Hintergrundrauschen von Memphis ================================================================================ Kapitel 16: Spin-Statistik-Theorem ---------------------------------- Am nächsten Tag wachte ich von dem Piepsen eines Computers auf. Pascal hatte seinen PC angeschaltet und saß nun davor. Ein Blick auf den Wecker sagte mir, dass es Nachmittag war. Ich hatte leichte Kopfschmerzen und Durst, aber sonst ging es mir körperlich überraschend gut. Ich setzte mich auf, woraufhin sich Pascal zu mir drehte, er lächelte. „Na, endlich wach?“ Das Lächeln wirkte ehrlich und ich erinnerte mich an gestern Abend. Ich wollte mich entschuldigen, einfach für alles. Ich schaute ihn an, ihn und sein Lächeln. Ich wollte Entschuldigung sagen. Es aussprechen, um klar zu machen, wie wichtig es mir war. Ich stand auf, stellte mich vor ihn. Sag es. Sprich es aus. Ich öffnete den Mund, es müsste doch möglich sein. Ich versuchte dieses eine Wort hochzuwürgen. Es kratzte im Hals und das einzige was dabei rauskam, war ein komischer, erwürgter Laut. Das konnte es doch nicht sein. Ich versuchte es nochmal, aber nichts als dieser komischer Ton. Ich wollte es doch wirklich, ich wollte sagen, dass es mir Leid tat. Das es mir Leid tat, wie unfair ich ihm gegenüber war und wie froh ich war, dass er trotzdem für mich da war. Und es wollte einfach nicht funktionieren. Nichts, als dieser tote Laut wollte aus meiner Kehle. Pascal umarmte mich nur als Reaktion, er drückte mich ganz fest und ich fühlte mich irgendwie geborgen und wohl. Auch wenn es sich eigenartig einfühlte, wenn ich daran dachte, dass er schwul war. Ich wusste nicht, ob ich erleichtert oder enttäuscht war, als er mich wieder losließ. „Du hast geschlafen wie ein Murmeltier, da dacht ich mir, dass ich dich heute mal ausschlafen lasse.“, erklärte mir Pascal. Sozial von ihm, auch wenn ich mir überlegen musste, wie meine Mutter dafür eine Entschuldigung schrieb. Dafür fühlte ich mich so ausgeruht, wie lange nicht mehr. „Übrigens, ich hatte da eine absolut geniale Idee!“ Er strahlte mich wach und begeistert an. Ich war neugierg, was Pascal unter genial verstand. Stolz zeigte er auf ein Notebook, das neben seinem PC stand. „Der gehört Jonas, aber der verwendet den nie. Also könnten wir damit schreiben! Über Internet und so.“ Die Idee war wirklich gut, deswegen nickte ich nur. „Ich wusste, du würdest das toll finden. Auf dem doofen Papier schreiben ist doch eh bloße Verschwendung.“ Wie recht er hatte, vor allem bei meiner Handschrift. Ich schaute dabei zu, wie Pascal den Laptop zu summenden Leben erweckte und das Gerät mit gerunzelter Stirn anschaute. „Uhm... irgendwie...“ Er klickte ein bisschen rum. „Das Internet geht nicht, aber ich hab keinen Schimmer warum.“ Ich grinste leicht. Es war wirklich putzig zu beobachten, wie hilflos Pascal war, wenn er vor einem PC saß. Ich beugte mich über ihn und drückte einen kleinen Knopf neben dem Startknopf. Damit aktivierte man in der Regel das W-Lan. „Oh, jetzt geht es.“, kam es peinlich berührt von Pascal, der etwas rot um die Nase war. Ich grinste ihn nur an und nahm kurz seinen irritierten Blick wahr. Er machte mir dann aber Platz, damit ich mich ins ICQ einloggen konnte. Irgendwie war ich nicht überrascht, dass auf dem Rechner kein Instant Messenger wie Trillian oder Miranda war. Ich hatte das Gefühl, dass keiner in dieser Familie irgendwie technisch versiert war. Meine Kontakte wurden geladen und ich klickte „Frank“ an. [14:33] Donnie: so... [14:33] Frank: war doch eine tolle Idee von mir, ne? [14:33] Donnie: ja, total genial [14:33] Donnie: gott, der abend gestern... Ich wollte mit Pascal darüber reden, warum ich gestern Nacht so im Arsch war. Ich war echt froh, dass er auf die Idee mit dem Laptop gekommen ist. [14:34] Donnie: das mit lisa war ja mal voll die bescheuerte idee gewesen... [14:34] Frank: was meinst du? [14:34] Donnie: hab doch versucht sie zu küssen Das er das nicht mitbekommen hat? Ich hatte eigentlich gedacht, jeder hat das mitgekriegt, genau wie meine tolle Kotzaktion auf der Toilette. Ich schaute zu Pascal rüber, der gerade tippte. [14:34] Frank: und was is passiert? [14:35] Donnie: naja, bin abgeblitzt... [14:35] Donnie: aber sie war je eh nicht so mein fall Kaum hatte ich die Nachricht abgeschickt, wurde ich in die Seite geboxt. Pascal schaute mich empört belustigt an. „Lisa ist toll!“ Ich verdrehte die Augen und er lachte einfach nur. Vielleicht war ich ja nicht bei Lisa gelandet, aber zwischen mir und Pascal schien es wieder okay zu sein. Ich trat noch meine Zigarette aus, bevor ich das Haus betrat. Kaum hatte ich die Türe hinter mir geschlossen, tauchte auch schon Jana im Gang auf. „Papa will mit dir reden.“, meinte sie knapp und ging die Treppen hoch. Ich runzelte irritiert die Stirn, mein Vater wollte selten irgendwas mit mir besprechen. Ich zog langsam meine Schuhe aus, ich hatte ein ungutes Gefühl bei der Sache und versuchte das Gespräch herauszuzögern. Aber ich hatte noch nicht mal meinen Parka ausgezogen, als mein Vater schon im Türrahmen stand. „Was sind das denn für Klamotten?“, er klang verärgert und gestresst. Anscheinend hatte er nicht so einen tollen Tag. ´Von Pascal´, kritzelte ich ihm auf den Block. Meine waren ja schließlich voll gekotzt, damit wollte man nicht unter Leute. „Aha.“ Die Antwort schien meinem Vater nicht so zu gefallen. Er nickte aber in die Richtung des Wohnzimmers, wo ich schon meine Mutter auf der Couch sitzen sehen konnte. Was wollten die machen, Familiengespräch oder so einen Scheiß? Ich setzte mich auf das gegenüberliegende Sofa und schaute zwischen meiner Mutter und meinen Vater her, die wohl sowas wie ein stummes Zwiegespräch führten. Schließlich schaute meine Mutter mich direkt an. „Die Schule hat angerufen.“ Aha. Spannend. Ich fragte mich warum. Wegen heute konnte es ja nicht sein, immerhin hatte ich ja noch genug Zeit mich zu entschuldigen. „Wegen ungebührlichen Verhalten im Unterricht.“, klärte mich mein Vater auf. Ungebührliches Verhalten? Ich schaute irritiert. Die meinten aber nicht das Rauchen, oder? Deswegen hatte die Schule noch nie Terz gemacht. „Du sollst geschlafen haben.“ Und es klang, als hätte ich das größte Verbrechen der Menschheit begangen. Ich war kurz, wirklich nur kurz, im Unterricht eingenickt und deshalb stressten sie mich so? Das war an dem Tag doch echt nachvollziehbar. „Und heute warst du gar nicht in der Schule.“, fügte meine Mutter hinzu. Hm, wäre mir gar nicht aufgefallen. Meine Eltern wechselten einen bedeutungsschwangeren Blick miteinander. Ich hasste es, wenn sie sowas taten. „Wir denken, dass du dich mit den falschen Leuten abgibst.“, kam es schließlich von meinem Vater und ich dachte mir nur: WTF?! Ich hätte ehrlich gesagt so ziemlich alles erwartet. Das sie sich Gedanken, um mögliche Depressionen machen, dass sie besorgt sind, dass ich zu wenig schlafe und immer noch nicht sprach. Das es auffällig war, dass man von meinen ehemaligen Freunden gar nichts mehr hörte oder sah. Immerhin war Victor bis vor kurzem fast noch jeden zweiten Tag hier gewesen. Das ich mich von der Familie immer mehr isolierte. Aber der Gedanke, dass ich mich mit den falschen Leuten abgeben würde, fand ich völlig absurd. Momentan gab ich mich sowieso nur mit Pascal ab und er war ja wohl in Ordnung, oder? Vielleicht meinten sie aber noch meine alten Freunde. `Wen meint ihr?´ Ich reichte meinen Block zu meinen Eltern. „Den Jungen, der letztens da war.“, antwortete meine Mutter prompt. Also meinten sie wirklich Pascal. Ich runzelte die Stirn. „Uns wurden.. komische Sachen über ihn erzählt.“ Komische Sachen? Meinten sie damit, dass Pascal schwul war? „Er soll einen zweifelhaften Ruf auf der Schule genießen und mit Drogen zu tun haben.“, führte meine Mutter ihren vorigen Satz näher aus. Ich schüttelte nur total perplex den Kopf. Das klang, als wäre Pascal ein Schläger, der auf dem Schulhof Drogen an kleine Kinder verkaufte. Sie wussten anscheinend gar nicht, dass er schwul war. Noch ein Grund, warum ich ihr Verhalten nicht nachvollziehen konnte. ´Woher habt ihr diesen Unsinn?´, schrieb ich mit zittriger Hand auf den Block, der mir wieder zurück gereicht worden war. „Das erzählt man sich wohl in der Schule.“, gab meine Mutter zu. Also nur komische Gerüchte und deswegen machten die so einen Aufstand? Ich zog meine Augenbrauen verärgert zusammen. Ich hätte nicht erwartet, dass meine Eltern soviel auf Geschwätz geben würden. „Nimmst du Drogen?“, fragte mein Vater harsch und ich hatte wirklich Mühe, dem ganzen Gespräch einen Sinn abzugewinnen. Ich schüttelte nur den Kopf. ´Pascal hat nichts mit Drogen zu tun.´ Also nicht so weit ich wusste und wenn man mal von dem Hasch absah, aber das zählte nicht, fand ich. Es gab doch heutzutage kaum jemand, der nicht schon mal gekifft hatte. Mein Vater runzelte nur die Stirn. Ich hatte das Gefühl, dass er mich nicht glaubte. Aber es wäre typisch meine Eltern, wenn sie für meine Probleme irgendwelche absurden Theorien hatte, Hauptsache niemand in meiner Familie hatte damit zu tun, einschließlich mir. „Hast du heute die Schule geschwänzt, weil du gestern mit Pascal weg warst?“ Mein Vater klang sehr unversöhnlich und er schien sich ziemlich auf Pascal eingefahren zu haben. Ich schüttelte wieder meinen Kopf. Ich war heute nicht in der Schule, weil ich einfach kaputt war von dem ganzen Scheiß in den letzten Tagen und ich bei Pascal so gut geschlafen habe, wie lange nicht mehr. „Red doch keinen Unsinn!“, er klang aufgebracht. Mein Vater war in der Regel ein ruhiger Mensch, aber bei viel Stress hatte er sein Temperament nicht immer im Griff. Da war ich wie er. Ich war genauso sauer. Ich wusste nicht, was meine Eltern für ein Problem hatten. Aber ich war mir sicher, dass Pascal nicht Schuld daran war. Ich stand abrupt auf und verließ einfach den Raum. „Johannes!“, rief mir mein Vater streng nach. Als hätte er noch irgendwie Einfluss auf mich und meine Erziehung. Ich packte meinen Parka und verließ wieder das Haus. Wenn ich mich in mein Zimmer verzogen hätte, hätten die mir wieder sich den Strom abgestellt. Ich ging zur Bushaltestelle, setze mich auf die Bank dort und rauchte eine. Ich musste runter kommen. Warum legten es meine Eltern darauf an, dass ich nicht mit ihnen auskam? Wie kamen die auf diesen bescheuerten Anschuldigungen? Früher waren sie nicht so. Da war irgendwie alles noch harmonischer. Ich seufzte. Ich zündete mir noch eine Zigarette an und rieb mir dann die Hände. Wenn ich nicht ein bisschen aufpasste, würde ich mir wirklich eine derbe Erkältung zu ziehen. Vielleicht gab es ja ein Zusammenhang zwischen kaltem Wetter und beschissenen Ereignissen. Sollte man echt mal untersuchen. Aber ich fühlte mich etwas ruhiger, vermutlich hatte die Kälte mein Gemüt runtergekühlt. Ich ging wieder nach Hause. Wo hätte ich auch sonst hingehen sollen? Niemand belästigte mich, als ich mich aus meiner Jacke schälte und nach oben ging. Anscheinend war das Thema vom Tisch. Zumindest für heute. Ich ging ins Bad, um zu duschen. Vielleicht fühlte ich mich ja dann besser oder wenigstens nicht mehr so tot. Ich ließ mich in mein Bett fallen und starrte an die Decke. Der Geruch von frisch gewaschener Bettwäsche um gab mich. Wahrscheinlich hatte meine Mutter ein schlechtes Gewissen und wollte mir etwas gutes tun. Normalerweise musste ich mein Bett nämlich selbst beziehen. Sollte die Eigenständigkeit fördern, oder so. Aber ich hatte manchmal meine Zweifel, ob meine Eltern wirklich einen eigenständigen Sohn haben wollten. Immerhin schienen sie mir alles aus der Hand nehmen zu wollen, um es dann auf andere abzuwälzen. Selbst mit meinen Problemen machten sie das so. Vielleicht wollten sie auch nicht einsehen, dass sie einen komischen Sprössling hatten. Aber wer konnte es ihnen verdenken? Selbst ich wollte nicht einsehen, dass ich eventuell ein kleines bisschen seltsam war. Oder depressiv? Alles sträubte sich in mir bei dem Gedanken, dass ich zu einer dieser Loser gehören sollte, die mit Depressionen durchs Leben schlichen. Gut, ich hatte kaum noch Freunde und ich war in letzter Zeit nicht gut drauf, aber das war doch normal? Das würde sicher sofort wieder verschwinden, wenn ich wieder reden konnte. Manchmal fragte ich mich, wie wohl meine Stimme klingen würde, wenn ich sie benutzen könnte. Ich konnte es mir überhaupt nicht vorstellen. Ich wusste nicht einmal mehr, wie sie geklungen hatte. Zu dem war ich mitten im Stimmbruch, als ich in unfreiwilliges Schweigen verfiel. Doktor Schwelstein hatte mir erklärt, dass sich meine Stimme vermutlich nie ganz von dem langen Schweigen erholen würde. Das ich mir da keine Illusionen machen sollte, ich würde wohl klingen wie ein halbtoter Rabe, der dazu noch sehr kurzatmig war. Aber das würde ich gerne in Kauf nehmen. Immerhin würde meine Stimme immer noch besser klingeln, als meine Handschrift aussah. Mein Blick ging durchs Zimmer, kurz blieb er am PC hängen. Ich hätte on gehen können, aber ich hatte keine Lust auf irgendwelche Kontakte. Ich hatte heute genug mit Menschen zu tun gehabt. Schließlich entschloss ich mich dazu zu schreiben. Schreiben war eine gute Sache, wenn man so schlecht schlief wie ich. Wenn es dunkel im Zimmer war und man nur die leisen, dumpfen Nachtgeräusche hörte, schienen einem die Wörter einfach nur so zu zufliegen. Man musste nur geschickt genug sein, sie einzufangen. Ich hatte viele angefangene Geschichten, aber ich wollte etwas neues und kurzes. Etwas was vermutlich zu persönlich war, als das ich es jemals online stellen würde. Aber davon hatte ich viel. Ich hasste es, wenn in Geschichten zu viel von meiner Persönlichkeit zu tragen kam. Die leisen Klack-Geräusche beim Schreiben waren fast so beruhigend, wie Nikotin. Klack. Klack. Klack. Ich blickte ab und an auf die Uhr. Weit nach Mitternacht und meine Gedanken schienen in die Geschichte gekotzt zu haben. Es war alles viel zu wirr und unstrukturiert, um wirklich etwas zu werden, was jemand lesen wollte. Möglicherweise wollten Leser auch gerade das, aber von mir würden sie es nicht bekommen. Ich löschte den Text, an dem ich nun drei Stunden gesessen hatte und ersetzte ihn mit einem kurzen Wort. Moppelkotze. Ich fühlte mich zufrieden, nicht glücklich, nicht ausgeglichen, aber zufrieden. Ich hatte viel zu lange nichts mehr geschrieben. Ich schloss das Dokument und verneinte, als ich danach gefragt wurde, ob ich die Datei speichern will. Ich öffnete meinen Internetbrowser und suchte nach Ablenkung. Keiner meiner ´Freunde´ war noch online, zum Glück. Irgendwie hatte ich Lust darauf, etwas zu lesen. Am besten furchtbar dilettantisch geschrieben mit flachen Inhalt. Etwas, dass man niemals in gedruckter Form erwerben könnte. Internetschund. Wenn man es las, hatte man immer das Verlangen es besser zu schreiben. Was meistens nicht allzu schwer war. Hier ein paar Klischees raus, da ein bisschen logische Handlung einfließen lassen und man hatte aus einer guten Idee eine gute Geschichte gemacht. Manchmal war ich überrascht, wie wenig Hobbyautoren das tatsächlich zustande brachten. Aber immerhin wollten sie kein Geld damit verdienen, also was es prinzipiell ziemlich egal, wie gut oder schlecht sie schrieben. Und ich war froh über die Ablenkung. Nach dem ich das fünfte Kapitel einer absoluten miesen Geschichte angefangen hatte und überrascht war, wie vorhersehbar eine Story sein konnte, entschloss ich mich dazu zu schlafen. Immerhin würde mein Wecker in knapp drei Stunden klingen, wenn er denn dazu kam. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)