Nucleus von Grave ([Avenged Sevenfold]) ================================================================================ Kapitel 1: Nowhere ------------------ Ein Star zu sein hieß Sex, Drogen und Party. Sex. Drogen. Party. Drei Wörter, die Materie hatten und mit denen ich sehr leicht etwas anzufangen wusste. Sie ließen keine Fragen offen oder verwirrten mich mit irgendeinem schwierigen Kontext. Sex. Drogen. Party. Ich hätte es in jedem Vertrag unterzeichnet. Mit einem großen, schwungvollen SG, so wie es Rockstars taten und so wie ich es tun würde. Denn ich war jetzt ein Rockstar oder ich kam mir wie einer vor. Aber die Linie zwischen Sein und Werden war sehr dünn geworden in den letzten Monaten. Und was war jetzt? Jetzt steh Ich in New York fucking City und fror mir die Eier ab. Wie ein fucking Rockstar und die einzige Droge die ich habe, ist die halb abgebrannte Zigarette zwischen meinen Fingern, die nach Scheiße schmeckt, weil der Tabak aus dem letzten Jahrhundert sein musste. Neunzehn verdammte Jahre alt und irgendwo in New York – ich habe keine Ahnung, wo genau wir sind, nur dass es nicht der scheiß Time Square ist – am kältesten Tag des Jahres. Das sagte der Wetteransager zumindest im Fernseher, hinter der Glasscheibe, in einem Fernsehladen wo ich und er stehen, zwei schwarze Gestalten im weißen Schnee. Armselige Gestalten nur in zerfetzten Jeans, Chucks und einer ausgebeulten Jacke, weil ein verdammter scheiß Rockstar nicht mehr zum Leben braucht. „‘N Eissturm.“, sag er neben mir. „‘N Eissturm.“, wiederhole Ich und schieb beide Hände in die Jackentaschen, als er mir die Zigarette abnimmt um selber dran zu ziehen. Wenn ich’s nicht tun würde, dann würden mir wohl die Hände abgefallen. Alles nur, weil es so verdammt cool aussah, wenn deine Handschuhe keine Finger mehr hatten. Half dir nicht im Dezember, am kältesten Tag des Jahres. „Scheiße, man.“, murmelt er und pustet den Rauch aus, der sich mit den kleinen Schneeflocken vermischt. „Ja, scheiße.“, antworte ich und beweg meine Füße, bevor sie am Boden festfrieren, in etwa so wie meine Hose schon an meinem Arsch festgefroren sein muss. Er überreicht mir wieder die Zigarette und ich zieh dran. Bis der Rauch in meinem Mund ankommt, ist er schon kalt. Doch die Spitze leuchtet in der Nacht. Schönes Feuer. Wirklich schön. „Ich kotz noch. Echt, man, ich schwör dir, ich kotz noch...“, sagt er typisch schleppend, total im Southern Akzent Stil. Total Badass. „Dafür is‘ nichts mehr im Magen übrig...“, sag ich mit dem schwachen Versuch einen Witz zu machen, aber meine Mundwinkel sind festgefroren und seine ebenso, also lassen wir es beide. Ein Dollar am Tag war ein Scheißdreck. Du musst eine Woche sparen um dir mit dem Geld etwas kaufen zu können. Fuck you, Matt, dachte ich, fuck you. Mit einem leisen, schwermütigen Seufzen wendet er sich vom Fernseher ab und trabt den schneebedeckten Bürgersteig entlang. Und ich lauf ihm hinter her. Wie immer. „Zurück?“, frag ich. „Nein.“, antwortet er und deutet nach vorne auf die leuchtende Reklame von McDonalds. „Nein.“, sag nun ich. „Doch. Ich will’s mir vorstellen.“, sagt er und geht weiter ohne mich anzusehen und ich folge ihm mit dem Blick die ganze Zeit auf seinem Rücken. Deswegen stehen wir da wenig später. Vor McDonalds und schauen Leuten zu, wie sie essen. Ich hör wie mein Magen knurrt und ich will mich umdrehen, abwenden, das nicht mehr sehen, wenn ich das letzte Mal vor zwei Tagen etwas richtiges gegessen habe. Er hält mich fest. Seine dicke, kleine Hand schiebt sich zu mir in meine Jackentasche und er verhakt dort unsere Finger. Seine Hand ist eiskalt. Wirklich kalt. Noch kälter als meine. Darum drücke ich sie ganz fest. Damit sie bloß schnell, schnell wieder warm wird. Und schaue weiter zu, wie sich die Leute Burger reinschieben, ohne groß darüber nachzudenken. Irgendwann mal. Vor einem halben Jahr habe ich auch zu denen gehört. „Dein Dad?“, fragt er mich. Ich schüttele den Kopf. „Der hasst mich.“ „Stimmt nicht.“ Jetzt nicke ich. „Er ist einfach nur ein Arschloch.“ Kein Cent kriegst du mehr! Keinen Cent! Entweder komm wieder Heim, oder du kriegst keinen Cent mehr! – Das hat er gesagt bei meinem letzten Anruf. Eindeutige Sache. Ließ auch nicht viele Fragen offen. Leck mich, hab ich dann gesagt und er hat aufgelegt. Arschloch. „Wieso?“ Er schaut mich an mit großen, großen grünen Augen. So grün. Grün. Grün. Ich zucke nur mit den Schultern und lehne meine Stirn gegen seine. Sie ist warm. Richtig warm. Leicht puste ich ihm ins Gesicht. Bis sein Atem bei mir ankommt ist er kalt. Er sieht mich an, direkt in meine braunen, braunen Augen und sagt nichts. Es ist fast so als würde er lächeln, aber ich kann’s nicht genau sehen. „Zurück?“ Diesmal schüttele ich den Kopf. „Nee.“ „Wohin?“ „Keine Ahnung. Weiter.“ Ich zieh ihn mit mir, unsere Hände immer noch verflochten in meiner Tasche. Sie ist immer noch kalt. Andererseits passt sie perfekt in meine. Wir laufen die Straße entlang. Keiner schenkt uns Beachtung. Zwei Punks im nirgendwo von New York. Aber es ist spät. Deswegen sind’s nicht zu viele, die uns ignorieren. Wenn ich da Heim wäre. In Huntington Beach. Da wo es jetzt sicher nicht so kalt wäre. Dann würde ich jetzt irgendwo sitzen. Mit meinen Freunden. Und wir würden etwas trinken. Viel Alkohol, der uns wärmt. Dann würde ich mir nicht die Eier abfrieren und vor Hunger durchdrehen. Dann wäre ich satt und mir wär warm. Plötzlich bleibt er stehen und hustet. Er hustet schon seid einer Woche, doch bis jetzt war es noch nicht so heftig. Seine kleine, dicke Hand krampft sich um meine zusammen und mir geht sein Husten durch den ganzen Körper. Die andere presst er brutal auf seinen Mund, als wollte er es in sich halten. Erst nach einer halben Ewigkeit beruhigt er sich wieder. „Fuck...“, murmelt er. „Du bist krank.“ Ich versuch cool zu klingen. Wie Synyster eben, dem die ganze Welt am Arsch vorbei geht und der alles weiß. „Fuck you.“, raunt er und streicht sich schwarzlila Strähnen aus der glänzenden Stirn. Er entzieht mir seine Hand und geht weiter. Beide Hände in den eigenen Taschen vergraben. Ich kann wieder nur auf seinen Rücken starren. Dann folge ich ihm, hole auf, so dass wir wieder dicht nebeneinander gehen. Beide die Hände vergraben und den Blick auf den Boden gerichtet, oder grade aus, oder zum Himmel der dunkel und endlos schien. Eine große schwarze Decke über uns. Kein Mond. Keine Sterne. Nichts. Nur Schneeflocken, die im Licht der Straßenlaternen zu Boden tanzen. Irgendwann sehen wir uns einer Kreuzung gegenüber. In die eine Richtung geht es in einen Park, nicht der Central Park, dazu ist die Gegend mittlerweile zu runtergekommen in der wir uns verlaufen haben, aber ein Park. Das Grün begraben unter Weiß. Eine Hügellandschaft aus weiß, nur die Wege sind frei und Bänke mit Lampen bilden Flecken. Er schaut zu mir und wir tauschen unsere Gedanken aus, so wie wir es immer tun, bevor ich Anlauf nehme um die Eisenstangen des Tors hochzuklettern. Wären meine Finger nicht eh schon durchgefroren wäre mir das Metall wohl vorgekommen wie Rasierklingen. Ich bin oben und dann springe ich runter, neben mir wirbelt Schnee auf. Wenig später tut er es mir gleich, weniger schnell und behänd wie ich und als er neben mir steht im Schnee geht sein Atem schwer und seine Wangen sind noch tiefer rot. Obwohl es an die null Grad ist, glänzt sein Gesicht nass. Aber ich sage nichts. Kann mir egal sein. Er weiß was er tut. Zumindest hoffe ich das. Zusammen gehen wir weiter. Der Park hat ein Tor, aber keinen Wächter, deswegen wird uns auch keiner stören. „Du solltest zum Arzt.“, meine ich leise, nachdem wir einige Schritte gegangen waren und ich mir noch einmal eine Hustenanfall anhören musste. „Ich bin nicht krank.“, sagt er sicher. So stur wie immer. „Doch bist du.“ „Nein, bin ich nicht und wenn, dann ist es nur eine Erkältung und die geht dich einen Scheißdreck an!“ „Aber du kannst ja mal zum Arzt gehen.“, schlage ich vor. Mir wird das Thema zu blöd. Am liebsten hätte ich nichts mehr gesagt. „Warum?“ Er hält mich am Arm fest und sieht mich an. Wieder direkt in die Augen und ich schaue zur Seite. „Weil ich mich nicht anstecken will.“, murmel ich und seine Hand geht weg von meinem Oberarm. Er sieht mich auch nicht mehr an. „Können uns eh keine Medizin leisten.“ „Irgendwie würden wir’s schon kriegen.“ „Wie denn? Wir haben nicht mal genug zum fressen! Wir haben seid zwei Tagen nichts mehr anständiges gegessen! Wir haben nicht mal Geld für ne Jacke! Wir frieren uns den Arsch ab! Für was? Für nichts und wieder nichts! Für Ruhm der nie kommen wird! Für fünfzig Leute, die auf uns scheißen!“ So viel hat er in den letzten Wochen nicht an einem Stück gesagt. So viel hat er noch nie zu mir an einem Stück gesagt. Er hustet wieder. So brutal , dass er in sich zusammen sinkt und zittert. Ihm geht’s nicht gut. Ihm geht’s seid einem Monat nicht gut. Er ist nicht nur krank und hungrig, er ist auch noch auf Entzug. Auch wenn er’s nicht sagt, ich weiß es. Er hat kein Geld mehr dafür. Seid unsere Ersparnisse geklaut wurden. Ich weiß nicht ob er grade mehr für eine Line geben würde, als für einen Hot Dog. Brian Haner sagt: Nimm ihn in den Arm. Synyster Gates sagt: Dieser dumme Wichser! Soll er doch Heim rennen in seine Bruchbude! Und ich sage: „Willst du Heim?“ „Nein.“, antwortet er schwach und schüttelt den Kopf. „Warum nicht? Wenn’s dir so scheiße geht.“ Da Heim bin ich ein jemand im nirgendwo. Da bin ich lieber im irgendwo ein niemand. Wieder schüttelt er den Kopf, bevor er weiter den Weg entlang geht. Am Ende stößt man auf einen Teich. Kein Teich. Größer. Aber kein See. Keine Ahnung wie das heißt. Es ist Wasser und es ist zugefroren und vor dem Eissee setzt er sich auf eine Bank und ich neben ihn. Es ist zwar kalt, aber mittlerweile ist alles kalt. Wir schweigen und starren auf die große weiße Fläche vor uns. Da rückt er näher an mich ran, ganz dicht, so dass kein Blatt mehr zwischen uns passt, keine Schneeflocke und er ist warm. Ganz warm. Ich kann das Fieber förmlich spüren, so dicht wie er bei mir ist. Nach kurzen zögern lege ich seinen Arm um ihn und er rutscht tiefer in mich hinein, die Hand wieder bei meiner Hand in der Jackentasche. Unsere Finger verhakt. „Mir geht es nicht gut.“, murmelt er. Zumindest glaube ich, dass es das ist, was er sagt. Ich kann ihn kaum verstehen, da er es vorzieht mit meiner Schulter zu reden. Und ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. Uns allen geht’s nicht gut. Uns allen nicht, aber ihm geht’s wohl am schlechtesten. Ich drehe meinen Kopf zur Seite, atme tief den Geruch seiner Haare ein. Es ist nur sein Geruch. Wäre ich jetzt in Huntington Beach. Dann wär mir nicht kalt. Dann hätte ich keinen Hunger. Aber ich würde jetzt auch nicht hier sitzen. Ich wär nicht bei ihm. Denn in Huntington Beach...sind wir keine Freunde. Freunde und etwas, auf das ich nicht mit dem Finger zeigen will. Das konnte noch warten bis in zehn Jahren. Wenn’s dann immer noch da war. Mein Magen knurrt und ich schließe meine Augen. Wir laufen die ganze Nacht ziellos umher auf der Suche nach nichts und allem. Ablenkung. Hauptsache nicht dran denken. Ich kann meinen Dad nicht mehr für Geld anrufen. Der hat mir schon mehr gegeben als mir zusteht. Er kann seinen Dad erst recht nicht anrufen. Der ist ebenfalls irgendwo und nirgendwo. „Wir sind am Arsch.“ Er lacht leise, es klingt heißer und gezwungen, aber es ist ein Lachen, zumindest der Versuch, und den habe ich schon lange nicht mehr gehört. Deswegen lächele ich auch. „Wie stellst du’s dir vor?“, fragt er leise und streicht mit seinem Daumen über meinen Handrücken. Unsere Finger sind langsam warm. Oder so nah, wie wir an warm rankommen können in der kältesten Nacht. „Hm.“, sage ich. „Hm?“, fragt er und schaut mich an. Ich schau zur Seite. In die grünen, grünen Augen. Jetzt sind sie etwas glasig. Er hat Fieber. Es schlägt mir förmlich in mein Gesicht. „Ich weiß nicht.“ Ich war kein großer Redner. „Wie ich’s mir vorstell? Wow.“ Ich runzele die Stirn als dachte ich schwer nach, aber ich wusste es. „Wir stehen auf einer Bühne. Ne richtig große. Wie die Arena in Long Beach. Ja, da stehen wir. Und wir sind alle voll mit Tattoos. Und wir stehen da vor zehntausend Leuten oder hunderttausend. Und es ist die beste Show, die wir je hatten. Denn wir sind ganz groß und ich werd mich nicht mehr an New York erinnern. Nicht an diese scheiß Zeit, wo ich beinahe erfroren wäre. Oder verhungert. Je nachdem was mich früher geholt hätte.“ Ich stocke und schaue zur Seite. Er hat die Augen geschlossen und lächelt leicht. Aber ich weiß, dass er nicht schläft. So viel hab ich noch nicht zu ihm gesagt, seid ich ihn kenne. Das müsste jetzt ein Jahr sein. „Und alle Kids schreien unseren Namen. Alle kennen jedes einzelne Wort unserer Texte. Und Shads ist der beste Sänger und Rev der beste Drummer und Christ der beste Basser und du...du bist der beste Gitarrist.“, führt er leise fort. Ich schau ihn lange, lange an. „Wir.“ „Wir?“ „Du und ich. Ich und du. Wir sind die besten Gitarristen. Wir.“ Er lächelt wieder. Diesmal etwas heller. Das Lächeln, dass man so selten sieht. Und jetzt seh ich es in einer kalten New Yorker Nacht. Die nicht mehr ganz so kalt ist, mit seinem Körper gegen meinen. „Du verglühst.“, sage ich leise. Er schaut mich an und schüttelt den Kopf. „Es ist okay.“ „Nichts ist okay.“ Ich lehne mich nach vorne. Seine Stirn gegen meine. Und ich spüre die Hitze. Er ist glühend heiß. Es scheint sich wie ein Feuer über mein eingefrorenes Gesicht zu verbreiten. Wir brauchen einen Arzt. Ein Bett. Medizin. Aber wir haben nichts. Nur uns. Er lacht. Diesmal irgendwie nervös. Diesmal irgendwie unsicher und er legt seine eiskalte, kleine Hand an mein Wange. „Du hast noch nichts von Nutten und Stripperinnen erzählt. Von tausend nackten Frauen in deinem Bett und der einen, absolut coolsten Rocker Braut, die du in Las Vegas heiraten wirst.“, meint er leise, aber sein Ton ist dabei belegt. Ich kenne ihn zu gut. Er umschreibt gerne Dinge, um zu seinem eigentlichen Punkt zu kommen. Bei ihm brauch man viel Interpretationsgeschick. Für mich ist er ein offenes Buch. In dem Moment in dem er die Augen langsam schließt, beuge ich mich nach vorne und lege meine Lippen auf seine. Ich küsse ihn ganz sanft. Meine kalten auf seinen warmen. Seine Finger streichen ganz leicht meine hohen Wangenknochen nach. Kaum zu unterscheiden von den Schneeflocken, die auf uns nieder rieseln. Ich schmelze an seinem warmen Mund. Er ist ganz vorsichtig, zaghaft. Als wäre ich der aller erste, den er jetzt küssen würde. Und die Nacht ist nicht mehr kalt und mein Magen tut nicht mehr weh, denn ich konzentriere mich nur noch auf ihn. Er bietet genug um mich abzulenken und genug auf das sich all meine Sinne fixieren können. Ich weiß nicht was wir genau sind. Ich weiß nicht einmal wo wir genau sind. Aber sein Geschmack ist das süßeste, was ich seid langem auf der Zunge hatte. Ich stecke mich gerade mit Sicherheit an. Doch eine leise Stimme flüstert in mein Ohr, dass wir dann Heim könnten. Alles zieht mich nach Hause und alles zieht mich in seine Arme. Er krallt sich so fest an mich, als könnte ich jeden Moment aufstehen und für immer weggehen. Ihn alleine lassen in dieser kalten Nacht. Meine Finger verfangen sich in seinem schwarzen, feuchten Haar. Die schwarzlila Strähnen gleiten leicht durch meine Hand. Er erzittert, sein Körper verspannt sich und er wendet plötzlich den Kopf zur Seite, vergräbt ihn in meiner Halsbeuge und hustet brutal. Als würde er am liebsten alles auskotzen, was ihn krank macht. Damit waren wohl nicht nur die Bakterien gemeint. Ich schließe meine Arme um ihn und ziehe seinen Geruch durch meine Nase ein, streiche ihm beruhigend über den Rücken. Wie lange mussten wir es noch durchhalten bis es endlich bergauf ging? Wie waren wir je auf die absurde Idee gekommen jemals so groß zu sein wie unsere Vorbilder? „Du musst nicht bei mir sein, nur weil Matt es dir sagt.“ Seine Stimme klingt so kläglich, dass ich ihn nur dichter an mich ziehe. „Was meinst du?“, frag ich nach, um mir Zeit zu verschaffen. Ich weiß immer, was er meint. „Du musst nicht bei mir sein, nur weil Matt es dir sagt.“, wiederholt er. „Ich weiß nicht...“ Ich werde unterbrochen noch ehe ich etwas sagen kann. „Du weißt genau was ich meine! Hör auf mir nachzulaufen, egal wohin ich gehe, nur weil Matt dir gesagt hat du sollst es tun. Nur weil du meinst es tun zu müssen! Mir ist es scheiß egal! Ich brauch dich nicht als Schatten, damit ich nicht in der Scheiße lande!“ Er drückt sich weg von mir und steht auf, dreht mir den Rücken zu und blickt auf den weiten Eissee. „Ich will dich nicht bei mir, wenn du musst.“ Dann geht er. Gerade aus. Direkt auf das gefrorene Wasser zu. „Bleib hier!“ Ich stehe auf. Plötzlich verkrampft sich alles in mir. Wer weiß schon wie sicher das Eis ist. Wer weiß schon wie tief der See ist. Doch er hört nicht auf mich. Er hat es noch nie getan. Er setzt vorsichtig einen Fuß auf die glatte Fläche. Dann einen zweiten. Den ersten vor den zweiten gesetzt und so läuft er weiter hinaus. Immer weiter weg vom Ufer und ich kann das Eis unter seinem Gewicht knacken hören. „Komm wieder her!“, rufe ich ihm zu und laufe zum Ufer. Weiter gehe ich nicht. Ich sollte auf ihn aufpassen. Matt hat es mir eindringlich gesagt. Seine große Hand hatte sich um meinen Oberarm geschlossen wie ein Schraubstock und er hat mich angesehen. Pass auf ihn auf! Lass ihn nicht aus den Augen! Nicht einen Augenblick! Was jetzt? Unruhe macht sich in mir breit. „Komm wieder zurück!“, rufe ich erneut. Er bleibt erst stehen, als er genau in der Mitte angekommen ist. Dort, wo das Eis am dünnsten ist. Wenn er einbricht, holt er sich den Tod. Er ist krank. „Komm mich doch holen!“, schreit er aus der Ferne. Das Eis kann uns nicht tragen. Es kann uns beide nicht tragen. Wir würden beide untergehen. Aber dafür bin ich noch nicht bereit. Wenn wir schon in dieser großen, weiten Welt untergehen. Unsere Songs ungehört, unsere Musik ungeliebt, dann will ich nicht auch hier versagen und es nie wieder besser machen können. „Komm bitte wieder her!“ Ich hasse den Ton in meiner Stimme. Als würde jemand anderes sprechen. „Komm mich holen!“ Er stampft mit dem Fuß auf. Das Eis stöhnt wehleidig unter ihm auf. Ich blicke vor mich. Tief atme ich durch. Verdammt. Verdammte Scheiße. Ich setze einen Fuß auf das Wasser, dann den zweiten. Ich schlittere und gehe langsam. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Wir würden uns beide den Tod holen. Doch ich gehe. Schritt für Schritt. So wie ich ihm immer folge. Egal wohin er geht - ich bin hinter ihm. Gerade als ich bei ihm ankomme, hustet er wieder, ich sehe dass seine Knie zittern und ich bin sofort bei ihm. Seine Finger verfangen sich in meiner Jacke und er legt die Stirn gegen meine Brust und hustet, hustet und hustet. Verdammt. „Ich hasse es!“, presst er hervor. Sein ganzer Körper zittert und die Hitze von seinem Fieber scheint mir sogar durch die Kleidung entgegen zu schlagen. Als er aufsieht sind seine grünen Augen ganz glasig. Ich kann mich selbst in ihnen Spiegeln. Der Boden unter meinen Füßen ist unsicher. Ich kann das Wasser unter dem Eis förmlich spüren. „Komm, wir gehen zurück.“ „Es gibt kein Zurück.“, murmelt er. Langsam spricht das Fieber aus ihm und ich mache mir Sorgen. Einen Arzt. Einen verdammten Arzt. Und viel wichtiger: Ein Bett. Ein warmes Bett. Etwas zu essen noch. „Wieso sind wir hier? Wieso verdammt? Ich kann nicht mehr! Ich will nach Hause!“ Er klingt als würde er gleich ersticken. „Komm wir gehen zurück.“ Ich schließe meine Arme fest um seine zitternde Gestalt. Wieder hustet er. „Gott, ich will nach Hause. Das hier ist kein Rockstar Leben. Wieso?“ Seine grünen Augen bohren sich in meine. Ich will wegschauen, kann aber nicht. „Lass uns bitte gehen.“ Ich spür es ganz deutlich. Das Eis knackt, als ich einen Schritt nach hinten mache. „Wir gehen nirgendwo hin!“, schreit er mir plötzlich entgegen. „Wir gehen nirgendwo hin! Verstehst du das nicht! Wir sind festgefroren!“ Das ist nicht er, der da spricht. Ich schüttele den Kopf. „Zack, bitte.“ Er presst seine kalten Hände an meine Wangen und zieht mich hinab zu ihm, drückt seine Lippen mit Gewalt auf meine, als wollte er mir den Atem aus den Lungen pressen. Es hat den gleichen Effekt auf mich wie immer. Ich verliere mich in ihm. Wie ich es vom ersten Augenblick an getan habe. Damals. Vor einem Jahr. Da Heim. Zwei Puzzel Teile, die mit einem Klicken zusammen kommen. Doch bald wird der Kuss weicher, seine Zunge gleitet in meinen Mund ich nehme seinen heißen Geschmack auf. Es ist gut so. Ich kann das durchstehen. Ich kann das wirklich. Lieber frier ich mir den Arsch ohne Geld ab, als ihn zu verlieren. Er ist krank und sein Körper schreit nach einem Mittel, dass ihn wieder aufputscht. Lieber bin ich das Mittel, als irgendein weißes Pulver, das ihn tötet. „Verlass mich nicht...“ Seine Stimme zittert, plötzlich ganz schwach und als ich über seine Wangen streiche, unser Atem sich in kleinen, weißen Wolken verbindet, spüre ich dass sie nass sind. „Lass uns bitte gehen.“, hauche ich und fange die kalten Tränen auf, sie sind ganz heiß und gefrieren fast augenblicklich an der Luft. „Versprich mir, dass du da bleibst.“ Ziellos fährt er mit den Fingerspitzen meine Wangen entlang. Wie ein Blinder. Ich antworte ihm nicht, sondern ziehe ihn mit mir. Als ich hinter ihn blicke, sehe ich, dass sich das Eis unter seinem Fuß gelöst hatte. Schweigend lässt er sich ziehen. „Wir schaffen das.“, sage ich, als ich ihn weiter mit mir schleppe. Vom Eissee runter und auch aus dem Park. Aber ich bin mir selber nicht sicher. Irgendwie schaffen wir es wieder über den Zaun. Auf der anderen Seite bricht er aber erschöpft in meinen Armen zusammen. Er brennt förmlich. Ich nehme ihn auf den Rücken und trage ihn. Er ist leicht geworden. Wir alle haben abgenommen, aber erst ist ein Fliegengewicht. „Wir schaffen das.“ Hinter den Hochhäusern sieht man schon die Sonne aufgehen. Wir haben eine Nacht überstanden. „Wir schaffen das.“, murmele ich wieder und gehe schneller. Sein Atem schlägt mir warm gegen mein Ohr. „Wir schaffen das ganz bestimmt. Wäre doch gelacht. Die Welt kann uns mal am Arsch lecken!“, sage ich lauter, also wollte ich mir selbst Mut zusprechen. Er lacht leise. „Wir. Heißt das du und ich?“ Ich nicke sicher. Er. Ich. Wir. Er und ich. Du und ich. Zusammen. Wir. Zacky Vengeance und Synyster Gates. The best revenge is bettering yourself. “Zacky?”, frage ich leise. Er gibt mir keine Antwort. Ich schaue besorgt über die Schulter. Er schläft. Sein Atem ist flach und sein Gesicht ziert ein deutlicher Rotschimmer. Er hört mich nicht mehr. „Ich bleib da...“, flüstere ich in die Nacht. Zusammen mit ihm auf dem Rücken komme ich bei unserem Tourbus an. Dem weißen abgewrackten Van von den Berrys. Der Motor läuft, damit die Heizung geht. Das Fenster ist beschlagen. Mit dem Fuß trete ich gegen die Tür, so lange bis mir Matt aufwacht. Dunkle Ringe liegen unter seinen Augen, er ist leichenblass, das schwarzgefärbte Haar hängt ihm wirr ins Gesicht. Sofort zieht er mich und ihn in den Van und schließt die Tür. Vorwurfsvoll bohrt sich sein Blick in mich. Du solltest auf ihn aufpassen. Was jetzt? Was verdammt nochmal jetzt? What the fuck now? Sofort packt Matt ihn in die Decken ein, die wir da haben, schiebt Jimmy und Johnny so weit zur Seite, dass wir Platz haben. Die ganze Zeit bleibt seine Hand festgekrallt in meiner Jacke. Mir scheint es nicht verlockend ein niemand im irgendwo zu sein, genauso wenig wie ein jemand im Nirgendwo. Wir schaffen das. Ganz sicher. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)