Laäros - Die Stadt der Türme von Oile ================================================================================ Prolog: Prolog -------------- Laäros Aus der Wolkendecke ragten sie hervor und durchbohrten das dichte Weiß Pfeilen gleich. Dunkle, steile Gebilde, senkrecht stehende Pfähle mit Zinnen, die sich der Höhe entgegenstreckten. Die Stadt umfasste 49 Türme, die alle in quadratischer Ordnung mit Brücken verbunden waren, welche die Atmosphäre der stumpfen Steinblöcke wunderbar ergänzten. Sie glichen dunklen, horizontalen Linien, deren einzige Unebenheit kleine Statuen waren, die auf je einem Geländer jeder Brücke saßen. Von einem Ende zum anderen zog sich eine Reihe mittlerweile nicht mehr weißer Steine durch sie hindurch. Weiß war für Laäros generell die falsche Farbe und passte auch nicht zu den Brücken, wenn man ihre Bedeutung kannte, denn die Steine waren Wegweiser zum Tod. Unter den Brücken hingen sie, verweste Körper, Skelette, grausige Gestalten: Leichen. Den Schreck in ihre Gesichter gebrannt, baumelten sie im Wind, den rauhen Strick um den Hals. „Gehst du zur Urteilssprechung von Louis?“ Evangelos blickte mich fragend an. Ich nickte leicht. „Ich bin als Zeuge eingeteilt.“ Evangelos war ein leicht hagerer Junge griechischer Abstammung, welche an seinem Aussehen und speziell an der dunklen Hautfarbe schnell auszumachen war. Er war 15, hatte schmale Lippen, kurze braune Haare und Augen gleicher Farbe. Er trug eine schwarze Hose, einen schwarzen Pulli und darüber eine ebenso schwarze Jacke, deren Ärmel so lang waren, dass sie seine Hände verdeckten. Ich selbst trug einen langen Mantel mit Stehkragen der gleichen Farbe. Ich war 36, verhältnismäßig groß, hatte breite Schulter und meiner Meinung nach eine akzeptable Figur. Ich hatte ein eckiges Kinn, welches von einem feinen Bart geziert wurde, eine leicht buckelige Nase und blaugraue Augen. Das einzige, was mich an mir störte, waren meine Haare. Ich hatte keine. Man gewöhnte sich an die kahle Kopfhaut, auf der man jeden noch so kleinen Windhauch spüren konnte, doch war auch die Zeit, als ich noch etwas auf dem Kopf gehabt hatte, sehr nett gewesen. Schon kurze Zeit später stand ich im Turm des Gerichts vor einer großen hölzernen Flügeltür, deren Mitte ein Galgen zierte. Ich schüttelte den Kopf über diese Geschmacklosigkeit und öffnete leise die rechte Seite, um den großen Saal zu betreten. Mit einem kaum vernehmbaren Klicken schloss sich die Tür wieder hinter mir. Die Anwesenden nahmen keinerlei Notiz von meinem Eintreffen, sondern unterhielten sich weiter flüsternd, wobei manchen doch einige lautere Worte entwichen. Der Saal war sehr einfach und doch beeindruckend eingerichtet. An der Stirnseite thronte unübersehbar das Richterpult und links und rechts stand jeweils eine Tischreihe, hinter denen sich schon einige wichtigere und unwichtigere Anwohner eingefunden hatten. In der Mitte stand ein einzelner Stuhl, auf dem ein zirka 16 Jahre alter, zitternder Junge saß, den Blick starr auf den Boden gerichtet, sodass sich einige seiner Haarsträhnen von den anderen gelöst hatten und nun sein Gesicht verdeckten. Kein Ton war von ihm zu hören, doch konnte man ihm die Angst deutlich ansehen. Er wurde von einigen Männern bewacht, die mit ausdruckslosen Minen um ihn herumstanden. Hinten, nahe der Tür, durch die ich eingetreten war, fand sich Platz für gute Bekannte des Jungen oder Schaulustige, die sich über den Urteilsspruch amüsieren würden. Gegen ihr Verhalten sagte ich nichts. Es brachte nichts, gegen deren Geschmack zu demonstrieren, wollte man keinen vorzeitigen Tod sterben. Ich ließ mich auf dem einzigen noch leeren Platz der linken Seite nieder und wartete. Als Zeuge hatte ich nicht viel zu tun außer aufzupassen und den rechtmäßigen Ablauf der ‚Verhandlung‘ zu bestätigen. Es dauerte nicht lange, und die Tür wurde mit einem lauten Krachen gegen die Wand geschlagen. Kler, der Richter, war angekommen und mit ihm Saron, der Henker. Der Saal verstummte augenblicklich. Kler war ein ernst dreinblickender Mann mit zusammengekniffenen Augen, der selbst kleinste Scherze missbilligte. Saron hingegen hatte Ähnlichkeit mit einem Schrank, war groß und bullig und hatte seine Haare fein säuberlich an den Kopf geklatscht. Sie schritten durch den Raum auf das Pult zu und ließen sich nieder. Ein unnötiges Räuspern, dann begann Kler. „Louis, richtig?“, sagte er mit kalter Stimme. „Ja“, war die zitternde Antwort. „Gefangenennummer 8776?“ „Ja.“ Die Gefangenennummer war so etwas wie ein Personalausweis in Laäros. In der Stadt selbst lebten nur zwei Arten von Menschen. Die Regierungsvertreter, welche die Leitung und das Gericht inne hatten, und die Sträflinge, der übergroße Rest aller Menschen, die hier wohnten. Fast jeder hatte etwas verbrochen und war dafür in die Stadt der Türme gekommen. Kler notierte etwas auf einem Klemmbrett, bevor er einem der Anwesenden zunickte. „Bitte, Mess.“ Mess, ein runzeliger, alter Mann mit Schnauzer und Zylinder, erhob sich schwerfällig. Er trug einen schwarzen Anzug und eine zu große Fliege um den Hals, sein Gehstock, ein krüppeliger alter Stab, lag quer über seinem Tisch, und um stehen zu bleiben, musste er sich auf eben dieser Holzplatte abstützen. „Ah ja. Ich denke für alle Anwesenden, die ihn kennen, wird es keinen Zweifel daran geben, dass er krank ist, denn vor einigen Wochen war Louis noch ein aufmüpfiges Gör, im Gegensatz zu seinem jetzigen Zustand, der“, er grinste schief, „Angst und Unterwürfigkeit ausdrückt.“ Trotz des jungen Alters von Louis konnte ich Mess, der sich mittlerweile wieder niedergelassen hatte, nur zustimmen. Nicht was die Bezeichnung als Gör anging, oder auch die Häme in der Stimme, aber die Verhaltensänderungen des Jungen bewiesen eindeutig, dass er krank war. In Anbetracht dessen, dass alle Anwesenden entweder meine oder Mess‘ Meinung teilten, war Louis‘ Schicksal besiegelt. Kler ergriff erneut das Wort: „Irgendwelche Einwände? Nicht? Dann ist somit entschieden. Bringt ihn raus!“ Ich blieb sitzen, während die meisten Besucher durch die große Tür aus dem Saal traten, ihnen folgten der von Wachen umringte Junge, dessen Blick immer noch zu Boden gerichtet war, und schließlich Kler und Saron. Nur wenige schlossen sich mir an und bewegten sich nicht. Ich selbst war mehr als nur abgeneigt, dieses grausame Spektakel mitanzusehen, und zudem wusste jeder, der einmal an einem ‚Prozess‘ teilgenommen hatte, was nun folgen würde: Louis‘ Tod. Kapitel 1: Kapitel 1 -------------------- Kapitel 1 Johannes: Seit Louis Tod waren Wochen vergangen in der es noch mehrere Tote gegeben hatte als diesen einen. Zum Beispiel hatte es einen der drei Schmiede der Stadt getroffen, eine Kellnerin, eine verrückte Wahrsagerin und einige Büroarbeiter. Das Ganze hatte natürlich nichts aus den Fugen gebracht, und die Regierungsvertreter hatte es gefreut, doch war auch für sie die Zeit nicht ganz positiv verlaufen. Grifts zweiter Mann war ebenfalls der „Krankheit“ zum Opfer gefallen. Grift war der leitende Vertreter der Stadt Laäros, Herrscher über die Türme und kaltherziger Speichellecker der Regierung. Er hatte seinen Sitz in dem großem Turm, im Zentrum der Stadt und er war derjenige, der alles regelrecht kontrollierte. Er beobachtete das Kommen und Gehen wichtiger Rohstoffe und Materialien. Nahrung, Baustoffe wie Metall oder Holz wurden abgeliefert sowie fertig produzierte Gegenstände wieder zurückgeschickt. Warum man dies für uns tat, war eine sehr interessante Frage. Viele glaubten, dass man uns ein „angenehmes“ Leben bereiten wollte, bevor wir starben. Dieses Gefängnis war nicht umsonst dafür bekannt, dass niemand zu Lebzeiten entlassen wurde. Hinzu kam, dass die einfachen Menschen von Unten nicht wussten, wo der Standort lag, schließlich konnten die Anwohner nicht davon erzählen, jeglicher Kontakt zur Außenwelt war untersagt. Die Regierungsvertreter hielten auch dicht; man bot ihnen ein Leben in Reichtum und sie ließen dafür nicht ein einziges Wort verlauten. Trotz meines unfreiwilligen Daseins und des eher niederen Jobs hatte ich ein entspanntes Verhältnis zu Grift. Er benutzte mich, doch bei gewissen Angeboten seinerseits konnte ich nicht nein sagen. Es war nicht so, dass ich seine Art und seine Aufgaben gemocht hätte, und ich zweifelte nicht daran, dass er mich, sollte ich stören, ohne mit der Wimper zu zucken umbringen würde, doch war er meine einzige Möglichkeit, an Waren heranzukommen, die ich in der Stadt nicht kaufen konnte. Grift war auch derjenige, zu dem ich nun hinwollte. Er hatte einen seiner Boten zu mir geschickt, um mich zu benachrichtigen, dass er es ‚wünsche‘, mich zu sehen, was in diesem Fall hieß: Kommen oder Sterben. Das Klacken meiner Absätze war das einzige, was ich hören konnte, als ich die steinernen Treppen des Hauptturmes hinaufstieg. Ich stöhnte genervt auf, ich hasste Treppen, besonders Wendeltreppen, doch nur diese gab es in den Türmen. Wütend stieß ich die Tür am oberen Ende auf und trat in eine der altbekannten, überall gleich aussehenden Hallen. Es standen ein paar niedere Regierungsvertreter herum, die eifrig miteinander diskutierten. Sie ignorierten mich, ich war es nicht wert, von ihnen beachtet zu werden, also schritt ich ohne ein Wort auf die große Flügeltür zu, klopfte mit zwei kräftigen Schlägen dagegen und wartete auf das „Herein“, welches auch wenige Sekunden später folgte. Ich betrat das Büro und verschloss die Tür sorgfältig hinter mir. Das Zimmer, in dem ich mich nun befand, war mit 30m² kleiner, als man es bei dem Führer erwartet hätte. An der rechten Wand stand ein einsames Bücherregal, dessen Inhalt den Eindruck machte, lange nicht mehr angefasst worden zu sein, die linke Wand war mit Ausnahme eines Bildes, welches Laäros bei Nacht zeigte, vollkommen leer. Ein großer, schwarzer Schreibtisch, auf dem einige ordentlich aufgereihte Papierstapel lagen, stand gegenüber der Tür und vor ihm zwei Ledersessel. Grift saß hinter dem vierfüßigen Gestell und ignorierte mich noch. Er war ein Mann, bei dem schon der erste Blick genügte, um ihn als unberechenbar einzuschätzen. Er war groß, hatte breite Schultern und trug einen Zentimeter genau sitzenden schwarzen Anzug mit grau gestreifter Krawatte, deren Knoten den Anschein hatte, auf richtigen Umfang und Durchmesser geprüft worden zu sein. Diesen Aufzug trug er immer, nur die Krawatten wechselten ständig, wenn auch nur im Muster und nicht in der Farbe. Grift hatte braunes, kurzes Haar, die Koteletten symmetrisch leicht ins Gesicht gezogen, ein Doppelkinn, und unter seiner Nase, auf der eine eckige Lesebrille seine aufmerksamen Augen verbarg, trug er einen fein, säuberlich geschnittenen Oberlippenbart. Er war die Perfektion in Person. Sein Gesicht befand mehr im Schatten als im Licht, denn das einzige Fenster des Büros lag ihm im Rücken. „Guten Tag, Johannes“, sagte Grift mit einem Lächeln, nahm seine Lesebrille ab und legte sie vorsichtig auf den Schreibtisch. Er stand auf und streckte die Hand aus. Ich nahm sie, erwiderte den Gruß in respektvoller Form und ließ mich, nachdem Grift mich dazu angewiesen hatte, in einen der Sessel nieder. „Sie wollten mich sprechen, Sir?“, sagte ich. „Immer alles gleich auf den Punkt bringen, nicht wahr? Ich hoffte, du würdest mir mal wieder einen Gefallen tun.“ Er hielt einen Moment inne. „Heute wird ein Neuer ankommen. Ich möchte, dass du ihn für mich einweist.“ Warum er mich beauftragte und die Worte „für mich“ dabei betonte? Grift wollte Kontakte zu dem Neuen, sich diese jedoch nicht über seine eigenen Männer beschaffen. Es sollte so aussehen, als seien auch einige der Gefangenen von der Regierung überzeugt. Zu tun, was Grift mir auftrug, war zwar gegen meine Moralvorstellung, aber für mein Weiterleben, das auf dem Spiel stand, würde ich es tun. Er griff neben den Schreibtisch und zog einen schwarzen Koffer hervor, den er auf dem Schreibtisch vor mir plazierte. „Wie wäre es mit einer neuen Messerkollektion?“ Er öffnete den Koffer mit einem leisen Klicken, und mir zeigten sich die Messer, glänzendes Metall, fein geschliffen, die Klingen mit geschwungenen Linien verziert. Es waren zwölf, sechs größere und sechs kleinere. Perfekt, um sie zielsicher zu werfen. Ich strich mit zwei Fingern über eines der Messer. Das Metall war spiegelglatt, eine tödliche Waffe. Ich sah auf meinen Gürtel hinab, an dem meine eigenen Messer hingen. Sie waren nicht schlecht und bei weitem besser und handlicher als die anderer Bewohner von Laäros, sahen jedoch ein wenig „dreckig“ aus. Es waren Blutreste auszumachen und zusätzlich fehlte eines. In die Tiefe unter den Türmen mitgenommen von einem schizophrenen Irren, der einen Amoklauf gestartet hatte. Ich hatte ihn nicht töten wollen, doch als er Evangelos angriff, hatte ich eingreifen müssen. Die Messer waren ein Angebot, welches ich nicht ablehnen konnte, abgesehen davon war das Ablehnen der ‚Bitte‘ tödlich. Diese entsprechende Gegenleistung, die Waffen, lieferte Grift, damit ich meine Aufgabe gewissenhaft erfüllte, so nickte ich schließlich. „Noah wird in 10 Minuten eintreffen. Er wird in der obersten Etage des Turms für die Neuen wohnen. Führe ihn bis zum Abend umher, die Wohnung wird dann geräumt sein.“ Was Grift sich unter Wohnungsräumung vorstellte, bezeichnete man umständlich als unglücklichen Tod des ursprünglichen Besitzers. Man bemerke zusätzlich, dass die oberste Etage die beste war; Grift wusste, wie er handeln musste. „Die Messer lasse ich zu deiner Wohnung bringen. Du weißt, was ich von dir erwarte“, sagte Grift. Ich nickte erneut „Natürlich, Sir.“ Ich erhob mich langsam, strich mir den Mantel glatt und richtete den Kragen, dann wandte ich mich um und schritt aus dem Raum, Grifts siegessicheres Lächeln im Rücken spürend. Ich lief die Treppe hinunter, bis sie auf Höhe der Brücken endete. Meine Schritte hallten durch die Vorhalle, als ich quer durch sie hindurchging. Die Vorhallen sahen in jedem der Türme gleich aus: groß und kahl. Glatte Steinfliesen bedeckten den Boden und warfen mein Spiegelbild zurück, ebenso wie die leisesten Geräusche. In jede der vier Wände war ein schweres Tor eingelassen, welches meistens offen stand. Abgesehen von den Toren und der Treppe in einer der Ecken waren die Hallen jedoch leer. Nun, der Hauptturm bildete natürlich die Ausnahme. Gegenüber den nach oben führenden Stufen verlief das gleiche steinerne Gebilde in die Tiefe unter den Turm hinab. Der Hauptturm war der einzige, dessen Bau unterhalb der Brücken noch betreten werden konnte. Dieser Teil war der Zugang zur Stadt, der einzige Weg, von Unten hierhin zu gelangen. Nachdem ich auch diesen Teil des Weges hinter mir gelassen hatte, betrat ich ein hell erleuchtetes Gewölbe. In der Mitte stand eine gläserne Säule von knapp drei Metern Durchmesser. Durch diese Glasröhre wurden die Gefangenen nach Laäros gebracht. In der Säule war eine Art Fahrstuhl, in dem die Sträflinge in Handschellen und Begleitung zweier Wächter nach oben ‚fuhren‘. Sobald sich die Tür öffnete, wurde man grob in die Halle gestoßen, bevor das Gepäck hinter einem her flog und der Fahrstuhl mit geschlossenen Türen den Rückweg antrat. Wer einmal dort auf dem Steinboden vor der Säule lag, konnte die Hoffnung aufgeben, jemals wieder die Stützpfeiler der Türme von unten sehen zu dürfen. Wenn man die Hoffnung aufgegeben hatte, begann man langsam zu hassen, sei es die Regierung oder eine normale Familie, die diese unwissend unterstützte. Und wenn selbst der Hass nichts mehr brachte, fing man an – man nehme mich als Beispiel – auf den meisten Gebieten Gleichgültigkeit zu empfinden. Gegenüber des Fahrstuhls saßen zwei Frauen hinter einem Pult und nahmen den Namen, die ehemalige Adresse und sonstige wichtige Angaben eines Mannes auf, bevor man ihn anwies, sein Gepäck stehen zu lassen, und eine der Frauen mit einem Kopfnicken auf mich wies. Der Mann, der im verdreckten, ehemaligen weißen Kittel auf mich zukam, schien mein neuer Auftrag zu sein. Ich musterte ihn skeptisch. Er war noch sehr jung, vielleicht 25, hatte eine schlanke Gestalt, wirkte jedoch eher plump. Seine Haut war blass wie die eines Vampirs, und seine Augen zierten tiefe, dunkle Ringe, die nur teilweise von einer großen Brille verdeckt wurden. Ein Dreitagebart wucherte vor sich hin, und fettige kinnlange Haare hingen ihm ins Gesicht. Er machte einen leicht... schusseligen, doch auch intelligenten Eindruck. Er schluckte „Sind sie mein Einweisungspersonal?“ Ich rümpfte die Nase; ich mochte diesen Titel nicht. Mich umwendend sagte ich: „Komm mit!“ Ich brauchte mich nicht zu vergewissern, dass er mir folgte; ich wusste, er würde es nicht wagen, es nicht zu tun. Wir liefen, bis wir in der Mitte der Nordbrücke des Hauptturmes standen. Schon bei seinem ersten Schritt aus dem Turm hinaus hatte ich ein Keuchen vernommen, doch bisher hatte ich es einfach ignoriert. Als ich mich nun erneut umdrehte und ihn anblickte, stand ihm das kalte Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Es war kein Wunder, fast jedem erging es so. Niemand hätte erwartet, dass ein Gefängnis eine einigermaßen eigenständige Stadt war. Dann fiel mir jedoch auf, dass sein Blick auf die Körper unter den Brücken gerichtet war. Erschreckend, dass ich nicht daran gedacht hatte, sondern an die Stadt als eigenständigen Organismus. Mit der Zeit lernte man zu ignorieren. Die schlechten Gefühle wurden abgeschaltet, ständige Bilder aus dem Kopf gelöscht. Der Jüngere zitterte ein wenig. „Die Leichen...“ „Sind tot!“, schnitt ich ihm das Wort ab. Es war eine vorerst endgültige Antwort auf diese Frage gewesen, ich wollte nicht über sie reden. Wir standen einige Minuten da, ehe ich die Stille brach. „Noah, nicht wahr?“, ich hielt ihm die Hand hin, die er zögerlich schüttelte, ich war mir nicht ganz sicher, ob dieser Zustand noch an den Leichen oder eher an meinem Aussehen lag... „Ich bevorzuge Professor Brise“, antwortete er dann fest. „Nun, Noah,“ Ich betonte seinen Namen absichtlich um so mehr „Ich bin Johannes.“ „Warum duzen Sie mich?“ Ganz einfach. Es ist für mich wie für jeden anderen hier unwichtig, wer du einmal warst, denn hier sind wir alle gleich.“ Ich überlegte kurz. „Es ist so, als würdest du neu geboren. Du musst dir deinen Respekt erst verdienen, bevor man dich anders betrachtet als den Rest. Die einzigen, von denen du gesiezt werden wirst, sind die Kinder.“ Noah nickte. „Laäros besteht aus 49 Türmen und 84 Brücken. Es ist unterteilt in verschiedene Bereiche. Die Mitte, der große Turm, aus dem wir gerade kommen, ist der Sitz unseres Führers Grift und die Ankunftsstelle der Neuen.“ Ich warf ihm einen durchdringenden Blick zu, um zu verdeutlichen, wer mit „Den Neuen“ gemeint war, ehe ich fortfuhr. „Der innerste Kreis Türme umfasst einige reine Wohntürme, von denen einer nur für Regierungsvertreter zugänglich ist. Im Hauptturm wohnt nur Grift selbst. Einige der übrigen Türme des ersten Kreises enthalten Büros, und im Nord-West-Turm befindet sich das Einkaufszentrum.“ Noah blickte mich verwirrt an. „Wie bitte? Ein Einkaufszentrum in einem Gefängnis?“ Ich lehnte mich mit dem Rücken an das Brückengeländer. „Du solltest aufhören, Laäros als reines Gefängnis zu betrachten. Es ist eine Stadt, die nur die gleiche Hoffnung heuchelt wie ein Knast, aber es ist eben auch eine Stadt. Die Menschen verdienen Geld und geben es wieder aus, sie haben ihre eigene Wohnung und ihren eigenen Standard. Trotzdem will jeder hier weg.“ Ich ließ ihm ein wenig Zeit nachzudenken, bevor ich den Faden wieder aufnahm. „Der zweite Kreis besteht aus Wohngebieten niederen Ranges, Kneipen und den drei Waffenschmieden der Stadt. Außerdem...“ „Waffenschmieden?“, wurde ich erneut unterbrochen. Etwas genervt sah ich ihn an. „Ja, Waffenschmieden. Mit genug Geld kannst du dir eine Messerkollektion oder ähnliches zulegen.“ „So wie die da?“ Er deutete angewidert auf meinen Gürtel. „Nun“, ich musste tatsächlich ein wenig grinsen „vielleicht nicht ganz so blutig.“ Ich ignorierte sein Aufkeuchen, er würde sich daran gewöhnen müssen. Es dauerte eine Weile, dann fragte er: „Wenn ihr hier festsitzt, also wenn...“ „Wir!“ „Entschuldigung, wie bitte?“ „Wenn wir hier festsitzen,... Du gehörst zu uns.“ „Ahh... gut. Wenn wir hier festsitzen, also wenn man uns wegsperrt, warum bekommen wir Waffen, wenn wir die Regierungsvertreter... damit umbringen könnten?“ „Eine gute Frage“, sagte ich und überlegte mir, vielleicht noch ein wenig netter zu sein. „Denk mal selbst nach. Was würde passieren, wenn wir die Regierungsvertreter töteten?“ Noah wandte sich dem großen Hauptturm zu. Als er einige Minuten später immer noch nichts gesagt hatte, gab ich ihm einen Tipp: „Die Regierung ist für unsere Versorgung zuständig.“ Den springenden Punkt hatte Noah wohl gefunden, denn sein Gesicht erhellte sich kurz, wurde aber sofort wieder ernst, als er die Lage erkannte. „Die Versorgungsquelle würde aufhören zu fließen, und wir würden qualvoll verhungern, weil wir nicht nach Unten zurückkommen. Geschickt durchdacht.“ Erst bei den letzten zwei Worten fiel mir auf, dass das Gespräch in die komplett falsche Richtung verlaufen war. Ich hatte die Regierung kritisiert, und genau das hatte ich nicht machen sollen. So setzte ich hinzu: „Andererseits können wir froh sein, überhaupt eine ’Stadt‘ zu haben und nicht in 10m² Zellen dahinzuvegetieren.“ „Komm mit“, sagte ich erneut, und wir schritten zum anderen Ende der Brücke durch die Vorhalle des folgenden Turms hindurch und weiter geradeaus in den zweiten Kreis hinein. „Der Außenkreis ist der vielseitigste. Hier findest du alle möglichen Kleinläden, Restaurants, eigentlich alles. Außerdem noch eine Schule für die wenigen Kinder und Jugendlichen, die hier sind. Es gibt zwei Türme, die du auf jeden Fall kennen solltest. Der Süd-West-Eckturm ist die erste Wohnstätte aller Neuen. Der Turm ist ziemlich heruntergekommen, also erwarte nichts Berauschendes. Du wirst zuerst einige Zeit brauchen, um dich hier zurecht zu finden und die Bräuche und das Denken der Bewohner Laäros zu verstehen. So wie ich es jetzt sehe, wirst du einige Schwierigkeiten haben.“ „Warum?“ Ich blieb stehen und wandte mich mit wehendem Mantel zu ihm um. „Du bist ängstlich, sehr eingeschüchtert durch die Brücken und meine Messer, und du betrachtest die Stadt ein wenig verächtlich. Du kannst nicht wie einige andere gemordet haben um hierher zu kommen. Ich kann dir jetzt schon sagen, dass du einige Bewohner abgrundtief hassen wirst.“ Noah sagte daraufhin nichts. Wir gingen weiter, und ich deutete im Vorbeigehen immer wieder auf die ein oder andere Einrichtung. „Im Turm der Neuen wirst du solange bleiben, bis du dich für einen Job oder eine bestimmte Richtung entschieden hast. Wie es weitergeht und wo du hinkommst, wird man dir dann mitteilen.“ Wir betraten einen der Türme und stiegen die Treppen hinauf bis zur Spitze. Noahs Ausdauer ließ schon bei der Hälfte nach. Kleinigkeiten wie diese erinnerten mich unwillkürlich an die kurze Anwesenheit des jüngeren Mannes, wer länger hier war, gewann an Kondition. Oben angekommen musste er erst einmal Luft holen – ich hatte ihm keine Pause gegönnt – doch vergaß er das Sauerstoffsammeln fast, als er die Stadt von oben sah. Ich lehnte mich mit dem Rücken an die schwarzen Zinnen und musterte ihn, während er die Stadt überblickte. Schließlich meinte er: „Sie...du erwähntest vorhin, dass zwei der Türme des Außenringes besonders wichtig sind.“ Er strich sich eine dreckige Haarsträhne aus dem Gesicht. „Welcher ist der andere?“ „Der Nord-Ost-Turm. Dort ist das Gericht.“ „Wofür brauchen wir ein Gericht?“ Er betonte das wir überdeutlich. Wie schon angemerkt, würde er Probleme mit der Stadt haben. Ich überlegte kurz, ehe ich zu erzählen begann. „Unser Gericht ist nicht so, wie du es kennst. Es wird nicht über Recht und Unrecht geurteilt, du könntest prinzipiell jemandem die Kehle durchschneiden, ohne dass man sich darum scheren würde. In unserem Gericht wird nur über Leben und Tod entschieden. Leben für die Unveränderten und Tod für die Kranken.“ Ich las Noah die Frage aus dem Gesicht ab und antwortete, ohne auf diese zu warten. „Es gibt eine Art Seuche in dieser Stadt, die nicht selten zuschlägt. Als krank gelten die, die sich plötzlich psychisch verändern und komplett anders handeln als gewohnt.“ Ich beobachtete Noah, während ich sprach, er schien mir ein wenig angespannt, als wisse er mehr darüber, versuche jedoch, sich nichts anmerken zu lassen. Ich durchschaute ihn trotzdem und nahm mir vor herauszufinden, was er verbarg. „Wenn die Regierung dich verdächtigt, krank zu sein, kommst du vor das Gericht. Dort wird entschieden, ob du Glück hast oder angesteckt wurdest. Ist letzteres der Fall...“ Ich nickte in Richtung der Brücken. „Kannst du ihnen beim Baumeln Gesellschaft leisten.“ Der Blonde schluckte und schüttelte den Kopf. Ich hätte einiges gegeben, jetzt seine Gedanken lesen zu können. „Warum muss ein Kranker sofort gehängt werden. Es ist doch nicht schlimm, wenn man sich psychisch verändert.“ „Es gab Übergriffe von Kranken auf andere Sträflinge und Regierungsbeamte.“ Ich kratzte mich am Kinn. „Und man stellte fest, dass die Krankheit hoch ansteckend wurde, je länger ein Mensch sie in sich trug, also entschied man sich, die Leute zu hängen.“ Kurze Zeit später liefen wir wieder durch die Stadt und ich zeigte Noah bis zum Abend die wichtigsten Orte. Er hatte das Glück gehabt, gleich in der ersten Kneipe von einem besoffenen Idioten einen Schlag verpasst zu bekommen und lief jetzt mit blutender Nase herum, während ihm dank seines demolierten Aussehens ständig bemitleidens- oder verachtenswerte Blicke zugeworfen wurden. Seit diesem Übergriff wirkte der Blonde ein wenig unaufmerksam, er fragte oft nach, was ich gesagt hatte, und war mit den Gedanken komplett woanders. Als wir später im Turm der Neuen ankamen, erklärte uns ein Wächter, dass Noahs Gepäck bereits in seine Wohnung hochgebracht worden war. Schließlich drückte er dem Neuen noch einen Schlüssel in die Hand, bevor er durch das Nord-Tor verschwand. Auch ich wandte mich nun zum Gehen. „Wenn du irgendwelche Fragen hast, wende dich an mich oder auch an Grift persönlich, er ist zwar hart, aber als Mensch in Ordnung. Falls ich nicht da sein sollte, wirst du eventuell auf Evangelos treffen, einen kleinen Griechen. Wir wohnen im Ost-Turm des ersten Kreises. Viel Glück.“ Während ich quer durch die dunkle Stadt lief, dachte ich über das nach, was ich dem jungen Professoren zuletzt gesagt hatte. An mich konnte er sich jederzeit wenden, so würde ich die Möglichkeit haben, mehr über ihn zu erfahren. Was Grift anging, hatte ich gelogen, er war nicht in Ordnung, sondern ein grausames, manipulatives Monster, und ich ließ mich auch noch ausnutzen. Ich strich über meine kahle Kopfhaut und zog den Mantel enger zu, es war sehr kalt draußen, und ich kniff die Lippen zusammen. Nur noch eine Brücke trennten mich und die warme Wohnung, in der Evangelos schon wartete. Ich schritt über die kalten Steine und hörte das Klacken meiner Absätze in meinem Kopf doppelt widerhallen. Ich betrachtete die in den Schatten der Steingebilde hängenden Leichen und Skelette, knochige Gestalten, die leise vor sich hinschaukelten. Ein kräftiger Windstoß stieß sie wild in die Luft; ein Krachen zweier kollidierender Körper, das Knacken brechenden Metalls, das Umherschnellen zweier Taue und zwei ineinander verschlungene Tote versanken in den Tiefen unterhalb des Turmes. Das Geräusch ließ mich erschaudern. Es klang wie schrilles Kreischen in meine Ohren, wie in einem der Horrorfilme, die ich damals gesehen hatte. Ein Rauschen, ein unangenehmes Kribbeln glitt durch meine Adern, meine Finger waren taub, meine Beine steif, ich blinzelte verwirrt,... und das unbekannte Gefühl war verschwunden. Kapitel 2: Kapitel 2 -------------------- Kapitel 2 Evangelos: Evangelos war sehr intelligent für sein Alter, was wahrscheinlich an der Umgebung lag, in der er aufgewachsen war. Seit seinem achten Lebensjahr war er nun hier und besuchte regelmäßig die einzige Schule der Stadt. Es war ein kleiner Vorteil, in Laäros zu lernen. Als einziger seiner Altersklasse war der Unterricht sehr intensiv und sein Fortschritt hoch. Durch den Umgang mit Sträflingen aller Art lernte er sich durchzubeißen und mit Problemen fertig zu werden, scharfes Denken gehörte ebenfalls zu seinen Fähigkeiten. Oft wurde er gefragt, warum er schon mit diesem Alter hier war. Es war eine einfache Antwort. Seine Mutter wurde wegen Mordes an seinem Vater angeklagt. Dieser hatte sie zu sehr unter Druck gesetzt, sodass sie durchgedreht war. Evangelos hatte damals nicht sehr viel davon verstanden, und man hatte sich auch nicht um ihn gekümmert, also ging er mit ihr nach Laäros. Warum man das zugelassen hatte, war ihm egal gewesen, jetzt fragte er sich das manchmal, doch zu einer Antwort war er nie gekommen. Irgendwie hatte er dann Johannes kennengelernt, der schon etwas länger hier ausharrte, und als seine Mutter krank wurde, zog er zu dem älteren Mann. Flashback „Du, Johannes?“ Er nickte als Zeichen, dass er dem Jungen zuhörte. „Mama benimmt sich in letzter Zeit komisch.“ Wieder ein Nicken. „Wenn sie krank ist,... und... sie...“ Seine Stimme brach sich, er sprach nicht weiter. Der ältere Mann sah ihn an. „Wenn..., kann ich dann bei dir wohnen?“, kam es aus ihm hervor. Ein Brummen. Der Junge nahm es als Ja. „Danke“ Flashback Ende Evangelos langweilte sich. Wieder waren einige Wochen vergangen. In der Schule war er bereits gewesen, und nun lag er mit hinter dem Kopf verschränkten Armen alleine auf seinem Bett. Er hatte einen neuen Lehrer bekommen, einen für Chemie. Er war noch recht jung, so um die 25, hatte kinnlange, blonde Haare und eine große Brille. Er wirkte noch ein wenig unsicher, doch trotzdem mochte Evangelos ihn, er hatte wirklich Ahnung, von was er sprach, und konnte nicht nur das Nötigste, wie einige andere seiner Lehrer. Es war sehr interessant, ihm zuzuhören und die Grundkenntnisse der Chemie zu erlernen. Nebenbei war sein Lehrer ziemlich locker drauf, so erzählte er Evangelos, dass er die bunte Kreide, mit der er zwischendurch einige Dinge zur Verdeutlichung an die Tafel schrieb, immer und überall in einer kleinen Bonbondose mit sich herumtrug. Jetzt war der Unterricht jedoch vorbei, und Evangelos saß in ihrer Wohnung. Johannes war in letzter Zeit sehr oft beschäftigt, und der Schwarzhaarige blieb zurück. Der Ältere hatte gesagt, dass es ihn eh nur langweilen würde, mitzukommen, so blieb er alleine und dachte nach. Er fragte sich schon seit einiger Zeit, was er mal anstellen sollte, wenn er alt genug war, einen richtigen Job anzunehmen. ~*~*~ Johannes: Wir waren zu dritt. Unser Plan war mittlerweile komplett ausgefeilt und bereit, umgesetzt zu werden. Seit einigen Wochen trafen wir nun schon Vorbereitungen. Jasper, Maya und ich. Jasper war ein kleiner, dickerer Mann mit breiter Nase, die einige leichte Höcker aufwies, und winzigen Augen, die jedoch einen sehr aufgeweckten Eindruck machten. Er war der beste Schmied der Stadt, trug unpassend einen Malerhut und ebenso wie ich einen schweren Mantel. Maya hingegen sah aus wie eine Prostituierte und benahm sich auch so. Sie hatte dichtes, blondes Haar, welches sie hochgesteckt hatte und in sanften Wellen ihr feminines Gesicht umrahmte, welches stark geschminkt die lüsternen Augen auffordernd betonte. Sie hatte eine schlanke Gestalt und trug ein ledernes Korsett, wodurch ihre große Oberweite besonders zur Geltung kam, eine Netzstrumpfhose, darüber einen Rock, der bis zur Hälfte ihrer Oberschenkel reichte, und hochhackige Schnallenstiefel. Wir saßen im düsteren Wohnzimmer Jaspers und gingen noch einmal die letzten Vorbereitungen durch. Das Zimmer besaß keine Fenster, sondern nur hell leuchtende Lampen, sodass ein Belauschen unmöglich gewesen wäre. In seine Wohnung kam auf anderem Weg auch niemand, der nicht durch ein auf sich zuschießendes Messer sterben wollte. Der Raum war sehr düster ausgestattet. Auf der einen Seite gab es einige große Schränke und eine Glasvitrine, in der einige Werke von Jaspers Schmiedekunst zu sehen waren, überwiegend Waffen, die andere Seite war mit zwei schwarzen, um einen tiefen, gläsernen Tisch stehenden, Sofas und einem dazu passenden, bequemen Ohrensessel ausgestattet. Ich hatte mich vorsichtshalber nicht auf die gleiche Couch wie die blonde Frau gesetzt „Hast du das Seil besorgt, Maya?“, fragte ich. „Natürlich, Darling.“ Sie leckte sich über die Lippen. „Bereit den Turm zu besteigen.“ Sie blickte mich lüstern an. „Hast du heute noch etwas vor, Johannes?“ Sie zog die Beine hoch und legte sie auf die leere Sitzfläche neben sich, dann senkte sie ihren Oberkörper auf die andere Seite und stützte sich auf ihrem Ellbogen ab, währen sie ihre andere gespreizte Hand langsam von der Hüfte bis zum Oberschenkel und zurück gleiten ließ. Ich rollte die Augen, Jasper lachte rauh. Er hatte keine Probleme mit ihr, denn sie vergriff sich nur an gut aussehenden Männern, so sagte sie es jedenfalls. Was sie bei mir als gut aussehend bezeichnete, war mir unklar; doch das war momentan unwichtig. Ich sah davon ab, ihr zu antworten, und warf Jasper einen genervten Blick zu, während ich mich zurück in die schwarze Ledercouch sinken ließ. „Gut. Annette geht jeden Nacht zwischen 23 und 24 Uhr nach einem kleinen Umtrunk zu ihrer Wohnung. Die Treppe, die dort hinaufführt, ist von unten mit einer Tür verriegelt, vor der ein Wächter steht. Nur er und Annette selbst haben den Schlüssel dafür. Ihre Wohnung ist unantastbar, sie wird zu gut beschützt sein, bleibt nur die Treppe, auf der uns ein kleines Fenster ganz oben ermöglicht einzudringen.“ Ich ließ die Worte einige Sekunden sacken. „Maya, du übernimmst den Wächter, und du“, ich blickte Jasper an „machst klar, dass niemand auf die Idee kommt, nach dem Wächter zu sehen. Ich werde mich um Annette kümmern.“ Annette war nur ein Deckname für die eigentliche Person, um die es sich drehte, doch war der wesentlich sicherer, falls doch mal irgendwer etwas mitkriegen sollte. „Dann ist es beschlossen.“ Ich erhob mich mit fließender Bewegung aus dem Sessel und warf der ein wenig beleidigt wirkenden Maya noch einen verächtlichen Blick zu. „Mittwoch Abend, 22 Uhr, am Nordturm des inneren Kreises.“ Ich wandte mich um, entriegelte die Tür, zog sie auf und verschwand. In meiner Wohnung angekommen, kochte ich mir zuallererst einen starken Kaffee, dann ließ ich mich am Küchentisch sinken. Es dauerte nicht lange, und Evangelos kam herein und setzte sich zu mir. „Wo warst du?“, fragte er mich. „Weg.“ „Wo ist weg?“, hakte er nach. Ich legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. „Bei ein paar Bekannten“, sagte ich. Ich hatte nicht Freunde gesagt, denn das hätte nicht gestimmt; ich war wohl eher zufällig dazu gekommen, Maya und Jasper in den Plan um Annette einzuweihen. Ich war in der Werkstatt des Schmiedes gewesen, um einiges an Ausrüstung zu besorgen, als ich hörte, wie sich beide über Annette aufregten. Normalerweise war ich ein sehr vorsichtiger Mensch, der alle Vor- und Nachteile einer wichtigen Handlung abwog, bevor er sich endgültig für die beste Variante entschied. In diesem Fall hatte ich dann doch nur nach reinem Instinkt gehandelt und war positiv überrascht worden. Beide hatten ohne Zögern zugestimmt. „Und wer sind diese Bekannten?“, fragte der Junge erneut. „Mein Gott, Evangelos! Ich will nicht darüber reden!“ Es verging einige Zeit, in der niemand etwas sagte, während ich meinen Kaffee trank. „Gibt es bei dir etwas Neues?“, fragte ich den Jungen schließlich. „Ich habe einen neuen Lehrer in Chemie. Er heißt Noah.“ Der Name ließ mich aufhorchen. War das etwa der Noah, den ich eingewiesen hatte? Wenn ja, dann hatte Grift da seine Finger im Spiel gehabt, denn kein Neuer kam sonst so schnell an einen Job. „Wie sieht er aus?“, fragte ich. Evangelos blickte mich überrascht an. „Er ist noch jünger, hat kinnlange, blonde Haare und er trägt eine große, dunkle Brille. Warum?“ „Ich kenne ihn“, murmelte ich „ich habe ihn auf Grifts Geheiß hier eingewiesen. Er scheint mehr über Laäros und die Krankheit zu wissen, als er zugeben will...“ Ich seufzte. „Apropos Krankheit. Ich glaube, den Gehilfen von Jaspers Schmiede hat es erwischt...“ ~*~*~ „Sir? Mir und einigen andern ist aufgefallen, dass sich Maya, Johannes und Jasper in letzter Zeit oft treffen. Was halten Sie davon?“ „Demnach sieht es aus, als hätten sie etwas vor?“ „Ganz Recht, Sir!“ Grift seufzte. „Max, du weißt ganz genau, dass du mich nicht Sir zu nennen hast, wenn wir unter uns sind.“ Maximilian nickte. „Was hast du nun vor?“ „Wirf ein Auge auf sie und melde sofort, wenn dir etwas seltsam erscheint. Gib auch den anderen Bescheid. Wenn die drei wirklich etwas planen, dann ist es wichtig, dass selbst der niedrigste der Regierung unterworfene Wachmann davon weiß.“ Kapitel 3: Kapitel 3 -------------------- Kapitel 3 Johannes: Es war Mittwochnacht und Laäros lag in Finsternis gehüllt über einem Meer aus Wolken. Der Mond war diese Nacht nicht zu sehen, doch das war nicht bedauerlich. Ich war verdammt froh, dass es so dunkel war, denn sonst hätte man mich leicht an der Steinwand des Turmes entdecken können. Fast lautlos kletterte ich an der Nordwand den Hauptturm hoch, das kleine Fenster im Sinn, welches den einzigen Weg zur Treppe bot, abgesehen von der Tür natürlich. Es war recht frisch draußen, und trotz meiner Handschuhe begannen meine Finger bereits taub zu werden. Meine Nervosität stieg mit jedem Meter, den ich zurücklegte, und ich musste mich stark zusammenreißen, um mein Zittern wenigstens halbwegs zu unterdrücken. Immer wieder trieb ich mit krampfhaft angespannten Muskeln einen Steinmeißel in die feinen Ritzen zwischen den schwarzen Steinen, und zog mich daran hoch, während ich mit einem Bein einen der Meißel unter mir ertastete, um mein Gewicht neu darauf zu verlagern. Schon ein paar mal war es vorgekommen, dass ich abgerutscht war, oder der Meißel sich gelöst hatte. Noch hatte ich mich immer mit vor Schreck wie verrückt klopfendem Herzen retten können, doch wusste ich nicht, wie lange mein Glück noch andauern würde, denn mit jedem Mal, das ich fast abstürzte, wuchs auch meine Angst und die Konzentration ließ nach. Die Meißel waren ein wenig modifiziert, sodass sie sich in der Mauer festhakten. Sie waren so das perfekte Kletterwerkzeug, welches bei der Beschaffung kein Aufsehen erregte. Eine richtige Ausrüstung hätten wir uns nicht zulegen können, ohne dass der Grund der Anschaffung hinterfragt worden wäre. Wir mussten also nehmen, was uns zur Verfügung stand; wahrlich nicht viel, aber mit leichten Veränderungen war es dennoch ausreichend. Ich wagte es nicht nach unten zu blicken, zu groß war die Angst vor der Höhe, auf der ich mich mittlerweile befand, und dem Nichts unter mir. Diese innere Anspannung war kaum noch auszuhalten, und ich wünschte mir nichts mehr als gesund an mein Ziel zu gelangen, doch noch lag es weit entfernt. Maya und Jasper hatte ich bereits vor einer viertel Stunde getroffen, und sie waren nun ebenfalls wie ich auf dem Weg, ihre Posten einzunehmen, um auf Annette zu warten. Nicht mehr viel war abgesprochen worden. Wir hatten nur noch die wichtigsten Utensilien ausgetauscht und uns dann getrennt. Ich verfluchte mich dafür, dass ich ausgerechnet diesen Teil unseres Plans hatte wählen müssen, wo ich doch meine Höhenangst nur zu gut kannte. Die ersten Wochen in Laäros waren für mich die Hölle gewesen. Wenn ich eine Brücke überquert hatte, dann nur in der Mitte über den weißen Streifen und mit starrem Blick auf den gegenüberliegenden Turm. Nach einiger Zeit hatte sich diese Angst dann zwanghaft gelegt, auch war mir irgendwann klar geworden, dass ich nicht fürchten musste, von einer der Brücken herunterzufallen. Beim Klettern war das natürlich etwas anderes. Ich konnte jederzeit abrutschen und in die Tiefe stürzen. Den Gedanken an die schmerzhafte Kollision meines Körpers mit dem steinernen Brückenboden hatte ich bisher erfolgreich verdrängen können, doch wusste ich nicht, wie lange ich das noch durchhalten würde, als sich erneut ein Meißel unter meinem Fuß lockerte und mit leisem Knirschen aus seiner Verankerung rutschte. Gerade noch rechtzeitig verlagerte ich mein Gewicht auf einen anderen Metallstab und wartete einige Sekunden still auf den dumpfen Aufschlag auf dem Boden. Klonk Es wunderte mich, dass noch niemand etwas gehört hatte, denn leise war das Geräusch keineswegs, wenn es sogar bis zu mir hochdrang. Das Fenster kam immer näher. Ich atmete heftig und rief mich immer wieder zur Ruhe, doch besonders viel half das nicht. Zwei ins Gestein getriebene Haken später hatte ich die Kante des kleinen Durchlasses erreicht. Es war ein offenes, nur von schweren Gitterstäben geschütztes Loch, welches zum Eindringen geradezu einlud. Mittlerweile unablässig zitternd zog ich die kleine Metallsäge, die Jasper mir gegeben hatte, aus meinem Gürtel und begann, die dicken Stäbe zu durchtrennen. Es war äußerst anstrengend zu sägen und sich gleichzeitig festzuhalten, nicht zu vergessen meine immer noch vorhandene Angst, abzurutschen und hinunterzustürzen, doch nach einer weiteren Viertelstunde, in der mich meiner Meinung nach nun wirklich selbst der einfältigste Trottel hätte bemerken müssen, und ich weitere tausend Mal hätte sterben können, hatte ich mir ein Loch geschaffen, welches gerade groß genug war, um mich hindurch zwängen zu können. Die abgesägten Stäbe ließ ich durch das Fenster ins Innere des Turms fallen, jedes Mal gab es ein helles Klonk, bei dem ich aufgeschreckt zusammenzuckte und metallenes Klirren, als die Stangen über den rauhen Steinboden rollten. Als ich mich endlich innerhalb des Turms befand, ließ ich mich erschöpft an die dem Fenster gegenüberliegende Wand sinken. Erleichtert darüber, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, holte ich langsam tief Luft. Mein wild klopfendes Herz schien sich zu beruhigen und allmählich legte sich auch der brausende Sturm in meinem Inneren. Die erste Hürde war geschafft. Es dauerte einige Minuten, ehe ich wieder einen vollständig klaren Kopf hatte. Schwerfällig erhob ich mich und befestigte dann das Seil, welches ich für den Abstieg benötigen würde, mit einem festen Knoten an einem der noch unversehrten Gitterstäbe, die abgesägten Stangen sammelte ich vom Boden auf und legte sie sorgfältig unter das Fenster. Erst jetzt warf ich einen Blick auf die Uhr. Sie zeigte zwanzig vor elf. Es hieß also abwarten. Der Flur, in dem ich mich befand, war kurz und eng. Die Wendeltreppe, die ich mir für Annette zunutze machen würde, ging direkt in diesen über, und zwei Meter weiter verschloss eine hölzerne Tür den Weg zu ihrer Wohnung. Das Fenster lag genau über diesem geraden Stück. Ich wartete. Die Treppe hier hinauf war lang, die drei Etagen, an denen sie vorbei führte, waren mit Büros gefüllt, die zu dieser späten Stunde jedoch leer sein sollten. Ein kratzendes Geräusch ertönte, ich griff eilig an meinen Gürtel, an dem sowohl meine neuen Messer als auch die Metallsäge hingen, und zog ein kleines Funkgerät hervor. „Es ist soweit“, ertönte Jaspers Stimme. „Annette betritt den Turm, Maya wird ihr unauffällig folgen.“ „Verstanden!“ Das Kratzen verschwand und ich ließ das kleine Gerät sinken. Ein erneuter Blick auf die Uhr zeigte mir die exakte Zeit von 23:09 Uhr. Ich machte mich bereit, gleich würde sie die Treppe betreten. Ich schlich einige Stufen hinunter, sodass ich ungefähr am Anfang des zweiten Drittels stand. Dann drückte ich mich mit dem Rücken an die Steinsäule in der Mitte, um die sich die Treppe wand. Meine Nervosität stieg erneut, das Zittern blieb diesmal jedoch aus. Ich musste jetzt höchst konzentriert sein, damit der Plan nicht in einem völligen Desaster endete. Ich lauschte angespannt. Einige Zeit geschah nichts, dann hörte ich ganz leise das Knirschen eines Schlüssels, welcher sich im Schloss einer Tür drehte. Ich hielt die Luft an, eine Tür öffnete sich mit einem Quietschen, doch kein Licht drang durch den düsteren Schacht nach oben. Leise Stimmen strichen an mein Ohr: „Einen angenehmen Abend noch, Sir.“ „Danke, ...“, antwortete die Stimme Grifts, und die Tür fiel ins Schloss. Der Schlüssel drehte sich erneut, dann waren Schritte zu hören, die langsam die Treppe hinaufkamen. Ich versuchte ruhig und gleichmäßig zu atmen, hielt aber fast unbewusst die Luft an. Das Geräusch von Schuhen auf Steinstufen wurde lauter, die Gestalt kam immer näher, gleich würde sie da sein... ~*~*~ Sam stand heute zum ersten Mal an der Tür zu Grifts Wohnung Wache. Um diese Stelle erreichen zu können, hatte er hart arbeiten müssen, doch nun stand er da. Er war ein sehr ehrgeiziger Mann, und er erzählte gerne überschwenglich davon, wie er seine Ziele erreicht hatte; er mochte es, im Mittelpunkt zu stehen, und das tat er recht häufig. Sam war der jüngste Regierungsangestellte, der in Laäros arbeiten durfte, er war gerade mal zweiundzwanzig. Es war ein gefährlich Job, denn er konnte jederzeit von der Krankheit infiziert werden, doch die Bezahlung war gut, und er war es gewohnt, in Wohlstand zu leben, so hatte er das Angebot nicht ablehnen können. Trotz seines Alters lag er im oberen Drittel der Wachen, wenn auch dort ganz unten. Es wäre eine Lüge gewesen, wenn er behauptet hätte, nicht stolz auf sich zu sein, denn das war er. Ebenso kam ihm seine Einfältigkeit manchmal sehr ungelegen. Sam hatte soeben dem Obersten einen schönen Abend gewünscht und stand nun, durch sein Glück berauscht, einen hohen Bewachungsposten besetzen zu dürfen, vor der verschlossenen Tür. Er erwartete nicht, dass noch jemand kommen würde, trotzdem verhielt er sich genauso, wie man es von ihm erwartete und blieb, mit zurückgenommenen Schultern und geschwellter Brust, dort stehen. Sam war so damit beschäftigt, sich in Gedanken selbst zu loben, dass er die wie eine Prostituierte aussehende Frau nicht gleich wieder wegschickte, als sie die kleine Halle betrat, in der er die Tür bewachte. „Entschuldigung“, sagte sie mit unschuldiger Stimme. „Können Sie mir vielleicht weiterhelfen? Ich suche den Führer.“ Harmlos strich sie sich eine ihrer langen Haarsträhnen aus dem Gesicht. Sein Blick glitt langsam am Körper der Frau hinunter und blieb an ihren Brüsten hängen. Er schluckte trocken und sagte dann stockend: „Es tut mir leid,... aber der Führer ist nicht mehr zu sprechen.“ Die Frau trat einige Schritte näher an ihn heran. „Ich muss aber wirklich dringend mit ihm reden. Es ist ein Notfall.“ Sie strich mit ihrer Zunge aufreizend über die Lippen, was einen angenehmen Schauer in Sams Körper verursachte. Er versuchte den Blick von ihren Brüsten abzuwenden und sie stattdessen wegzuschicken, doch sie kam immer näher. Er drückte sich dicht an die Tür, als sie nur noch wenige Schritte von ihm entfernt stand; er hatte kaum noch Kontrolle über seinen Körper. Er schloss kurz die Augen und raffte sich dann auf. „Verschwinden sie von hier! Auf der Stelle!“ „Ach, und was ist, wenn ich es nicht tue?“ Eine ihrer zarten Hände stützte sich neben seinem Kopf an die Tür. Ihr heißer Atem strich über sein Gesicht, er unternahm einen halbherzigen Versuch, sie von sich wegzustoßen, doch es gelang ihm nicht. Eine Hand strich seine Wange entlang. So sanft, so zart, er blickte in ihre Augen und versank in ihnen, als sie ihn feurig anblickten. Fingerspitzen, die leicht über sein Gesicht wehten, über das Kinn glitten, an der Kehle vorbei in seinen Nacken zum Liegen kamen. Dann spürte er Lippen, die sich hart auf die seinen pressten... ~*~*~ Jasper hatte jetzt schon einige Zeit in der dritten Etage des Turmes gestanden. Er hatte sich in eine Nische direkt neben der Treppe gedrückt und beobachtete die steinernen Stufen. Bisher hatte sich nichts getan, das einzige Geräusch war ein leises Summen aus einem der Büros gewesen. Er hatte sich absichtlich in der dritten Etage versteckt, denn in den anderen gab es diese unauffälligen Lücken nicht, die Wände dort waren komplett glatt. Nicht viel Zeit war seit seiner Ankunft vergangen, als er leise Schritte hörte. Er lehnte sich ein wenig vor, um abschätzen zu können, ob die Geräusche von oben oder unten kamen, bis er das leise Klacken einer Tür vernahm. Der ungebetene Gast war wohl auf seinem Weg abgebogen. Jasper ließ sich zurück an die Wand sinken und schloss erleichtert die Augen. Als er sie wieder öffnete, drückte sich ihm eine kalte Klinge gegen die Kehle, er hielt die Luft an. „Na, wen haben wir denn da?“ Maximilian, der erste Mann Grifts, lächelte ihn süffisant an, hinter ihm stand noch ein weiterer Regierungsvertreter. Jasper fluchte innerlich. Maximilian war ein Mann mittleren Alters, der ebenso wie Grift, täglich im Anzug umherlief. Er hatte lange, dunkle Haare, die ihm bis über die Schulter fielen, und einen kleinen Stoppelbart, sodass man ihn nicht für ein Regierungsmitglied gehalten hätte, wäre man ihm auf der Straße begegnet. Maximilian schnappte sich das Funkgerät des Schmiedes. „Wo einer ist, können die anderen nicht weit sein, nicht wahr? Wen werde ich jetzt wohl sprechen können? Maya oder Johannes?“ Jasper entfuhr ein wütendes Schnauben. „Das werde ich dir ganz sicher nicht sagen, du...“ Er brach ab und sog scharf Luft ein, als er einen stechenden Schmerz an seinem Hals spürte. Die Spitze des Messers bohrte sich leicht in das Fleisch des Schmiedes, und ein Tropfen Blut trat hervor. „Ein bisschen mehr Respekt, wenn ich bitten darf... Ich nehme an, ich werde mich mit dem zweiten männlichen Mitglied eures netten Trios unterhalten können.“ Jasper wagte nicht sich zu bewegen, es wäre sein sicherer Tod gewesen. Maximilian drückte einen Knopf und sprach in das Funkgerät. „Guten Abend, Johannes!“ Jasper fluchte; dann traf ihn etwas Hartes am Kopf und er sank ohnmächtig nieder. ~*~*~ Johannes: Ein Rauschen, und mein Herz blieb stehen. „Guten Abend, Johannes!“ Vor Schreck lief es mir eiskalt den Rücken herunter und ich starrte das kleine rauschende Ding an meinem Gürtel an. Die Schritte auf den Stufen waren verklungen, plötzlich war es still, mit Ausnahme eines Funkgerätes, welches munter weiterrauschte. Erst jetzt wurde mir klar, dass es nicht Jasper war, der da gesprochen hatte, und auch nicht Maya, sondern Maximilian. Ich biss die Zähne zusammen und überlegte, was zu tun war, denn nun war ich auf mich allein gestellt. Wenn Jasper außer Gefecht gesetzt war, und davon konnte ich jetzt ausgehen, dann dauerte es nicht mehr lange, bis auch Maya gefasst werden würde. Verdammt! Warum ausgerechnet jetzt, wo doch alles so gut lief? Ich hieb mit der Faust gegen die Wand. Um die dabei entstehenden Geräusche brauchte ich mir keine Sorgen machen, denn das Funkgerät rauschte noch immer, und Grift hatte alles Wichtige gehört, um zu wissen, was vor sich ging. „Ich weiß, dass du da bist, Johannes. Los, antworte mir!“, drang es aus dem Lautsprecher hervor. Ich würde den Plan durchziehen, denn eine Flucht half nun auch nicht mehr. Sterben würde ich sowiso, ob nun im Kampf gegen Grift oder später erhängt unter einer Brücke machte da keinen Unterschied. Und finden würde man mich auch, in Laäros konnte man sich nicht verstecken. Zögernd hob ich das kleine, rauschende Gerät an meinen Mund. „Verflucht seist du, Max.“ Ich schmiss das Funkgerät die Treppe hinunter und sprang ihm hinterher. Ein Krachen, und der kleine Kasten zersprang in tausend Teile, doch ich achtete nicht darauf. Ich stürmte die Stufen hinab, unbeachtet dessen, dass Grift irgendwo unter mir an die Wand gepresst stehen würde, und mich daher erwischen konnte, bevor ich ihn überhaupt bemerkte. Sekunden später zischte ein Messer haarscharf an meinem rechten Ohr vorbei. Ich duckte mich und hatte nun den ehrenwerten Führer ins Visier genommen, der nur einige Stufen unter mir stand und in Angriffsposition auf mich wartete, als ich stolperte und somit wieder nur knapp einem Messer entging, welches mich diesmal sicher getroffen hätte. Ich stürzte zu Boden und rollte einige Stufen hinunter, ehe ich mit dem Kopf hart gegen die Wand stieß und auf dem Rücken liegend zum Halt kam. Stöhnend blickte ich auf und sah Grift gehässig grinsend über mir stehen. Mein Rücken schmerzte gewaltig von dem Sturz, ganz zu schweigen von meinem Kopf, der ja eine nicht allzu sanfte Begegnung mit der Wand gehabt hatte. Ich versuchte mich aufzurichten, indem ich mich an der Mauer hinter mir hochdrückte, als Grift mir mit aller Kraft in die Magengrube trat. Zusammengekrümmt rutschte ich erneut zu Boden, mein Atem ging stoßweise, die Schmerzen waren unbeschreiblich. ~*~*~ Sam war gar nicht mehr bei Besinnung. Er spürte die heißen Lippen der Frau seine eigenen erobern, die Zunge, die in seinen Mund eindrang und ihn gefangen nahm, die Hände, die seinen Körper entlang glitten und ihn von seinem Overall befreiten. Er spürte die harten Brüste, die sich gegen seinen mittlerweile nackten Oberkörper pressten und das Bein, das sich zwischen seine Schenkel drückte. Alles andere war uninteressant. Sam war in der Welt der Gefühle gefangen, als die fremde Frau urplötzlich von ihm weggerissen wurde. „Sie Vollidiot!“, hörte er die Stimme seines Vorgesetzten. „Öffnen Sie die Tür verdammt!“ Sam brauchte einige Sekunden, ehe er wieder bei vollem Bewusstsein war. Weg waren die erhitzenden Gefühle und ließen eine eisige, bleierne Leere zurück. „Natürlich... Sir“, konnte er noch herausbringen, bevor er unter den Blicken seines Vorgesetzten zusammenschrumpfte. Ein lauter Schrei durchdrang die Luft, Sam wirbelte zur Tür herum, von wo der Schrei gekommen war; ihm lief es eiskalt den Rücken herunter. „Den Schlüssel!“, zischte Maximilian, bedrohlich nahe daran, die Geduld zu verlieren. Zitternd zog Sam einen eisernen Ring mit dem Schlüssel hervor und reichte diesen seinem Vorgesetzten, dann wurde er grob zur Seite geschleudert. Nur wenige Sekunden später wurde die hölzerne Tür aufgestoßen, und Maximilian stürmte in Höchstgeschwindigkeit nach oben. ~*~*~ Johannes: Ich krümmte mich vor Schmerz, Grift kam mit einem Messer auf mich zu, er bückte sich zu mir hinunter und sah mich enttäuscht an. „Schade. Aus dir hätte wirklich etwas werden können. Was wird wohl der kleine Evangelos sagen, wenn er erfährt, dass du tot bist? Er ist noch nicht volljährig und wird aus deiner Wohnung ausziehen müssen. Mal sehen, wo ich ihn hinschicke.“ Er grinste hämisch. „Vielleicht in die Katakomben?“ Furchtbare Angst ergriff Besitz von mir. Nicht um mich, sondern um Evangelos. Die „Katakomben“ waren die sogenannten ‚Wohnungen‘ in dem Turm mit den bei weitem schlechtesten Verhältnissen. Dagegen war der Turm für die Neuen ein strahlendes Paradies. Angefangen damit, dass die Hälfte der Wohnungen nicht abgeschlossen werden konnte, zogen sich die Mängel von nicht funktionierendem Licht und ständigen Stromausfällen bis hin zu verstopften Wasserleitungen oder nicht vorhandenen Waschbecken. Hier waren außerdem die meisten Todesfälle durch Ermordung zu verzeichnen, für einen Jungen von gerade einmal fünfzehn Jahren der sichere Tod. „Das wagst du nicht“, brachte ich gepresst hervor, während ich verzweifelt nach einem Weg suchte, mich aus dieser misslichen Lage zu befreien. Meine Chancen befand ich schließlich für äußerst schlecht. Grift stand über mich gebeugt da und lächelte gewinnend. Aus den Augenwinkeln nahm ich wahr, wie er an seinem Gürtel mit der rechten Hand sanft über die Griffe seiner Messer strich, ehe er eines von ihnen leicht herauszog, es aber wieder zurückgleiten ließ, dann ein anderes fest packte und aus seiner Halterung löste. „Du vergisst, wer hier die Gewalt hat.“ Er sah spöttisch auf mich herab. „Wie konntest du nur denken, mich töten zu können?“ Mit links griff er nach meinem Kragen und zog mich daran hoch, das Messer in der Rechten führte er an meine Kehle; widerstandslos ließ ich es geschehen, während mein Herz wie verrückt raste und meine Fäuste sich vor unterdrücktem Zorn fast krampfhaft ballten. Grift senkte seine Stimme. „Welch eine Schande, dass der Junge wegen dir leiden mu–“ Wutentbrannt spuckte ich ihm ins Gesicht. Schlagartig ließ er mich los und ich fiel zurück zu Boden, während sich meine Lippen in bitterer Genugtuung verzogen. Unbemerkt zog ich mit einer Hand ein Messer aus meinem Gürtel und schob es hinter meinen Rücken. Grift wischte sich angewidert die Spucke aus dem Gesicht. Kaum eine Sekunde verging, da packte er mich erneut am Kragen und presste mich brutal gegen die Wand, die Klinge drückte er mir wieder an den Hals, seine Hand vibrierte leicht. „Sag Ade“, zischte er mit zusammengebissenen Zähnen und setzte zum Schnitt an, als von unten laute Stimmen zu hören waren. „Sie Vollidiot! Öffnen Sie die Tür verdammt!“ Grift hielt inne; diesen kleinen Augenblick der Unaufmerksamkeit nutzte ich aus. Ich ergriff seine Hand an meinem Hals und drückte sie gewaltsam von mir weg, dann packte ich die Klinge hinter mir und rammte sie Grift mit aller Kraft ins Bein. Er schrie schmerzerfüllt auf, ließ sein Messer fallen und stolperte zurück. Ich rappelte mich auf und ergriff hastig seine Waffe, dann stürzte ich mich auf den Führer und stieß ihn zu Boden. Unten wurde die Tür aufgerissen. Mit dem rechten Knie drückte ich seine Brust gegen die steinernen Stufen, seine Hände konnte ich dank der Schmerzen in seinem Bein und dem immer noch geschockten Zustand notdürftig über seinem Kopf zusammendrücken. Jemand stürmte die Treppe hoch. Ich hielt ihm sein eigenes Messer an die Kehle. Die hektischen Schritte wurden lauter. „Nichts wirst du tun“, flüsterte ich und ich stieß zu. Grifts Augen zeigten noch den Ausdruck des Entsetzens, als er starb, der Mund war in einem stillen Schrei geöffnet. Blut sprudelte aus der Wunde, ein feines Rinnsal lief seinen Hals hinab und tropfte lautlos zu Boden, sein Kopf kippte zur Seite, als ich das Messer aus dem Fleisch zog, es dann aber aus meiner Hand gleiten ließ. Klirrend fiel es auf die Stufen und besprenkelte sie mit roten Tropfen. Genugtuung durchdrang mich, dann erst wurde ich mir wieder der schnellen Schritte bewusst. Ich sprang auf und sprintete die Treppe hinauf. Nur noch wenige Schritte, dann hatte ich das kleine Fenster erreicht. Hektisch warf ich einen Blick über die Schulter. Noch war niemand zu sehen. Ich holte tief Luft, als mir klar wurde, was als nächstes kommen würde: Der Abstieg. Mit den Füßen zuerst zwängte ich mich hindurch. Der Wind umstrich meine Beine und ich erzitterte, leichte Panik stieg in mir hoch. Als ich halb durch das Loch verschwunden war, tauchte Maximilian auf der Treppe auf, rachsüchtig stürzte er auf mich zu. Ich hielt mich mit einer Hand an einer der Gitterstangen fest und lehnte mich mit dem Oberkörper zurück, den Kopf drehte ich in Richtung Boden. Ich packte einen der dort liegenden Metallstäbe, die ich mir beim Einstieg aus dem Gitter gesägt hatte, zog mich wieder hoch, und schleuderte ihn Maximilian entgegen. Er konnte gerade noch ausweichen, ein lautes Klonk ertönte, als das Metall gegen die Wand krachte, dann verschwand ich ganz durch das Loch. Erneut spürte ich die Kälte meinen Körper erobern, die Angst versuchte überhand zu nehmen, doch ich verdrängte sie so gut es ging. Jetzt war keine Zeit für Furcht. Eilig, jedoch unablässig zitternd, kletterte ich mit Hilfe des zuvor befestigten Seiles in Richtung Erde, als sich Maximilians Kopf durch die Öffnung schob und spöttisch grinste. In der Hand hielt er ein Messer. Ich wusste, was nun kommen würde, und hoffte dennoch, dass dem nicht so war. Panisch beschleunigte ich mein Tempo noch, doch ich hatte keinen Halt mehr, Maximilian hatte das Seil durchgeschnitten. Die plötzliche Leere des freien Falls nahm von mir Besitz, den Schock tief in den Gliedern stürzte ich unaufhaltsam in die Tiefe, den Tod direkt vor Augen. In meiner Not packte ich einen der zuvor in die Wand gehauenen Meißel und hielt mich daran fest. Ein Ruck durchlief meinen Körper und ich hätte fast wieder losgelassen. Mein Herz raste, mein Atem ging heftig und ungleichmäßig, ein Schüttelkrampf nach dem anderen erfasste mich, es war ein Wunder, dass ich nicht schon gefallen war. Langsam kam ich wieder zu Sinnen und versuchte gleichmäßig ein und aus zu atmen, dann sah mich um. Erst nach oben, Maximilian war vom Fenster verschwunden, er dachte wohl, ich sei tot, dann vorsichtig nach unten. Ich hätte es nicht getan, wenn es nicht nötig gewesen wäre, doch um hier herunter zu kommen, musste ich auch in die Tiefe gucken, mein Magen war kurz davor mein Mittagessen wieder preiszugeben. Ich schloss die Augen und öffnete sie Sekunden später wieder, dann machte ich meine Lage aus. Ich hatte die Hälfte des Weges hinter mich gebracht und ungefähr die gleiche Strecke fehlte noch bis zum Fuß des Turmes. Das Seil, welches mich zuvor auf meinem Weg nach unten begleitet hatte, hatte sich an meinem Fuß verfangen und war nahe daran, komplett in die Tiefe zu fallen, ich schluckte. Ich versuchte langsam, mein Bein zu heben, ohne dass das Seil abrutschte, und griff dann mit der freien Hand vorsichtig danach. Mein anderer Arm wurde langsam taub, so suchte ich nach einem weiteren Meißel. Der Nächstbeste, den ich fand, steckte genau auf Fußhöhe in der Wand, also stütze ich mich so gut es ging darauf ab und versuchte, das Gewicht zu verlagern, so konnte ich meinen Arm entlasten. Noch mehrere Meißel steckten auf meiner Höhe in der Wand. Nur so hatte ich hier hoch kommen können. Ich warf das Seil über einen der Metallstäbe auf Brusthöhe und zog solange an einer Seite, bis ich in der Tiefe erkennen konnte, dass beide Enden ungefähr auf einer Höhe waren. Das Seil war an die Länge des Turmes angepasst worden. Da ich mich nun etwa bei der Hälfte befand, musste es doppelt genommen auch bis zum Fuß reichen. Ich hatte außerdem nur vor, das Seil als Kletterhilfe zu verwenden, denn alleine war es mir nicht sicher genug; der Meißel konnte sich jederzeit lösen, ich würde endgültig hinunterstürzen, und bräche mir alle Knochen. Die Metallstangen halfen mir auf meinem von panischer Angst begleiteten Weg nach unten. Ich brauchte tatsächlich eine Viertelstunde, bevor ich den sicheren Boden wieder unter meinen Füßen spürte und erleichtert in mich zusammensackte. Tropfenweise wurde mir klar was geschehen war, was ich überstanden hatte und was nun folgen würde; ich seufzte. Schwerfällig erhob ich mich und schlug den Weg zu meiner Wohnung ein. Mit ein bisschen Glück hatte noch niemand bemerkt, dass ich überlebt hatte. Maximilian würde erst nach Grift gucken und Jasper und Maya ein wenig ‚foltern‘, bevor er sich ein Bild von meinen glücklicherweise nicht gebrochenen Knochen würde machen wollen. ~*~*~ Maximilian war wirklich davon ausgegangen, Johannes tot vorzufinden, und war nun dementsprechend wütend, keine Leiche vorzufinden, sondern nur ein Seil, das sich auf der Hälfte des Turmes um einen Metallstab wand. Er fluchte laut und schritt auf seine Leute zu. „Durchsucht die Stadt nach Johannes! Beginnt in seiner Wohnung! Und wehe, ihr findet ihn nicht. Ich will ihn lebendig vor mir sehen!“ ~*~*~ Evangelos: Evangelos saß am Küchentisch, als die Wohnungstür aufgestoßen wurde und ein mitgenommener Johannes hereinstürzte. Er sah schrecklich aus. Seine Kleidung war dreckig und an einigen Stellen eingerissen, und an seinem Kopf waren deutlich die vielen kleinen Schweißperlen zu erkennen. Er schmiss die Tür hinter sich zu, lief zum Kühlschrank und holte eine Flasche Bier hervor, die er dann an der Tischkante öffnete. Der Glatzköpfige nahm einen großen Schluck und ließ sich langsam auf den Stuhl gegenüber von Evangelos sinken. Der Junge hatte schon den ganzen Abend und die halbe Nacht auf ihn gewartet und war mehr als überrascht, Johannes so anzutreffen. „Was ist passiert?“, fragte er leise. Der Ältere antwortete nicht auf die Frage. Stattdessen sagte er einfach: „Es tut mir leid.“ Es waren einfache Worte, doch sie schockten Evangelos. „Was tut dir leid?“ „Alles!“ war die einfache Antwort. Es war immer so. Sie sprachen wenig, zwischen ihren Sätzen lagen ewige Gedankenpausen, und der Junge musste dem Älteren die Informationen, die er haben wollte, einzeln aus der Nase ziehen. Der Unterschied war, dass er sich dieses Mal nicht sicher war, ob er wirklich wissen wollte, was Johannes leid tat. „Ich werde diese Nacht nicht überleben.“ Es war ein einfacher Satz, doch mit so viel Sinn. Evangelos wurde einiges klar, Johannes Verhalten in letzter Zeit ergab plötzlich einen Sinn, seine Abwesenheit klärte sich auf; was heute passiert war, konnte er erahnen. Johannes hatte etwas unternommen, der Plan war schief gelaufen, man wusste, dass er der Schuldige war, und es würde nicht mehr lange dauern, bis die Regierung vor ihrer Tür stand. Es gab nur etwas, das fehlte: Das Motiv. Er seufzte, während der Ältere einen weiteren Schluck aus seiner Flasche nahm. „Was hast du angestellt?“ Er hätte weinen sollen, doch das konnte er nicht; noch nicht. Noch gab es eventuell eine Möglichkeit, seinen Adoptivvater, wie er ihn insgeheim nannte, da herauszuhauen, vor allem, da er hier mit ihm am Tisch saß, obwohl er wusste, dass er gesucht wurde. „Ich habe Grift erdolcht“, murmelte er leise. Evangelos sah ihn aus großen Augen an. Mit allem hatte er gerechnet, aber nicht mit Grift. Er schluckte den sich in seinem Hals bildenden Kloß herunter und fragte stattdessen: „Warum?“ Ein weiterer Schluck aus der Flasche, dann nahm der Ältere sie beim Hals und schleuderte sie mit voller Wucht an die Wand. Evangelos schrie schockiert auf und deckte sich die Augen ab, als die noch halbvolle Flasche in tausend kleine Teile zerbarst und ein leichter Nieselregen aus Bier auf sie niederging. Johannes blickte wütend auf den nassen Fleck an der Wand, von dem aus sich viele kleine Wasserläufe ihren Weg nach unten bahnten. „Ich weiß es nicht!“, schrie er. „Oh gottverdammte...“, er ließ sich langsam zurück in den Stuhl sinken, legte den Kopf in den Nacken und atmete tief ein und aus. „Ich weiß nicht, wie ich auf die Idee kam, ihn umzubringen. In meinem Kopf klang es so... richtig.“ Er seufzte. „Du bist krank“, war die einfache Antwort von Evangelos. Er meinte damit nicht verrückt, sondern die genaue Bedeutung des Wortes. Johannes war von der Krankheit infiziert worden. Genau das schien diesem jetzt auch klar geworden zu sein. Er nickte leicht und schloss die Augen. Evangelos stand auf und legte einer seiner Hände auf die des Älteren. „Ich werde dich nicht sterben lassen.“ Er wusste, wie verzweifelt er klingen musste, und er erinnerte sich daran, dass auch er nur ein Kind war. „Du hast keine Wahl, ich habe keine Wahl. Es wird wohl das letzte Mal sein, dass wir uns sehen. Ich will nicht, dass du bei der Hinrichtung dabei bist.“ „Aber...“ „Tu mir einen letzten Gefallen und hör auf mich.“ Er lächelte den Jungen an, dem nun die Tränen das Gesicht herunter liefen. Evangelos fiel dem Älteren um den Hals und weinte, es gehörte sich seiner Meinung nach nicht für einen Jungen, doch das war ihm egal. Wenn Johannes nicht mehr da sein würde, dann wäre er ganz alleine in diesem Gefängnis. Es war das erste Mal seit langer Zeit, dass er diesen Ort als ein solches betrachtete. Der Glatzköpfige legte eine Hand auf den Hinterkopf des Jungen und zog ihn an sich heran. Es würde das erste und letzte Mal sein, dass sie sich umarmten, denn das hatten sie zuvor noch nie getan, und nun würde sich die Möglichkeit nicht mehr ergeben. Evangelos hörte lauter werdende Stimmen, doch er beachtete sie nicht. Erst als die Tür aufgerissen wurde und man Johannes abführte, versiegten auch die Tränen, und in seinem Kopf fasste sich ein Entschluss. Er würde Johannes nicht einfach sterben lassen, das hatte er gesagt, und das würde er auch halten. Er ballte die Hände zu Fäusten, sodass sich die Fingernägel tief ins Fleisch bohrten und Blut heraus tropfte, doch er spürte nichts. Er griff nach seiner Jacke, steckte sich ein paar Handschuhe ein – in der Nacht konnte es eiskalt werden – schlüpfte in seine Stiefel und rannte den Turm hinunter in die Nacht hinaus. Kapitel 4: Kapitel 4 -------------------- Kapitel 4 Evangelos: Ein stürmisches Klopfen vermischt mit erschöpftem Keuchen drang durch die Stille des Turmes. Evangelos hieb auf die Tür ein, als wäre der Teufel hinter ihm her. Er war in die Schule eingebrochen und hatte das Lehrerzimmer komplett auf den Kopf gestellt, nur um herauszukriegen, wo Noah wohnte. Als er schließlich den Turm inklusive Wohnungsnummer herausgefunden hatte, war er sofort dorthin gestürmt, um sich möglichst viel Zeit zu verschaffen. Die Tür öffnete sich so plötzlich, dass der Braunhaarige glatt hineinstolperte. Anstatt jedoch hinzufallen, stieß er gegen etwas großes, weiches. „Evangelos, was machst du hier um diese Zeit?“, fragte ein etwas erstaunt wirkender Noah. Er trug einen grau karierten Pyjama und blickte den Jungen vor ihm verschlafen an. Evangelos, der sich mittlerweile wieder gefangen hatte, zwängte sich einfach an ihm vorbei in die Wohnung. Sie war recht karg ausgestattet. Das Wohnzimmer, in dem er sich jetzt befand, war in einem bräunlichen Ton gehalten, zwei Sessel (mit aufgeplatzten Nähten), aus denen bereits der Innenstoff hervorquoll, und ein kleiner hölzerner Tisch standen in der Mitte. Drum herum lagen große und kleine, dicke und dünne Bücher, aufgeschlagene Hefte und auch die ein oder andere einzelne Seite; die Wände des Raumes waren trist und kahl. „WOW“, entfuhr es Evangelos trotz seiner niedergedrückten Stimmung „Das nennt man Chaos!“ „Ich selbst bezeichne es als Ordnung“, entgegnete der Lehrer trocken. „Warum bist du hier? Und das um diese Zeihhhht?“ Das letzte Wort ging in ein herzhaftes Gähnen über. Sofort wurde Evangelos wieder ernst. „Was wissen Sie über die Krankheit?“ „Was sollte ich darüber wissen, was du nicht weißt?“ „Sie wissen mehr, als Sie zugeben wollen. Johannes hat Sie damals durchschaut.“ Er blickte Evangelos verwirrt an. „Johannes?“ „Er war der, der Sie eingewiesen hat. Bitte, was wissen Sie?“ Der Blonde seufzte, dann veränderte sich seine Miene. Ein abweisender Ausdruck legte sich auf sein Gesicht „Ich wüsste nicht, was dich das angehen würde! Raus aus meiner Wohnung!“ Der Junge rührte sich nicht. „Sofort!“ Er bewegte sich keinen Zentimeter. „Wer hat ihnen gesagt, dass Sie nichts erzählen sollen? Grift? Die Regierung?“ Er holte tief Luft, bevor er rief: „Oder ihr eigener Verstand, der immer noch nicht kapiert hat, dass es denen da draußen egal ist, ob wir hier sterben oder nicht und...“ Evangelos hielt inne. Er war sich nicht sicher, ob er das Richtige getan hatte, indem er seinen Lehrer anbrüllte. Es war respektlos gewesen, sehr respektlos. Entweder hatte seine Reaktion nun Erfolg, oder er war blindlings ins Verderben gerannt; er presste die Lippen aufeinander und ging in eine leichte Abwehrhaltung. Noahs Brust bebte, er hatte die Hände zu Fäusten geballt und blickte zornig auf ihn herab. „Mach, dass du...“ Er brach ab und schloss die Augen, einige Sekunden später entspannten sich seine Züge, und auch die Atmung wurde wieder regelmäßiger, er seufzte. Er deutete auf den linken der beiden Sessel. „Setz dich.“ Evangelos kam sich durch den Stimmungswechsel ein wenig überrumpelt vor, ließ sich aber in den Sessel sinken, während Noah in dem anderen Platz nahm. Neugierig sah er ihn an, während der Ältere nachdenklich vor sich hinstarrte. „Wo soll ich beginnen?“ Er strich sich ein wenig über sein Kinn, an dem schon wieder kleine Bartstoppeln auszumachen waren. „Nun, ich denke es ist am besten, wenn ich am Ursprungsort anfange... Vor ungefähr 25 Jahren gab es Unten einen Chemiker und Wissenschaftler. Er nannte sich selbst Jason und experimentierte hauptsächlich mit lebenden Substanzen. Sein Ziel war es, eine eigenständige Lebensform zu entwickeln, die eigenständig lernen und leben konnte. Bei Untersuchungen stellte er jedoch fest, dass bei jedem seiner „Erzeugnisse“ der Teil fehlte, der dem neuen Lebewesen die Fähigkeit gab, wie ein Mensch denken und agieren zu können. Niemand weiß wie, aber schließlich schaffte er es, eine eigenständig denkende Art zu erschaffen. Es fehlte ihr jedoch ein Körper. Du kannst sie dir vielleicht als unsichtbare Geister vorstellen, etwas anderes wirst du auch niemals zu Gesicht bekommen.“ Evangelos sah ihn an als wäre er durchgedreht und musste sich stark zusammennehmen, um keinen abfälligen Kommentar abzugeben. Noah grinste. „Genau das ist auch die Reaktion der Menschen damals gewesen, sie erklärten Jason für verrückt. Um sich selbst zu beweisen, lud er schließlich die obersten Politiker, inklusive Präsidenten, ein, um ihnen die Existenz seiner Wesen zu beweisen. Vorerst hatte er die Geister nur in einer großen Glasröhre gefangengehalten, es waren knapp 25. Jason zeigte den Politikern ein Gerät, mit dem Wärmebilder empfangen werden konnten. Zu sehen waren leichte Umrisse von Gegenständen und skurrilen Gestalten, in deren Mitte sich der Wärmepol, eine helle Flamme, befand. Die endgültige Existenz bewies Jason jedoch, als eines der Wesen seine Gestalt wechselte. Und zwar von einem Schreibtischstuhl in den Präsidenten.“ Noah lächelte leicht vor sich hin und strich sich dann erneut eine seiner wüsten Haarsträhnen hinter das Ohr. Evangelos glaubte ihm kein Wort, nicht ein einziges. Niemals war es möglich, eine eigene Rasse ‚herzustellen‘; das war absolut lächerlich, völlig absurd, oder doch nicht? „Du glaubst mir nicht.“ Eine einfache Feststellung, die wohl nicht zu übersehen war, denn der Gesichtsausdruck des Jungen sagte soviel wie: Wenn das stimmt, bin ich der Kaiser von China! Er nickte langsam; Noah seufzte. „Dann...“ Evangelos unterbrach ihn. „Was hat das ganze überhaupt mit der Krankheit zu tun?“ „Es gibt keine Krankheit“ „Wie bitte? Natürlich gibt es eine Krankheit, die Menschen werden doch täglich –“ „Es gibt keine Krankheit! Es hat nie eine Krankheit gegeben. Die psychische Veränderung; das alles ist den Geistern zuzuschreiben.“ Er seufzte, ließ sich im Sessel zurücksinken und überschlug die Beine. „Jason machte noch mehrere Experimente mit ihnen und versuchte sie in eine Körper zu zwingen, was ihm jedoch nicht gelang. Es sah aus, als würden sie selbst entscheiden, wo sie sich einnisten wollten und wo nicht. In all der Zeit verließen sie nicht einmal die gläserne Säule. Jason hat ihnen immer Tiere hinein geworfen. Irgendwann probierte er das ganze Spielchen mit einem Affen aus, der um einiges menschlicher war als alle anderen Tiere zuvor. Er stellte schon wenige Minuten später starke Verhaltensänderungen fest. Der Affe behielt weiterhin seine angeborenen Fähigkeiten, wie Laufen oder gewisse Reaktion auf Geräusche, doch er veränderte sich psychisch rapide. Zum Beispiel hat er mit seinem Futter die anderen Affen angespuckt und ist andauernd gegen die Scheibe der Glassäule gerannt. Den Affen ließ Jason frei herumlaufen, während er die anderen Geister noch immer gefangen hielt. Er unterrichtete ihn und merkte, dass das Tier lernfähig war. Er brachte ihm, seinen Aufzeichnungen nach zu schließen, sogar Dinge bei, die ein Affe unmöglich erlernen konnte, Schreiben zum Beispiel. Als die Politiker von dieser Wendung erfuhren, erlaubte man Jason sein Projekt an anderen Affen fortzusetzen.“ Evangelos glaubte immer noch kein Wort. „Wenn es stimmt, was Sie sagen, – ich nehme es Ihnen ehrlich gesagt nicht ab – warum hat Jason sein Experiment nicht an Menschen durchgeführt?“ „Kannst du dir das nicht denken? Er wusste nicht, wie er die Geister wieder zum ‚Verschwinden‘ brachte. Und stell dir vor, ein Mensch wäre in diesem Zustand geblieben...“ Er räusperte sich. „Da der Professor durch die vielen Affen kaum noch Zeit hatte, schaffte er sich einen Lehrer für den ‚Unterricht‘ an. Als dann eines der Tiere starb, befreite sich der Geist und übernahm den Körper des Lehrers. Jason stellte wiederum fest, dass der Mann seine Grundfähigkeiten behalten hatte, sich jedoch affenähnlich verhielt. So viel zu deiner Frage mit den Menschen.“ „Ich glaube Ihnen immer noch nicht, und was hat das ganze überhaupt mit der ‚nicht vorhandenen Krankheit zu tun?“ Noah seufzte. „Geduld...“ „Ich habe keine Geduld! Johannes ist verdammt noch mal dabei, hingerichtet zu werden! Ich habe keine Zeit!“ „Was?!“, rief Noah schockiert. Wäre die Lage nicht so ernst gewesen, hätte Evangelos sich in diesem Moment selbst mit dem Wort „Stimmungsschwankungen“ charakterisiert. Erst war er ruhig, dann wütend, dann ungeduldig und dann wieder wütend... „Er wurde ab-ge-führt! Können Sie jetzt weiter reden?“ „Na...natürlich...“ ~*~*~ Johannes: Ich saß irgendwo im Nord-Ost-Turm fest, dem Standort des Gerichts wohlgemerkt. Ich zweifelte daran, dass man mir eine Gerichtsverhandlung geben würde; die gesamte Lage war aussichtslos. Der Raum, in dem ich mich befand, lag in kompletter Schwärze, Fenster gab es keine, und eine Lampe schien man nicht zu kennen. Der Boden unter mir und die Wand, an der ich mit dem Rücken lehnte, waren feucht und modrig, ein widerlicher Geruch ging von ihnen aus und erzeugte ein unangenehmes Kribbeln in meiner Nase. Und als ob das alles nicht schon genug gewesen wäre, war mein rechter Fuß zusätzlich noch mit einem ins Fleisch schneidenden Metallring, der meinen Bewegungsfreiraum wunderbar einschränkte, an der Wand festgekettet worden. Das Schlimmste war jedoch das Tropfen. Irgendwo links oben in der Ecke gab es eine undichte Stelle, aus der unablässig Wasser herabfiel und einen leisen, aber dennoch unüberhörbaren Ton erzeugte. Woher das Wasser kam, war mir ein Rätsel, immerhin befand ich mich, soweit ich mich erinnern konnte, im dritten Stock; Regen war also auszuschließen. Tropf Ich dachte über meinen bald bevorstehenden Tod nach. Maximilian hatte mir angekündigt, mich erst am frühen Morgen hinrichten zu lassen, damit die restlichen Bewohner der Stadt zusehen konnten. Er wollte mich möglichst stark demütigen, ließ mich aber vorher hoffnungslos vor mich hinvegetieren. Tropf Ich fragte mich, was mit Maya und Jasper geschehen war; ich bezweifelte ein wenig, dass sie tot waren, sie würden wahrscheinlich zusammen mit mir die letzte Ruhe finden. Tropf Es tat mir leid, sie damit hineingezogen zu haben. Es war nicht so, dass wir Freunde gewesen wären. Sie waren für mich mehr Mittel zum Zweck gewesen; ich hätte jeden anderen auswählen können. Wenn sie nicht auf sich selbst aufpassen konnten, war es ja ihr Problem. Trotzdem tat es mir leid. Durch mich waren sie erst zu dem Fall ‚Annette‘ gekommen. Tropf Woher kamen diese plötzlichen Schuldgefühle? Ich war nicht der Mensch, der sich entschuldigte, sondern eher jemand, der seine Gefühle in die hinterste Ecke sperrte, was mich unangreifbar machte. Seid wann fühlte ich wieder etwas wie Reue? Tropf Was Evangelos wohl gerade tat? Ich bildete mir ein, ihn ruhig in meiner Wohnung zu sehen, doch ich wusste, dass der Junge in dieser Situation niemals ruhig sein würde. Er war wahrscheinlich dabei, etwas Dummes anzustellen, suchte nach einem Gegenmittel für die Krankheit oder plante den Einbruch in den Gerichtsturm um mich zu befreien. Tropf Es erfüllte mich mit Freude zu wissen, dass mich jemand vermissen würde, doch mit Trauer, als mir klar wurde, wem ich somit eine neue Bürde auflud. Seid wann war ich so ein Gefühlsmensch? Stimmte es, dass sich Menschen in der Zeit vor ihrem Tod über alles und nichts Gedanken machten? Tropf Und was war mit mir damals, als ich noch Unten war und ein richtiges Leben führte? Was wäre aus mir geworden, was ist mit mir geschehen, dass mich die fröhlich Dinge allein ließen? Tropf Warum war ich eigentlich hier in Laäros? Warum hatte ich den Geliebten meiner Frau umgebracht? War es das wert gewesen? War es das wert gewesen, mein Leben quasi aufzugeben? Tropf Warum bereute ich den Mord erst jetzt zum ersten Mal ehrlich? Jetzt, wo ich darüber nachdachte, war die Antwort einfach; direkt nach der Tat hatte es keinen Grund für Reue gegeben, ich hatte mich gerächt und fühlte mich von einer Last befreit. Ich hielt den Mord für gerechtfertigt. Als ich hierher kam, begann ich das Vergangene zu vergessen und wegzusperren, weil ich wusste, dass ich mich früher oder später damit auseinander setzen musste. Ich hatte versucht, diesen Zeitpunkt aufzuschieben, und es war mir erfolgreich gelungen; bis jetzt. Tropf Mir war kalt, mein Körper zitterte leicht, und ich merkte, wie die beiden großen Zehen langsam taub wurden. Ich zog meinen Mantel enger zusammen und rieb meine Hände aneinander, um wenigstens ein wenig warm zu bleiben. Nicht, dass es viel geholfen hätte, aber es beschäftigte mich ein wenig, während ich weiter nachdachte. Ich stellte fest, dass ich den Tod des Mannes nicht bereute, jedoch die schwerwiegenden Folgen, die ich zu tragen hatte. Ich hätte meine Frau umbringen sollen, sie hatte es mehr verdient. Kranke Gedanken, doch war es nicht sie, die mich verletzt hatte? Tropf Es erschien mir klar und logisch. Sie hatte mein Vertrauen in jener Nacht missbraucht. Sie hätte den Tod mehr verdient als dieses Schwein, das mit ihr... Sie wusste gar nicht, was sie mir damit angetan hatte... Ich war schon immer ein stiller Mensch gewesen, schon bevor man mich hierher brachte. Ich lachte rauh und freudlos. Momentan war ich nicht ich selbst, es war die Krankheit, die mich zwang, so zu denken. Und es kam mir richtig vor. Tropf Meine Zeit lief davon, es würde sich nur noch um Stunden handeln, bis die Sonne aufging und die Stadt zum Leben erwachte. Und dann... ~*~*~ Evangelos: Die Stimmung in Noahs kleiner Wohnung hatte sich nicht viel verändert. Evangelos saß da, die Augen weit aufgerissen und doch unfähig, sich zu bewegen. Was sein Lehrer ihm gerade erzählt hatte, war schier unmöglich und menschenverachtend. Er ließ in Gedanken das Gesagte Revue passieren: „Man fand heraus, dass sich die Geister nicht aus einem bestimmten Umkreis entfernten, etwas an Jason Labor hatte sie dort festgehalten. Wie die Regierung später feststellte, war es ein kleiner, blauer Stein der seltsamerweise Einfluss auf die Geister ausübte. Als Jason starb, erwarb die Regierung seine gesamten Immobilien samt den übermenschlichen Wesen. Die Frage war dann, was man mit ihnen anstellen wollte. Weitere Experimente ergaben, dass ein Körper von einem Geist nur befreit werden konnte, wenn er starb. Irgendwann wurde dann der Innenminister durch einen Unfall besessen. Ab diesem Moment war eines der Hauptziele der Regierung das Lösen des Geisterproblems.“ Evangelos hatte an dieser Stelle eine gewisse Ahnung gehabt, worauf sein Lehrer hinauswollte und unglaubliche Furcht war in ihm aufgestiegen, bestätigt zu werden. „Laäros war damals überfüllt gewesen, die Stadt bestand erst einige Jahre, doch man hatte fast jeden Sträfling hierhin gebracht. In den Augen der meisten Menschen einschließlich der Regierenden waren alle, die in das Gefängnis kamen, widerliche Kreaturen. In höheren Kreisen wird noch heutzutage gemunkelt, dass der Vizepräsident schließlich die entscheidende Idee hatte, genau weiß es aber niemand. Es wurde beschlossen, die Geister mit Hilfe des kleinen Steins nach Laäros zu schicken, um einige der Gefangenen zu beseitigen. Man tarnte die körperlosen Wesen als eine unheilbare Krankheit, die Veränderungen an der Psyche eines Menschen bewirkte. In Wirklichkeit waren und sind es immer noch die übernatürlichen, körperlosen Wesen, die sich gelegentlich in die Körper der Menschen einnisten, nur um wieder durch den Tod des Betroffenen befreit zu werden.“ „Ein fortlaufender Kreislauf“, war Evangelos einziger Kommentar gewesen, dann hatte Stille den Raum überschwemmt. Noch immer versuchte er vergeblich den Zwiespalt in seinem Kopf zu bändigen. Auf der einen Seite vertraute er seinem Lehrer, denn das, was dieser erzählt hatte, klang einleuchtend und passte zur Regierung. Andererseits klang die Geschichte über Geister, Körperlose und Übermenschlichkeit völlig unglaubwürdig und schwachsinnig. Schließlich durchbrach er die Stille. „Es scheint alles zu stimmen ... irgendwie jedenfalls... aber – “ „Es klingt so grausam und erfunden“, vollendete der Blonde seinen Satz. Evangelos nickte. „Ich will Ihnen ehrlich gesagt nicht glauben, denn das würde mein ganzes Denken gegenüber einer gewissen regierenden Volksgruppe beträchtlich ändern. Ich mochte sie nie, aber so widerwärtig? Es ist unmöglich. Die Stadtleiter können uns nicht von einer Krankheit erzählen, die keine ist, und die Infizierten hinrichten, nur damit der Geist erneut jemanden besetzen kann. Das kann nicht sein...“ Sein Lehrer seufzte tief, bevor er sagte: „Sieh dich hier um“, er deutete auf die vielen Schriften. „Lies die Artikel, vieles gibt Hinweise auf die Wahrheit.“ Evangelos glaubte seinen Augen nicht, als er die vielen Ausschnitte las. Professor Jason behauptet, eigene Lebensformen kreiert zu haben oder Geisterartige Lebewesen von der Regierung bestätigt In einem Wissenschaftsmagazin stand: Erste Versuche an Affen mit dem Untertitel Neuerdings Heimschulen für Urwaldbewohner? Evangelos las ungläubig die Überschriften, die zu seinem Unglauben das Erzählte bestätigten. Jason tot – was geschieht mit seinen Hausgeistern? Irgendwo stand ein Innenminister Beckmann erkrankt an unheilbarer Krankheit geschrieben. Und wenig später. Tod Beckmanns sorgt für Erschütterung unter der Bevölkerung Erst als Evangelos auf einen Artikel traf dessen Schlagzeile Politiker berichten vom plötzlichen Verschwinden der Geister lautete, stoppte er die Suche nach einer Lüge in Noahs Geschichte. Es gab keine. Evangelos ließ sich zurück in seinen Sessel sinken und seufzte. Er wusste, dass er überzeugt worden war, so schrecklich es auch klang, doch eines war ihm noch unklar. „Woher wollen Sie wissen, dass die Körperlosen nach Laäros geschickt wurden? Wenn niemand anderes, abgesehen von der Regierung, etwas davon mitkriegen durfte?“ „Ich war, bevor ich hierher kam, Professor an einer Universität in der Fakultät Chemie. Mein Studium bezog sich hauptsächlich auf den Bereich der Plasma-Chemie. Als Nebenprojekt habe ich mich mit Jason beschäftigt und bin zufällig auf verdächtige Unterlagen von der Regierung gestoßen. Sie haben mich mit Geld bestochen, nichts zu erzählen, und in meiner Naivität stimmte ich zu...“ Er kratzte sich am Hals. Ein Klappern riss sie aus ihren Gedanken, beide sahen erschrocken auf und dann zur Tür. Die kleine Holzplatte, die den Schlitz für Ankündigungen verdeckte, vibrierte kaum merklich und auf dem Boden vor der Tür lag ein roter Zettel. Der Ältere erhob sich aus seinem Sessel und nahm den Zettel auf, er überflog das Geschriebene erst, bevor er vorlas: Öffentliche Hinrichtung 13. September 8.30 Uhr am Gerichtsturm Anlass: Verrat der Regierung, Ermordung des Führers Anwesenheit ist Pflicht Evangelos stöhnte und vergrub den Kopf in seinen Händen, ihm war schon wieder nach Weinen zumute, doch er wollte stark sein und seinen Gefühlen nicht nachgeben. Was hatte seine Mutter noch immer gesagt? Jungs heulen nicht! Plötzlich spürte er eine Hand auf seiner Schulter. „Noch ist er nicht tot. Wir können ihn noch retten...“ Nun kamen ihm doch die Tränen hoch. „Und wie?“, schniefte er. „Selbst wenn er nicht besessen wäre, würde man ihn hinrichten. Er hat Grift ermordet.“ Er klang so hoffnungslos, wie er sich fühlte. Noah schwieg. Dann fragte er: „Johannes, war er schon besessen, als er den Mord beging?“ Evangelos nickte leicht. „Das heißt, die Körperlosen sind mittlerweile auf einem weit höherem Wissensstand“, murmelte er. „Wenn ein Geist so eine Tat planen kann, dann muss etwas dahinterstecken... er will vielleicht frei sein...“ Er nahm die Hand von der Schulter des Jungen und begann, im Zimmer auf und ab zu laufen. Evangelos betrachtete ihn aus roten Augen verwirrt. „Was muss passieren, um sie zu befreien und trotzdem zu verhindern, dass sie Schaden anrichten?“ Urplötzlich vergaß Evangelos seine Trauer und versuchte den Gedankengängen seines Lehrers zu folgen. „Was würde den Geistern helfen, länger in dem gleichen Körper zu bleiben, ohne dass es auffällt?“ „Kleinkinder...“, hörte der junge Grieche sich selbst murmeln. Noah blieb stehen und sah ihn etwas irritiert an „Was sagtest du?“ „Kleinkinder“, sagte Evangelos lauter. „Die Geister können sich von Anfang an in einen Körper hineindenken und werden sozusagen zu der Person. Außerdem können sie dann ein Menschenleben in dem Körper bleiben und ein normales Leben führen. Die Kinder würden davon nichts mitbekommen und normal aufwachsen.“ Noah klatschte in die Hände. „Das ist genial! Um Johannes zu helfen, müssen wir die Regierung hier oben stürzen, aber dafür sorgen, dass das Versorgungssystem nicht abbricht. Wir können sie also nicht töten, und sie zu etwas zu zwingen ist auch unmöglich, ohne dass die Regierung unten etwas mitbekommt. Bleibt nur die Hilfe der Körperlosen.“ Evangelos vollendete die Idee: „Wenn wir es also schaffen, die Geister zu überreden, dass sie die Körper der Vertreter besetzen, dann wären wir so gut wie frei.“ „Nicht ganz. Der kleine Stein bindet sie immer noch an Laäros. Wir müssten ihn finden und wenn möglich zerstören. Dann wären sie frei und sie können uns hier herausholen.“ Evangelos nickte leicht, aber mit einem kleinen Lächeln im Gesicht. Er konnte Hoffnung haben, hier wegzukommen. Und zwar mit Johannes. Dass andere Schwerverbrecher, Mörder und Vergewaltigter ebenfalls frei kommen würden, war ihm so ziemlich egal; ihre Taten waren nichts gegen die widerwärtigen Methoden der Regierung. Ihr Plan war theoretisch perfekt, praktisch fehlte jedoch noch eine Komponente. „Wie können wir mit den Körperlosen Kontakt aufnehmen, ohne Gefahr zu laufen, selbst besetzt zu werden?“ „Wenn wir den Stein finden und ihn bewegen, ich denke, dass sie das spüren. Wenn sie dann, wie ich vermute, auftauchen, müssen wir schnell agieren. Soweit wir wissen, sind sie lernfähig, wir könnten also mit ihnen reden und ihnen unseren Handel vorschlagen.“ Evangelos fuhr sich durchs Haar. „Wie bitte sollen wir mit denen reden, wenn wir sie nicht einmal sehen können?“ Erstaunlicher Weise hatte sein Lehrer auch darauf eine Antwort. „Wir brauchen einen Dolmetscher, einen besetzten Körper!“ „Und wo sollen wir einen Besessenen finden? Mitten in der Nacht?“ Die Hoffnungslosigkeit kehrte langsam wieder zurück. Der Ältere ließ sich wieder in seinem Sessel nieder. „Du hast Recht.“ Er seufzte, schloss die Augen und legte den Kopf zurück. „Moment“, flüsterte Evangelos plötzlich. „Johannes erwähnte etwas von dem Gehilfen in Jaspers Schmiede. Er sagte, Matthias sei krank.“ „Es ist jetzt drei Uhr Nachts. Wir haben also noch knapp sechseinhalb Stunden Zeit und ich habe keine Ahnung, wie lange wir brauchen. Wir müssen uns beeilen!“ Eilig und wie dunkle Schatten liefen sie über die leeren Brücken von Laäros. Glücklicherweise wusste Evangelos, wo Matthias wohnte: genau über der Schmiede. Innerhalb von 10 Minuten hatten sie den gesuchten Turm erreicht und huschten leise die Treppen hoch. Das Klopfen an der Tür zur Wohnung erzeugte einen hohlen Ton, der unangenehm laut im Turm widerhallte. Erst nach geschlagenen fünf Minuten Dauerklopfens öffnete sie sich einen Spalt breit. Der braune Lockenkopf dahinter warf ihnen einen argwöhnischen Blick zu. „Was wollt ihr hier?“ „Wir haben eine Bitte, die auch in deinem Interesse liegen sollte“, übernahm Noah das Reden. „Kommt morgen wieder!“, war die harsche Antwort der Gehilfe wollte die Tür wieder zuknallen, doch Evangelos stellte seinen Fuß dazwischen. „Lass das, du Bengel!“, fuhr er den Griechen an, doch der Junge störte sich nicht daran und drückte die Tür mit Noahs Hilfe auf. Matthias war ein kleinerer, muskulöser Mann mit kantigem Gesicht, breiter Nase und dichten, dunklen Augenbrauen. Das Einzige, was nicht so ganz zu dem eigentlich harten Auftreten passte, waren die Locken, und nicht zu vergessen der grün karierte Morgenmantel, den er trug. Noah fing wieder an zu sprechen, diesmal jedoch mit einer anderen Taktik. „Wir haben einen Vorschlag an dich und deine Artgenossen, körperloser Geist.“ Plötzlich veränderte sich das Verhalten des Lehrlings, er wirkte keineswegs mehr abweisend, sondern mehr interessiert. „Und zwar?“, seine Stimme war sanft, beängstigend weich und unheimlich. Evangelos erschauderte, und sein Magen zog sich seltsam zusammen. Der Blonde erklärte in knappen Worten, was sie vorhatten. „Wir brauchen nur jemanden wie dich, der uns dolmetscht“, endete er schließlich. Matthias sah verwirrt aus. „Ich soll was machen? Dolmetschen? Ich kenne diesen Begriff noch nicht.“ An dieser Stelle übernahm Evangelos. „Ein Dolmetscher ist ein Übersetzer. Wir brauchen dich, damit wir verstehen, was deine Artgenossen sagen, denn du kannst es für uns dolmetschen, also übersetzen.“ „Ich verstehe das Problem.“ Trotz der einfachen Antwort klang er gruselig. „Wenn wir auf die anderen treffen, musst du ihnen sagen, dass sie uns nicht besetzen dürfen.“ Er nickte. „Weißt du, wie wir alle zusammen bekommen?“, fragte Noah. „Nein.“ „Dann werden wir die umständliche Methode versuchen müssen.“ Er sah Matthias direkt an. „Weißt du, wo der Stein ist, der euch an die Stadt bindet?“ Der Gehilfe überlegte kurz. Dann sagte er: „Nicht genau. Ich kann nur soviel sagen, dass er irgendwo im Zentrum der Stadt liegt. Außerdem muss sein Radius vergrößert worden sein.“ „Also der Hauptturm. Das wird kompliziert werden. Johannes hat Grift dort umgebracht... Aber wenigstens haben wir einen Anhaltspunkt. Wirst du uns begleiten?“ Der junge Mann nickte und verschwand für einige Augenblicke, um kurz darauf komplett angezogen wieder zu erscheinen. „Wir können los.“ Und schon waren sie auf dem Weg zum Hauptturm. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)