Hintergrundrauschen von Memphis ================================================================================ Kapitel 18: Zeitparadoxa ------------------------ „...“, schwieg ich in den Hörer einer Telefonzelle. Ich war gerade von Frau Doktor Schwelstein gekommen, die mich darüber aufgeklärt hat, dass es mir rein gar nichts bringt, nicht in die Therapie zu gehen, Probleme hatte ich trotzdem. Als wüsste ich das nicht selbst, aber ich hatte eben keine Lust, mir das jede Woche anzuhören. Sie konnte sowieso froh sein, dass ich mal wieder gekommen war. „Donnie?“, fragte Pascal unsicher. Wer sonst? Mein Schweigen war doch unverkennbar. „...“ Ich kam mir etwas doof vor, aber ich wollte wenigstens kurz Bescheid sagen, dass ich vor hatte doch noch bei ihm einzufallen. Ich wollte nämlich erst mal nicht nach Hause. „Uhm... willst du kommen?“ Ich kratzet am Hörer was ein „Ja“ bedeutete. Ein bisschen musste man sich ja verständigen können am Telefon. „Soll ich dich abholen?“ Zweimal Kratzen, also Nein. „Oh, okay... ich bin jedenfalls daheim, komm einfach vorbei. Meine Mutter kocht auch sicher noch mal extra was für dich.“ Ich konnte Pascals Grinsen hören. Er fand es sehr lustig, dass seine Mutter so vernarrt in mich war. Aber was soll man sagen, sie war ja auch eine coole Mom. Mittlerweile wusste ich sogar, wie ich mit dem Bus zu Pascal kam, aber er holte mich meistens trotzdem ab oder nahm mich gleich nach der Schule immer mit. War mit dem Auto auch nicht allzu weit, musste man zugeben. Aber von der Innenstadt aus war es leichter, einfach mit dem Bus zu fahren. Außerdem wollte niemand bei dem Wetter gerne Auto fahren. Es schneite, als würde ein Verrückter Schnee wie Puderzucker über die Stadt verteilen, kalten, nassen, ekligen Puderzucker. Ich legte mir den Schal wieder enger um den Hals, zog die Mütze mehr in mein Gesicht und verließ dann die Telefonzelle. Sofort wurde ich von diesem dämlichen, weißen Zeug angeweht und ich merkte, wie meine Hose, die immer etwas am Boden schleifte, langsam aber sicher sich mit Feuchtigkeit vollsaugte. Ich stapfte missmutig zum Busbahnhof und hoffte, dass der nächste Bus zu Pascal in den nächsten fünf Minuten kam, sonst würde Pascal einen Schneemann begrüßen dürfen. Ich wollte jetzt etwas warmes, heißen Kakao oder einfachen einen Tee. Ich mochte Tee eigentlich nicht, aber er wäre warm. Hm, ob Pascals Mutter mir wohl einen Kakao machen würde? Mit so kleinen Marshmallows drin. Ich sollte mal fragen. Der Bus sollte schnell kommen. Ich überlegte mir kurz, ob ich mir eine Zigarette anstecken sollte, aber mit Handschuhen war das immer total bekloppt, außerdem mochte es Pascal nicht, wenn ich nach Rauch roch. Prinzipiell war es mir ja egal, ob er meinen Geruch mochte oder nicht, aber wenn ich schon ständig bei ihm rumhing, sollte ich vielleicht etwas kooperativ sein. Der Busfahrer schaute so missmutig, wie seine Fahrgäste. Mich würde es auch ankotzen bei dem Wetter so ein Gefährt fahren zu müssen, aber immerhin bekam er Geld dafür. Ich trat in den Bus und hätte mich beinahe total auf die Schnauze gelegt, da der Boden im Bus nass war und meine Schuhe einfach nicht für so Wetter gemacht war. Ich fing mich an einem Sitz ab und bemerkte ein Kichern weiter hinter im Bus. Vielleicht hätte Pascal mich doch abholen sollen. Aber dann hätte er sich bestimmt gewundert, dass ich in der Stadt war. Er wusste nichts von der werten Frau Doktor, die mein Hirn wieder in Ordnung bringen sollte. War ja auch nicht weiter wichtig. Ich setzte mich in eine freie Bankreihe und legte meinen Rucksack neben mich. Ich wollte definitiv nicht, dass sich einer dieser nasse, vollgeschneiten Leute neben mich setzten. Am Ende waren die noch krank und steckten mich an. Ich hatte erst eine Erkältung hinter mir, ich brauchte nicht schon wieder eine. Zum Glück lag die Bushaltestelle nicht weit von Pascals Haus weg, noch mehr Draußen könnte ich nämlich nicht mehr ertragen. Ich hatte kaum die Klingel berührt, als mir auch gleich die Türe geöffnet wurde. Pascals Mutter. Sie konnte von der Küche aussehen, wenn jemand von dem Gartentor zur Haustür ging. „Johannes! Endlich bist du da! Ich dachte schon, die Busse fahren bei dem Wetter nicht mehr und du sitzt irgendwo fest.“ Ich fühlte mich etwas adoptiert, lächelte aber zur Begrüßung. Bestimmt würde sie mir gleich warmen Kakao anbieten, hoffentlich. Warmer Kakao. „Dann kann ich ja jetzt beruhigt los.“ Erst jetzt bemerkte ich, dass sie schon einen Mantel und Stiefel trug. Kein Kakao? „Ich hab dir Essen hingestellt, dass du dir warm machen kannst.“ Naja, wenigstens etwas. Ich schaute ihr wohl etwas bedröppelt nach, aber wer würde das nicht in meinem Fall? Ich hatte mich schon so auf das warme Getränk gefreut. Vielleicht sollte ich Pascal fragen. Ich zog meine Schuhe und mein Jacke aus, stopfte meinen Schal und die schwarze Mütze in einen Jackenärmel und schlüpfte in die Hausschuhe für Gäste. Ich war hier mittlerweile schon so oft gewesen, dass ich mich manchmal fühlte, als würde ich nach Hause kommen und nicht in das Haus eines Freundes. „Jo, Alter, was geht?!“ Ich schaute Pascal entsetzt an und der lachte laut. Er saß vor seinem PC und schaute auf Youtube ein seltsames Video an. Erklärte vielleicht seinen komischen Sprachgebrauch. Ich mein, Alter?! Alter, aus der Sprache war selbst ich schon rausgewachsen. Ich schüttelte den Kopf. „Du, ich würd gern noch in die Stadt, hast du Bock?“ , er strahlte mich begeistert an und ich fragte mich, was er in der Stadt wollte. Ich kam da gerade her, da war Schnee, Schneematsch und Leute, die mit beidem Zeug bedeckt sind. Ich seufzte. „Der Weihnachtsmarkt ist doch und ein Kumpel von mir macht da heute nen Stand.“ Weihnachtsmarkt? Das war nicht sein Ernst?! Ich hätte gerne den Kopf geschüttelt, aber das konnte ich Pascal und seinem begeisterten Blick nicht an tun. Deswegen stand ich hier, es war kalt, nass und hier waren verflucht viele Menschen. Aber was hatte ich erwartet, es war Weihnachtsmarkt. Ich hatte Weihnachtsmärkte schon immer gehasst, seit ich nicht mehr sprechen konnte noch mehr. „Excuse me! Excuse me!“, ein junger Typ stand vor mir und ringte mit seinem Englisch um meine Aufmerksamkeit. Warum ich? Sah ich aus, als wäre ich eine wandelnde, englische Informationssäule, oder was? „Do you understand me?“ Der Typ sprach extra langsam und deutlich und ich fühlte mich, wie ein Grenzdebiler. Verdammt, ich konnte Englisch. Ich sollte mir ein „Fuck you all!“-Schild um den Hals hängen, damit jedem klar war, dass ich keinen Bock hatte, überhaupt angesprochen zu werden. Ich wäre nicht so pissig, wenn das nicht schon der Fünfte wäre, der mich auf Englisch ansprach. Ich verstand nicht warum, hier waren soviele Menschen, viel zu viele für meinen Geschmack, warum mussten die ausgerechnet mich belästigen? Vermutlich weil ich etwas nichtstuend vor einem Stand mit Hanfartikeln rumstand. Pascal war gerade mit dem Verkäufer, den schon erwähnten Kumpel, in ein Gespräch vertieft. Ich kannte den Typ nicht und er war mir auch nicht sympathisch genug, dass ich ihm überhaupt Aufmerksamkeit schenken wollte. Ich schaute demonstrativ in eine andere Richtung und sah plötzlich etwas, dass meine Laune jenseits tief der Hölle zog. Victor. Klar, ich sah ihn jeden Tag in der Schule. Aber da hing ihm nicht meine kleine Schwester um seinen Hals und himmelte ihn an, während er etwas bestimmt häßliches aus Glas für sie kaufte. Ich ballte meine Hände zu Fäusten. Was fiel dem Spast eigentlich ein, sich an meine Schwester ranzumachen?! Das war echt zu viel. Ich stapfte in ihre Richtung. Ich war auf 180! Mich scheiße behandeln und dann noch meine Schwester anmachen. Das war dieser mistige kleine Tropfen, der die schon viel zu volle Tonne komplett zum Überlaufen brachte. Sie hatten mir den Rücken zu gewandt und waren deshalb etwas überrascht, als ich Victor an der Schulter packte. Ich hätte ihnen ja schon von weiten zu gerufen, dass ich Vic gleich die Hölle heiß machen würde, aber war mir ja leider nicht möglich. „Jo?!“, rief Jana etwas erschrocken und wich von Victor ein Stück zurück. Ich konnte sehen, wie sie rot wurde und das macht alles noch schlimmer. Verdammte Scheiße, mein Schwester konnte nicht ernsthaft in diesen Gorilla verliebt sein! „Was willst du denn?“, fragte Vic und seine Stimme klang schon so aggressiv, wie ich mich im Moment fühlte. Ich wollte Blut sehen und zwar seines! Normal war ich sicher kein gewalttätiger Mensch, aber es kochte einfach alles hoch. Ich packte ihn an seiner Jacke und zog ihn näher zu mir her. Es sah vermutlich etwas doof aus, da Victor einfach ein Stück größer und breiter als ich war, aber das war mir egal. Ich hätte ihm gerne Drohnungen entgegen geschleudert, aber man konnte ja nicht alles haben. Er schubste mich allerdings mit meiner Leichtigkeit weg, die mich wirklich tierisch ankotze. Musste der Typ auch noch stärker sein als ich?! Aber aus Stahl war er nicht, ich holte zu einem Schlag aus, der für sein Gesicht bestimmt war, wurde aber plötzlich von jemand festgehalten. Wütend drehte ich mich um. Ich sah Pascal, der mich völlig abgehetzt und geschockt anschaute. Ich riss meine Hand von ihm los und wollte wieder zu Victor, der von Pascals Erscheinen so überrascht war wie ich. „Spinnt ihr, oder was?“ Okay, er klang aufgebracht. Etwas, was man sich bei ihm eigentlich gar nicht vorstellen konnte. Er packte mich wieder und zog mich ein Stück von Victor weg, an dessen Hand sich meine Schwester klammerte. Allein der Anblick! Ich wollte Victor zu Brei zermatschen. „Was soll der Scheiß?!“ Das war an mich gerichtet. Pascal hatte die Augenbrauen wütend zusammen gezogen und sein Griff war fast eine Spur zu fest. Ich versuchte mich aus den Griff zu winden, aber anscheinend war auch Pascal stärker als ich. So ein Fuck. Ich wollte mein Prügelei! „Du kannst dich nicht einfach mit einem Freund kloppen! Ist bei dir jetzt alles durchgeschmorrt?!“ Tz, als wäre Victor noch ein Freund von mir. Pascal wusste doch, dass ich nichts mehr mit dem Gorilla zu tun hatte. Ich schnaubte verachtend. „Woah, weißt du eigentlich wie verdammt anstrengend du sein kannst? Manchmal kann ich echt verstehen, dass andere Leute sich von dir ans Bein gepisst fühlen! Und ich kann mir nicht vorstellen, dass Victor nicht versucht hat, mit dir klar zu kommen. Aber ganz ehrlich, einfach machst du es einem mit keinem Stück!“ Das traf mich wie ein LKW in voller Fahrt. Ich schaute Pascal entsetzt an und er wirkte immer noch verärgert. Was sollte der Scheiß? Sollte Pascal mir nicht zur Seite stehen und Victor erklären, was er für ein Wichser war? Ich fühlte mich verarscht und angepisst. Die Leute, die um uns rumstanden und dämlich glotzen machten es nicht besser. Victor und Jana standen auch nur da und schauten peinlich berührt. Echt, ich wollte nur noch weg hier und weg von Pascal, das der mir so in den Rücken fiel und ich dachte, er wäre ein Freund. Wenigstens hatte er mich los gelassen. Ich wandte mich von den dreien ab und wollte einfach zur nächsten Bushaltestelle, damit ich keinen von denen mehr sehen musste. Ich hörte, wie Pascal mir nach lief, leider konnte ich nicht schneller gehen, da ich mich sonst vermutlich astrein auf die Fresse gelegt hätte bei dem dämlichen Schneematsch überall. „Jetzt sei mal nicht so eingeschnappt.“, meinte Pascal. „Ich sag dir nur, wie es ist...“ Danke, fick dich ins Knie. Ich wurde von allen hängen gelassen, nicht andersrum! Konnte ich was dafür, dass ich nicht mehr sprechen konnte? War es meine Schuld, dass mir deswegen alle Freunde davon liefen? Ganz bestimmt nicht, oder? Ich ging verbissen weiter ohne in seine Richtung zu sehen. „Jetzt schmoll nicht so, ich bring dich heim.“ Pah, als würde ich noch wert auf seine Gesellschaft legen. Ich würde ganz bestimmt nicht bei ihm mitfahren. Er hatte mich wieder am Arm gepackt und ich sah mich gezwungen stehen zu bleiben. Pascal zog mich einfach in eine Umarmung, wie jedes Mal, wenn ich völlig am Rad drehte. Ich hätte ihn wegschubsen können, weil ich wütend auf ihn war und ich mich verraten fühlte. Aber irgendwie konnte ich nicht. Ich war auch nicht mehr sauer, ich fühlte mich schlichtweg nur noch Elend. Das war einfach zu viel Stress. Ich ließ mich etwas gegen ihn fallen und genoß es kurz, dass mich Pascal wohl trotz allem mochte. War ich wirklich so ein anstrengender Kerl, wie er sagte? Gut, in den letzten zwei Jahren war ich vielleicht wirklich nicht der einfachste Charakter gewesen, aber wer würde sich denn in meiner Situation nicht verändern? Aber vielleicht war ich auch ein bisschen unfair gewesen, gegenüber meinen ehemaligen Freunden. Weil ich dachte, dass sie das einfach wegstecken können, dass ja nicht sie das Problem hatten, sondern ich. Immerhin war ich derjenige, der nicht mehr sprechen konnte. Ach, ich hatte keine Ahnung. „Komm, wir fahren zu mir.“ Er strich mir kurz über den Rücken, ich nickte langsam und löste mich dann von ihm. Manchmal fragte ich mich, was wäre, wenn ich Pascal nicht hätte, der mich ständig wieder auf den Boden holte und dafür sorgte, dass ich gar nicht erst völlig abdrehen konnte. Als wir bei ihm ankamen, war es schon kurz nach neun und ich wollte nur noch in das weiche, kuschelige Bett kriechen und mich von dem Tag erholen. Die letzten Wochen waren bei mir bedeutend besser gelaufen und seit ich am Wochenende immer bei Pascal übernachtete, schlief ich erstaunlicherweise auch um einiges besser. Ich wusste nicht genau, an was es lag. Aber vielleicht hatte es damit zu tun, dass einfach jemand da war, wenn man von einem beschissenen Traum aufwachte. Damit das Pascal und ich mittlerweile in einem Bett schliefen, kam ich klar. Er lag auf seiner Seite und ich auf meiner und niemand musste sich was dabei denken. Man konnte ja auch mit einem Mädchen in einem Bett schlafen ohne das da jetzt was lief, also warum nicht auch mit Pascal?! Ich hatte mir mein Schlafshirt angezogen und war unter die warme Bettdecke gekrochen. Ich wusste nicht genau warum, aber ich fühlte mich irgendwie nervlich flattrig. Vermutlich immer noch wegen der Begegegnung mit Victor und Jana. Allein bei dem Gedanken wurde es mir etwas flau im Magen, auch weil ich daran denken musste, was Pascal gesagt hatte. Selbst für ihn war ich schwierig? Ich hatte manchmal das Gefühl, dass er der einzige war, der überhaupt einfach mit mir klar kam. Aber offensichtlich war es nicht so einfach für ihn, wie ich immer gedacht hatte. Pascal hatte auch in seine Schlafklamotten gewechselt und legte sich neben mich ins Bett. „Willst du noch fernsehen?“ Ich schüttelte den Kopf, ich wollte eigentlich nur noch schlafen. Pascal knipste das Licht aus und wir lagen stillschweigend in seinem Bett. Ich hörte wie er langsam ein und aus atmete. Ich spürte, wie er sich etwas anders hinlegte und ich hatte das Bedürfnis nach einer Umarmung. Das war irgendwie peinlich, aber Pascal würde das sicher verstehen, oder? Ich tippte ihn zögerlich an und er drehte sich zu mir um, ich konnte seinen fragenden Blick förmlich durch die Dunkelheit spüren. Ich robbte einfach zu ihm und legte etwas unbeholfen meine Arme um ihn. Ich spürte kurz, wie er sich anspannte, vielleicht wusste er nicht, was er davon halten sollte, aber schließlich legte er auch einfach seine Arme um mich und zog mich etwas näher an sich. Ich spürte seinen Atmen an meiner Wange und fühlte mich von ihm völlig eingelullt. Er strich mit einer Hand über meinen Rücken und ich wusste, dass das mit der Umarmung eine gute Idee gewesen war. Ich lächelte zufrieden. Ich drückte mich etwas näher an ihn und hörte nun sein Herz schlagen. Anders zu seinen ruhigen Bewegungen schlug dieses ziemlich heftig, was mich irgendwie überraschte. Er wirkte gar nicht so, als würde ihn die Situation nervös machen. Seine Atemzüge waren so ruhig und ich merkte, wie ich versuchte mich ihrem Rhythmus anzupassen. Seine Finger malten immer noch Kreise auf meinem Rücken und ich fühlte mich wie benommen von der ganzen Atmosphäre. Es war ein angenehmes Gefühl jemand so nah zu sein. Ich lauschte seinen Atemzüge und fühlte mich einfach ausgeglichen. Hosted by Animexx e.V. 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