lichtung. Ginny sah ihnen einen Moment hinterher, dann drehte sie sich wieder zu Voldemort um und fragte: „Wo gehen sie ihn?“ „Ich hab sie zurück zur Schule geschickt. Sie werden den heutigen Tag vergessen und ganz normal weiterleben – natürlich unter meinem Blick.“ Ginny wagte nicht, zu fragen, was aus ihr würde. Voldemort schnippte kurz mit dem Zauberstab, dann wandte er sich von ihr ab und besprach etwas mit seinen Untergebenen. Ginny wollte weglaufen, doch ihre Füße bewegten sich nicht. Voldemort hatte sie an den Boden gebunden. Nach kurzer Zeit machten sich ihre Lehrer ebenfalls auf den Heimweg nach Hogwarts. Ginny blieb allein mit Voldemort zurück. Er lächelte sie kalt an. „Tja, sieht so aus, als dürftest du noch etwas länger meine Gesellschaft genießen.“ Lange, dünne Finger umschlossen ihren Arm, dann wurde ihr von erbarmungsloser Dunkelheit die Luft aus den Lungen gedrückt. Einen Moment später war die Lichtung leer. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)