Mosaik von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 37: Mutig ----------------- Hi Ihr Lieben :)! Es geht endlich weiter mit Mosaik und dem lääääängsten Kapitel, das ich je geschrieben habe^^. Ich hoffe, es gefällt Euch und Ihr findet den Tathergang verständlich und nachvollziehbar. Ich tus auf jeden Fall ;) Jetzt viel Spaß beim Lesen und im nächsten Kapitel - das verspreche ich - gibt's endlich auch wieder Sascha für alle und dazu eine ordentliche Portion Friede, Freude und Eierkuchen :) Liebste Grüße und Danke für all die lieben Kommentare zum letzten Kapitel, Lung ____________________________________________________________________ Im Bus war es voll und stickig und auf eine irgendwie klebrige Weise warm. Es roch nach nassem Hund, menschlichem Schweiß und ungewaschenen Klamotten, nach Kälte und Regen. Irgendwo weiter hinten weinte ein Baby. Und vor dem Fenster zog die nasskalte, teilweise erleuchtete Stadt vorbei, die in der Novembernacht deprimierend trist und grau aussah. Als sich der junge Mann neben ihm, der penetrant nach Zigarettenrauch stank und sich unerträglich laute Musik durch seine Ohrstöpsel ins Hirn pumpte, gegen ihn lehnte, um nach seinem MP3-Player zu tasten, erinnerte sich David daran, dass er eigentlich überhaupt nicht gern Bus fuhr. Er mochte es nicht, so eng mit fremden Menschen zusammengepfercht zu sein. Die Enge, der allgegenwärtige Stress, der Geruch und die immer gleiche Frauenstimme, die gefühlskalt und technisch die Haltestellen durchsagte, nervten ihn. Im Zug konnte er sich entspannen. Einen Bus wollte er möglichst schnell wieder verlassen. Heute ganz besonders. Er konnte nicht fassen, wie schnell der Tag vergangen war. Wie im Flug, wie im Schlaf. Obwohl er doch die Zeiger aller Uhren im Haus angefleht hatte, langsamer zu ticken. Doch offenbar waren sie taub für die Gebete eines einzelnen Menschen, der sich davor graute, in das Angesicht seines Ex-Freundes zu blicken. Nachdem ihn sein Vater um zehn Uhr geweckt hatte, hatte David noch neun Stunden vor sich gesehen. Neun herrliche Stunden, die ihn von der Begegnung mit seinem persönlichen Alptraum trennten. Dann war es plötzlich Mittag geworden und seine Mutter kochte und teilte ihm mit, dass sie morgens im Tierschutzzentrum angerufen hatte, um Bettina darüber zu informieren, dass David zu Hause war und nicht zur Arbeit kommen würde. Dann war Marisa von der Schule gekommen und war vor Freude, David so unvermittelt in der Küche vorzufinden, schier ausgeflippt. Sie hatte sich an ihn geworfen, als wäre er ein Kletterbaum, und hatte ihn erst am Nachmittag wieder losgelassen, nachdem er ihr bei den Hausaufgaben geholfen und eine Weile ihren selbstgemachten Weihnachtskalender bestaunt hatte. Natürlich hatte sie auch nach Sascha gefragt und beinahe wäre David vor Sehnsucht, Reue und Angst ins Bett gegangen, um zu weinen. Und dann – gefühlte fünf Minuten später – war er mit wackligen und mutlosen Knien zur nächsten Bushaltestelle gewankt und in diesen Bus eingestiegen, der ihn auf direktem Weg zum Cyriaksring bringen würde. Inzwischen fühlte er sich einfach nur miserabel. Er hatte Angst. Seine Handflächen waren feucht, sein Herz trommelte schmerzhaft gegen seine Rippen, sein Magen rumorte und verkrampfte sich andauernd. Und mit jedem Meter, den der vollgestopfte Bus zurücklegte, stieg Davids Unruhe noch weiter. Der einzige Trost, den er hatte, war der Gedanke daran, dass Kenji an der Haltestelle auf ihn warten würde. Aufgedreht und zuversichtlich und mutig. Und dahinter konnte er Sascha sehen. Seinen Sascha, der im Zentrum auf ihn wartete und der keine Ahnung hatte, was David hier in Braunschweig tat. Für sich, für ihn, für sie beide. David schloss die Augen und versuchte, den stechenden Zigarettengeruch von rechts auszublenden. Er dachte an Sascha. An sein strahlendes Lächeln und seine funkelnden Augen. Er konnte sein Gesicht vor sich sehen, todtraurig und himmelhochjauchzend. Er stellte sich vor, wie er heute Abend ins Zentrum zurückfahren würde. Wie er Sascha umarmen und küssen würde. Wie er ihn die ganze Nacht lang nicht loslassen würde. Alles wird gut, beruhigte er sich immer wieder und begann sich sogar zu glauben, Alles wird gut. Du wirst schon sehen. Alles wird gut. Als der Bus dann jedoch am Cyriaksring hielt, war es mit Davids Glaube auch schon wieder vorbei. Mit zitternden Knien stand er auf und stolperte mehrmals über fremde Füße, die ihm auf dem Weg zu den Bustüren in die Quere kamen. Die kalte, frische Luft draußen war eine Erleichterung für sein hämmerndes Herz und seinen hochroten Kopf. „Yo, yo, yo!“, begrüßte ihn sogleich eine grinsende Gestalt mit Kapuzenpulli und erhob sich von der Sitzbank unter dem Haltestellendach, „Ich war mir bis eben nicht ganz sicher, ob du auftauchen würdest. Aber da bist du.“ „Hey, Kenji…,“ krächzte David, „Mir ist so schlecht…,“ „Ach was!“ Kenji kam strahlend auf ihn zu und umarmte ihn wie einen lange im Krieg verschollenen Sohn. David ließ sich gegen ihn fallen und vergrub sein Gesicht kurz an seiner Schulter. „Das wird ein Kinderspiel, kein Problem,“ sein bester Kumpel tätschelte ihm den Hinterkopf, „Mach dir keine Sorgen.“ David brummte unverständlich und ließ Kenji los. „Bringen wir es hinter uns…,“ murmelte er und schluckte, „Wenn wir zu lange warten, dreh ich bestimmt durch und laufe so schnell ich kann.“ Kenji lachte und während der Bus seinen Fahrplan wieder aufnahm und losrumpelte, wandten sie sich um und machten sich auf den Weg in Richtung Autowerkstatt und Sven. „Hach, ich bin den ganzen Tag schon total aufgeregt,“ erklärte Kenji heiter und stupste David leicht von der Seite an, „Konnte mich kaum auf die Arbeit konzentrieren. Das wird ein Fest, Alter. Hinterher wirst du dich fühlen wie neugeboren.“ „Hoffentlich…,“ zweifelte David und bemühte sich, nicht endgültig in Panik zu verfallen, „Im Moment fühl ich mich noch beschissen.“ „Das wird vorbei sein, sobald du vor ihm stehst und bemerkst, wie klein und hässlich er eigentlich ist. Hier rein.“ Sie bogen in eine Seitenstraße ein. Die paar Bäumchen am Straßenrand raschelten in der winterlichen Brise und sprühten Regentropfen auf sie hinunter. Außer ihren Schritten war nur der rauschende Verkehr von der Hauptstraße zu hören. David atmete angestrengt tief und entspannt. Um seine zitternden Hände zu verbergen, steckte er sie in die Hosentaschen. „Wie läuft‘s eigentlich bei dir?“, fragte er, um sich abzulenken und weil ihm auffiel, dass sie gestern Nacht nur über ihn und seine Wehwehchen gesprochen hatten, „Gibt’s was Neues bei dir?“ „Mhm, nein…,“ antwortete Kenji prompt, „Nichts besonderes jedenfalls. Also… Naja, ich…ich denke, ich verknalle mich grad in eine Krankenschwester im Krankenhaus.“ Überrascht drehte David den Kopf und musterte seinen besten Kumpel, der mit gesenktem Blick neben ihm ging und verlegen zu schmunzeln schien. „Ach ja?“, sagte er interessiert, „Erzähl mal mehr.“ „Also… Naja, wie gesagt… Sie ist Krankenschwester auf der Station, wo ich arbeite. Sie ist nett und klug und wir verstehen uns gut, aber…da gibt es leider ein Problem…,“ „Und das wäre?“ „Sie ist vierundzwanzig. Also fünf Jahre älter als ich und ich glaube, sie hält mich noch für ein Kind. Und deshalb weiß ich nicht, ob sie…ob sie mich so sehen kann, wie ich sie sehe. Verstehst du? Ich versuch schon ne Weile, mir das klar zu machen, aber ich kann irgendwie an nichts anderes denken als an sie. Sie ist so richtig cool, David. Hat Köpfchen und Charakter und lässt sich auch von dem fiesen Oberarzt nicht einschüchtern. Ich steh echt total auf sie…,“ Kenji verstummte. „Mhm…,“ machte David nachdenklich und durchforstete sein Hirn nach einem Rat, den er seinem besten Kumpel geben konnte – das war das Mindeste nach der gestrigen Telefonberatung, „Kannst du…ihr nicht irgendwie beweisen, dass du kein Kind mehr bist? Ich meine, wenn sie lernt, dich anders zu sehen, dann würde sie vielleicht–,“ „Hab ich auch schon überlegt,“ schnitt Kenji ihm das Wort ab und zuckte die Schultern, „Aber bisher ist mir noch keine möglichst männliche Heldentat eingefallen, mit der ich sie beeindrucken könnte. So, da sind wir.“ David blieb stocksteif stehen. Kenjis Erzählungen hatten ihn tatsächlich sehr gut abgelenkt. So gut, dass er die bunten Lichter der Autowerkstatt glatt übersehen hatte. Aber nun lag sie direkt vor ihm: Mehrere graue Gebäude mit flackernden Logos und einem großen Hof, auf dem vier Autos standen. Schlagartig war der drohende Abgrund in Davids Innerem wieder da. Sein Herz stolperte und begann wieder schneller zu pochen. Ihm wurde schlecht. „Scheiße…,“ zischte er, „ Oh, nein… Können wir…können wir vielleicht noch eine Runde drehen und du erzählst mir weiter von deiner Krankenschwester?“ Sein bester Kumpel lachte und griff nach Davids Jackenärmel, um ihn mit sich zu ziehen. „Nix da. Später. Komm schon, gleich ist alles vorbei.“ David verzog das Gesicht. Seine Beine waren schwer wie Blei. Sein ganzer Körper sträubte sich, schien sich mit jedem zögernden Schritt weiter nach hinten zu biegen. „Stell dich nicht so an, Mann!“, schimpfte Kenji leise und zerrte David unerbittlich auf den gepflasterten Hof, der von mehreren Laternen erhellt wurde, „Es ist doch nur Sven. Kein dreiköpfiges Monstrum.“ „Und warum fühlt es sich dann genau so an?“ „Weil du hysterisch bist, darum. Na los, reiß dich zusammen. Sei mutig!“ David schluckte krampfhaft, versuchte es aber. Tapfer machte er einen Schritt vor den anderen, ignorierte die Angst in seinem Bauch und dachte mit aller Kraft daran, wofür er dies alles auf sich nahm. Denn einen besseren Grund dafür gab es schließlich nicht. Alles wird gut, David, alles wird gut! Sie schritten langsam über den Hof und sahen sich um. Außer einem jungen Mann, der sich gegen einen roten VW lehnte und gedankenverloren eine Zigarette rauchte, war niemand zu erkennen. „Komm…,“ raunte Kenji, „Den fragen wir jetzt nach Sven.“ „Muss das sein…?“ „Ja, das muss sein. Komm schon, du Angsthase.“ Sie näherten sich dem Fremden. Er trug eine blaue Jacke und sehr dunkle Haare hingen ihm in die Stirn. Als er ihre näherkommenden Schritte hörte, blickte er auf. Erneut blieb David wie festgefroren stehen. „Mein Gott…!“, keuchte er entsetzt. „Was ist?“, fragte Kenji verdutzt. „Das…das ist er!“ „Wer? Sven? Nein, das–,“ „Nein, nicht Sven!“, reibeiste David mit zugeschnürter Kehle, „Das ist der Kerl, mit dem Sven mich damals betrogen hat!“ Sein bester Kumpel riss die dunklen Augen auf. „Bist du sicher?“ „Ja, hundertprozentig! Den würd ich doch niemals–,“ „Kann ich euch helfen?“ Die auffällig tiefe Stimme des jungen Mannes unterbrach Davids verzweifeltes Gestammel. Neugierig beobachtete er die beiden Neuankömmlinge, die ihren Weg zu ihm so plötzlich unterbrochen hatten. „J…Ja, vielleicht,“ rief Kenji zurück, packte abermals Davids Ärmel und zerrte ihn hinter sich her, „Wir suchen nach Sven.“ „Seid ihr Freunde von ihm?“ „Ex-Freunde sozusagen,“ erwiderte Kenji. „Aha…,“ Die dunklen Augen des jungen Mannes zuckten über Kenjis Gesicht, dann zu David hinüber. Eine Sekunde starrten sie nur, dann saugten sie sich erkennend an den blonden Locken fest, die sich feucht unter Davids Strickmütze hervor ringelten. „Oh…,“ machte er, als ihm offenbar ein Licht aufging, „Oh…,“ „Ja,“ entgegnete Kenji ungeduldig, „Ist Sven da?“ „Ähm, ja…,“ sagte Davids Schreckensvision, ohne den Blick auch nur einen Wimpernschlag von dem Paralysierten zu lösen, „Er ist noch drin, müsste aber gleich rauskommen,“ er nahm die brennende Zigarette in die linke Hand und reichte David die rechte, „Ich bin Thorben. Svens Freund.“ David musste sein Herz neustarten. Aus diesem Grund dauerte es ein paar Augenblicke, bis er Thorben seine eigene Hand reichen konnte. In seinen Ohren blubberte es monoton. Freund? „Hallo,“ sagte er tonlos, „David.“ „Hi, David…,“ Thorben lächelte und schüttelte dann auch Kenji, der sich ebenfalls vorstellte, kurz die Hand, bevor er sich erneut an David wandte, „Ich freu mich wirklich sehr, dich kennenzulernen. Bist du gekommen, um mit Sven zu reden?“ „Ja, ist er,“ antwortete Kenji an Davids Stelle und stieß ihn mit dem Ellenbogen an, „Oder? David?“ David öffnete den Mund. In ihm herrschte eine solche Leere, dass er sich regelrecht konzentrieren musste, um sich daran zu erinnern, wie man sprach. „Ja…,“ meinte er leise, „Das bin ich.“ „Großartig!“, erwiderte Thorben mit Nachdruck und strahlte David buchstäblich an, „Das ist klasse, echt. Wartet kurz hier, ja? Ich geh eben rein und hol ihn raus. Lauft nicht weg!“ Er zog ein letztes Mal an seiner Zigarette, trat sie auf dem Boden aus und hastete dann mit einem abschließenden Lächeln in das graue Gebäude hinter ihm, das sich gegen eine große Garage lehnte und das ein kleines Schild als Büro auswies. David ließ die Luft, die er die ganze Zeit unbemerkt angehalten hatte, mit einem Zischen entweichen. Kenji gluckste und klopfte ihm fast schmerzhaft auf den Rücken. „Na, siehst du!“, zischte er grinsend, „Läuft doch super bis jetzt. Thorben scheint okay zu sein, oder? Und er hat dich erkannt. Meinst du, Sven hat ihm von dir erzählt? Oder hat er dich damals noch gesehen, als du geflohen bist?“ „Keine Ahnung…,“ murmelte David matt. Er konnte und wollte nicht darüber nachdenken, ob und woher Thorben von ihm erfahren hatte. Er konnte und wollte überhaupt nicht über Thorben nachdenken. Thorben. Die Tatsache, dass Sven (immer noch) mit dem Typen zusammen war, mit dem er ihn vor zwei Jahren betrogen hatte, verunsicherte ihn mehr als er erwartet hatte. Ob er auch Thorben betrog? Oder hatten sie vielleicht nur eine lockere Affäre? Aber dann hätte Thorben sich doch nicht als `Svens Freund´ vorgestellt. Abgesehen davon würde David gleich seinem verhassten Ex ins Gesicht sehen. Das erste Mal seit Ewigkeiten. Wie würde sich das wohl anfühlen? Was würde passieren? Und was sollte und wollte er ihm eigentlich sagen? Wo konnte man Mut kaufen? „Mach dir keine Sorgen…,“ wisperte Kenji, als hätte er Davids Gedanken gehört, „Es wird schon schief gehen. Du wirst es wissen, wenn es soweit ist.“ „Was wissen?“, flüsterte David alarmiert, „Ich hab absolut keine Ahnung, was ich ihm sagen soll, Kenji!“ Sein bester Kumpel öffnete den Mund, kam aber nicht mehr dazu, zu antworten. Fast blieb David das Herz stehen, als die Tür, durch die Svens neuer Freund soeben verschwunden war, wieder aufgestoßen wurde. Er schnappte nach Luft. Da stand er. Sven. Das Licht, das aus der offenen Tür schien, blendete David ein wenig. Dennoch war es unverkennbar. Es war Sven, Davids Ex-Freund. Er erkannte ihn sofort. Alles an ihm erkannte er sofort. Sogar das abgetragene, graue Sweatshirt, auf dem sich ein paar Ölflecken zeigten. Svens Haare waren ein kleines bisschen länger als in der Schule. Aber sie waren immer noch genauso verwuschelt. Und sein Gesicht… Es hatte sich kaum verändert. Mehrere Momente lang fixierten sich David und Sven einfach nur stumm. Dann boxte Thorben, der hinter Sven stand, ihm in den Rücken und er zuckte heftig zusammen. „H…Hallo… David…,“ brachte er hervor. „Hallo…,“ raunte David scheu und schreckensstarr. „Hi, Sven. Wie geht’s, wie steht’s?“, plauderte Kenji munter drauflos, „Entschuldige unseren unangemeldeten Besuch. David will nur kurz mit dir reden. Ich hoffe, du kannst etwas Zeit erübrigen?“ Kenji ließ seine Frage so verhallen, dass man automatisch ein sonst setzt es was erwartete und im Kopf die Schatten einiger Karatemeister angreifen sah. Sven schluckte. „Ähm…,“ machte er und klang ebenso angsterfüllt wie David sich fühlte. „Klar, kann er das,“ entgegnete Thorben jedoch und legte seinem Freund die Hand auf die Schulter, „Ich schlage vor, dass ihr zwei kurz ins Büro geht. Kenji und ich warten so lange hier draußen. Alles klar?“ David und Sven konnten sich nicht wehren. Lächelnd schoben Kenji und Thorben sie ins Büro hinein. Als David sich entsetzt über dessen Verrat zu Kenji umdrehte, winkte sein bester Kumpel nur und reckte grinsend beide Daumen gen Himmel. Dann schlug Thorben die Tür zu und David war mit seinem persönlichen Trauma allein. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Seine Knie zitterten, ebenso wie seine Hände. Er fühlte sich entsetzlich wacklig und instabil und überhaupt nicht mutig. Aber gleichzeitig ließ die Aussichtslosigkeit dieser Situation neue Kraft durch seine Glieder strömen. Es gab kein Zurück. Nur das Vorwärts. Wie lange hatte er sich vor diesem Augenblick gefürchtet? Sehr lange. Doch jetzt war der Augenblick da und David würde ihn durchstehen. Denn dies war kein dreiköpfiges Monster, sondern nur Sven. Und er hatte genauso viel Angst wie David selbst. Also holte er tief Luft und drehte sich langsam zu seinem Ex-Freund um, der hinter ihm stand und ihn unverwandt fixierte. Als sich Davids Augen auf ihn richteten, schien er leicht zu erschaudern. „Hey…,“ machte David lahm, vollkommen ratlos nach den richtigen Worten suchend. „Hey…,“ antwortete Sven und schaffte sogar den Anflug eines Lächelns, „Lang ist es her…,“ „Stimmt.“ „Möchtest du…dich vielleicht setzen?“ „Okay.“ Sven wies einladend auf einen der beiden Stühle, die vor dem vollgemüllten Schreibtisch standen. David setzte sich auf die äußerste Stuhlkante und verschlang die Finger ineinander. Obwohl das Büro geheizt war, fror er ein wenig. Aber das war wohl nur das Echo von der Kälte draußen. Er betrachtete Sven, der ihm gegenüber Platz genommen hatte. Sven betrachtete ihn ebenfalls. Schweigend sahen sie sich an. Dann wandten sie beide gleichzeitig den Blick ab und schauten sich in dem kleinen, hell erleuchteten Büro um, das außer dem Schreibtisch, den beiden Stühlen davor und dem einen Stuhl dahinter, nur noch einer Topfpflanze Platz bot und nur mäßig spannend war. David riss sich am Riemen und zwang seine Augen zurück zu Sven. Sven tat es ihm gleich. Wie sonderbar es war, hier mit ihm zu sitzen und ihn anzusehen… Und es war wirklich Sven. Es war kaum zu glauben, doch er war es wirklich. David konnte die beiden Muttermale erkennen, die nebeneinander dicht an seinem rechten Ohr lagen und die er bestimmt hundertmal berührt und geküsst hatte. Er erkannte die Form seiner Nase und den Ausdruck seines Kinns, wenn er angespannt war. Er erkannte den Schwung seiner Augenbrauen und die kleine Narbe an seiner linken Schläfe. Er erkannte Sven, aber…da war nichts mehr. Keine Wärme, keine Zuneigung, keine Sehnsucht. Nur die Erinnerungen an glückliche Zeiten und den Schmerz, den David bis heute nicht vergessen konnte. Sven atmete tief ein und senkte den Kopf. Als er ihn wieder hob, lächelte er matt. „Das…ist komisch, oder?“, fragte er leise. David schmunzelte zurück und nickte. „Als Thorben sagte, dass du mit Kenji draußen stehst und mit mir reden willst, hatte ich fast einen Herzinfarkt…,“ fuhr Sven verlegen grinsend fort und zupfte an seinem zerstrubbelten Pony, wie er es schon in der Schule immer getan hatte, „Ich war überhaupt nicht darauf vorbereitet. Außerdem hab ich Schiss vor Kenji.“ David kicherte. „Weil er dir damals Prügel angedroht hat?“ Sven grinste ihn an und nickte. „Ja, genau. Er war so sauer auf mich, dass ich eine Weile echt Angst hatte, allein zu Hause zu sein. Ich fürchtete, er würde nachts kommen und mich totschlagen.“ Sie mussten beide lachen. Das tat gut und löste den Knoten in Davids Kehle etwas. Leider dauerte der Zauber nicht lange. Nachdem ihr Lachen verstummt war, beäugten sie sich wieder still. Und warteten. David gab sich einen Ruck. „Ich wollte eigentlich gar nicht kommen,“ erzählte er seinem Ex-Freund und spürte, wie sich abermals sein Herzschlag beschleunigte, „Gestern Nacht hat Kenji mich dazu überredet. Er meinte, dass ich…,“ David verstummte und rang nach Worten. Wie sollte er Sven nur begreiflich machen, was er hier wollte? Dass er mit ihm reden wollte, ohne zu wissen, was er mit ihm reden wollte. Er zögerte. Und entschied sich unter Svens geduldigem Blick schließlich für die Wahrheit. Wenn er in Zukunft zu Sascha und zu seinen Gefühlen für ihn stehen wollte, dann konnte er auch direkt bei seinem Ex-Freund damit anfangen. Für den Fall, dass Sven ihn auslachen oder beleidigen würde, stand Kenji ja kampfbereit draußen vor der Tür. „Ich bin verliebt,“ sagte David also und es erneut auszusprechen, machte es so real, dass unvermittelt ein Rudel Schmetterlinge durch seinen Bauch kreiste, „In einen Kerl, der mit mir gemeinsam Zivi macht. Aber ich…konnte mich bisher einfach nicht richtig auf ihn einlassen, weil ich…immer noch an dich denken musste. Deshalb bin ich hier. Ich…ich will endlich mit dir abschließen und vergessen, was zwischen uns passiert ist. Ich will mit ihm zusammen sein, weißt du? Ohne negative…Erwartungen.“ Sven hatte ihm schweigend zugehört. Als David geendet hatte, nickte er. „Ich verstehe, was du meinst,“ entgegnete er sanft, „Und ich finde es unglaublich mutig von dir, dass du deswegen hergekommen bist. Eigentlich wäre das ja mein Job gewesen. Aber ich…hatte nicht den Mumm dazu…,“ Er seufzte und fuhr sich mit beiden schmutzigen, ölverschmierten Händen über das Gesicht, sodass ein paar dunkle Flecken auf seinen Wangen und seiner Stirn zurückblieben. Als er David wieder ansah, wirkte er…traurig. Traurig und ernsthaft und…schuldbewusst. Kein bisschen spöttisch oder ungeduldig oder entnervt. David fiel ein Stein vom Herzen. „Es tut mir leid, David…,“ sagte Sven aufrichtig, „Es tut mir leid, dass ich dich so schlecht behandelt habe. Ich war ein Arschloch damals. Ich hab nur an mich gedacht. Und an Sex. Und es war mir egal, dass ich dich mit meinem Verhalten verletze. Erst durch Thorben hab ich angefangen darüber nachzudenken. Er hat mich ganz schön zusammen gefaltet deswegen.“ David blinzelte. Er konnte nicht glauben, dass sie diese Unterhaltung tatsächlich führten. Dass Sven sich so ehrlich bei ihm entschuldigte und seinen Fehler einsah, obwohl er doch damals ihm, David, die Schuld für sein gebrochenes Herz in die Schuhe geschoben hatte. Konnte ein Mensch sich in zwei Jahren so sehr verändern? Durch den Einfluss…eines anderen Menschen? „Echt…?“, fragte David daher ungläubig, „Thorben…?“ Sven grinste und nickte. „Ja. Nachdem du uns an der Bushaltestelle gesehen hast, hat er mich gefragt, wer du warst, weil du so erschrocken aussahst. Ich hab ihn angelogen und ihm gesagt, dass du nur irgendwer warst und ich dich nicht kennen würde.“ David zog die Augenbrauen hoch und Sven verzerrte schuldbewusst das Gesicht. „Ich weiß, ich weiß. Ich war ein Widerling. Aber damals war es mir wirklich egal. Auch, nachdem du und ich telefoniert hatten. Nur das Gespräch mit deinen Freunden hat mich darauf gebracht, dass ich dich wirklich verletzt hatte. Aber – wie gesagt – es war mir nicht so wichtig. Es tat mir zwar irgendwo leid, weil ich dich wirklich gern hatte, aber ich dachte halt, dass du schon darüber hinweg kommen würdest. Ich wollte mich nur austoben und rummachen. Deshalb haben Thorben und ich uns regelmäßig getroffen. Nur so…,“ „Zum Vögeln?“, half David ihm nach. Sven grinste schief. „Ja, genau. Aber irgendwann trafen wir uns dann immer öfter und so kamen wir dann irgendwie aus Versehen zusammen. Damals hab ich ihm dann doch von dir erzählt und er war total entsetzt. Er sagte, ich sei das Letzte und dass er keine Lust hätte, mit jemandem zusammen zu sein, der seinen Freund so mir nichts, dir nichts betrog, ohne einen Funken Anstand und Reue. Er ließ mich einfach stehen und ich war total außer mir. Ich bin monatelang hinter ihm her gerannt. Er fragte mich, wie ich mich fühlen würde, wenn er mich betrügen würde. Und da stellte ich fest, dass ich den Gedanken schrecklich fand.“ David starrte ihn an. Und er begriff. „Du hast dich in Thorben verliebt,“ sagte er und seine Stimme klang selbst in seinen eigenen Ohren überrascht. Sven nickte. „Ja…,“ raunte er zärtlich und lächelte dieses ganz bestimmte Lächeln, das verliebte Menschen überall auf der Welt zu lächeln pflegen, „Das hab ich. Ich hab’s nicht kommen sehen. Es ist einfach passiert. Und als ich es gemerkt habe, war es schon zu spät. Ich wollte ihn unbedingt haben. Und ich wollte alles richtig machen und mich für ihn verändern, um ihn halten zu können. Wir haben viel geredet in dieser Zeit. Er sorgte dafür, dass ich mich das erste Mal richtig mit mir und meinem Benehmen auseinander setzte. Er ist schrecklich in diesen Dingen,“ fügte Sven hinzu und grinste, „Er denkt ständig nach, hinterfragt alles und jeden, zweifelt an Fakten und spricht immerzu unangenehme Wahrheiten aus. Manchmal hasse ich ihn dafür.“ David spürte, wie sich seine Mundwinkel zu einem Lächeln verzogen. Er mochte die Tonlage, mit der Sven über Thorben sprach. Nicht nur liebevoll, sondern…mit Hochachtung. Respektvoll. Das Sven so über jemanden reden konnte… Es war nicht zu fassen. „Jedenfalls machte er mir klar, dass ich mich dir gegenüber…unglaublich ätzend verhalten hab…,“ fuhr Sven bedrückt fort und kratzte an einem Schmutzfleck an seinem Handrücken herum, „Ich sagte ihm, dass ich mich bei dir entschuldigen würde. Und nur deshalb sind wir wieder zusammen gekommen. Und ich wollte mich wirklich entschuldigen, aber ich…hab mich nicht getraut. Ich hatte einfach nicht genug Eier in der Hose. Erst, weil Kenji mir Schläge angedroht hat, wenn ich dir nochmal zu nahe komme. Und dann…einfach so. Ich wusste nicht, was ich dir sagen sollte, wie ich es ausdrücken sollte. Ich war mir sicher, dass du mich hasst und mir nicht glauben würdest.“ Er schaute auf und in Davids Augen. „Denn das hättest du nicht getan. Oder?“ David erwiderte seinen Blick. Dann schüttelte er langsam den Kopf. „Nein…,“ murmelte er, „Geglaubt hätte ich dir vermutlich wirklich nicht. Aber gehasst…habe ich dich eigentlich nie. Und das wird mir jetzt erst klar. Ich…ich…war wütend und…und ich hatte Angst vor dir. Ich wollte mich nie wieder verlieben, nie wieder verletzt werden. Ich wollte vergessen, dass ich schwul bin. Ich hab mich eingeigelt und als mir jemand zu nah kam…, hab ich ihn weggestoßen…,“ „Das…hat deinen Freund bestimmt verletzt, oder?“, fragte Sven behutsam. David biss sich auf die Unterlippe und nickte. „Ja, ziemlich. Ich hab das am Anfang gar nicht begriffen. Aber…gestern hatten wir einen schlimmen Streit und danach…, hab ich beschlossen…,“ „In dir selbst aufzuräumen?“, half diesmal Sven weiter und schmunzelte. Leise schniefend grinste David und nickte erneut. „Ja, genau.“ „Ich kenn das Gefühl. Wenn man sich schuldig fühlt und gar nicht weiß, wo man anfangen soll zu kitten. Und wenn man in sich hinein schaut, sieht man nur Kuddelmuddel, unter dem Ängste versteckt sind, von denen man nichts geahnt hat.“ David schnaubte. „Wem sagst du das…,“ Sie musterten einander und lächelten im gemeinsamen Verständnis. David konnte kaum glauben, dass dies real war. Er und Sven, dieses Büro, dieses Gespräch. Nach so langer Zeit verstanden sie sich zum ersten Mal wirklich. So lange hatte er gelitten. Und die ganze Zeit hatte Sven einfach nur der Mut gefehlt, sich bei ihm zu entschuldigen. Einen Moment stellte David sich vor, wie die letzten zwei Jahre für ihn hätten sein können, wenn sie diese Unterhaltung schon viel früher geführt hätten. Vermutlich anders. Besser. „Ich bin froh, dass ich hergekommen bin…,“ murmelte David und grinste etwas breiter, „Ich bin froh, dass Kenji mir so in den Arsch getreten hat.“ „Ich auch…,“ grinste Sven zurück, „Und ich bin froh, dass Thorben mir so in den Arsch getreten hat. Ich bin irgendwie besser geworden durch seinen Einfluss. Also… Verstehst du, was ich meine? Ich hab mich verändert durch ihn. Und auch wenn es anfangs schwer und unangenehm war, war es doch den ganzen Aufwand wert.“ „Ja…,“ nuschelte David. Und dann spürte er es. Dass etwas von ihm wich, ihn verließ und einer berauschenden Leichtigkeit Platz machte, die er so noch nie zuvor empfunden hatte. Jedenfalls fühlte es sich so an. Als wäre er das erste Mal in seinem Leben ganz…frei. Stoßartig atmete er auf und starrte ins Nichts. „Mein Gott…,“ flüsterte er. Verwirrt runzelte Sven die Stirn. „Was ist?“ David antwortete nicht. Er konnte seine Stimmbänder nicht finden, denn plötzlich schien alles Sinn in seinem Kopf zu machen und sämtlichen Platz in seinem Inneren einzunehmen. Vielleicht ging es eben darum. Ums Verändern. Vielleicht hatte er seiner gescheiterten Beziehung mit Sven doch viel zu viel Bedeutung zugemessen. Vielleicht hatten sie einfach nur nicht zusammen gepasst. Vielleicht war es eben nur ein Versuch gewesen. Ein Versuch, der letztlich nicht funktioniert hatte und deshalb noch lange kein Drama, kein Weltuntergang sein musste. Vielleicht hatte er sich zu wichtig genommen. Vielleicht hatte das einzige Problem darin gelegen, dass er Sven nicht hatte verändern können. Oder wollen. Aber Thorben hatte die Kraft und die Geduld und den Willen dazu gehabt. Svens Gefühle für Thorben hatten Sven verändert. Und eben in diesem Augenblick veränderten Davids Gefühle zu Sascha ihn. Vielleicht war das die Antwort. Vielleicht gingen Liebe und Veränderung Hand in Hand. Vielleicht musste die Liebe verändern, um Liebe zu sein. Und um eine Chance zu haben. Eine Chance, die er mit Sascha unbedingt haben wollte. Jetzt sofort. David sprang so energisch auf die Füße, dass Sven zusammen zuckte. „Ich muss los!“, stieß er hervor. „Was? Jetzt sofort?“, fragte Sven erschrocken und wirkte überrumpelt. „Ja, unbedingt!“, lachte David und zitterte schon wieder vor Aufregung, „Ich muss sofort zu…zu meinem Freund und alles mit ihm klären.“ „Oh ja, sicher,“ Sven erhob sich ebenfalls und gluckste angesichts der Energie, die David auf einmal ausströmte, „Das versteh ich natürlich.“ „Danke! Du bist der Beste, ehrlich! Also, nicht der Allerbeste, aber auf jeden Fall der Drittbeste.“ „Okay…,“ kicherte Sven und grinste über das ganze Gesicht, „Das reicht mir. Dann komm, Kenji und Thorben sind bestimmt schon ganz durchgefroren.“ „Wahrscheinlich.“ Nebeneinander verließen sie das Büro. Die Kälte versetzte David einen kleinen Kinnhaken, den er trotzdem kaum wahrnahm. Er war so hibbelig und glücklich, dass er am Liebsten wie ein Flummi auf LSD auf und ab gesprungen wäre. Nur mit Mühe konnte er sich zurückhalten. Stattdessen sprang er Kenji, der sich auf dem Hof angeregt mit Thorben unterhielt, wie ein tollwütiger Hund an und drückte ihm vor Freude kurz die Luft ab. „Da…Argh!“, machte Kenji krächzend, „Himmel! Alles klar bei dir?“ „Ja!“, jauchzte David und schüttelte seinen besten Kumpel durch, „Ja, ja, ja! Aber wir müssen sofort los, Kenji! Ich muss sofort zu Sascha und ihm alles sagen und–,“ „Waswaswaswas?“, blubberte Kenji einigermaßen überwältigt, „Neinneinneinnein! Du kannst jetzt nicht so einfach zu deinem Hengst verschwinden! Wir beide gehen jetzt erst mal zusammen einen trinken.“ „Nein!“, keuchte David entsetzt. „Oh doch!“, insistierte Kenji streng, „Zumindest das schuldest du mir. Nachdem ich dir meine halbe Nacht und ne Ewigkeit hier draußen in der Kälte gewidmet habe.“ David verzog das Gesicht. Er sehnte sich mit einer solchen Macht nach Sascha, dass ihm fast schwindelig wurde. Es war wie Magenschmerzen und Juckreiz gleichzeitig. Doch Kenji…hatte eindeutig ein überzeugendes Argument auf seiner Seite. Er hatte David in den letzten zwanzig Stunden mehr gegeben als David je von ihm verlangt oder erwartet hätte. Er war für ihn da gewesen, hatte ihm Mut und Optimismus geschenkt und dafür gesorgt, dass David über seinen Schatten sprang. Er hatte ihn verändert. Und als Dank dafür konnte David ihm nun ruhig einen Drink ausgeben. Das war das Mindeste. Also seufzte David und warf Sven und Thorben einen Blick zu, die nebeneinander in der Nähe standen und sie amüsiert beobachteten. Thorben hatte den Arm um Sven gelegt und lächelte. Und Sven…sah glücklicher aus, als David ihn je zuvor gesehen hatte. Dieser Anblick rührte David und ließ die Sehnsucht in ihm erneut schmerzhaft auflodern. Trotzdem. Er würde sich noch etwas gedulden müssen. Dieser Abend gehörte Kenji. Sascha bekam die Nacht. „Du hast Recht,“ lächelte David seinen besten Kumpel an, „Gehen wir einen saufen. Aber nicht so lange…,“ „Sowieso nicht!“, betonte Kenji, „Rate mal, wer morgen wieder um fünf aufstehen muss.“ Sie verabschiedeten sich von Sven und Thorben, was ein bisschen viel herzlicher ausfiel als noch die Begrüßung. Dann warfen sie die Arme umeinander und schlenderten aufgekratzt plappernd und giggelnd vom Hof der Autowerkstatt. Sie nahmen die erste Kneipe, die ihnen auf dem Weg Richtung Innenstadt begegnete. Dort, in der typisch spärlichen Kneipenbeleuchtung, setzten sie sich an einen bekleckerten Ecktisch. Außer ihnen waren nur noch vier andere Gäste anwesend, die sich an der Bar lümmelten und sich grunzend unterhielten. Sie achteten nicht auf David und Kenji und die hielten es ebenso. Sie übersprangen den obligatorischen Es-Gibt-Was-Zu-Feiern-Champagner und bestellten gleich, nachdem sie dem dicklichen Barmann grummelnd ihre Ausweise gezeigt hatten, zwei Schnäpse. Sie stießen an, kippten sie und bestellten gleich zwei weitere. Kenji wollte alles über Davids Gespräch mit Sven wissen und David erzählte es ihm. Er ließ nichts aus, beschrieb jede Gefühlswandlung und gestikulierte vor Begeisterung wie eine Windmühle, während Kenji sich vor Mitfieberung die Fingernägel abkaute. Sie tranken, sie lachten, sie redeten. Über Sven und Thorben, über Sascha und Kenjis Krankenschwester, über alte und neue Zeiten, über Freiheit, über Ängste und Hoffnungen und den Mut, etwas zu verändern. Es war genauso wie früher. Nur noch besser. „Ich bin so stolz auf dich!“, erklärte Kenji strahlend, „Weil du so mutig warst, ehrlich.“ „Danke!“, jauchzte David und verschüttete etwas Schnaps, „Ich auch, das kannst du mir glauben. Ich hätte nie gedacht, dass ich das bringe.“ „Also ich schon,“ behauptete Kenji und hob sein Glas, „Ich wusste die ganze Zeit, wie mutig du in Wirklichkeit bist. Also, auf den Mut! Prost!“ „Cheers!“, grinste David und fühlte sich groß und stark und mutig. „Weißt du, was mich beschäftigt…?“, nuschelte David zwei Stunden später, als er schon ziemlich angetrunken und Kenji, dank seiner japanischen Abstammung, sternhagelvoll war. „M-m… Was?“, machte Kenji und blinzelte David an, als sähe er ihn nur noch verschwommen. „Ich glaube…, ich hab die Sache mit Sven letztendlich echt viel zu ernst genomm…,“ philosophierte David träge über die Hintergrundgespräche der inzwischen gewachsenen Gästeschar hinweg, „Ich…kann mir…ähm… nich mehr vorstelln, dass er echt an allem schuld sein soll, weist du. Ich meine, all der Müll in mir… Kann das echt nur von…äh… einem Typen kommen, der mich betrogen hat…? Das wär doch krank…!“ „Mhm…ja…,“ lallte Kenji zurück, „Vleicht… Vleicht hatst du einfach…nur Bindungs… Bindungsängste, Alder… So wie wir alle…,“ „Ja…,“ wisperte David nachdenklich, „Vielleicht. Du könntest Recht ham.“ „Ich…hab imma Recht…,“ nuschelte Kenji. „Ach ja…?“, gluckste David und musterte seinen schwankenden Kumpel belustigt. „Ja… Ich hab imma Recht und weiß…äh… weiß imma alles…,“ „Echt? Dann sag mir, was der Sinn des Lebens is, bitte.“ „Der Sinn des Lebns…?“, echote Kenji und wedelte formvollendet mit seinem Zeigefinger, „Der Sinn des Lebns, mein lieba Freund, is es, …ähm… deinem Leben ein Sinn zu gebn.“ Beeindruckt stutzte David. „Ja…,“ flüsterte er erneut und starrte in das neugeborene Universum, das sich vor seinem inneren Auge auftat, „Ja… Das kann sein…,“ „Sach ich doch…,“ betonte Kenji und rülpste, „Oh… Schulligung…,“ David grinste, benebelt und trotzdem sehr zärtlich. „Weist du was…?“, murmelte er und rutschte auf der gepolsterten Eckbank entlang, bis er direkt neben Kenji saß und die Arme um ihn legen konnte, „Ich dachte immer, wir zwei wärn nur beste Kumpels. Aber…du bist mein bester Freund. Echt. Du bist mein allerbester Freund aufer Welt und ich danke dir für alles und ich hab dich sooo lieb!“ David drückte seinen besten Freund auf der Welt an sich und der quiekte und kicherte und umarmte ihn zurück. Kurz darauf, nachdem sie ihre Schnäpse bezahlt hatten, verließen sie die Kneipe. David konnte und wollte nicht mehr warten. Er war betrunken, verliebt und voller Verlangen. Er wollte endlich in Saschas Arme. Er wollte ihn küssen und anfassen und seinen nackten Herzschlag an seinem fühlen. Er wollte endlich die Belohnung für seine Anstrengungen haben und sofort ins Tierschutzzentrum zurück. Also setzte er den kobaltblauen Kenji in ein Taxi, schärfte ihm ein, Bescheid zu sagen, sobald er gut zu Hause angekommen war, und knuddelte ihn noch einige Male zum Abschied durch. Kenji grinste verklärt, wünschte ihm Glück und winkte ihm, als das Taxi den Motor startete und in die Novembernacht davon brauste. Dann machte sich David ebenfalls auf den Nachhauseweg und mit jedem Schritt, den er durch den kalten Wind hastete, wurde er aufgeregter, bis er beinahe wieder nüchtern war. Als er endlich zu Hause ankam, war es nach elf Uhr. Er bebte am ganzen Leib und in seiner Brust trommelte sein erwartungsvolles Herz. „Papa?“, bellte er durch den Flur, sobald er die Haustür hinter sich ins Schloss gedrückt hatte, „Mam? Seid ihr noch wach?“ „Pscht!“, machte sein Vater mit einem Anflug von Ärger und steckte seinen Kopf aus der Küche, „Was brüllst du denn so rum? Deine Mutter ist schon schlafen gegangen. Was–,“ „Papa!“, keuchte David und eilte auf ihn zu, ohne sich die Mühe zu machen, Jacke und Schuhe auszuziehen, „Papa, du musst mich sofort ins Zentrum fahren!“ „Wie bitte?“, fragte Volker schockiert, „Jetzt?!“, er schnupperte, „Hast du getrunken?“ „Ja, hab ich. Und ja, jetzt sofort!“ „Aber es ist bald Mitternacht und ich–,“ „Jaja, ich weiß!“, unterbrach David ihn und winkte energisch ab, „Und deshalb kann ich auch nicht mehr Zug fahren, es fährt vor morgen keiner mehr. Aber ich muss jetzt sofort ins Zentrum zurück, Paps! Ich will zu Sascha, ich…ich will…,“ Er verstummte, legte die Handflächen aneinander und fixierte seinen Vater so flehentlich wie niemals zuvor in seinem Leben. „Bitte, Papa. Bitte, bitte.“ Volker wirkte arg unzufrieden. „David…,“ jammerte er und stellte den benutzten Becher, den er wohl eben noch gemeinsam mit dem restlichen Geschirr vom Abendessen in die offene Spülmaschine stellen wollte, auf der Küchenanrichte ab, „Ich muss morgen arbeiten. Wieso schläfst du nicht erst mal deinen Rausch aus und fährst morgen Vormittag in Ruhe zurück?“ „Weil ich nicht mehr warten kann!“, heulte David theatralisch und schniefte angesichts all der Ungerechtigkeit auf der Welt, „Ich kann nicht mehr warten, Papa. Ich hab mich heute Abend mit Sven ausgesprochen und jetzt will ich mich auch endlich mit Sascha aussprechen. Ich vermisse ihn so sehr und ich…ich will endlich mit ihm zusammen sein…!“ Volker starrte ihn an. Und David starrte zurück und versuchte, all die beschwipste Verzweiflung, die er so überdeutlich empfand, in seinen Blick zu legen. Sein Vater seufzte laut und verdrehte die Augen. Doch David wusste, dass er gewonnen hatte, und die Freude darüber machte ihn ganz schwach. „Also gut…,“ ächzte Volker, „Also gut. Ich mach mich fertig und dann fahre ich dich.“ „Danke, Paps!“, jubelte David und sprang seinen Vater an, um ihn zu herzen, „Danke, danke, danke! Du bist der Beste! Der Viertbeste! Ich hab dich so lieb!“ „Sag das nicht mir, sag das deinem Sascha,“ brachte Volker hervor, sobald sein Kehlkopf wieder frei war, „Und jetzt lass mich los, damit ich mir Schuhe anziehen kann.“ Sechs Minuten später waren sie auf dem Weg. Mit gleißenden Scheinwerfern bahnte sich das weiße Familienauto schnurrend einen Weg durch die nächtliche Stadt und auf die Landstraßen Richtung Rötgesbüttel. David konnte kaum still sitzen. Er las Kenjis Sms (Bi da alles gut viel glück. Nacht), er knetete seine Hände, schaltete das Radio an und hopste im Takt zu Wannabe von den Spice Girls auf dem Beifahrersitz herum. Volker gähnte und warf ihm in regelmäßigen Abständen skeptische Blicke zu, beschwerte sich jedoch nicht. Aber David hätte es vermutlich sowieso nicht gehört. Alles in ihm hüpfte. Er war so aufgeregt, so voller Vorfreude und Furcht, dass er gleichzeitig lachen, schreien und weinen wollte. In seinem beduselten Kopf tanzten die Gedanken Cha-Cha-Cha. Denn jetzt war es endlich fast soweit! Jetzt war er keine zehn Kilometer mehr davon entfernt, mit seinem Angebeteten in den Sonnenuntergang (bzw. Sonnenaufgang) zu reiten. Er würde Sascha alles sagen. Auch, wenn er die Reihenfolge noch nicht wusste. Doch er würde ihm alles sagen. Und dann…würde endlich, endlich alles gut werden. Es sei denn… Es sei denn – und diese Vorstellung versetzte David in Angst und Schrecken – Sascha wollte ihn nicht mehr. Nach allem, was geschehen war, nach all den Verletzungen, die David ihm zugefügt hatte. Nach all dem Schmerz und dem Hin und Her, dem Auf und Ab, dem ständigen Ranlassen und Wegstoßen. David könnte es ihm nicht einmal verübeln. Doch was sollte er dann tun? Was würde dann werden? Er wusste es nicht. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, ob und wie er damit umgehen könnte. Ob er es hinnehmen und ertragen könnte oder ob er dann in ein neues Loch fallen würde, das ihn für die nächsten zwei Jahre verschlang. Allein der Gedanke… David erschauderte. Und kannte die Antwort: Nein. Er würde das so nicht akzeptieren können. Er würde Sascha nicht gehen lassen. Nicht nach all dem Stress, den er sich gemacht hatte. Nicht nach der aufreibenden Aufarbeitung all seiner Ängste, dem Outing vor seiner Familie und seinem besten Freund, der Aussprache mit Sven. Nein, so einfach würde Dings nicht davon kommen. Auf keinen Fall. „Hast du Angst?“, erkundigte sich sein Vater in dieser Sekunde und David schreckte aus seinen hysterischen Gedanken. „Ja!“, stieß er hervor und hob die Arme, um seine zitternden Hände zu begutachten. Volker lächelte. „Ich glaube, das musst du nicht.“ „Bist du sicher?“, klagte David. „Ja, ziemlich.“ „Und wieso?“ „Väterliche Intuition,“ grinste Volker und, bevor David protestieren und genauer nachfragen konnte, lenkte er den Wagen auf den ausgestorbenen Hof des Zentrums. Der Abschied von seinem Vater zog sich ein wenig länger hin, da David ihn vor lauter Panik und Dankbarkeit kaum loslassen konnte. Doch schließlich gelang es Volker, sich freizustrampeln, seinem zweitältesten Sohn viel Erfolg zu wünschen und den Wagen zu wenden, um sich auf den Heimweg nach Braunschweig zu machen. Mit weichen Knien schaute David ihm ein paar Sekunden lang nach. Sein Herz schlug schnell und schmerzhaft gegen seine Rippen und die Schnäpse wirbelten gemeinsam mit dem Adrenalin durch sein Blut. Ihm war schwindelig und eigentlich nach sitzen zumute. Doch jetzt war es an der Zeit. An der Zeit, ein letztes Mal seine Ängste beiseite zu schieben und mutig zu sein. Den letzten Sprung zu wagen. Go, David, go! David nickte, atmete tief die Novemberluft ein und packte das letzte Körnchen Tapferkeit, was er in den letzten eineinhalb Tagen noch nicht aufgebraucht hatte. Dann lief er über den Hof, an der Eiche vorbei und auf die dunkle Betreten verboten-Tür zu. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)