Dein Schmerz auf meiner Haut von halfJack ================================================================================ Kapitel 2: Kapitel 2 -------------------- Es ist dunkel, die Nacht greift wie ein Schatten durch das Fenster. Ich sehne mich nach dieser Finsternis, weil mich in meinem Wohnzimmer das Licht der Deckenlampe blendet und fast wie Salz in meinen Augen brennt. Der Himmel war schnell schwarz geworden, nachdem die Dämmerung vollständig einsetzte und wir an diesem Abend zu mir nach Hause gingen. Auf dem Weg vom Bahnhof wechselte Daniel mit mir kein einziges Wort mehr. Wir liefen schweigend zu meiner Wohnung. Ich weiß, was ihn dazu trieb, mir zu folgen. Aus dem ebenfalls erhellten Flur vernehme ich das Prasseln des Duschwassers. Warum braucht Daniel so lang? Ich senke den Blick wieder auf die Schürfwunde an meinem Knie und presse das mit Jod durchtränkte Tuch darauf. Ein verzehrendes Brennen durchzieht mein Fleisch wie eine angenehme Berührung. Auch der Rest meines Körpers schmerzt zunehmend, sowie mein Schädel, in dem es heftig pulsiert. Mir ist noch immer nicht klar, was geschehen ist. Plötzlich weiß ich, dass sich alles verändert hat, und auch Daniel muss es gefühlt haben. Als wir vorhin in der Wohnung angekommen waren, verschwand ich sofort im Bad, ohne ein einziges Wort zu sagen. Daniel wartete auf dem Sofa. Nach fünf Minuten war ich fertig und anschließend betrat er das Bad. Das ist mittlerweile schon eine Viertelstunde her. Langsam schüttle ich den Kopf, belasse das Tuch vorsichtig auf der offenen Wunde und streiche mit beiden Händen durch mein dunkles Haar, bevor ich die Handballen vor meine Augen drücke. Mir ist schwindlig. Eigentlich sah ich nie klarer, alles liegt deutlich vor mir, doch meine Gedanken drehen sich ständig im Kreis. Ich bin es nicht gewohnt, dass in meinem Denken ein solch unkontrollierbares Chaos herrscht. Aus dem Flur höre ich unbewusst das knarrende Geräusch einer sich öffnenden Tür. Das fehlende Prasseln des Wassers ist mir entfallen, sodass ich nicht bemerkte, dass Daniel aus dem Badezimmer kam. Nun, da er vor mir steht und mich mustert, beginne ich ihn langsam wieder wahrzunehmen. Ich kann seinen Blick nicht deuten. Er sieht mich weder verständnislos, noch verabscheuend oder ängstlich an. Wenn ich es nicht besser wissen müsste, dann würde ich meinen, er schaut so normal wie immer. „Was ist denn los, Henri? Hast du ein Gespenst gesehen?“ Zwar öffne ich meinen Mund, aber kein einziges Wort will meine Kehle verlassen. Ein eiskalter Schock durchfährt meine Kopfschmerzen. Ich kann nicht begreifen, dass Daniel sich völlig unverändert verhält. „Du musst mir nicht antworten“, entgegnet er mit vorgetäuschter Beleidigung. „Ich mache uns etwas zu essen.“ Damit verschwindet er in der Küche. Durcheinander aufgrund dieser einfachen Worte bleibe ich sitzen und sehe nur verwirrt hinter ihm her zur offenen Tür. Wie kann Daniel so ruhig bleiben? Es ist selbstverständlich, dass man mir meine Aufgelöstheit nicht anmerkt. Ich stehe auf und folge ihm. In der Küche ist Daniel mit hochgekrempelten Ärmeln damit beschäftigt, Reis in Wasser auf den Herd zu stellen. Umständlich hält er noch das Messer in der Hand, mit dem er das Paket aufschnitt, während er Salz in den Topf schüttet. Die braunen Augen sind auf das Metall in seiner rechten Hand gerichtet. Kein Laut erklingt in der Küche. Ich höre nie Musik, weshalb es in meiner Wohnung immer erdrückend leise ist. Nicht einmal das Ticken einer Uhr durchdringt die Stille; ich besitze nur Digitalanzeigen. Endlich gehe ich zu Daniel hinüber, stelle mich dicht an seinen Rücken und nehme das Salz aus seiner Hand. „Du verdirbst den Reis, wenn du so weitermachst.“ Er dreht sich um, doch ich weiche keinen einzigen Schritt zurück. Sein Blick ist durchdringend, ein leichtes Lächeln umspielt seine Lippen. „Ich war abgelenkt.“ Wieder fixiert er die blanke Klinge, auf der die Lichtreflexe blitzen und milchige Übergänge von weiß zu grau malen. Als wir uns wieder anschauen, kann ich den Ausdruck in seinem Gesicht mit Gewissheit deuten. Seit wie vielen Nächten plagen mich dieses selbstsichere Auftreten und die stumme Herausforderung in seinen Augen schon? Im Traum erschien es mir immer unerträglich, doch nun nehme ich die Aufforderung mit Freude an. Ruckartig greife ich nach seiner Hand, entwinde ihm das Messer und drücke es an seinen Unterarm. Ich will seine Angst sehen, aber Daniel vermittelt mir eher Erregung, als dass er auch nur vor Schreck mit der Wimper gezuckt hätte. Ich sehe ihm tief in die Augen und zögere. Eigentlich herrscht momentan ein Gleichstand. Zwar habe ich ihm kürzlich bei unserem Gespräch nur unwesentlich eine Lektion erteilt, doch an den Bahngleisen zog ich eindeutig den Kürzeren, als mir Daniel unerlaubt meine Kontrolle entriss. Das soll er bereuen. Mein Druck verstärkt sich mit dem Messer auf seiner Haut. Langsam ziehe ich es den Arm hinab. Ein schmaler roter Streifen folgt der Schneide. Wie an einer Perlenkette reiht sich das hervorquellende Blut daran auf. Der Schnitt ist nicht tief, wandert nur flüchtig durch die Haut. Ich wollte Daniel lediglich in seiner Ruhe erschüttern, ihm zeigen, wie ernst es mir ist, doch er gibt keinen Ton von sich und lehnt mit geschlossenen Augen leicht an der Tischkante in seinem Rücken. Unbarmherzig halte ich sein dünnes Handgelenk weiterhin fest und drücke seinen Arm entschlossen nach unten gegen das Holz der Anrichte. Das Messer ritzt erneut über dieselbe Stelle im Fleisch und vertieft die Wunde, sodass sie ein Stück weit aufklafft. Diesmal schnappt Daniel kurz nach Luft und zieht die Kälte meiner Wohnung scharf zwischen seinen Zähnen ein. Sein unterdrücktes Keuchen hetzt ein wohliges Fieber durch meinen Körper und bringt mich gleichzeitig wieder zu Bewusstsein. Mit vollkommener Klarheit sehe ich in sein schmerzlich lächelndes Gesicht, meine Lippen sind an seinem Arm und meine Zunge leckt über die raue Wunde. Plötzlich spüre ich, wie seine andere Hand das Messer aus meinen Fingern entwindet und an sich reißt. Als meine Lippen von Daniel ablassen müssen, greift er mit seinem verletzten Arm nach meinem Kinn und zieht mein Gesicht zu sich heran. Im nächsten Moment hält er mir das kalte Metall an den Hals. „Gefällt dir dieses Spiel?“ Seine Worte hallen fragend in meinem Kopf wider. Befriedigende Gelassenheit durchströmt meinen Körper, sodass es mir nicht schwer fällt, kalt zu antworten: „Ja.“ Ich kann Daniels Gesichtsausdruck in diesem Augenblick nicht deuten, denn sein Lächeln erreicht nicht die Augen hinter seinen halbgeschlossenen Lidern. Dann erwidert er: „Es ist alles nur ein Spiel.“ Er führt die Schneide sanft über die Erhöhung meiner Hauptschlagader, hinterlässt die Haut unversehrt, bis die Spitze des Messers an meiner Kehle innehält. Ich verspüre einen leicht unangenehmen Schmerz. „Nicht wahr, Henri? Was meinst du, wie ich dieses Spiel gewinnen könnte? Vielleicht...“ Er grinst mich aus seinen braunen Augen höhnisch an und verstärkt den Druck des gefährlichen Metalls. Noch immer läuft sein eigenes Blut den Arm hinab und tropft lautlos auf die Küchenfliesen, aber seine Hand bleibt ruhig. So ruhig wie meine Stimme: „Dann stich doch zu.“ Er rührt sich nicht und das Grinsen auf seinem Gesicht gefriert. „Tu dir keinen Zwang an, Daniel. Allerdings solltest du aufpassen, denn mein Blut wird wahrscheinlich durch den Raum und an die Wände spritzen. Eine Unannehmlichkeit, die mich dann nichts mehr angeht, aber die für dich ein Problem darstellt.“ Daniel lächelt nicht mehr, doch Verwirrung ist in seinem Blick ebenso wenig zu lesen. Ich darf mich nicht fallen lassen, dennoch schreit meine Seele in diesem Moment nach Erlösung. Vielleicht kann die heutige Nacht mich von mir selbst befreien. Ich will mich nicht länger im Griff haben müssen, auch wenn ich sonst nichts mehr in meinem Leben besitze, abgesehen von meinem schwächlichen Herzen, welches noch immer unerträglich in mir schlägt. Die Macht in meinen Händen wird von Tag zu Tag schwerer. Doch ich weiß, Daniel wird es nicht tun. Plötzlich zuckt er mit den Schultern, drückt mir das Messer in die Hand und wendet sich ab. „Dann eben nicht. Ich verschwinde, Henri.“ Mit diesen Worten verlässt er die Küche. Ich bleibe stehen, bewege mich nicht, kein einziger Gedanke ist in meinem Kopf, nichts. Nach ein paar Sekunden, die mir wie eine Ewigkeit vorkommen, senke ich den Blick. Dort auf den Fliesen sieht man die Farbe von Daniels Blut, rot auf weißem Grund. Aus dem Wohnzimmer höre ich das leise Rascheln, als Daniel nach seinem Mantel greift, um zu gehen. Dann bin ich wieder ich selbst, spüre meinen Körper und mein Verlangen. Sofort löse ich mich aus meiner Starre und gehe mit schnellen Schritten aus der Küche hinter ihm her. Im Flur dreht er sich zu mir um und wirft seine langen Haare in den Nacken. In seinem Gesicht liegt ein hochmütig herausfordernder Blick, der das Blut in meinen Adern kochen lässt. Ich verliere für einen Moment die Kontrolle über mein Handeln, packe seinen Arm und schleudere Daniel gegen die Wand. Er stößt einen erschrockenen Schrei aus. Mit meinem ganzen Körper presse ich ihn gegen die Wand, will ihn nicht gehen lassen. Seine Stimme zittert leicht unter der Gelassenheit, mit der er mir sagt: „Lass mich los.“ Ich vergrabe mein Gesicht im Duft seines Haares und beuge mich schließlich tiefer. Meine Sinne sind wie benebelt. Ich kann nur einen Gedanken fassen, der ihm verborgen bleibt, weil ich ihn nie aussprechen werde. ‚Ich will dich wieder schreien hören.’ In meinen Träumen zerbreche ich seinen Hohn, die herablassende Überlegenheit. Ich zwinge ihn unter mich, mache ihn blind und entfremde ihn seines hochmütigen Blickes, bis er schreit, bis er mich anfleht, dass ich aufhören soll. Erst später, viel später, wird er wieder seinen Besitzanspruch auf mich verdeutlichen. Er wird wollen, dass ich weitermache. Plötzlich zwingt mich mein Gehirn zu diesen Wünschen. Kann ich es wirklich aussprechen, mein Verlangen? Meine Lippen gleiten über die Haut seines Halses. Daniel bleibt ruhig. Auch wenn er sich nicht bewegt, ist sein Körper keinesfalls verkrampft. Er will mich erniedrigen und ich will es auch. Warum wehrt er sich dagegen, mich zu verletzen? Ich schrecke nicht davor zurück. Meine Zunge spürt den Geschmack seiner Haut und das Blut, welches darunter pocht. Seinen beschleunigten Herzschlag kann er nicht vor mir verbergen. Ich beiße in sein Fleisch, doch er zuckt nicht zurück, sodass ich meinen Druck verstärke. Er soll den Schmerz so deutlich spüren, wie ich ihn in meinem Inneren erleiden muss. Daniel presst ein leicht ersticktes Stöhnen zwischen seinen Zähnen hervor. Mich durchströmt in diesem Augenblick eine unendliche Genugtuung. Ich vernachlässige den Druck auf ihn, doch er stößt mich von sich. An der ihm gegenüberliegenden Wand kann ich mich abfangen und sehe in sein Gesicht. Ich denke, dass mein Blick auf ihn gierig und brutal wirken muss. Tatsache ist, dass er mich verwirrt und erschrocken mustert. Dann schüttelt er kurz den Kopf, bevor er sich abwendet, um zu gehen. Erneut will ich ihn daran hindern. Meine Hand greift nach der seinen, aber Daniel entwindet sich mir mit einem Ruck und weicht zurück. Jetzt stehe ich zwischen ihm und der Ausgangstür und gehe einen Schritt auf ihn zu, doch er flüchtet in das nächste Zimmer. Kurz erwäge ich die Möglichkeit, ihm zu folgen, allerdings ist meine Wohnung groß und die meisten Zimmer sind nicht nur mit dem Flur, sondern auch untereinander verbunden. Das ermöglicht eine zu leichte Flucht; er könnte mir entkommen. Langsam drehe ich mich zur Eingangstür um. Ich nehme den Schlüssel vom Regalbord und schließe ab, bevor ich ihn lautlos in meiner hinteren Hosentasche verschwinden lasse. Dann sehe ich neben mich; ein weißer Kasten ist links vom Eingang an der Wand montiert. Ich öffne ihn, um über die vielen Schalter der Stromregulierung zu schauen. Ohne nachzudenken lege ich die Hauptsicherung um. Augenblicklich geht das Licht aus. In der Dunkelheit schärfen sich meine Sinne und ein angenehmes Zittern durchläuft meinen Körper vom Nacken bis in die Fingerspitzen. Leise schließe ich den Sicherungskasten. Ich kenne mich auch im Dunkeln in meiner Wohnung aus, ein unbestreitbarer Vorteil. Meine Schritte lenken sich zur Küche. Kein Laut ist zu hören, als würde alles den Atem anhalten. Ich male mir aus, dass auch Daniel in diesem Moment die Luft ausgeht und er von seiner Angst zermartert wird. In der Küche angekommen erahne ich die Stelle, wo das Messer noch immer auf dem Tisch liegt. Nach einigem ziellosen Herumtasten spüre ich den Griff in meiner Hand und hebe das Instrument, dessen Silhouette das Einzige ist, das ich in der Dunkelheit ausmachen kann, näher zu meinem Gesicht. Sollte ich es mitnehmen? Nein, denke ich, heute Nacht will Daniel nicht meinen Tod, darum will ich auch nicht sein Leben einfordern. Es ist mir ohnehin viel zu kostbar. Warum sollte ich mit der Klinge spielen, wenn ich ihn nicht verletzen will? Zumindest habe ich nicht vor, das Messer dazu zu benutzen. Behutsam und leise lege ich es wieder auf den Küchentisch und gehe zurück ins Wohnzimmer. Einen Augenblick bleibe ich wieder zögernd stehen und atme noch einmal die Luft meiner Wohnung ein. Was ich glaube zu vernehmen ist nicht der Geruch von Angst, Hass, Verzweiflung oder Liebe. Vielleicht liegt ein Hauch Erregung in der Finsternis. Ich höre nichts, sehe nichts, schmecke noch immer Daniels Blut auf meiner Zunge. Und dann fühle ich es. Völlig unvermittelt denke ich plötzlich wahrzunehmen, dass ich die ganze Zeit über seine Gegenwart spürte, ohne es selbst bewusst mitzubekommen. Es war schon die ganze Zeit da. Unaufhaltsam folge ich mit leisen Schritten der Präsenz meines Freundes. Während ich durch die verschiedenen Zimmer laufe, halte ich mich im Schatten, verschmelze mit der Dunkelheit. Dann scheint mir seine Gegenwart zum Greifen nah. Ich warte nicht und packe zu. Meine Hand liegt auf seiner Schulter. Er fährt erschrocken hoch, sagt allerdings kein Wort. Er will sich umdrehen, doch ich hindere ihn daran und ziehe ihn an mich. Mit dem Rücken zu mir gewandt umschlinge ich ihn mit meinen Armen. Daniel wehrt sich nicht. Vorsichtig setze ich meinen Fuß zurück, gehe ein paar Schritte rückwärts, bis ich gegen die Wand stoße, zusammen mit dem fremden warmen Körper, der sich mir nicht widersetzt. Die Atmosphäre der Nacht zerrt nun an mir, zieht mich hinab in die Tiefe, sodass ich an der Wand hinabrutsche, mit Daniel in den Armen. Nach einigen Minuten erst, in denen wir nur still dasitzen, erhebt er das Wort. „Henri? Was ist los?“ „Daniel...“ Sein Name ist ein Flüstern auf meinen Lippen und ich muss mich konzentrieren, um meiner Stimme wieder Festigkeit zu verleihen, bevor ich erneut beginne. “Daniel, die Dunkelheit ist der Tod. Stell es dir für einen Moment vor, dass du nicht mehr bist. Was würdest du tun, wenn ich dich jetzt töten wollte?“ Ich hebe demonstrativ die Hand und lege sie an seinen Hals. Er schmiegt sich näher in meine Umarmung. „Es wäre schade.“ Ich warte einen Augenblick, aber er redet nicht weiter. „Das ist alles?“ „Das ist alles.“ „Ich würde dich töten und du fändest es schade?“ „Ja...“ Nach einer Weile ergänzt er: „Ich habe noch einiges vor. Wenn ich tot bin, kann ich das nicht mehr nachholen. Das ist schade.“ Wieder umgibt uns die Stille wie ein dichter Vorhang, der von der Bühne des Lebens hinab gelassen wurde, um zu verdecken, was sich hinter dem Schauspiel in der Wirklichkeit ereignet. Ich denke an Gott und wie lächerlich es ist, an seine Existenz zu glauben. Hat Daniel seinen Glauben verloren? Es gibt kein Jenseits, kein Nirwana, keinen Himmel, nicht einmal eine Hölle oder Unterwelt, nur das Nichts, in das man fliehen kann. Hat er davor Angst? „Wenn du noch etwas vorhast, warum würdest du mich nicht daran hindern, dir dein Leben zu nehmen?“ „Wieso sollte ich? Ob ich jetzt sterbe oder später, das spielt doch keine Rolle. Sobald ich tot bin, interessiert es mich sowieso nicht mehr. Egal, ob ich noch etwas unternehmen wollte, ob ich alles erreicht habe, was ich wollte, ob ich den Tod wollte oder ob ich glücklich war und leben wollte. ...Was rede ich eigentlich? Du weißt doch, was ich meine.“ „Ja.“ Das ist alles, was ich sage. Ja. Daniel schweigt wieder. Mein Kopf ist völlig leer und dabei so überfüllt, dass ich nicht weiß, was ich denken soll. Bin ich unsicher? Nein, das ist es nicht. Irgendetwas fehlt. „Daniel.“ Ich ringe mit den Worten. „Es ist lange her... Damals fühlte ich die Angst vor dem Tod. Ich stellte mir vor, wie es sein würde. Nichts wäre von mir übrig, nur mein verrottender Körper in irgendeinem Grab zwischen vielen anderen Toten, die genauso wenig wie ich wissen, dass sie nicht mehr leben. Niemand würde sich später an mich erinnern, auch wenn am Anfang Blumen die Erde über mir schmücken, Blumen, die mich nichts mehr angehen, wenn ich nicht mehr lebe. Man würde mich vergessen, und sollte es doch nicht so sein, dann hilft mir das auch nicht, denn ich lebe nicht mehr. Verstehst du? Ich lebe nicht mehr.“ Ich halte inne. Warum erzähle ich das alles? „Ich versuche es noch heute, versuche mir das Bild vor Augen zu rufen. Ich sage es mir unaufhörlich; du stirbst, du stirbst, du stirbst, du stirbst, du stirbst. Aber da ist nichts, keine Angst, keine Verzweiflung. Vielleicht fordere ich es heraus, um durch meine Todesangst zu spüren, dass ich lebe. Am Ende spüre ich jedoch gar nichts.“ Mir ist einen Moment schwindlig von den vielen Worten, die mein Mund nicht zu sprechen gewohnt ist. Daniel fragt sarkastisch: „Ist deine fehlende Todesangst möglicherweise auf deine Sehnsucht danach zurückzuführen?“ „Daniel, diese Frage könnte ich genauso gut dir stellen. Jeder verspürt doch Todessehnsucht. Den Tod will ich nicht unbedingt, aber das Sterben würde mich schon reizen.“ Daniel sagt nichts, aber ich bin mir sicher, dass er lächelt, auch wenn es in der Dunkelheit nicht zu erkennen ist. Schon lange habe ich, ohne es zu merken, den kalten Ton abgelegt und rede mit ihm, meinem besten Freund, wie nie zuvor. Auch jetzt spreche ich weiter. „Jeder kann nur einmal sterben. Ich würde das nicht vergeuden, sondern den Todesengel persönlich bitten, mein Leben auszuhauchen.“ Daniel lacht und fragt: „Soll das eine Liebeserklärung sein?“ „Auf keinen Fall. Liebe ist nur ein Spiel, bei dem es keinen Gewinner gibt.“ „Wer sich verliebt, verliert“, antwortet er. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)