Hintergrundrauschen von Memphis ================================================================================ Kapitel 1: Superluminar ----------------------- Ich lauschte meinen Atemzügen. Einatmen, ausatmen. Sonst war es recht still in meinem Zimmer. In ein paar Minuten würde mein Wecker klingeln und mir sagen, dass es Zeit für die Schule war. Ich verabscheute das Geräusch, deswegen griff ich kurz nach dem Gerät und schaltete den Alarm frühzeitig aus. Ich stellte den Wecker wieder auf den Nachtisch und beobachtete, wie die Sekunden langsam runter zählten und es 6:27 wurde. Ich tat das oft, da ich meistens lange vor meinem Wecker wach war. Oft lag es daran, dass ich einfach nicht geschlafen hatte. Schlafen war immer so eine Sache für mich gewesen. Ich wusste, dass es wichtig war, aber manchmal schien es mir, als hätte mein Körper nicht das Bedürfnis danach oder fühlte sich davon belastet. Dann lag ich wach in meinem Bett und starrte in die Dunkelheit, lauschend. Es gab immer viel zu hören, fand ich, aber gerade nachts bekam alles einen speziellen Klang. Für mich war die Welt nachts anders. Es war eine so tiefruhige Atmosphäre, dass man das Gefühl hatte die Ruhe fast einatmen zu können. Ich mochte das Gefühl. Vielleicht war das auch meine Art vom Schlafen. Ich wusste es nicht genau. Ich schloss die Augen und lauschte in das Halbdunkel. Man merkte, dass nun die Zeit war, in der man aufstand. Ich hörte, wie meine Mutter in der Küche fuhrwerkte, im Nebenzimmer war sehr gedämpft der Wecker meiner Schwester zu hören. Aus dem Bad kam ein leises Rauschen, vermutlich mein Vater, der sich gerade duschte. Ich seufzte, jetzt war auch der Zauber der Nacht weg und so machte ich mich daran, mich wieder in das helle Leben zu begeben. Ich schob die Decke weg und fühlte zufrieden den kühlen Holzboden unter meinen nackten Füssen. Ich tapste zu meinen Vorhängen, die schon spärliches Licht hineingelassen hatten und öffnete sie ganz. Es war noch zu früh, als dass einen die Sonne hätte blenden können, aber zumindest wurde es jetzt merklich heller in meinem Zimmer. Ich ging zu dem Kleiderhaufen, der sich auf meiner Couch stapelte und kramte nach einigermaßen sauberen Klamotten, die ich heute anziehen würde. Meine Mutter sollte mal die Dreckwäsche holen gehen. Denkt, was ihr wollt, ich wohnte gerne im Hotel Mama und würde es solange genießen, bis ich für das Studium ausziehen würde. Immerhin würde ich nicht wie viele andere Kerle bis ich dreißig bin, zuhause leben und mich da durchschmarotzern. Das wollte ich auf keinen Fall. Ich hörte wie das Bad, das gegenüber von meinem Zimmer lag, verlassen wurde und beeilte mich vor meiner Schwester reinzukommen, was meistens gelang. Eigentlich überschnitten sich am Morgen selten irgendwelche Badzeiten. Ich wusste nicht genau, woran es lag, aber vielleicht kam es einfach von der jahrelangen Routine, dass jeder wusste, wann wer ins Bad musste. Da ich nie lange brauchte, weil ich immer abends duschte und am Morgen nur meine Zähne putzen musste und was sonst an Morgenwäsche anfiel, müsste meine Schwester sowieso immer allerhöchstens zehn Minuten warten, was hier niemanden umbrachte. Wir waren von Haus aus eine Familie, die sich immer fast doppelt soviel Zeit für etwas einrechnete, als man eigentlich brauchte. Ich müsste erst in einer Stunde los, um pünktlich zum Bus zu kommen. Das hieß, ich konnte mich in Ruhe anziehen und vor allem genüsslich und mit viel Zeit frühstücken. Das genoss ich, und da ich sowieso nicht viel schlief, machte es mir auch nichts aus, früh aufzustehen. Unten in der Küche ging ich ein bisschen meiner Mutter zur Hand und deckte den Frühstückstisch für meine Schwester und mich. Es gab den üblichen Morgen-Smalltalk seitens meiner Mutter. Sie erzählte wann sie kochen wollte, wollte wissen, ob ich heute überhaupt zuhause war und ob ich das Abendessen kochen übernehmen könnte, das übliche. Meine Familie war so unheimlich unspektakulär wie ich. Ich mochte es. Ich war mir sicher, dass so manch ein Mensch neidisch wäre, wenn er so eine gesunde Familienstruktur hätte. Bestimmt sogar. Auch wenn es irgendwie langweilig wirkte. Ich schob mir noch die Reste meines Marmeladenbrötchens in den Mund und verschwand dann hoch in mein Zimmer, um meine Schulsachen für heute zu packen, was hieß, dass ich einfach meinen Rucksack nahm, der seit gestern unberührt da stand und mein Pausenbrot, das mir meine Mutter gemacht hatte, und eine Flasche Wasser reinpackte. Ich fand es recht sinnlos, schwere Bücher mit mir rumzuschleppen, wenn mein Nebensitzer sowieso immer alle dabei hatte. Also reichten mir schon ein Block und ein Federmäppchen. Und da ich prinzipiell keine Hausaufgaben zuhause machte, konnte ich immer sicher sein, dass schon alles in dem Rucksack war. Wenn nicht... wen interessiert‘s?! Mich sicher nicht. Ich trottete der Bushaltestelle entgegen und kramte auf dem Weg aus dem vorderen Fach des Rucksacks eine Zigarettenschachtel inklusive Feuerzeug heraus. Ich müsste jetzt sicher noch über fünf Minuten auf den Bus warten und weil Rauchen in der Schule immer etwas aufgeschnitten und halbstark rüberkam, sorgte ich dafür, dass ich vor dem Unterricht zu meinem Nikotin kam. Ich setzte mich auf die leere Bank der Bushaltestelle und nahm einen tiefen Zug. Beruhigend. Ich fand, dass Ruhe einfach alles war. Ich starrte in den wolkenbehangenen Himmel und zog unwillkürlich meine Jacke etwas zu. Man merkte, dass es nun wirklich Herbst war. Ich mochte den Herbst nicht. Dauernd Regen und Wind, von dem dummen Laub fangen wir gar nicht erst an. „Hi Jo...“ Victor ließ sich neben mich fallen. Er war mein bester Freund seit... seit ich denken kann. Ich lächelte ihm kurz zu und bot ihm eine Kippe an, die er dankend annahm. Nun schauten wir beide zu der grauen Wolkendecke auf. Ich hörte Victor seufzen. „Scheiß Wetter.“ Und als hätte das Wetter nur auf ein Stichwort gewartet, fing es auch gleich an, wie beschissen zu regnen. Zum Glück war die Bushaltestelle überdacht. Etwas mitleidig betrachtete ich die Schüler, die sich in den letzten Minuten recht schnell angesammelt hatten und jetzt wohl hofften, der Bus möge so bald wie möglich kommen, da nicht genug Platz war, dass alle unter das Dach konnten. Tja, wer zu spät kam, den bestraft das Leben. Ich grinste etwas schadenfroh. Man merkte immer wenn der Bus endlich kam, dann ging eine gewisse Hektik durch die Schüler. Es war nicht mal nötig, den Bus zu sehen. Ich warf meine Kippe auf den Boden und drückte sie beim Aufstehen mit meinem Schuh aus, Victor tat es mir gleich. Wir waren die Letzten, die einstiegen und wir verkrochen uns ganz nach hinten in den Bus. Immerhin waren Victor und ich die Ältesten hier im Bus, also war uns einfach die hinterste Bank versprochen. Das war schon immer so gewesen. Das hatte Tradition. Außerdem warteten Raphael und Miguel dort schon auf uns. Ich nickte ihnen kurz zu und ließ mich dann am Platz ganz am Fenster fallen. Die drei anderen waren wie üblich sofort in ein Gespräch miteinander vertieft. Manchmal fragte ich mich, wie man sich immer soviel zu erzählen wusste. Ich starrte auf die Spiegelung im Fenster und beobachtete so die anderen im Bus. Zwei Reihen schräg vor uns waren zwei Mädchen, die heftig tuschelten und immer wieder verstohlen zu Raphael schauten. Raphael war der einzige von uns, der wirklich behaupten konnte, etwas aus sich zu machen. Er wirkte gepflegt und hatte ein recht ansehnliches Gesicht, außerdem hatte er so einen gewissen Charme, der dafür sorgte, dass die meisten Leute ihn auf Anhieb einfach sympathisch fanden. Ich hatte allerdings nicht so viel mit ihm zu tun. Miguel war sein bester Freund, und der wiederum war mit Victor befreundet, so war das eben. Die beiden sahen übrigens neben Raphael immer etwas abgefuckt aus. Ich vermutlich auch, mir war es nur egal. Ich hatte das Gefühl, dass gerade Victor sich oft daran störte, dass die ganzen Mädchen immer auf Raphael flogen und dann nur mit ihm sprachen, weil sie nicht unhöflich sein wollten. Allerdings müsste er auch zugeben, dass nur aus diesem Grund überhaupt irgendwelche Mädels mit ihm sprachen. Er sah einfach so... grobschlächtig aus. Das war nicht nett ausgedrückt, traf es aber am Besten. Er war groß und bullig, schaute immer recht grimmig und hatte auch noch recht kurze Haare. Wenn ich ihn nicht schon so lange kennen würde, wäre ich wohl nicht mal mit ihm befreundet, weil er mir Angst machen würde. So von der Erscheinung her. Eigentlich war er ein recht netter Kerl, war aber bei den meisten dieser Typen so. Kannte man ja. Über Miguel gab es nicht viel zu sagen. Er war Halbspanier, was man ihm allerdings nicht ansah. Er hatte zwar dunkle Haare und war nicht übermäßig groß, aber das war so das einzige, was an ihm wirklich spanisch wirkte. Ich musste zugeben, dass ich ihn nicht allzu sehr mochte. Er redete einfach die ganze Zeit. So viel. Ich bekam oft Kopfschmerzen von seinem Gerede. Das war meine Schulclique. Ich würde, außer mit Victor, in meiner Freizeit nicht viel mit ihnen unternehmen, aber zusammen in der Schule rumhängen, war immer ganz okay. Manchmal sogar recht amüsant. Wie abgefuckt. Missgelaunt saß ich auf der Bank unter der großen Eiche in unserem Pausenhof. Wir waren fast die einzigen auf dem Gelände, was wohl daran lag, dass es regnete wie beknackt. Mich trafen immer wieder ein paar fette Tropfen, die ihren Weg durch das Blätterdach gefunden hatten. Gerade einer mitten in meinem Jackenkragen, wo er mir den Rücken herunter perlte. Ich schüttelte mich mit einer Gänsehaut. Grimmig starrte ich zu Raphael und Victor, die sich mit Kippen in der Hand angeregt mit zwei Mädels unterhielten. Vielleicht sogar die aus dem Bus, ich konnte mir Gesichter nicht allzu gut merken. Woah, wenn Miguel mich nicht immer so anwichsen würde, wäre ich jetzt mit ihm drinnen in der trockenen Pausenhalle und müsste mich nicht mit diesem ekelhaften Wetter rumschlagen. Scheiß Miguel, scheiß Wetter, einfach alles scheiße. Jemand ließ sich schwer seufzend neben mir nieder. Ich linste durch meine ins Gesicht hängenden Haare zu dem Mitgebeutelten herüber. Ich kannte ihn nicht, jedenfalls nicht mit Namen. „Pascal, bin n Freund von Doro.“ Er nickte kurz in die Richtung eines rothaarigen Mädchens, das sich mit Raphael unterhielt. Ich nickte nur zur Antwort. „Du siehst aus, als wärst du aus dem gleichen Grund, wie ich hier draußen.“ Wenn er auch nur das dumme Anhängsel seiner Clique war, dann ja. Sah sogar so aus. Also nickte ich wieder. „Hm... du bist nicht so von der gesprächigen Sorte, oder?“ Pascal lächelte mich offen an. Anscheinend hatte er nicht so ein Problem damit. Ich schüttelte den Kopf, gesprächig konnte man mich wirklich nicht nennen. Er lachte, ich grinste ihn nur an. Um ganz ehrlich zu sein, konnte ich gar nicht mehr sprechen. Also, das war irgendwie falsch ausgedrückt. Ich könnte sprechen, rein theoretisch, aber praktisch gab es da irgendwie ein Problem. Ich hatte vor zwei Jahren einfach aufgehört zu sprechen, aus einem Grund, den ich vergessen hatte und wegen dem ich nun auch schon die vollen zwei Jahre in psychologischer Behandlung war. Mir hatte man erklärt, dass etwas einen so großen Schock bei mir ausgelöst hatte, dass ich einfach meine Stimme verloren habe. Aber es gäbe Möglichkeiten durch Therapie und Verarbeitung und all sowas, dass ich eventuell wieder sprechen könnte. Womit ich mir recht sicher war, weil sonst alles mit mir stimmte. Ich war nicht irgendwie... verrückt. Also nicht, dass ich wusste. Ich schlief nur etwas wenig und konnte nicht sprechen. Das war alles. Dass ich trotzdem noch auf eine normale Schule hing eben damit zusammen, dass ich eventuell diesen ... Schock überwinden könnte und wieder sprechen würde und zudem war ich ja nicht taub oder zurückgeblieben, oder anderweitig eingeschränkt. Und es ist erstaunlich, wie wenig man eigentlich seine Stimme brauchte, wenn man es recht überlegte. Ich hatte ein paar Sonderregelungen, sodass meine mündliche Leistung anders ermittelt wurde und alle waren zufrieden. Es war nur manchmal lästig, wenn man neue Leute kennenlernte, ihnen die Situation zu erklären. Meistens hatte ich dafür einen kleinen Notizblock und einen Stift dabei. Passte immer klasse in eine Hosentasche oder eine Jacke, oder ich tippte Victor an, damit er die Situation erklärte. Aber ich befand es hier nicht für nötig. Wir schwiegen uns ein paar Minuten an. Die Pause würde noch mindestens eine Viertelstunde gehen, ich war gespannt, ob er solange schweigend neben mir sitzen würde. „Okay, ich wusste schon, dass du nicht sprechen kannst.“ Hätte ich sprechen können, hätte ich „Na dann.“ geantwortet. Aber so zuckte ich nur mit den Schultern. Ich nahm nicht an, dass jemand an der Schule nicht wusste, dass ich stumm war. Sowas machte immer schnell die Runde, außerdem habe ich zu Anfang auch viele Blicke bemerkt, die ich allerdings ignorierte. Ich war damals viel zu beschäftigt mit mir selbst und heute interessierte sich niemand mehr für mich. „Kannst du eigentlich Zeichensprache?“ Pascal schien allerdings ganz versessen auf eine Unterhaltung mit mir. Ich schüttelte den Kopf. Immerhin würde ich sicher bald wieder sprechen, es war nicht nötig, dass ich das lernte. „Weißt du, meine ältere Schwester ist taubstumm. Deswegen frag ich.“ Jetzt hatte er mein Interesse geweckt, was er zu merken schien. Er lehnte selbstgefällig auf der Bank und genoss ein bisschen meine Aufmerksamkeit. Ihn traf ein fetter Wassertropfen mitten ins Gesicht und er schüttelte sich angewidert, was mich zu einem Grinsen veranlasste. Selber Schuld, wenn man sich in Pose werfen wollte. Er bemerkte mein Grinsen und boxte mich gegen die Schulter. „Mach dich nicht über mich lustig!“ Ich rieb mir die Schulter, nicht weil es weh tat, sondern weil ich etwas von der Berührung überrascht gewesen war. Ich pflegte eigentlich mit meinen Freunden ein sehr distanziertes Verhältnis, da war eine plötzliche Berührung von einem Fremden schon so eine Sache. „Jedenfalls, ich könnte Zeichensprache, ich dachte, vielleicht könnten wir uns so unterhalten. Also ich weiß, dass du verstehst was ich sage, aber ich mein, wenn du reden willst. Ach, du weißt schon...“ Er fuhr sich durch die braunen, halblangen Haare und schien sich gerade total albern vorzukommen. Zu recht. Ich zuckte nur wieder mit den Schultern. Ich konnte eben keine Zeichensprache und soviel Bedürfnis zu reden hatte ich sowieso nicht. Auch wenn ich gerne gefragt hätte, worüber er mit mir reden möchte und wieso? Ich kramte jetzt doch meinen Block und den Stift aus meiner Hosentasche und kritzelte mit meiner schwerleserlichen Schrift „Johannes ICQ: 117549539“ darauf und drückte ihm das in die Hand. So pflegte ich mich zu unterhalten. Über Internet... geschrieben. „Oh... cool. Ich add dich heute, wenn ich zuhause bin.“ Pascal steckte den Zettel einfach in seine Hosentasche und grinste mich an. Irgendwie war er mir ein bisschen unheimlich. Er strahlte so viel gute Laune und Energie aus. Ich war jetzt zwar nicht ein übermäßiger Griesgram und ich lachte eigentlich auch ziemlich viel, aber Pascal wirkte irgendwie so... krass glücklich, als sei er eins mit sich und der Welt und eigentlich alles nur ein großer Spaß. Wir schwiegen uns noch ein bisschen an, bis der Pausengong mich endlich von dem Mistwetter draußen erlöste und die anderen gezwungen waren ihre Kippe auszutreten und auch reinzugehen. Ich stand als erster auf und war ziemlich schnell im trockenen Schulgebäude. Pascal klopfte mir noch kurz auf die Schulter, meinte was von: „Man sieht sich.“ und war dann in den wabernden Schülermengen verschwunden. Ich bemerkte einen fragenden Seitenblick von Victor. Er war es wohl nicht gewohnt, dass sich Leute zu mir setzten und mit mir redeten. War auch komisch, irgendwie. Ich winkte ab, was soviel hieß, dass es nicht so wichtig war und es auch noch später Zeit hatte, es ihm zu schreiben. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)