BlechHerz von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Allein sein Gang hatte etwas Verstörendes. Er lief nach vorn gebeugt, und jeder Schritt von ihm geriet ganz sacht ins Taumeln. Es waren diese wenigen Zentimeter, die er seinen Oberkörper zu weit nach links und rechts pendeln ließ. Hin. Und Her. Hin. Und Her. Krank. Hana blickte wieder stur auf die Straße. Sie wollte ihn nicht anstarren. Einige Autos rauschten an ihr vorüber, doch Hana nahm sie kaum wahr. Dass es haufenweise abgedrehte Menschen in Berlin gab, war ihr nichts Neues. Aber Joshua war echt psychopathisch. Auf der anderen Straßenseite befand sich ein Modegeschäft. Die Schaufensterpuppen starrten in ihre Richtung, trotzdem blickten alle von ihnen durch sie hindurch. Hana starrte zurück. Das Mädchen hatte manchmal das Gefühl, dass diese weißen Plastikfiguren den Menschen Berlins ähnlicher waren, als die meisten ahnten. Etwas weiter im Vordergrund, im glänzenden Fensterglas, stand Hanas Spiegelbild, bleich und unscheinbar. Das dünne Mädchen, mit den fingerlangen blassblonden Haaren, und dem schweigendem Mund. Sie sah aus wie ein zierlicher Junge. Ihre Lippen hatten fast den gleichen Farbton wie ihre helle Haut, und das recht kurze Haar war immer zerzaust, da der Wind es liebte, ihr mit wilden Händen hindurch zu streichen. Hana starrte ihr Spiegelbild schlecht gelaunt an. Sie fand sich nicht hübsch. Ganz und gar nicht. Nur ihre Augen mochte sie wirklich. Obwohl sie immer wieder missmutig feststellte, dass diese bemerkenswerten Pupillen in ihrem Gesicht eigentlich die reinste Verschwendung waren. Sie waren hellgrau. Aber es war kein totes Grau, wie von Zement oder von trübem Wasser. Nein. Wenn man in Hanas Augen sah, konnte man den Himmel darin erkennen, an einem dieser Tage, an denen es nach Regen roch, und Elektrizität in der Luft lag, und der Wind die welken Blätter von den Zweigen der Bäume riss. Joshuas Spiegelbild tauchte am Rand der Scheibe in das Schaufenster ein. Eigentlich hatte sie ihn schon längst ansprechen wollen. Zwei Wochen war es nun her, seit sie diesen dämlichen Brief von ihm bekommen hatte. Feindselig und unschlüssig sah sie seinem Abbild nach. Er trug ein ausgewaschenes weißes T-Shirt und eine nichts sagende dunkle Stoffhose. Das einzig auffällige an seiner Kleidung war dieser unpassende Nietengürtel, den er schräg um seine Hüfte geschlungen hatte. Und natürlich die lange Kette mit dem Herzanhänger, die er ständig um den Hals trug. Eigentlich hatte sie erwartet, dass er sie längst auf seine eigenartige Nachricht ansprechen würde, aber die letzten zwei Wochen waren vergangen, ohne dass er in irgendeiner Weise noch einmal Kontakt zu ihr aufgenommen hatte. Hana löste ihren Blick von dem Schaufenster und sah ihn wieder direkt an. Mit taumelnden Schritten kam er auf sie zu, seinen Kopf hatte er ganz leicht schief gelegt. Joshua hatte langes, pechschwarzes Haar, es fiel ihm schräg über die gesamte linke Gesichtshälfte. Im starken Kontrast dazu stand seine aschfahle Haut. Seinen Wangen schien jegliche Farbe zu fehlen. Joshuas linkes Auge lag unter dem Vorhang aus Haaren versteckt, aber die rechte Pupille leuchtete in stechendem Hellgrün aus der schattigen Umrandung der tiefen Augenringe hervor. Sein Blick war wach, aber doch hatte Hana das Gefühl, dass er irgendwie abwesend war. Seine Lippen bewegten sich. Blieben einen Moment stumm. Dann sprach er wieder. Joshua redete ständig mit sich selbst. Total Gestört. Hana sah wieder auf die Straße. Ein paar Autos rauschten an ihr vorüber. Sie starrte wieder in die Fensterscheibe gegenüber und beobachtete Joshua. Jetzt würde sie ihn ansprechen. Normalerweise zierte sie sich doch auch nicht so. Außerdem war er selbst schuld. Was schickte er ihr auch diesen lächerlichen Brief? Im Schaufenster sah sie wie er auf sie zukam. Seine Augen lagen im Dunkeln. Beide Hände hatte er in den Hosentaschen vergraben. Seine Schritte hallten in ihrem Rücken. Sie kamen ihr unheimlich laut vor. Sie presste die Zungenspitze gegen ihre Schneidezähne. Wird’s bald? Sprich ihn schon an. Dann sah sie im Schaufenster, wie er hinter ihr vorüber ging. Er blickte sie nicht ein einziges Mal an. Nahm sie wahrscheinlich nicht mal wahr. Der schwache Luftzug, der ihm folgte, strich ihr sacht über die trockene Wange. Ein Lastwagen rauschte die Straße entlang und für einen kurzen Moment lagen die Fensterscheiben dahinter verborgen. Hana wand sich Joshua zu. „Hey!“, rief sie. Aber er reagierte nicht. Sie starrte noch immer seinen Rücken an. Das weiße T-Shirt. „Joshua!“ Jetzt hielt er inne. Zwei Sekunden vergingen, dann blickte er über die Schulter. Sein rechtes Auge leuchtete zu ihr herüber. Hana lief ein paar energische Schritte auf ihn zu. Dann, ungefähr zwei Meter vor ihm, blieb sie stehen und verschränkte die Arme vor der flachen Brust. Die Menschen Berlins schoben sich an den beiden vorüber. Manche ruhig, die meisten hektisch. Die Leute spülten Lärm und Stress wie Schaumkronen durch die Straßen. Niemand beachtete Joshua und Hana. Die beiden standen an Ort und Stelle, bewegten sich nicht. Sie waren isoliert. Bildeten eine Insel, inmitten des Stroms. Sie waren für sich. Fast schon allein. „Was sollte das mit dem Brief?“, fragte Hana feindselig. Er stand ihr noch immer nur halb zugewandt gegenüber, sah sie nur über die Schulter an. Sein Blick war klar, aber Hana konnte ihn nicht wirklich einordnen. Seine Lippen rührten sich nicht. Sie wischte sich die verschwitzen Hände an den Ärmeln ihres dünnen Pullis ab. „Ich rede mit dir.“, presste sie zwischen den Zähnen hervor. „Ja.“, sagte er schließlich. Hana hatte sich seine Stimme anders vorgestellt. „Ich weiß.“ Joshuas Worte klangen wach, aber doch ein wenig rau. Vielleicht wie Papier. Sie zögerte kurz. „Was sollte der bescheuerte Brief, den du mir geschickt hast?“ Der Zorn in ihrer Stimme klang nicht mehr echt. Fast schien es, als würde Joshua einen Moment überlegen, bevor er gleichgültig die Schultern zuckte. „Steht doch drin.“ „Kein einziges Wort steht drin! Willst du mich verarschen?“ Trotzig starrte sie ihn an. Sie sagte die Wahrheit. Auf dem Umschlag standen Empfänger und Absender. Der Inhalt war ein einziges weißes Blatt Papier. Ohne ein Wort. Natürlich hätte Hana mit einem beschriebenen Blatt genauso wenig anfangen können, aber das wusste Joshua ja nicht. Wahrscheinlich wusste er das nicht. „Nein.“, erklärte er sachlich. „Ich wollte dir lediglich das mitteilen, was in dem Brief steht.“ Er starrte ihr direkt in die Augen. Hana hielt seinem Blick stand. „Also wolltest du mir damit gar nichts sagen?“ Ihre rechte Wange zuckte ein wenig. Ein Moment lang war Stille. Dann nickte er. „Und was hat dieser bescheuerte Brief dann für einen Sinn?“ Der Typ war doch total krank. „Seinen Sinn hat er erfüllt.“ Jetzt lächelte er. Hanas Nackenhärchen stellten sich auf. Sie spannte sich unmerklich an. Joshuas Lächeln war dünn, so dünn. Und es reichte nicht bis zu seinen lebendig grünen Augen, dem stechendem Blick. Joshuas Lächeln war das Lächeln eines kleinen Kindes, das einen Wurm beobachtet, der sich zwischen seinen Fingern krümmt. Und es war das Lächeln eines Künstlers, der nach langer Arbeit ein Bild vollendet hat, auf dem sterbende Menschen zu sehen sind. Entzückt, aber freudlos. Joshua hatte ein unheimliches Lächeln. „Und, was soll dieser Sinn sein, den der Brief deiner Meinung nach erfüllt hat?“ Ihre Stimme fühlte sich an wie Kreide. „Der Sinn meines Briefes war, dass du mich auf der Straße ansprichst.“ Er schmunzelte. Sein Schmunzeln wirkte schon echter. Hana schluckte. „Du bist gestört.“ Sie sah ihm nur ganz kurz in die Augen, die sich durch keine Regung verrieten. Dann drehte sie sich um und ging. Wurde wieder ein Teil des Stroms. Zumindest äußerlich. Denn von allen Menschen auf der Straße schlug Hanas Herz am heftigsten. Kapitel 2: ----------- Empfänger und Absender. Hana drehte den Briefumschlag in ihren Händen ein paar Mal hin und her. Die Begegnung mit Joshua ließ ihr keine Ruhe. Natürlich nicht. Sie saß am Tisch ihrer dreckigen Küche. Der Wasserhahn funktionierte nicht und die gelblichen Fließen über der Spüle sammelten Schimmel in ihren Ritzen. Ein längst aus der Mode gekommenes Blumenmuster zierte den Linoleumboden der sich um den defekten Kühlschrank herum fürchterlich wellte. Hana starrte das unbeschriebene Blatt neben ihr wütend an. Allein die Tatsache, dass jemand Hana einen Brief geschrieben hatte, war völlig absurd. Sie war selten so geschockt gewesen, wie an dem Morgen, als sie das Schreiben vor ihrem Türspalt entdeckt hatte. Denn es sprachen genau drei Dinge dagegen, dass Hana Post bekam. Erstens hatte Hana keine Adresse. Das große Haus am Rande Berlins, in dem sich Hana eingenistet hatte, stand seit Jahren leer – zumindest offiziell. Es war eines der verwahrlosten Einfamilienhäuser, die sich jahrelang nicht verkaufen wollten und deren Restaurationskosten in dieser Zeit immer weiter in die Höhe geklettert waren. Schließlich gab man sie auf und überließ sie völlig sich selbst. Die Fassade des morbiden Gebäudes war schmutzig und an einigen Stellen mit Graffiti beschmiert, der Putz bröckelte großflächig von den Innenwänden. Auch der Garten wucherte nur so vor sich hin, bot aber gleichzeitig die Möglichkeit, das Haus unbemerkt zu betreten und verlassen. Hana konnte ohne Probleme einsteigen. Der rostige Gartenzaun war an einer Stelle komplett weg gebrochen und wenn man dem schmalen Pfad folgte, den sich Hana durch Brennnesseln Himbeergestrüpp gebahnt hatte, gelangte man durch den scheibenlosen Fensterrahmen im Erdgeschoss mühelos in die winzige Einbauküche der untersten Wohnung. Die Haustür war zwar immer abgeschlossen, doch alle Türen innerhalb des Gebäudes standen offen. Hana führte hier seit einem Jahr ihr Vagabundenleben, doch nicht ein einziges Mal hatte sie jemand bemerkt. Natürlich nicht. Hana wurde nie von irgendjemandem bemerkt. Dieses Gebäude stand für alle Welt leer. Deshalb gab es für alle Welt auch keine Hana, die hier wohnte. Deshalb hatte Hana keine Anschrift. Deshalb bekam Hana verdammt noch mal keine Post. Der zweite Grund, weshalb es sinnlos war Hana zu schreiben, ist die Tatsache, dass Hana nicht lesen konnte. Sie hatte nie in ihrem Leben eine Schule besucht. Hana konnte weder rechnen, noch schreiben, noch lesen. All ihr Wissen stahl sie sich von Fremden. Manchmal saß Hana stundenlang im Park oder auf den Bänken des Alexanderplatzes, nur um den Gesprächen von unbekannten Menschen zu lauschen. Oder sie fuhr mit der Straßenbahn und setzte sich nicht weit von anderen Personen auf einen freien Sitz, um an deren Tratsch, Sorgen und manchmal auch an derer Liebe teilzuhaben. Natürlich besaß sie nie ein Bahnticket, doch Hana brauchte auch keines, denn sie wurde nicht kontrolliert. Es war eine Tatsache, genau wie die, dass sie beim Stehlen nie erwischt wurde. Die Menschen Berlins bemerkten Hana nicht, und das war gut, denn so konnte ihnen Hana ungestört zuhören. Sie wusste kaum etwas von der Welt, doch sie wusste mehr über Fremde, als man in der Schule je lernen würde. Sie wollte nicht in die Schule. Sie wollte das Lesen nicht lernen. Die Worte mussten doch völlig tot und tonlos klingen, wenn man sie auf solch verstümmelnde Weise in ein paar Buchstaben zwängte. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie ein paar Striche auf Papier eine Stimme ersetzen sollten. Denn Hana hatte schon unendlich vielen Stimmen gelauscht, und keine klang wie die andere. Und erst recht keine klang nach toter blauer Tinte. Der dritte Grund war kurz und schmerzlos. Es gab niemanden, der Hana hätte schreiben können. Niemand kannte Hana und Hana kannte niemanden. Sie war allein hier in Berlin. Es gab keinen Menschen, der ihren Namen wusste. Deshalb bekam Hana keine Post. Das war eine felsenfeste Tatsache. Doch der Brief war von Joshuas Wohnung an Hanas Haus adressiert. Das Mädchen hatte das Aussehen der Wörter auf dem Briefumschlag mit dem Namen auf dem Straßenschild verglichen. Mit dem Schreiben in der Hand hatte sie anschließend nach der Hausnummer des Absenders gesucht und war schnell fündig geworden: Bei der Wohnung, von der sie wusste, dass der seltsame schwarzhaarige Junge dort lebte. Schließlich stimmten auch die Wörter an der Klingel und auf dem Umschlag überein - Joshuas Nachname, wie Hana vermutete, auch wenn sie keine Ahnung hatte, wie er ausgesprochen klang. Der Brief war eindeutig an sie adressiert. Wütend wollte sie den Umschlag in eine Ecke pfeffern, doch er stellte sich in der Luft quer und segelte direkt neben dem Stuhlbein zu Boden. Und jetzt? Genervt dachte sie an Joshua. Verdammter Idiot! Kapitel 3: ----------- Hana hockte am nächsten Morgen keine vierzig Meter von Joshuas Wohnung entfernt auf einer Bank. Sie lehnte mit angezogenen Knien an die beschmierte Rücklehne und zupfte mit den Fingern geistesabwesend an den Spitzen ihrer gelben Turnschuhe herum. Es war eine dumme Angewohnheit den brüchigen Gummi ihrer ausgelatschten Treter abzuknubbeln, schließlich löste sich die Sohle ohnehin schon ab. Doch sobald Hana in ihre Gedanken abdriftete, suchten ihre Finger wie von selbst nach ihren Schuhen. Wenn sie so weitermachte musste sie sich wahrscheinlich bald Neue klauen. Es war ein grauer, nasser Morgen. Die Luft war so schwer, dass sie die Stimmung der Straße ins Eilige und Distanzierte drückte. Es nieselte nicht einmal und doch merkte Hana förmlich, wie die Menschen am liebsten allesamt ihre Regenschirme gezückt hätten, nur um den Eindruck des Mistwetters zu unterstreichen. Die tiefen Wolken leckten gierig die Farbe von den hohen Häusern und hüllten ganz Berlin in ihre schwammigen Graunuancen. Hana starrte in den Himmel. Der Regen würde sicher nicht allzu lange auf sich warten lassen. Hana war gestern viel zu spät eingeschlafen und viel zu früh aufgewacht. Irgendwann kurz vor dem Einschlafen hatte sie zum hundertsten Mal den Entschluss gefasst, einfach nicht mehr an Joshua zu denken – die ganze Sache zu vergessen und wie bisher in den Tag hinein zu leben. Heute früh hatte sie dann das dämliche zerknitterte Blatt aus der Spüle gefischt, es auseinander gefaltet und es dann fast eine geschlagene Minute säuerlich angestarrt, als es ihr leer und stumm entgegen glotzte. Selten zuvor war sie sich selbst so lächerlich vorgekommen. Was hatte sie denn erwartet? Das auf einmal Bilder darauf auftauchen würden? Es nervte sie tierisch, dass sie nicht einfach von der ganzen Sache ablassen konnte. Sie wurmte allein die Tatsache, dass sie schon wieder vor seinem Haus herumlungerte. Ursprünglich hatte sie sich ablenken und ein wenig Bahn fahren wollen, um vielleicht hier und da eines der kargen Worte des morgendlichen Berufsverkehrs aufzuschnappen. Normalerweise ging sie um diese Zeit nie raus, denn die hektische Müdigkeit, die der Tagesanbruch über ganz Berlin spülte, verkalkte die Lippen der Menschen, schnürte den Worten das Leben ab und lenkte die Themen ins Rationale und Geschäftliche. Und so etwas interessierte Hana nicht. Aber heute früh hatte die Unruhe Hana aus ihrem Unterschlupf getrieben. Nachdem sie dann einige Augenblicke unschlüssig vor ihrer Haustür gestanden hatte, lief sie schließlich ohne irgendeinen Entschluss gefasst zu haben in Richtung Straßenbahnhaltestelle. Allerdings kam sie nicht weit, denn schon nach ein paar Minuten strandete sie auf der Bank neben Joshuas Haus, und begann damit, in den zugezogenen Himmel zu starren und abwesend ihre Schuhe auseinander zu nehmen. Nur weil dieser Arsch sie gestern so aus der Fassung gebracht hatte, mit seinem gestörten Gefasel. Und mit seinem hauchdünnen Lächeln. Bei dem Gedanke an ihn rupfte Hana ein weiteres Stück vom spröden Gummi ihrer Schuhe. Joshua musste gerade in der Schule sein. Sie sah ihn meistens auf seinem Heimweg, wenn sie wie so oft in der Nähe ihres Hauses die Zeit totschlug. Besonders nachdem der Brief angekommen war, hatte sie ihn viel intensiver beobachtet als zuvor. In den letzten zwei Wochen waren ihr eine Reihe von weiteren seltsamen Eigenheiten des Jungen aufgefallen. Zum Beispiel dass er den bescheuerten Nietengürtel nie in der Schule trug. Außerdem wechselte er meistens sein Oberteil wenn er nach hause kam. Er hatte zwar fast immer weiße Shirts an, doch während der Schulzeit trug er auch manchmal Kragenhemden oder dergleichen. Wenn sie ihn dann nachmittags noch einmal sah, lief er wieder mit stinknormalen T-Shirts durch die Gegend. Außerdem nahm er mindestens zweimal in der Woche einen anderen Schulweg als sonst, und er folgte auf dem Rückweg immer der gleichen Route, die er am Morgen gewählt hatte. Und er bewegte ununterbrochen die Lippen. Er flüsterte. Lächelte leise. Starrte in die Leere. Und flüsterte wieder. Die Härchen auf Hanas Armen stellten sich unwillkürlich auf. Unheimlicher Junge. Wie von selbst zuckte ihr Blick zu seiner Wohnung. Hana hatte ihn schon ein paar Mal am Küchenfenster im zweiten Stock erblickt. Auch seine Mutter kannte sie vom Sehen her, und diese kam dem Mädchen ebenso verschroben vor wie Joshua. Die Frau saß tagsüber ständig am Fenster und starrte besorgt auf die Straße. Fast so als hätte sie Angst, dass jeden Moment ein Unfall passiert. Außerdem verließ sie nie das Haus. Es war Hana ein Rätsel, wovon die beiden sich überhaupt ernährten, da Joshuas Mutter scheinbar nie einkaufen ging. Hana hatte sie nicht ein einziges Mal auf der Straße gesehen. Und einen Vater schien es in dieser Familie ja nicht zu geben, jedenfalls hatte Hana noch nie einen Mann in dieser Wohnung gesehen. Heute war das Fenster geschlossen und die blauen Rippen der Jalousie schirmten fremde Blicke ab. Normalerweise waren die Rollläden erst abends heruntergelassen. Ob Joshuas Mutter Hanas ständige Blicke bemerkt hatte? Nein, wahrscheinlich nicht. Hana stellte sich beim Lauschen und Beobachten geschickt an. Niemand hatte Hana jemals bemerkt. „Guten Morgen.“ Hana fuhr erschrocken herum, rang mit geweiteten Augen nach Atem. Joshua stand direkt hinter ihr. Er lächelte. Sein dünnes, verspieltes, unheimliches Lächeln. „Ich habe dich erschreckt.“, stellte er leise fest. Noch immer aus der Fassung erhob sich Hana ruckartig von der Bank. Sie wusste selbst nicht so genau warum, aber irgendwie kam sie sich im Stehen beherrschter vor. „Du Spinner! Schleich dich nie wieder so an!“ Sie biss sich verärgert auf die Zungenspitze. Das klang total bescheuert. Aber was Besseres fiel ihr im Moment nicht ein. „Ich hab mich nicht angeschlichen.“ Sein Lächeln schwand augenblicklich. Hana versuchte sich halbwegs zu fassen, starrte den Jungen feindselig an. Erst jetzt nahm sie den Regen wahr, der von Joshuas Nasenspitze tropfte und spürte selbst die Nässe auf ihrer Haut. Seltsam. Ihr war gar nicht aufgefallen dass es angefangen hatte zu regnen. „Wie ich dich kenne hast du auf mich gewartet.“ Joshuas Vermutung klang eher wie eine Tatsache. „Du kennst mich überhaupt nicht!“, zischte Hana zwischen ihren Zähnen hervor. „Kein Bisschen. Und ich hab auch nicht auf dich gewartet, dass das klar ist!“ Ihre Worte fühlten sich ein wenig schal auf ihrer Zunge an. Sie hatte doch nicht auf ihn gewartet, oder? „Ach so.“ Ganz kurz huschte erneut ein Anflug eines Lächelns über sein Gesicht, oder täuschte Hana sich? Schon wieder kam sie sich total unbeholfen vor. Nein. Schnell schob Hana diesen Wortlaut beiseite. Nicht unbeholfen. Sie war einfach nur genervt. Das war alles. Sie konnte ja auch nichts dafür dass dieser Typ sie nicht in Ruhe ließ. „Musst du nicht in die Schule?“ Warum konnte ihre Stimme nicht fester klingen? Wenigstens ein Bisschen. Joshua schüttelte den Kopf. „Ich bin krank.“, sagte er ernst. Ja. Aber nicht körperlich. Hana verkniff sich eine allzu bissige Bemerkung. „Dann geh mal lieber nach Hause und wärm dich auf, wenn du so krank bist.“ Sie wusste nicht recht ob Joshua den sarkastischen Unterton mitbekam. Joshua sah sie nur eine Weile stumm an. Sie starrte zurück, in seine lebendig grünen Augen. Um sie herum prasselte der Regen und löste wie immer die verschiedensten Gerüche aus der Erde, schwängerte die Luft mit kühler Nässe. Die morgendliche Hektik war schon seit einer Weile abgeebbt, nur noch jede halbe Minute jagte ein Auto die Straße entlang. Bloß aus der Innenstadt drang Gedämpft der Verkehrslärm. Berlin war nie still. „Du hast Recht. Es ist kalt und nass.“ Joshua verzog ganz leicht den Mund. „Wenn du frierst kannst du auch mit zu mir nach Hause kommen.“ Hana sah ihn mit zusammengepressten Lippen perplex an. Das Angebot überforderte sie. Was sollte das denn jetzt? „Da kann ich auch zu mir gehen.“, sagte sie knapp. Augenblicklich hatten ihre Worte die Schärfe verloren. „Die Heizungen in deinem Haus funktionieren nicht.“, bemerkte Joshua sachlich. Hana Blick zuckte sofort störrisch zur anderen Straßenseite. „Ich brauch keine.“ Woher wusste er so was? Sie fühlte sich unangenehm entblößt. Sie mochte nicht, wie er Tatsachen unverblümt aussprach. Außerdem ging ihn das nichts an. „Wenn du frierst schon.“ „Dann frier ich eben nicht.“, erwiderte Hana bissig. „Was kümmert dich das?“ Regenwasser lief ihr beim sprechen in den Mund. Joshua zuckte mit den Schultern. „Ich mag dich eben.“ Die Worte versetzten ihr einen Stich. Wieder hielt sie seinem Blick nicht stand und stierte auf die Straße. So etwas hatte ihr noch nie jemand gesagt. „Beschissene Anmache“, murmelte sie nur trotzig. Als eine Weile nichts zurückkam blickte sie ihm wieder ins Gesicht, nur ganz kurz. Zum ersten Mal schien er aufrichtig verwirrt, als könne er mit ihren Worten nicht wirklich etwas anfangen. Es tat ihr fast sogar ein wenig Leid, aber sie dachte nicht einmal daran, sich zu entschuldigen. „Lass mich einfach in Ruhe.“ Joshuas Mund wurde fest. Wieder rauschten zwei Autos die Straße entlang und spritzten das Wasser auf, das sich auf dem löchrigen Asphalt in kleinen Pfützen sammelte. „Schade dass du mich nicht ausstehen kannst. Wenn du frierst kannst du aber trotzdem zu mir kommen.“ Dann ging er wortlos an ihr vorbei, geradewegs auf seine Wohnung zu. Hana ließ sich unzufrieden zurück auf die Bank fallen. Ihre Hose sog gierig das Wasser des nassen Holzsitzes auf. Echt tolles Gespräch. Was hatte ihr das ganze Theater jetzt gebracht? Nichts. Sie war noch genauso verwirrt wie vorher, wenn nicht sogar mehr. Sauer starrte sie Joshua hinterher. Wie er mit seinen pendelnden Schritten durch den grauen Regen lief. Ich mag dich eben. Der Satz hallte viel zu deutlich in ihrem Kopf nach. Und dann stellte sie sich vor, wie sie wieder nach Hause gehen würde, und ihr das heutige Gespräch keine Ruhe ließ. Wie sie wieder bis in die Nacht mit seinem bescheuerten Brief am Küchentisch sitzen würde, nur um ihn abends zu zerknüllen und in die Spüle zu werfen. Und dabei würde sie die ganze Zeit über frieren, mit ihren nassen Klamotten in der ungeheizten Küche. Verdammt. „Joshua!“ Kurz danach presste sie die Lippen fest aufeinander, als könnte sie dadurch ihren Ruf ungeschehen machen. Sie wollte sein dämliches Angebot nicht annehmen! Doch der Junge drehte sich schon zu ihr um. Hana starrte auf die zerrupften Spitzen ihrer Turnschuhe. „Würde das denn mit deiner Mutter klar gehen?“ Er antwortete nicht, aber Hana traute sich auch nicht, zu ihm aufsehen. „Ich meine wenn ich mitkomme …“ Die Worte schmeckten auf seltsame Art bitter und erleichternd zugleich. Sie hatte ein mulmiges Gefühl im Magen. „Ach so. Klar.“, antwortete Joshua über den prasselnden Regen hinweg. Hana verzog den Mund und warf dem Jungen einen verstohlenen Blick zu. Er lächelte jetzt. Und zum ersten Mal reichte sein Lächeln bis zu seinen leuchtend grünen Augen. Kapitel 4: ----------- Es war zwar kühl im Treppenhaus, aber wenigstens nicht nass. Hana zog fröstelnd die kalten Hände in ihren Pulli, nur die Fingerspitzen schauten noch aus den Ärmelsäumen hervor. Ihr war unwohl zumute, als sie Joshua die hölzernen Stufen nach oben folgte. Was hatte sie sich eigentlich dabei gedacht? Das ganze war völlig lächerlich. Sie nahm die Einladung dieses fremden Psychopathen an, nur weil er sie auf den Defekt ihrer Heizungen aufmerksam gemacht hatte. Total bescheuert. Sonst hatte sie die Kälte in ihrem Haus auch nie gestört, wozu gab es schließlich Decken? Verunsichert und missgelaunt starrte sie seinen Rücken an. Sie hielt bewusst ein paar Stufen Abstand zu ihm. Sie war sich selbst nicht einmal sicher, warum. Vielleicht um den Abgrund zwischen ihnen aufrecht zu erhalten? Einen Moment lang fragte sie sich, ob sie nur Joshua gegenüber diese Distanz bewahrte, oder ob sie schlichtweg jeden Menschen so behandeln würde. Sie wusste es nicht. Der Junge schwieg, also blieb Hana auch stumm. Der gedämpfte Lärm eines Fernsehers drang von irgendwoher zu ihr herüber. Ansonsten war es still. Ach nein, da war ja auch noch das leise Ächzen der Treppe unter jedem von Joshuas Schritten. Verwundert heftete Hana ihren Blick an seine Füße. Ihre eigenen Schritte verursachten keinen einzigen Laut. Aber so viel schwerer konnte Joshua doch gar nicht sein, oder? Der Junge blieb abrupt stehen und Hana, die noch immer auf seine Schuhe starrte, wäre fast gegen ihn geknallt, wenn sie sich nicht in letzter Sekunde an das Geländer gekrallt hätte. „Pass doch auf.“ Eigentlich hatte sie ihn zurechtweisen wollen wie bisher, doch ihre Worte waren kaum mehr als ein Murmeln geworden. Irgendwie beschämte sie es, ihn weiterhin so anzugiften, während sie jetzt quasi sein Gast war. Außerdem war sie selbst es gewesen, die nicht richtig aufgepasst hatte. Seltsamerweise verbitterte sie diese Einsicht. Joshua schloss still die Wohnungstür auf, zwei Mal drehte er den Schlüssel im Schloss. „Ich bin wieder da.“, rief Joshua halblaut, nachdem Hana durch den schmalen Türspalt zu ihm in den Flur geschlüpft war. Sie rümpfte die Nase. Es roch nach Fisch. Dann schloss Joshua hinter ihr ab. Wieder zwei Mal. „Das ist schön.“ Joshuas Mutter. „Willst du etwas zu Essen?“ Die fremde Stimme klang dünn, irgendwie gebrochen, und kam aus einem Zimmer am anderen Ende des Flurs. Hana war etwas nervös. „Nein.“, antwortete der Junge und durchquerte den Flur. Hana folgte ihm schnellen Schrittes und ließ währenddessen schweigend ihren Blick durch die Wohnung schweifen. Sie wusste die Atmosphäre nicht recht einzuordnen. Die Einrichtung erschien ihr ziemlich billig, die Wände grau und tot, aber trotzdem wirkte der schmale Flur nicht lieblos eingerichtet. Es mutete fast ein wenig paradox an. Der fleckigen hölzernen Kommode fehlten zwei Schubfächer, aber auf der Ablage konnte Hana nicht einmal die Spur von Staub finden. Stattdessen stand dort eine hellrote Plastikvase mit einer künstlichen pinkfarbenen Nelke. Darum tummelten sich liebevoll angeordnete Stoffblüten in völlig symmetrischen Mustern, nicht ein einziges rutschte aus seiner der Reihe. Ein paar schäbige, bunt bestickte Topflappen hingen an der gegenüberliegenden Wand und ergaben zusammen eine übergroße Blumenform. Überall wo Hana hinsah fand sie kitschige Details, die sich mit dem Rest der ranzigen Wohnung stritten. Hana konnte nicht wirklich Gefallen daran finden, und der ganze Klimbim passte auch überhaupt nicht zu Joshua. Die Dekoration war mit Sicherheit das Werk seiner Mutter. Joshua trat durch einen verblichenen Perlenvorhang in die Küche und Hana folgte ihm verunsichert – diesmal dicht hinter ihm. In der Küche war der Fischgeruch noch intensiver. Der Regen prasselte von außen an die Fensterscheibe. „Es gibt Fisch.“, erklärte Joshuas Mutter tonlos, als wäre das nicht schon offensichtlich gewesen. Die Frau saß im Rollstuhl. Einen Moment lang schämte sich Hana dafür, Joshuas Mutter vorhin als psychopathisch abgestempelt zu haben, nur weil diese das Haus so gut wie nie verließ. Die Frau hatte ja keine Wahl gehabt. Hana hatte vorschnell geurteilt. Dann schoss dem Mädchen ein anderer Gedanke durch den Kopf: Es war sicher unhöflich, wenn sie die Fremde nicht einmal begrüßte. „Hallo.“, murmelte sie halblaut. Sie bekam keine Antwort. Die Frau schien sie gar nicht zu beachten, sondern starrte nur ihren Sohn an. Ihre Augen waren ebenfalls grün, nur viel älter. Viel trüber. „Ja, Mama. Danke. Aber ich habe keinen Hunger.“ Joshuas Stimme ließ das Mädchen frösteln. Seine Worte waren distanziert, sachlich. Selbst Hana behandelte er herzlicher. „Gut. Dann esse ich ein wenig mehr.“ Die Stimme der Frau hatte etwas Selbstmitleidiges. Ihr Gesicht sah noch gar nicht so alt aus, doch ihr wirres Haar war dünn und blass. Hana verlagerte ihr Gewicht unruhig von einem Fuß auf den anderen. Sie fühlte sich unwohl, ihr behagte die Stimmung zwischen Joshua und seiner Mutter nicht. Ihr Blick zuckte nervös über die altbackenen, beigefarbenen Fliesen des Küchenbodens. Sie waren blitzblank. „Du weißt doch, weil ich krank bin. Da habe ich keinen Hunger.“ Joshuas Stimme war noch immer abgeklärt und ruhig. Eine Weile passierte gar nichts und Hanas Unbehagen wuchs mit jeder Sekunde. Hätte sie seine Einladung doch einfach abgelehnt! Das Mädchen beschloss, so schnell wie möglich wieder zu verschwinden. Dann kam ihr die zwei Mal verschlossene Wohnungstür in den Sinn. Sie schluckte. Schließlich nickte die Frau, während sie mit der Gabel abwesend auf ihrem Teller herumkratzte. Sie hatte den Fisch noch nicht einmal angerührt. Ohne ein weiteres Wort wand sich Joshua ab und verließ die Küche. Hana schob sich hinter ihm flink durch den Perlenvorhang hindurch. Sie war froh, dass sie hier raus war. Kapitel 5: ----------- Joshuas Zimmer war eng, aber es fand sich trotzdem genug Platz für nutzlosen Kleinkram. Der Junge schob mit dem Fuß die Tür zu, dann schaltete er den Fernseher ein. Das Mädchen ließ währenddessen ihren Blick durch den Raum schweifen. Kein einziges Poster zierte die fleckigen dunkelblauen Wände. Durch das kleine Fenster konnte sie den regengrauen Himmel sehen. Die Einrichtung war minimalistisch gehalten: es gab ein Bett, einen Schrank und einen schmalen Schreibtisch. Das war’s. Sein Bett nahm den Großteil des Raumes ein, das Kissen lag ordentlich an seinem Platz und auch die Decke war sauber zusammengelegt. Auf dem grauen Bettzeug schlief eine magere, schwarzweiß gefleckte Katze, die müde den Kopf hob, als die Musik einer Werbesendung aus dem Fernseher schallte. Hana betrachtete fasziniert die Vielzahl von Objekten, die Joshua der Größe nach auf seiner Bettkante angeordnet hatte. Zuallererst kam ein winziges goldenes Glöckchen, dann ein Zahnrad, eine Briefmarke, ein gelber Plastikwürfel, eine Sanduhr, die Kindern die Zeit zum Zähneputzen angab, ein farbiger Radiergummi, eine unscheinbare Muschel, eine Origamigiraffe, eine rote Armbanduhr, ein leeres Tintenfass, eine geschmacklose Duftkerze, eine Glasscherbe mit schönen Farbverläufen, eine Glühbirne, ein Strohstern für den Weihnachtsbaum, ein CD-Rohling, ein Block mit farbigem Papier, ein Sparschwein, und ganz am Ende ein alter Gipsverband. Das Unbehagen von eben war von einem Moment zum anderen der unverhohlenen Neugierde gewichen. Hana löste den Blick von dem seltsamen Kleinkram und sah sich weiter um. Sie bemerkte aus dem Augenwinkel, dass Joshua sie dabei beobachtete, doch das kümmerte sie im Moment nicht. Seine Schulbücher und Hefter standen in einem Regal seines Wandschrankes kerzengerade nebeneinander; sie waren nicht nach Fächern sortiert, sondern ebenfalls nach ihrer Größe geordnet. Hinter den geschlossenen Schranktüren vermutete Hana Joshuas Klamotten. Ein Einkaufszettel war mit Tesafilm unter den Knauf geheftet, doch Hana konnte natürlich nicht lesen, was darauf stand. „Nein, sie ist zum ersten Mal hier.“, murmelte Joshua. Hana fuhr erschrocken zu ihm herum. „Wie bitte?“ Joshua schüttelte den Kopf. „Vergiss es.“ Eine Stimme aus dem Fernseher berichtete begeistert von dem herausragenden Geschmack eines supersauren Kaugummis. Hana trat mit klopfendem Herzen einen Schritt zurück. Joshua hatte gerade mit sich selbst gesprochen! Schon wieder. Vor ihren Augen. Sie wusste ja, dass er das häufig tat. Trotzdem schockte sie die Tatsache, dass er in ihrem Beisein so offensichtlich Selbstgespräche führte. „Was soll das?“, fragte Hana verwirrt und feindselig. Joshua erwiderte ihren misstrauischen Blick gelassen, forstete in ihren Augen nach einer Regung. „Du hast Angst vor mir.“, stellte der Junge fest. „Quatsch!“, schnaubte Hana. Aber hatte sie denn Angst? Joshua seufzte. „Wenn du gehen willst, dann kann ich dich jetzt wieder rauslassen.“ Er klang fast etwas enttäuscht. Oder irrte sie sich? „Nein.“, antwortete Hana stockend. Nein? Was sagte sie da eigentlich? Natürlich wollte sie gehen! „Wie du willst.“ Joshua lächelte. Hana konnte nicht einordnen, ob es das ehrliche oder das gestörte Lächeln war. Es war ihr auch egal. Sie bereute nur ihre Dummheit. Es klang sicher bescheuert wenn sie jetzt sagen würde, dass sie doch lieber gehen wollte. Aber sie hatte echt keine Lust darauf, dass sie dem unheimlichen Jungen noch einmal bei seinen Selbstgesprächen zuhören musste. „Du kannst dich gern setzten.“ Er deutete auf den Platz neben seiner Katze. Hana blieb noch einen Moment mit zusammengepressten Lippen stehen, unschlüssig was sie tun sollte, dann setzte sie sich steif auf Joshuas Bett. Die Katze nahm keine Notiz von dem Mädchen. „Danke dass du noch bleibst.“ Joshua ließ sich auf der anderen Seite des Bettes nieder und starrte zum Fernseher. Hana atmete tief durch. Immer schön die Ruhe bewahren. Was ist schon dabei. Dann hatte er eben mit sich selbst gesprochen, na und? Schließlich war ihr das nichts Neues. Unbehaglich schielte sie aus dem Augenwinkel zu Joshua herüber. Sein blasses Gesicht wurde vom Fernseher in hastig wechselnden Farben angestrahlt. Sie dachte an seinen Brief, und wie absurd es war, dass sie jetzt neben ihm und seiner schlafenden Katze in seinem Zimmer saß und sich Werbung ansah. Sie hatte noch nie mit jemand anderem zusammen ferngesehen. Und sie war noch nie von irgendjemandem in seine Wohnung eingeladen worden. Fast ein wenig traurig blickte sie Joshua an. Wenigstens diese eine Sache hatten sie gemeinsam. Sie waren beide sehr allein. Ach nein, Joshua hatte ja noch seine Katze. Hana hätte fast über ihren albernen Anflug von Eifersucht geschmunzelt. Sie streichelte dem Tier mit der flachen Hand über den Kopf, der irgendwie zu klein für den restlichen Körper wirkte. Es war keine besonders schöne Katze, aber liebenswert fand sie Hana trotzdem allemal. Bei diesem Gedanken wunderte sie sich ein wenig über sich selbst, da sie nie wirklich ein Tierfreund gewesen war. „Wie heißt die Katze?“, fragte Hana und ihre Stimme klang wackliger als gewollt. „Schnurri.“, antwortete Joshua ohne vom Fernseher aufzublicken. „Aber sie schnurrt nie.“ Etwas verwirrt ließ Hana von dem Tier ab. Es stimmte, die Katze hatte die ganze Zeit über nicht geschnurrt. Eigentlich hatte sie überhaupt nicht auf die Streicheleinheiten reagiert. „ Außerdem ist sie immer krank.“, ergänzte der Junge. „Was hat sie denn?“, erkundigte sich Hana. Das ganze erschien ihr wieder geradezu befremdlich, aber im Grunde hatte sie nichts anderes von Joshuas Katze erwartet. Der Junge zuckte mit den Schultern. „Alles mögliche. Meistens Schnupfen. Siehst du die dunklen Tropfen in ihren Augenwinkeln? Die zeigen, dass Schnurri krank ist. Und die Tropfen sind immer da.“ „Aha.“ Eine Weile sagten die beiden nichts. Hana blickte abwechselnd zu Joshua, zu seiner Katze und dann zum Fernseher. Es lief noch immer Werbung. Hin und wieder schaltete Joshua um, wenn das normale Programm weiterging. „Es ist eigentlich ziemlich unlogisch, dass Schnurri ständig krank ist.“, erklärte Joshua weiter. Seine Stimme klang ein bisschen abwesend. „Sie ist ja nie im Freien. Ich glaube es liegt daran, dass Schnurri das letztgeborene Kätzchen im Wurf war, also ein Nachzügler. Die sind meistens krankheitsanfällig. Meine Mutter hat damals gesagt, dass wir lieber ein anderes Tier nehmen sollten. Aber ich wollte Schnurri. Sie war die kleinste Katze.“ „Ach so.“ Hana angelte nach Worten. Es war ihr wesentlich lieber, sich mit ihm zu unterhalten, anstatt ihm wieder bei einem Selbstgespräch zuhören zu müssen. „Du magst also Katzen.“ Keine sehr einfallsreiche Feststellung. Aber was soll’s. Joshua zuckte mit den Schultern. „Ich sollte eine bekommen. Hat Dr. Nauser damals meiner Mutter empfohlen. Wegen meiner Krankheit.“ „Was denn für eine Krankheit?“ Hanas Zunge fühlte sich plötzlich schwer an. Sie hatte ein ungutes Gefühl bei diesem Thema, doch ihre Neugier war stärker. Joshua schwieg eine Weile. Dann sah er sie direkt an. Hana wich seinem Blick aus, jetzt war sie es, die zum Bildschirm starrte. Eine Werbetante im Fernsehen plapperte munter darüber, wie sie es geschafft hatte, abzunehmen. Dabei war sie nicht einmal besonders schlank. Hana war dünner. „Schwache Anzeichen von Autismus und die aktuelle Neigung freundschaftliche Beziehungen zu imaginären Personen aufzubauen.“, antwortete Joshua sachlich. Hana konnte nichts damit anfangen. Sie blickte ganz kurz zu ihm auf, sah dann aber wieder zum Bildschirm. „Was heißt das?“ Ihre Stimme war fester als sie es sich zugetraut hätte. „Das bedeutet dass ich Freunde habe, die nur ich sehe.“ Joshua flüsterte jetzt und seine Papierstimme ließ alles in den Hintergrund treten, selbst den Lärm des Fernsehers. „Die Ärzte sagen, es wäre eine Krankheit. Außer als ich klein war, da fanden sie es okay. Kinder haben oft solche Freunde, haben alle gesagt. Aber das hat sich geändert. Ich bin kein Kind mehr. Die Ärzte finden es alarmierend, dass meine Freunde nicht weggehen. Bei anderen Kindern verschwinden sie. Nur bei mir nicht. Bei mir werden es mehr.“ Eine Weile sagte niemand etwas. Hana schluckte. „Warum gehen sie nicht?“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein Hauchen. Joshua lächelte. Dünn. Unberechenbar. Seine grünen Augen funkelten voller Leben. „Weil ich gute Freunde hab. Und gute Freunde verlassen einen nicht. Niemals.“ Kapitel 6: ----------- Hana atmete zitternd durch den Mund. Ihre Lippen bebten. „Das ist Schwachsinn.“ Irgendwie tat es gut, das auszusprechen. Sie wollte das alles nicht glauben. „So etwas gibt es nicht – Menschen, die nur du sehen kannst.“ Joshua nickte. „Das sagen auch die Ärzte. Sie sagen, ich bilde mir meine Freunde nur ein. Dass es sie nur in meinem Kopf gibt.“ „Und was ist dann deine Meinung?“ Hana wollte sie eigentlich gar nicht wissen. Joshua war echt gestört. „Ich denke, dass die Ärzte keine Ahnung haben.“, antwortete Joshua und sah Hana eindringlich an. „Ich bilde mir meine Freunde nicht ein. Ich bin nur der Einzige, der sie wahrnimmt. Nur weil du sie nicht sehen kannst, heißt das noch lange nicht, dass sie nicht existieren. Es ist keine Krankheit. Es ist eine Gabe.“ Hanas Mund war wie ausgetrocknet. „Und was hat die Katze damit zu tun?“ Sie wollte das Thema irgendwie entschärfen, bevor sie selbst allzu genau darüber nachdachte. Die ganze Sache war ihr unheimlich und suspekt und sie hatte Angst davor, sich damit auseinander zu setzen. „Dr. Nauser hat gesagt, die Krankheit ist das Ergebnis fehlender Bezugspersonen innerhalb und außerhalb der Familie, sowie mangelnder Kontaktbedürfnisse und fehlender klarer Sozialstruktur. Eine Katze wäre da ein Anfang.“ Es klang wie auswendig gelernt. Wieder verstand Hana nicht wirklich was er meinte. Joshua musste ihr die Verwirrung angesehen haben, denn er erklärte sich noch einmal genauer: „Dr. Nauser meint, ich muss mehr Anhaltspunkte in der Realität finden. Wenn ich zum Beispiel Freunde an meiner Schule finde, verschwinden höchstwahrscheinlich die Freunde, die nur ich sehen kann. Ein Haustier wäre da ein günstiger erster realer Bezugspunkt für mich. Das hat jedenfalls Dr. Nauser gesagt, aber der hat keine Ahnung. Meine Freunde sind immer noch da. Und sie werden bleiben. Schnurri kann da nichts dran ändern.“ Er sah seine schlafende Katze mitleidig an, als könne sie ihr Lebensziel zu seinem Bedauern nie erfüllen. Hanas Finger verkrampften sich in den Saum ihres alten Pullis. Sie konnte Joshua nach diesem Gespräch noch schwerer einschätzen als zuvor. Und dass der Junge offensichtlich doch nicht mit sich selbst redete, sondern mit Hirngespinsten sprach, machte die ganze Sache keineswegs besser. Joshua wirkte unheimlich und surreal, unendlich anders als all die Menschen, deren Geschichten Hana gestohlen hatte, während sie Stunde um Stunde auf dem Alexanderplatz verbracht hatte. Joshua war viel ... düsterer. Entfremdeter. „Und … wie viele solcher unsichtbaren Freunde hast du?“, wagte sich Hana zu fragen. Joshua deutete auf seine Bettkante. Hanas Blick zuckte kurz zu der Reihe von Kleinkram, dann sah sie wieder Joshua an. „Was ist damit?“ „Das sind Erinnerungen.“, antwortete Joshua. „Mit jedem meiner Freunde teile ich mir eine Erinnerung. Das bindet uns zusammen. So können wir uns nicht verlieren.“ Hana zählte mit einem unbehaglichen Gefühl im Magen die säuberlich geordneten Objekte durch. Sie spürte Joshuas Blick auf ihrem Gesicht, wie er jede ihrer Regungen aufmerksam beobachtete, wie er sich kein Zucken ihres Mundwinkels entgehen ließ. „Achtzehn.“, stellte Hana mit trockener Stimme fest. Achtzehn Erinnerungen. Achtzehn Persönlichkeiten, die Joshuas Fantasie entsprungen waren. „Neunzehn.“, verbesserte Joshua und deutete auf seine Kette. Er trug sie ständig, aber Hana hatte sie nie wirklich beachtet. Es war ein einfaches Lederbändchen mit einem Herz aus Blech als Anhänger. „Warum trägst du das um den Hals?“ Hanas Worte schmeckten wie Mehl. „Es ist mir am wichtigsten. Diese Erinnerung teile ich mit meiner besten Freundin.“ Seltsamerweise versetzte das Hana einen Stich. „Wie heißt sie?“ Eine leise Stimme in ihr meldete sich, die es bescheuert fand, sich mit Joshua über seine unsichtbaren Freunde zu unterhalten, aber Hana drückte sie beiseite. „Das weiß niemand. Vielleicht verrät sie mir irgendwann ihren Namen.“ Er lächelte mit leicht schief gelegtem Kopf. So ein Schwachsinn. „Und wie sieht sie aus?“ Ihre Worte gewannen Schärfe. Joshua schien einen Moment lang zu überlegen. „Ich finde sie sehr hübsch. Sie ist sehr schlank. Und blond.“ Hana schnaubte verächtlich. Bescheuertes Idealbild eines Jungen. Blond, schlank, große Brüste. Es war doch immer das Gleiche. Einen ganz kurzen Moment lang gestand sie sich ein, dass sie das verletzte. Sie hatte Joshua anders eingeschätzt. Aber was interessierte sie sich überhaupt für die dämlichen Hirngespinste dieses Jungen? So etwas sollte ihr egal sein! Dumm, Hana. Dumm. Der Fernseher quasselte noch immer nervig vor sich hin. „Ich muss langsam gehen.“, sagte sie gereizt. Sie ärgerte sich über sich selbst. „Wie du willst.“ Joshua belächelte ihre plötzliche Stimmungsschwankung nur. Und das regte sie noch mehr auf. Bescheuerter Psychopath. Hana stand auf und wandte sich in Richtung Tür. „Warte noch.“ „Was ist?“ Sie versuchte so normal wie möglich zu klingen. Sie blickte sich nicht nach ihm um. „Du glaubst mir nicht.“ Seine Stimme war plötzlich völlig ernst und steinhart. Hana hatte das nicht erwartet. Sie zögerte einen Moment. Glaubte sie ihm? Nein. Sie konnte ihm das nicht glauben. Sie wollte es auch gar nicht. „Du denkst ich bilde mir das alles ein. Du denkst ich bin gestört. Du denkst wie Dr. Nauser, oder?“ Hana blickte zur Seite. Ihre Kehle fühlte sich rau an, sie zuckte nur mit den Schultern. „Ich bin mir sicher du kannst sie auch sehen.“ Er machte eine Pause. „Du musst nur an sie glauben.“ Und wenn Hana sie gar nicht sehen wollte? Im Grunde fürchtete sie Joshuas Freunde. „Willst du eine der Erinnerungen mitnehmen? Du kannst eine haben. Dann siehst du meine Freunde auch.“ Hana schluckte, atmete zitternd durch. Dann drehte sie sich kurz entschlossen zu Joshua um. „Gut.“, sagte sie mit bebenden Lippen. „Dann will ich das Herz.“ Sie zeigte auf seine Kette. Hana hatte mit Widerspruch gerechnet, doch Joshua griff sich wortlos in den Nacken und öffnete den Verschluss. Dann reichte er Hana das Band mit dem blechernen Herzanhänger. Hana bedankte sich nicht und anstatt sich die Kette anzulegen, stopfte sie das Schmuckstück lieblos in ihre rechte Hosentasche. Joshua sah ihr dabei zu, doch sagte nichts. „Kannst du mir jetzt die Tür aufschließen?“ „Klar.“, antworte Joshua. Ohne sich umzusehen durchquerte Hana schnell den schmalen Flur, dicht gefolgt von Joshua. Erst jetzt fiel ihr auf, wie hässlich sie diesen schäbigen Kitsch eigentlich fand. Joshua schloss ihr auf und begleitete sie noch das Treppenhaus herunter. Hana hätte fast gesagt, dass sie darauf keinen Wert legte, bis ihr auffiel, dass die Haustür ja auch noch aufgeschlossenen werden musste. Also hielt sie den Mund. „Danke für deinen Besuch.“, sagte Joshua als Hana hinaus in den Regen trat. Das Mädchen drehte sich noch einmal zu ihm um. Sie bedankte sich nicht für die Einladung. Dazu war sie zu trotzig. Stattdessen sah sie ihn an, seine dünnen Lippen und sein pechschwarzes Haar. Und sie stellte sich vor, wie neben ihm weitere neunzehn Personen standen, die sie allesamt begafften. Ihre Nackenhärchen stellten sich bei dieser Vorstellung unwillkürlich auf. Joshua lächelte ganz leicht, freudlos und herausfordernd. „Und? Hast du jetzt Angst vor mir?“ „Nein.“, log Hana und wandte sich ohne ein weiteres Wort von ihm ab. Um sie prasselte der Regen auf den Bürgersteig. Sie biss die Zähne zusammen und vergrub frustriert beide Hände in den Hosentaschen. Die rechte zog sie allerdings sofort wieder heraus, als sie das kalte Metall des Blechherzens zwischen den Fingern spürte. Kapitel 7: ----------- Als die beiden Mädchen mit den blond gefärbten Haaren aus der U-Bahn stiegen, blieb Hana allein auf der langen Sitzfläche zurück. Weiter hinten im Abteil saßen noch eine Menge fremder Leute, doch deren Worte konnte Hana über den Lärm der Wagen hinweg nicht verstehen. Um sie herum war jetzt alles leer. Bis auf die dunkelhäutige Frau ihr gegenüber natürlich, doch diese starrte nur vor sich hin und redete mit niemandem. Hana wusste nicht einmal, ob sie überhaupt deutsch sprach. Unzufrieden stierte das Mädchen auf die schwarzen Tunnelwände, die hinter den breiten Fenstern in Windeseile vorbeizogen. Bis eben hatte das oberflächliche Gespräch der beiden Mädchen wenigstens für ein Bisschen Ablenkung gesorgt. Sie hatten über eine Klassenkameradin abgelästert, die wegen ihrem neuen Freund plötzlich einen auf Punk machte. Beide fanden das total lächerlich. Hana widerum fand es lächerlich, dass beide Mädchen die selbe Frisur hatten und ihre Fingernägel in dem gleichen Muster lackiert waren. Doch an der letzten Haltestelle waren die beiden ausgestiegen. Und Hana war wieder völlig allein mit ihren Gedanken. Allein mit Joshuas Worten in ihrem Kopf. Verdammter Mist. Sie zog die Knie an die Brust und legte die Füße auf das Sitzpolster, obwohl sie wusste, dass das in der Bahn nicht gern gesehen wurde. Egal. Die ausländische Frau würde bestimmt nichts sagen. Hana verzog den Mund. Es war kaum nachmittag, und sie fuhr schon wieder zurück in die Vorstadt. Sie ärgerte sich darüber, wie lahm sich die Zeit voranschleppte. Doch weiterhin auf dem Alexanderplatz rumzugammeln wäre reine Zeitverschwendung gewesen. Sie hatte schließlich kaum irgendjemanden gefunden, der irgendwem irgendetwas erzählte. Außerdem war ihre Konzentration sowieso schon auf Null. Hanas eigene Geschichte ließ kaum noch Platz für anderes in ihrem Kopf. Als sie bemerkte, dass sie schon wieder missgelaunt an ihren Schuhen herumzupfte, verschränkte sie zwanghaft die Arme auf den angezogenen Knien. Schließlich mussten die verdammten Treter noch eine Weile halten. Hana war unzufrieden über ihre Unzufriedenheit, und das ärgerte sie. Genau wie heute war die Zeit auch gestern nur sehr zäh vergangen. Der lange Nachmittag hatte eine noch längere Nacht mit sich gebracht. Hana saß die ganze Zeit untätig zuhause rum. Sie starrte abwechselnd den leeren Brief und die Kette an, bis sie beschloss, beides in den Müll zu hauen, obwohl sie wusste, dass sie es sowieso nicht tun würde. Sie war unruhig und wollte irgendetwas machen. Doch sie konnte sich zu nichts aufraffen. Deshalb tat sie gar nichts, und das war definitiv das Falsche. Hin und wieder schob sie das Blechherz aus Langeweile in den Umschlag, nur um es dann wieder herauszuziehen und anzustarren. Sie ertappte sich sogar manchmal dabei, wie sie zaghafte Blicke über die Schulter warf, als würde dann plötzlich Joshuas Freundin hinter ihr auftauchen. Aber da stand nie jemand und Hana regte sich nur über ihre eigene Dummheit auf. Sie regte sich in letzter Zeit ständig auf, und das nervte sie tierisch. Normalerweise war sie nie so frustriert. Das war allein die Schuld dieses Psychopathen. Helles Licht drang durch die Scheiben als die U-Bahn in die nächste Haltestelle einfuhr. Die unterirdische Station war komplett grün gefliest, und erinnerte Hana jedes Mal an die öffentlichen Toiletten in diesem riesigen Einkaufscenter im Zentrum Berlins. Sie war einmal dort gewesen, obwohl sie Shoppingzentren nicht besonders mochte. Die Türen glitten auf und ein paar Menschen strömten herein. Normalerweise forschte Hana eigentlich immer in unbekannten Gesichtern, doch diesmal starrte sie nur lustlos aus dem Fenster hinter ihr. Ein Plakat hing dort, auf dem ein Mann mit sehr vollen Lippen abgebildet war; seine rechte Gesichtshälfte war von einer hellen, geschuppten Maske bedeckt. Den Text verstand Hana natürlich nicht, doch sie vermutete, dass das Plakat für Theater oder dergleichen warb. Das Bild war zwar ausdrucksstark, doch Hana fand es im Vergleich zu lebenden Gesichtern total langweilig. Ein älterer Mann mit Anzug setzte sich wortlos neben sie. Irgendwie hatte Hana das Gefühl, seine Krawatte wäre nicht richtig gebunden, doch sie war sich nicht sicher. Sie konnte schließlich keine Krawatten binden. Der Mann warf einen diskreten Blick auf seine Uhr und schaute dann aus dem Fenster. Eine klare Geste, um allen anderen zu zeigen, dass er keine Lust auf Kontakt hatte. Das wusste Hana. Die U-Bahn setzte sich ruckartig in Bewegung und Hana seufzte. Dann presste sie angenervt die Lippen aufeinander. Eigentlich seufzte sie nie - das war nicht ihre Art. Was war nur los mit ihr? Hatte Joshua sie wirklich so verändert? Nein. Das war Schwachsinn. Joshua war nur ein dahergelaufener psychopathischer Junge. Und Hana hatte eigentlich nicht einmal etwas mit ihm zu tun. Das war eine Tatsache. Doch Hana wusste, dass sie das ganze nicht einfach so vergessen konnte, so sehr sie es auch wollte. Aber wollte sie ihn denn überhaupt vergessen? Sie fühlte sich unwohl und irgendwie nackt, wenn sie sich diese Frage stellte, also schob sie den Gedanken schnell beiseite. Es war so oder so egal, ob sie es wollte oder nicht. Was Joshua anging, hatte sich schließlich die ganze Welt gegen sie verschworen. Heute früh hatte sie sich fest vorgenommen, zum Alexanderplatz zu fahren, ohne sich mit dem Jungen, seinem dämlichen Brief oder dem Blechherz zu beschäftigen. Sie wollte wieder in ihr altes Leben zurückfinden, einfach fremden Worten lauschen, wie sie es sonst auch immer getan hatte. Sie wollte keinen einzigen Gedanken an den Jungen verschwenden. Doch kaum hatte Hana die Straße hinter ihrem Garten überquert, sprang nicht weit von ihr eine Katze von einem Mauersims, die genauso aussah wie Joshuas Schnurri. Als es dann noch mit regnen anfing, fühlte sie sich komplett in den gestrigen Tag zurückversetzt und die schlechte Laune ließ sie nicht mehr los - genau wie die Erinnerungen an den zweifelhaften Aufenthalt in Joshuas Wohnung. An seine Worte. Auf dem Alexanderplatz waren die Menschen wegen des Regens immer in Eile gewesen, es fand sich kaum noch Platz für Geschichten. Alle waren stumm, gestresst, und beschwerten sich höchstens mal über das Wetter. Hana schnappte kaum mehr als unzufriedenes Murmeln auf. Dämlicher Tag. Das Rauschen der U-Bahn verstummte erneut und Hana sah auf. Hier musste sie raus. Ohne noch einen Blick auf den Mann neben ihr zu werfen, verließ Hana das Abteil zusammen mit der schwarzen Frau. Die Luft in der Station war feucht und roch ein wenig nach übel. Eilig schob sich Hana an der Fremden vorbei und stieg im schummrigen Licht der Haltestelle die schmale Treppe hinauf. Hinter ihr hörte sie, wie sich die U-Bahn langsam wieder in Gang setzte. Es dauerte nicht lange, da hieß sie der prasselnde Regen Berlins erneut willkommen. Kapitel 8: ----------- "Das is' doch der Psycho!" Sofort wurde Hana hellhörig. Ausgerechnet diesen Satz hatten ihre Ohren aus dem allgemeinen Stimmengewirr gefischt. Hastig ging sie ein paar Schritte rückwärts, um aus der Seitenstraße zu spähen, in die sie gerade eingebogen war. Die Hauptstraße war voller Schüler, wie immer um diese Zeit. Hana mochte Jugendliche nicht besonders, daher wählte sie oft kleinere Nebenstraßen, wenn alle auf dem Heimweg waren. "Der starrt das Vieh schon die ganze Zeit an. Is' das seine Katze?" Hanas Ohren hatten sich an die dumpfe Jungenstimme geheftet, filterten jetzt jedes Wort aus dem Prasseln des Regens, aus dem Murmeln, dem Gelächter. Ihr Blick zuckte durch die Reihen von Jugendlichen, die schwatzend die Straße entlangliefen. Die meisten von ihnen trugen Kapuzen. Hana konnte nicht sehen, wer da sprach. "He, Psycho, ist das deine Katze?", rief eine andere Stimme. Blitzschnell schoss Hanas Blick in die Richtung, aus der die Worte kamen. Keine Sekunde später machte sie Joshuas schwarzen Schopf unter den spöttisch lachenden Schülern aus. Hana biss die Zähne zusammen. Verdammt. Genau wie sie es befürchtet hatte. Einen Moment zögerte sie, dann hastete sie ein wenig widerwillig auf Joshua zu. Warum lief sie ihm eigentlich jeden verfluchten Tag über den Weg? Das war doch nicht normal. "Lass das Vieh da runter holen!" Das war der Junge, der am Anfang gesprochen hatte. Er war fett und hatte ein Hundegesicht. Neben ihm standen zwei andere Typen; ein Schlaksiger mit hellblond gefärbten Haaren und einer mit Brille und Zahnspange. Alle drei machten einen auf Hip Hop, aber keiner von ihnen vermittelte dabei einen halbwegs glaubwürdigen Eindruck. Bei dem mit der Zahnspange sah der viel zu lange Pulli einfach nur lächerlich aus. Joshua schien Hana noch nicht einmal bemerkt zu haben, aber auch auf die pöbelnden Schüler ging der schwarzhaarige Junge nicht ein. Geradeso, als nähme er all die anderen Menschen auf der Straße nicht wahr, hatte Joshua den Kopf in den Nacken gelegt, und starrte bewegungslos einen Zaunpfeiler an. Hana folgte etwas irritiert seinem Blick und entdeckte schließlich Schnurri, die auf dem Pfeiler hockte und dümmlich in den schmalen Vorgarten zu ihrer rechten schielte. Also war die Katze heute früh wirklich Schnurri gewesen. Hana war erleichtert darüber, dass sie den Verdacht auf Paranoia fürs Erste beiseite schieben konnte. Für einen Moment rang sie sich ein bitteres Lächeln ab. Dann wurde ihr Gesicht wieder hart. Die Katze war bestimmt ausgerissen. Das klatschnasse Fell klebte eng an Schnurris Körper, sie wirkte auf diese Weise noch dünner als sonst. Wie konnte dieses Tier nur so desorientiert sein? Hana war sich eigentlich sicher, dass sich jede normale Katze bei diesem Wetter einen Unterschlupf gesucht hätte. „Alter, das ist vielleicht echt seine Katze.“, wiederholte sich der Dünne. Anscheinend war er mächtig stolz auf seine Theorie. Hana verzog den Mund. Dumme Jugendliche konnte sie erst recht nicht ausstehen. Es waren meistens die Dummen, die in den U-Bahnen Ärger machten. Sie hatte einmal erlebt wie sich zwei schmächtige Punks mit einem bulligen Nazi angelegt hatten. Bevor irgendjemand handgreiflich wurde, war sie jedoch ausgestiegen. Sie fühlte sich meist unwohl in solchen Situationen und wollte der angespannten Stimmung so schnell wie möglich entfliehen. Im Moment ging es ihr nicht anders. Am liebsten wäre sie auf der Stelle umgekehrt. Sie hatte ein ungutes Gefühl bei der Sache. Langsam kam Hana zum Stehen, ein paar Meter von Joshua und den Idioten entfernt. Was sollte sie tun? Hastig blickte sie sich um. Die Schülermenge schob sich weiter die Straße entlang, schenkte Joshua und den drei Möchtegernhoppern kaum Beachtung. Verdammt. Sie hatte keine Lust auf Reibereien. Erst recht hatte sie keine Lust auf Joshua. Ob sie einfach umkehren sollte? Einen Moment lang sah sie zögernd den Jungen an. Nein. Im Grunde wusste sie ganz genau, dass sie sich dazu nicht entscheiden könnte. „Lol, wirf mal ’nen Stein nach dem Vieh. Vielleicht haut’s dann ab.“ Hana hatte den Begriff lol nun schon mehrmals gehört, doch ihr war noch immer völlig unklar, was er bedeutete. Hörte sich jedenfalls dämlich an. Der Blonde hob einen flachen Stein vom Boden und zielte auf Schnurri. So ein Arschloch! Jetzt ging er zu weit. „Hey!“, rief Hana durch den Regen und hetzte mit verkrampften Magen auf das Geschehen zu. Der dünne Junge ignorierte sie beflissentlich und schmiss ohne zu Zögern nach dem Tier. Das Geschoss verfehlte die Katze um Längen. Schnurri schenkte der ganzen Situation kaum Beachtung. Sie wirkte genauso abwesend wie Joshua. Der schlechte Wurf schien den Schlaksigen keineswegs zu entmutigen und er suchte die Straße bereits nach einem neuen Stein ab. Der Dritte mit der Brille tat die ganze Zeit überhaupt nichts. „Joshua!“ Erst jetzt löste sich der Schwarzhaarige aus seiner Starre und sah sie an – nur ganz kurz und abgeklärt, als überraschte ihn ihr Kommen nicht im Geringsten. Ohne ihr irgendein Zeichen zu geben blickte er dann wieder zu Schnurri hinauf. Hana verlangsamte ihren Schritt, kam verunsichert zum Stehen. Sein Blick hatte sich in ihre Gedanken gebrannt. Er war so anders gewesen. So … kalt. Das war sie nicht gewohnt. „Ob seine Katze auch mit sich selbst spricht?“, schaltete sich der Fette wieder ein. Er hatte mitten im Satz dumpf gelacht. Sein Hundegesicht nahm einen schlecht gespielten apathischen Ausdruck an und er mimte das monotone Mauzen einer Katze, die anscheinend mit sich selbst kommunizierte. Der Blonde kicherte ganz kurz und hoch, der Ruhige mit der Zahnspange bemühte sich nicht einmal um ein Lächeln. Hana schnaubte verächtlich. Noch bevor der Dünne einen neuen Stein auf dem Bürgersteig gefunden hatte, sprang Schnurri mit einem gewagten Satz vom Pfeiler. Joshua kniete sich fast im selben Moment auf den Boden, als hätte er nur auf diesen Augenblick gewartet. Er streckte die offene Handfläche nach dem Tier aus – nicht um es zu greifen, sondern nur um zu zeigen, dass es bei ihm willkommen war. Hana beobachtete wie seine Hose gierig das Pfützenwasser aufsog. Für einen Moment hielten selbst die drei Idioten inne und beobachteten stumm Joshua und die Katze. Der Fette klappte kurz den Mund auf, als wollte er etwas sagen, überlegte sich es dann aber anders. Schnurri tat zwei Sekunden lang gar nichts, dann schüttelte sie sich unbeholfen die Nässe aus dem Fell. Mit tapsigen Schritten lief das Tier schließlich auf die drei Jungen zu. Jetzt erst brach der Blonde mit seinem unangenehm hohen Kichern die Stille. „Dummes Vieh.“ Das war das erste Mal, dass sich der Brillenträger einschaltete. Sein Ton war viel ernster, als das spöttische Gelaber der beiden anderen – seine Stimme wollte überhaupt nicht zu dem lächerlichen Aussehen passen. Joshua blieb reglos, kniete noch immer in der Pfütze und hielt die Hand weiterhin ausgestreckt. „Pack sie doch einfach!“, schrie Hana dem schweigenden Jungen zu, eine Spur zu hoch und viel verzweifelter als beabsichtig. „Mach schon!“ Doch Joshua rührte sich nicht, wartete nur ab. Warum tat er nichts, verdammt noch mal? Sollte sie vielleicht einfach hinrennen, und die Katze schnappen? Der Gedanke behagte ihr gar nicht, und es fehlte ihr an Überwindung. Stattdessen wandte sie sich wütend an die drei dämlichen Typen: „Lasst ja die Finger von der Katze!“ Sie beachteten Hanas halbmutige Drohung nicht weiter. Das Hundegesicht lachte dumpf, als Schnurri begann, sich an seine stämmigen Waden zu schmiegen. „Ey, Psycho, deine Katze mag mich!“ Hana starrte wie versteinert das Tier an. Wie bescheuert konnte diese Katze eigentlich sein? Sie wollte irgendetwas unternehmen, doch sie wusste nicht was. Nervös kaute sie sich auf der Unterlippe herum. Die Schülermenge um sie herum hatte sich gelichtet und die vorbeirauschenden Autos spritzten Pfützenwasser auf den Bürgersteig. „Schnurri! Komm her!“ Das war Joshuas Flüstern. Hana blickte ihn stumm an, wie er reglos im Regen hockte und versuchte, seine klitschnasse, entlaufene Katze zu sich zu locken. „Kannst das Vieh gerne wiederhaben.“ Der Fette grinste spöttisch und verpasste dem Tier, das anhänglich um seinen Knöchel schnurrte, einen heftigen Tritt. Schnurri entfuhr noch ein kurzes, klägliches Maunzen, dann schrammte sie über den nasskalten Bürgersteig auf Joshua zu – und blieb nur einen halben Meter vor dem Jungen reglos in der Pfütze liegen. Kapitel 9: ----------- Zwei Sekunden vergingen, dann drei. Joshua beugte sich schweigend über das reglose Tier. „Ey, das Vieh bewegt sich nich’ mehr. Ist es tot?“ Der Dünne lachte unsicher. „Halt’s Maul. Das Vieh kann gar nicht tot sein.“ Die Stimme des Fetten geriet ins Wackeln. „Hab nur ganz sacht zugetreten.“ Hana hörte die Worte wie durch Watte. Selbst das Prasseln des Regens nahm sie kaum noch wahr. Allein das Beben ihres Herzschlags hämmerte dumpf und laut in ihren Ohren. Vor ihrem inneren Auge wiederholte sich noch einmal die komplette Szene: der Tritt, das aufspritzende Pfützenwasser, dann die Stille nach dem Aufprall. Es war alles viel zu schnell gegangen. Ein paar Sekunden sah sie noch wie versteinert das leblose Tier an, dann löste sich Hana endlich aus ihrer Starre und eilte mit taumelnden Schritten auf Joshua zu. Eine resignierende Stimme in ihrem Kopf meldete plötzlich mit erschreckender Gewissheit, dass es zu spät war. Ununterbrochen, immer der gleiche Satz. Schnurri ist tot. Hana versuchte verzweifelt, nicht darauf zu hören. Es war schließlich völlig unlogisch! Die Katze konnte nicht tot sein! Verdammt, es war nur ein einziger Tritt, davon starb keine Katze! Doch die düsteren Worte in ihrem Kopf wurden nur lauter, endgültiger. Kraftlos ließ sie sich neben Joshua auf die Knie fallen, spürte das kalte Wasser an ihren Beinen. Irgendwo weiter hinten raunten sich die drei fremden Jungen nervöse Worte zu, doch Hana hörte längst nicht mehr hin. Einen Moment lang sah sie Schnurri an, die noch immer unverändert auf dem nassen Asphalt lag; ihr Fell zerzaust und dreckig, die Glieder kraftlos und still. Dann blickte sie in Joshuas Gesicht zu ihrer Rechten. Regen tropfte aus seinem schwarzen Haar und perlte von seiner Nasenspitze. Er machte keine Anstalten, dass Tier anzurühren oder zu bewegen; er sah es nur schweigend an. Nicht entsetzt, nicht wütend oder verzweifelt. Nur abfindend. Kein Protest in seinem Blick. Keine Träne, keine bebenden Lippen. Nur stilles Abschiednehmen. Einen Moment lang suchte Hana unbeholfen nach Worten, doch presste schließlich die zitternden Lippen aufeinander. Sie brauchte ihm keine Hoffnungen mehr zu machen. Joshua wusste es. Hana wusste es auch. Schnurri ist tot. Ein letztes Mal flüsterte die graue Stimme in ihren Gedanken, ganz ohne Nachdruck, ohne Drängen. „Das … Es tut mir Leid.“ Die erstickten Worte stolperten kaum lauter als der Regen über ihre Lippen, und einen kalten Moment lang war sich Hana nicht einmal sicher, ob Joshua sie gehört hatte. Doch dann nickte er. Sein Gesicht war ganz ruhig. Hana nahm aus dem Augenwinkel wahr, wie ein paar Leute auf der anderen Straßenseite stehen blieben und zu den beiden und der toten Katze herüberstarrten. Die drei Jungs von vorhin waren verschwunden, vermutlich hatten sie das Weite gesucht, bevor sie noch Ärger wegen der Sache bekamen. Hana überkam einen Moment lang der tiefe Wunsch, sie zu hassen. Diese feigen Arschlöcher büßen zu lassen. Doch die eigene Kraftlosigkeit spülte die Wut in ihr trüb und matt. Stattdessen starrte sie nur aufgelöst das Tier an. Den zu kleinen Kopf, die geschwungene Linie der geschlossenen Bernsteinaugen. Schnurri war nie wirklich gesund gewesen, hatte Joshua gesagt. Aber es war nicht fair, dass ein einziger Tritt ausreichte, um sie zu töten. Schnurri sah dürr aus, in all der Nässe. Dürr und Krank. Und Hilfsbedürftig. Es war ein trauriger Anblick. Hana hatte schon einmal so etwas Trauriges gesehen: eine junge Obdachlose, die im Winter in einer schmalen Unterführung gelegen hatte, zusammen mit ihrem Hund. Beide hatten geschlafen, und die Lippen der Frau waren so blau gewesen, als wäre sie bereits erfroren. Der Hund hatte im Schlaf gewinselt und seine feuchte Nase tiefer in ihrem roten Haar vergraben. „Trotzdem.“, murmelte Joshua neben ihr. Hana zuckte erschrocken zusammen. „Sie war immer ein gutes Tier.“ Er sprach so leise, dass sie ihn kaum verstand. Einen verwirrten Moment lang wollte sie fragen, wie er das meinte, doch dann begriff sie, dass die Worte nicht an sie gerichtet waren. Ihr Magen zog sich zusammen. Joshua nickte in die Leere, flüsterte abermals irgendetwas. Dann sagte er eine Weile nichts mehr. Der Regen tropfte von seinem Kinn, das schwarze Haar klebte an seiner Stirn. „Nein. Ihr habt Recht.“, setzte er nach einer Weile kaum hörbar hinzu. Es tat Hana weh, ihn so zu sehen. Er tat ihr leid, sehr sogar. Sie wunderte sich ein wenig über sich selbst; schließlich hatte sie den Jungen den kompletten Vormittag lang verflucht. Aber den Tod seiner Katze hatte er nicht verdient. Er konnte so ungerührt aussehen wie er wollte, Hana war überzeugt, dass ihn dieser Verlust mitnahm. Wahrscheinlich mehr als er selbst wusste. Er brauchte jetzt Halt, Trost … Aber den bekam er ja auch. Von seinen unsichtbaren Freunden. Hana senkte den Kopf und starrte verbittert in das graue Pfützenwasser. Sie war in diesem Moment der einzige Mensch, der bei Joshua war. Die einzige Person, die ihm helfen wollte. Aber der Junge brauchte sie einfach nicht. Er hatte ja andere, die für ihn da waren. War es nicht eigentlich sie, die in diesem Moment eine Art unsichtbare Freundin für ihn war? Sie konnte ihm ja nicht einmal übel nehmen, dass er jetzt mit seinen eingebildeten Freunden sprach, anstatt mit ihr. Was hatte sie denn erwartet? Was hatte sie denn geglaubt, wer sie für ihn war? Sie verzog den Mund. Dumm, Hana. Der Gedanke klang heute vielmehr betrübt als wütend. Neben ihr erhob sich Joshua vom Boden. Seine Hose war von den Knien bis zu den Schuhen vollkommen durchnässt, doch er schien nicht zu frieren. Er sah traurig das tote Tier an, dann wandte er sich ab, der Straße entgegen. „Wo willst du hin?“, traute sich Hana zu fragen. Sonst hätte sie ihre brüchige Stimme vermutlich gestört, aber jetzt war das egal. „Nach Hause.“, antwortete Joshua knapp, sah sie dabei nicht einmal an. „Und … was ist mit Schn…?“ Der Satz zerbrach an dem Namen der Katze. Sie schluckte das Loch in ihrer Frage herunter, in der Hoffnung, dass der Junge sie trotzdem verstehen würde. Joshua antwortete nicht. Ein paar Autos rauschten vorbei, ansonsten blieb alles still. „Willst du sie nicht mitnehmen? … Um sie zu begraben?“, fügte sie unsicher hinzu. „Meine Freunde sagen, ich soll sie vergessen.“ Seine Worte klangen kahl und matt. „Sie sagen, ich brauche sie nicht … Ich hab genug Freunde.“ Hana blinzelte einmal. Sofort fühlte sich ihr Hals wie ausgetrocknet an. „Was?“ Kaum mehr als ein undeutliches Hauchen. Joshua stand nur da, zwischen Regen und Fassadengrau, und stierte in die Leere. Dann sagte er, ganz leise, zögernd: „Dich soll ich auch vergessen.“ Es dauerte einen Moment, ehe Hana begriff. Dann wartete sie darauf, dass sie seine Worte wie ein Schlag ins Gesicht treffen würden. Aber der Schlag kam nicht. Es kam gar nichts. Seine Stimme hatte sie wie leergefegt. „Willst du das wirklich?“ Es kam ihr vor als sprach da jemand anders, mit heißeren, belegten Worten. Sie atmete tief ein, presste dann die regenschwere Luft aus ihren Lungen. Wieder schwieg Joshua. Aber Hana blieb jetzt ebenfalls stumm, drückte die kalten Lippen aufeinander und wartete ab. Als hätte jemand all ihre Emotionen verstummen lassen, die bei diesem Gespräch nur im Weg stehen würden. „Nein“, seufzte Joshua schließlich. „Dann werden wir beide jetzt gemeinsam Schnurri begraben.“ Ihre Stimme klang zwar noch immer nicht fest, doch ihre Worte waren es umso mehr. Und Hana war sich sicher, dass Joshua das ebenfalls wusste. Wieder zögerte der Junge ehe er sprach. „Wo denn? … Wir haben nicht einmal einen Ort.“ Hana ballte die Hände zu Fäusten. Schritt für Schritt kehrten ihre Gefühle zurück, aber es waren ganz andere, als vor ein paar Sekunden. All ihr Mitleid ihm gegenüber war erloschen. Was jetzt in ihr aufkeimte war nichts als Zorn. Auf Joshuas unsichtbaren Freunde. Aber mehr noch auf ihn. „Tu nicht so als sei es ein Problem irgendeinen passenden Ort zu finden.“ Joshua gab abermals keine Antwort. Hana biss die Zähne zusammen. Sie hätte ihn am liebsten angeschrieen. Was er sich überhaupt dachte, sich einen Scheiß um seine tote Katze zu scheren. Wie er nur auf seine beschissenen Hirngespinste hören konnte. „Mein Garten.“ Ihre Stimme blieb beherrscht. „Wir werden sie in meinem Garten begraben.“ Sie atmete tief durch und ihr Blick zuckte schuldbewusst zu Schnurri. Hana kam sich mies vor, jetzt über sie zu streiten, kurz nach ihrem Tod. Es fühlte sich so falsch an. Sie hätte der Katze einfach eine friedliche Bestattung gewünscht. Sie starrte wütend zu Joshua. Nur weil dieser Arsch sich so quer stellte! Erst jetzt fiel ihr auf, dass der Regen nachgelassen hatte. Es nieselte nur noch, und hier und da lichtete sich schon das Himmelgrau. „Sie sagen, ich soll nicht auf dich hören.“ Joshua sprach leise, kaum lauter als der Straßenlärm, kaum lauter als das ewige Tropfen und Prasseln. „Sie sagen, du willst uns auseinander reißen. Du willst mich und meine Freunde trennen. Du bist neidisch auf sie und willst – “ „Halt’s Maul!“ Es platzte einfach aus ihr heraus. Erst jetzt drehte er sich zu ihr herum. Hana erwiderte seinen Blick, starrte ihn wutentbrannt in seine klaren, grünen Augen. Sie atmete durch die Zähne, die beide Fäuste hatte sie verbissen in die Pfütze unter sich gedrückt. „Es geht hier nicht um mich, verstehst du?“, sie sprach wieder leiser, aber sie schärfte jedes einzelne Wort wie ein Messer. „Es geht allein um Schnurri. Und du wirst sie jetzt verdammt noch mal angemessen begraben! Das bist du ihr schuldig. Danach brauchst du mich von mir aus nie wieder ansehen.“ Mit diesem Satz schnitt sie sich selbst in die Finger, und die Wunde brannte schmerzhafter als erwartet. „Ist mir scheißegal.“ Kapitel 10: ------------ „… Vielleicht noch ein Kreuz oder so?“, murmelte Hana, als Joshua schweigend die schlammige Graberde mit dem Schaufelblatt glättete. „Schnurri ist nicht christlich.“, antwortete Joshua sachlich. Er schien ihr nicht böse zu sein, aber Hana traute seiner Stimmung nicht ganz. Er war jetzt so ruhig. So still. Seit Hana ihn zurechtgewiesen hatte, war ihm nicht ein einziges weiteres Wort über seine anderen Freunde oder deren Meinung über die Lippen gekommen. Er hatte getan, was sie ihm gesagt hatte. Die ganze Zeit über. Ohne Widerspruch. „Dann … vielleicht ein Grabstein oder so…?“, schlug Hana leise vor. Sie wollte sich wieder an ihn herantasten, ganz langsam. Sich mit ihm versöhnen. Dass er nicht auf seine unsichtbaren Freunde gehört hatte, sondern stattdessen seine Katze begraben hatte, bedeutete Hana mehr, als er vermutlich ahnte. „Irgendetwas, damit man den Ort nicht so schnell vergisst.“ „Ich hab mal gehört, dort, wo jemand begraben liegt, wachsen unzählige Schneeglöckchen.“ Zwischen den Zweigen des Holunderstrauchs neben den beiden tröpfelte es noch immer leise vor sich hin, eine leichte Brise riss den übrigen Regen und ein paar gelbliche Blätter von der Birke neben dem Haus. „Das wird sicher sehr schön aussehen.“ Hanas Stimme war belegter als die von Joshua. Der Junge nickte. „Ich kann mir kaum ein besseres Grabmal vorstellen.“ „Dann kann man Schnurri aber nur im Frühjahr finden.“ Er blickte vom Grab auf und wandte sich ihr zu, bevor er antwortete. „Nennt man das dann nicht … romantisch?“ Er nahm das Wort in den Mund, als stammte es aus einer anderen Sprache. Dann lächelte er ihr zu, zum ersten Mal an diesem Tag. Es war ein leichtes Lächeln, seine Augen funkelten verspielt. „Kann sein.“, antwortete Hana und bemühte sich ebenfalls um ein Lächeln. Es fühlte sich trotzdem wehmütig an. Verkrusteter Dreck klebte an Joshuas rechter Wange, seine Hände waren schmutzig und auch seine Hosenbeine starrten vor Schlamm. Hana hatte ihm die Schaufel gezeigt, die schon immer an dem alten Schuppen im hinteren Teil des Gartens gelehnt hatte, und ihm kurzerhand befohlen, das Grab für seine Katze zu schaufeln. Ihr Ton hatte keinen Widerspruch geduldet. Geholfen hatte sie ihm auch nicht. Sie fand, dass das Joshuas Aufgabe war. Es war ihr wichtig, dass er es allein tat. Dass er es bewusst tat. Das war er Schnurri schuldig. Und Joshua hatte die mühsame Arbeit erledigt. Kein Beklagen über seine völlig verdreckte Kleidung. Kein Wort über den lästigen Schlamm, der immer wieder in das frisch geschaufelte Loch zurücklief. Hana war sich nicht sicher, ob sie sich da etwas vormachte, doch sie wurde den Eindruck nicht los, dass er Schnurri angemessen bestatten wollte, dass er es von sich aus tat. Sie hätte ihm gerne dafür gedankt, aber natürlich konnte sie das nicht. „Ich glaube Schnurri ist jetzt glücklich.“, stellte Hana stattdessen knapp fest und blickte unsicher zur Seite. „Schnurri ist tot. Es ist ihr vollkommen egal.“ Er sah sie an als hätte sie irgendetwas unpassend Kindisches von sich gegeben. Hana antwortete nicht. Einen Moment lang wollte sie ihm diese Bemerkung übel nehmen, aber konnte es schließlich doch nicht. Vermutlich hatte er ja Recht. Es war eine bescheuerte Angewohnheit der Menschen, die hässlichen Tatsachen in hübsche Kleider zu zwängen. Sie starrte die nass glänzenden Zweige des Holunderstrauches an. „Na dann bin ich eben jetzt glücklich.“ Das klang sogar noch bescheuerter. Sie verzog kaum merklich den Mund. „Das ist gut.“, antwortete Joshua. Aus dem Augenwinkel glaubte sie ihn lächeln zu sehen und irgendwie regte sie das auf. Kurz darauf stahl sich auch ein flüchtiges Schmunzeln über ihr eigenes Gesicht. Sein bescheuertes Psycho-Lächeln nervte sie noch immer. Es tat gut zu wissen, dass noch alles mehr oder weniger beim Alten war. „Du hast die Kette gar nicht um.“, stellte Joshua enttäuscht fest. Die Leichtigkeit in Hanas Zügen erstarb augenblicklich. Sie hatte sich geirrt. Es war nicht mehr alles beim Alten. „Nein.“, sagte sie. „Hab sie nicht um.“ Dann presste sie die Lippen aufeinander. Irgendwo im Garten fing ein Vogel an zu zwitschern. Eine Weile schwieg auch Joshua. „Du willst sie nicht sehen, oder?“ Hana starrte die verwischten Abdrücke von Joshuas Sneakers im Schlamm an. Die matschige Erde war so verschmiert, dass Hana die eigenen Fußspuren zwischen denen von Joshua nicht mal mehr ausmachen konnte. „… Meine Freunde meine ich.“, fügte er leise hinzu, als er keine Antwort bekam. „Stimmt. Ich will ihnen nicht begegnen.“ Sie bekam beim Sprechen die Zähne kaum auseinander. „Kann ich dann die Kette wiederhaben?“ Jetzt sah er sie direkt an, als wartete er darauf, dass sie seinen Blick erwiderte. Aber Hana sah ihm nicht in die Augen. Sie zuckte stattdessen versteift mit den Schultern. „Klar.“ Dann wandte sie sich stumm dem scheibenlosen Küchenfenster zu, ihrem Einstieg in das verwahrloste Haus. Hana wusste in diesem Moment nicht recht was sie denken sollte. Sie wusste nur dass ihr plötzlich kalt war. Und sie wurde dass niederschmetternde Gefühl nicht los, Joshua endgültig an dessen unsichtbare Freunde verloren zu haben. Oder nein. Eher, dass sie sich die ganze Zeit über nur eingebildet hatte, wirklich ein Teil von ihm für sich gewonnen zu haben. „Warum hasst du meine Freunde so sehr?“ Joshuas Papierstimme ließ sie inne halten. Hana schnaubte verbittert. „Das fragst du noch?“ „Ja.“ Jetzt drehte sie sich zu ihm um. Begegnete seinen hellgrünen Augen. „Du kapierst es nicht, oder?“ Verbissen ballte sie die Hände zu Fäusten. Fuhr sich mit der Zunge über die blassen Lippen und atmete tief ein. „Du machst dich völlig von ihnen abhängig und kriegst es nicht mal mit. Das bist überhaupt nicht mehr du! Irgendwelche Stimmen flüstern in deinem Kopf den größten Scheiß und du hörst auf alles was sie dir sagen!“ „Das stimmt nicht.“ Joshuas Worte waren zum ersten Mal ein wenig scharf. „So?“ Hana schluckte. Ihr Hals fühlte sich trotz der feuchten Luft wie ausgetrocknet an. „Ich tue nicht immer das, was sie mir raten.“ Sie schloss ein wenig überrascht den Mund. Eigentlich hatte sie mit Widerspruch bezüglich der Realität seiner Freunde gerechnet. „Hätte ich auf sie gehört, wären wir uns kein zweites Mal begegnet.“ Joshua sah sie eindringlich an. Ganz ernst. „Aber ich wollte dich gegen ihren Willen wieder sehen.“ Hana wich eilig seinem Blick aus und stierte die Schaufel an, die noch immer unbeachtet im Dreck lag. Seine plötzliche Offenheit war ihr irgendwie unangenehm. „Aha.“ Sie wartete auf eine Antwort, aber stattdessen folgten nur ein paar unbehaglich stille Sekunden. „Wie schön dass du dich über deine eifersüchtigen Hirngespinste hinwegsetzten konntest.“ Noch im selben Moment bereute sie die stechende Bemerkung. Aber Joshua schüttelte nur den Kopf. „Sie sind nicht eifersüchtig. Sie sorgen sich nur um mich.“ Hana hielt missbilligend den Mund und wartete ab. „Sie sagen du bist die Einzige, die in der Lage ist, mich zu verletzten. Und sie sagen, dass du es tun wirst, früher oder später. Ich soll dich vergessen. So schnell wie möglich.“ Er zögerte einen Moment, bevor er fort fuhr. „Sie sagen du bist schlecht für mich.“ Eine Weile schwiegen beide. Selbst der Vogel von vorhin war irgendwo zwischen den nasskalten Zweigen verstummt. „Wenn du das so siehst…“ Ihre Stimme fühlte sich irgendwie verkalkt an. Sie schluckte. Wartete ab. Joshua antwortete nicht. Hana rieb sich unruhig die gefrorenen Finger an ihrem Hosenbund. Warum antwortete er nicht? Sie hatte eigentlich mit einer Berichtigung gerechnet. Dass nicht er, sondern nur seine Freunde das so sahen. Dass er selbst eigentlich ganz anderer Meinung war. Aber Joshua schwieg. „Du glaubst ihnen?“, flüsterte Hana erstickt. Es klang mehr wie eine Feststellung. Sie sah ihn an. Verwirrt, enttäuscht. Einsam. Vielleicht auch verletzt, doch sie wollte das verhasste Wort nicht in ihren Kopf lassen. Joshua aber blickte nur zurück, mit stillem Gesicht. Mit Augen, die Hana nicht zu deuten wusste. Das Mädchen wandte sich schweigend ab. Die letzten Schritte zum offenen Fenster lief sie schneller als nötig, mit einem einzigen Satz schwang sie sich in die dreckige Küche ihrer Wohnung. Sie brauchte nicht zu suchen, sie wusste wo der Anhänger lag. Auf dem Tisch. Gleich neben dem Brief. Sie starrte mit leerem Blick dass mehrfach zerknüllte und wieder geglättete Blatt an. Für einen Moment dachte sie daran, wie sie Joshua zum ersten Mal auf der Straße angesprochen hatte. Erinnerte sich an sein unheimliches Lächeln. Es war kaum ein paar Tage her, aber es kam ihr vor wie eine Ewigkeit. Und Joshua kam ihr vor wie ein anderer Mensch. Sie kam sich selbst vor wie ein anderer Mensch. Ohne noch länger zu zögern griff sie nach dem Anhänger und kletterte wieder auf das niedrige Fensterbrett. Dann ließ sie sich in das nasse, hohe Gras ihres Gartens fallen und lief zielstrebig auf den schwarzhaarigen Jungen zu. Sah ihn dabei nicht ein einziges Mal an. „Hier.“ Sie streckte den Arm aus. Ihre kalten Finger umschlossen das dunkle Bändchen, das Blechherz baumelte matt glänzend zwischen den beiden. „Danke.“ Ganz flüchtig sah Hana zu ihm auf. Suchte in seinen Zügen, ohne zu wissen wonach. Der Junge erwiderte ihren Blick nicht. Er betrachtete nur still den Anhänger. Fast schon ein wenig traurig. Oder auch nicht. Sie hatte keine Ahnung. „Nein!“ Joshuas Hand zuckte erschrocken zurück und Hana riss die Kette ruckartig an sich. „Ich geb’ dir das Teil nicht.“ Joshua sah sie verwirrt an. „Merkst du nicht wie krank das ist? Wir geben hier alles auf wegen … wegen nichts. Deine dämlichen Freunde gibt’s nicht mal!“ Hana hatte keinen blassen Schimmer was genau sie mit alles meinte. Aber Joshua verstand es. „Was willst du damit tun?“ Er klang unsicher. Ein wenig überfordert zuckte sein Blick durch ihren Garten, als stürmte gerade eine Vielzahl von wütenden Stimmen auf ihn ein. Sie drückte das Stück Blech fester an sich, als könnte es ihr jeden Moment von Joshuas unsichtbaren Freunden aus den Händen gerissen werden. Ja, was wollte sie eigentlich damit? Sie spürte wie das metallene Herz in die feste Umklammerung ihrer Finger schnitt, während das eigene heftig gegen ihre Rippen hämmerte. „Du wirst es nie wieder bekommen.“ Sie befeuchtete nervös die zitternden Lippen mit der Zunge. „Sie sind schlecht für dich. Nicht ich.“ Joshuas Mundwinkel zuckte ganz kurz. Es dauerte einige Sekunden, ehe er antwortete. Hinter den Büschen rauschte ein Auto vorbei. „Lass das. Bitte.“ Hana sah ihn stumm an. Trat einen Schritt zurück. „Nein.“, hauchte Joshua. Er schüttelte kaum merklich den Kopf. Aber Hana stürmte schon davon, kletterte geschickt über den rostigen Gartenzaun und sprang auf den nassen Bürgersteig. Hektisch sah sie sich um. Sie hatte keine Ahnung wo sie hinwollte. Erst als sie Joshuas Schritte hinter sich im Gras rascheln hörte, hetzte sie unentschlossen in eine Richtung. … Wenn es denn Joshuas Schritte waren. Sie rannte noch schneller und versuchte krampfhaft die Vorstellung zu verjagen, dass ihr mehr als nur eine einzige Person folgte. Kapitel 11: ------------ Auf dem Bürgersteig einer dicht befahrenen Brücke blieb Hana schließlich stehen. Schwer atmend legte sie den Kopf in den Nacken und starrte einen Moment in das trübe Weiß des Himmels. Dann schloss sie die Augen. Lauschte ihrem hämmernden Herzschlag. Den Autos, die zahlreich an ihr vorüber schnellen. Dem Rauschen des Flusses, irgendwo weit unter ihr. Es roch nach Abgasen und nach kaltem Wasser. Sie versuchte zu schlucken, aber ihre Spucke fühlte sich zäh und klebrig an. Feuchter Wind strich ihr durchs Haar, über die Wangen, über die Lippen. Dann hörte sie Joshuas hetzende Schritte. Sein heißeres Murmeln. Hana rührte sich nicht. Fuhr nur mit dem linken Daumen über die metallene Oberfläche des Anhängers, als suche sie nach eingeprägter Blindenschrift. Aber das Blechherz war glatt und stumm. Und Blindenschrift konnte Hana eh nicht lesen. Genau wie normale Buchstaben. Sie verzog den Mund und schlug die Augen auf. Auf den letzten Schritten verebbte Joshuas Murmeln, bis er schließlich schwer atmend hinter ihr zum Stehen kam. Sie wusste nicht genau, wie lange sie vor ihm weggerannt war. Zumindest lange genug, um sich in Berlin zu verirren. „Was willst du hier?“, keuchte er. Für einen kurzen Moment wollte sich Hana zu ihm umdrehen, doch dann blieb sie einfach stehen und zuckte mit den Schultern. Es war die Wahrheit. Sie wusste nicht was sie hier wollte. Im Grunde wusste sie ja nicht einmal genau, warum sie losgerannt war. Sie hatte die ganze Zeit über kein konkretes Ziel gehabt. War doch völlig egal, wo sie stehen blieb. „Ich hab nicht Mal ’ne Ahnung wo wir sind.“ Mit stumpfem Blick suchte sie die Umgebung nach irgendwelchen Hinweisen ab. Da war ein Schild mit einem Wellensymbol, aber Hana konnte den Namen des Flusses natürlich nicht lesen. Ansonsten nur Autos, Asphalt. Nicht weit vom Ufer die ersten grauen Häuserfassaden. „Jedenfalls nicht im Zentrum. Zu viele Autos und zu wenig Musik.“, stellte Joshua fest. Erst jetzt drehte sich Hana zu ihm um. Er war noch blasser als sonst, stütze sich mit dem linken Arm ausgelaugt auf dem Brückengeländer ab. „Was denn für Musik?“ Sie spannte kaum merklich den Kiefer an. Er hatte es schon wieder geschafft sie zu verwirren. „In der Innenstadt hört man ständig irgendwelche Musik.“, sagte Joshua. „Aus den Kaufhäusern. Oder von den Musikern, die manchmal am Straßenrand hocken.“ Ach so. Vermutlich hatte er sogar Recht. „Ich kann die Straßenmusiker nicht ausstehen. Die sehen immer total elendig und missmutig aus, spielen aber sonst wie fröhliche Lieder. Das ist doch heuchlerisch.“ Joshua legte den Kopf ein wenig schief. „Kaufhausmusik ist auch meistens fröhlich.“ „Die verlangt aber kein Geld.“ Hana rümpfte die Nase. „Die Musiker spielen auch, wenn man ihnen kein Geld gibt. Ich hab ihnen noch nie Geld gegeben. Nur einmal hab ich bei so einer alten obdachlosen Frau am Bahnhof Blumen gekauft:“ „Warum dass denn?“ Hana zog die Brauen zusammen. Sie konnte sich kaum vorstellen wie Joshua Blumen kaufte. Er zuckte nur mit den Schultern, jedes seiner Worte schlug feine weiße Wölkchen in der Luft. „Sie hat gefroren und mich trotzdem angelächelt.“ „Aha.“ Irgendwo weiter hinten schaltete eine Ampel um und der Verkehr auf der Brücke setzte kurz darauf für ein paar Sekunden aus. Einen Moment lang Stille. Ein paar Vögel stoben aus dem kargen Buschwerk am Ufer auf. Hana starrte auf ihre gelben Turnschuhe. Joshua schwieg jetzt auch. Sie spürte jeden Zentimeter Entfernung. „Warum reden wir eigentlich ständig über solchen belanglosen Scheiß?“, fragte sie missmutig. „Über was willst du denn reden?“ „Vielleicht über deine eingebildeten Freunde.“, antwortete sie, obwohl das nicht stimmte. Sie schluckte, sah ihn noch immer nicht an. In Wahrheit würde sie viel lieber weiter über belanglosen Scheiß reden. Hana presste verärgert die Lippen aufeinander. Aber nein. Sie musste dieses verdammte Thema ja schon wieder anschneiden, die Leichtigkeit zwischen ihnen tonnenschwer machen. „Sie sind ziemlich wütend auf mich.“, gab Joshua zu. Ein wenig überrascht sah sie jetzt zu ihm auf. Er erwiderte schweigend ihren Blick, ganz ernst. „Die haben überhaupt keinen Grund.“ Joshua zögerte. „Sie sind wütend, weil ich nicht auf sie höre.“ Hana schloss die linke Faust fester um das Blechherz. „Warum solltest du auch?“ „Weil man sich den Rat guter Freunde eigentlich zu Herzen nimmt.“ „Sie sind keine guten Freunde. Sie geben dir keine Ratschläge, sie geben dir Befehle.“ Joshua antwortete nicht, sah sie nur direkt an. „Es stimmt doch, oder?“ Ihre Stimme wurde mit jedem Wort etwas schneller, ein bisschen heißerer. „Was machen sie eigentlich wenn sie wütend sind? Schreien sie dich an? Reden sie dir ein schlechtes Gewissen ein?“ Ein Laster rauschte an den beiden vorbei und Hana blinzelte aufgekratzt dem aufspritzenden Pfützenwasser entgegen. Starrte den Jungen an, der noch immer schweigend vor ihr stand. Etwas in Joshuas Augen veränderte sich, ein trauriger Schimmer stahl sich in seinen Blick. „Sag schon!“ „Manchmal.“, gab er zu. Seine Stimme war über den Straßenlärm kaum verständlich. Einen Moment lang sagte er nichts, dann fuhr er ebenso leise fort. „Sie haben trotzdem Recht. Du willst mich von ihnen trennen.“ „Ich will dass du gesund wirst.“, berichtigte ihn Hana. Sie war selbst etwas erstaunt über die plötzliche Entschiedenheit in ihren Worten. „Und dazu musst du sie vergessen.“ Joshua schüttelte den Kopf. „Das geht nicht. Man kann sie nicht einfach loslassen. Man kann sie nicht einfach vergessen.“ „Natürlich kannst du!“ Schon war die Bestimmtheit in ihrer Stimme wieder verwirrter Wut gewichen, viel zu hohen, unsicheren Worten. „Diese Leute gibt es nicht einmal! Sie waren nie wirklich da. Du kannst sie loslassen wann immer du willst!“ Als Joshua abermals den Kopf schüttelte, ballte Hana einen Impuls folgend die rechte Faust um das Band des Blechherzens und streckte den Arm kurzerhand über das Brückengeländer. Der Anhänger taumelte wild in der Luft, weit unter ihm spülte der Fluss graues, rauschendes Wasser durch Berlin. Hanas Fingerknöchel waren kalt, bebten leicht, doch sie hielt die Kette fest umschlossen. Sie sah wie sich Joshuas grüne Augen erschrocken weiteten, wie er den Atem anhielt. Wie der letzte Rest Farbe aus seinem Gesicht wich. „Eine Erinnerung, oder?“ Sie deutete flüchtig mit dem Kinn auf den hin und her schwingenden Anhänger. Ihr Herzschlag ging heftig, ihre Lippen zitterten etwas. „Hast du selbst gesagt.“ „Lass das. Bitte.“, murmelte Joshua. Seine Stimme bekam einen fieberhaften Unterton. „Mit den Erinnerungen gehen auch deine Freunde verloren, nicht wahr? Ohne diese Gegenstände vergisst du sie.“ Ihr Blick zuckte kurz zu der Kette und sie musste einen Moment lang an Joshuas beste Freundin denken, von der er ihr erzählt hatte. Mit der er diese Erinnerung – das Blechherz – teilte. Der Junge schüttelte den Kopf. Er sah irgendwie fast schon verzweifelt aus. „Hör auf damit.“ „Nein Joshua. Ich werde sie fallen lassen.“ Es rauschten unaufhörlich Autos über die asphaltierte Brücke. Fußgänger waren keine unterwegs. Irgendwo weiter hinten heulte eine Polizeisirene durch die Straßen. Joshua hielt den Mund. Starrte sie traurig an, aber nicht mehr flehend. Vielleicht war es die Festigkeit in Hanas Stimme, die ihn resignieren ließ. Vielleicht weil sie beide wussten, wann Hanas Worte echt waren, und wann nicht. „Deine Freunde sind eine Krankheit.“, erklärte Hana. Sie versuchte ruhig zu sprechen, obwohl ihr Herz schneller denn je schlug. „Eine Störung, verstehst du? Sie sind schlecht für dich. Für deinen Körper, oder deine Seele, oder für was weiß ich.“ Sie versuchte den schalen Geschmack auf ihrer Zunge herunter zu schlucken, aber irgendwie wurde der Klumpen in ihrem Hals dadurch nur noch größer. „Also wenn ich jetzt den Anhänger fallen lasse, dann nur … dann nur, damit du gesund wirst.“ Sie suchte unsicher nach seinem Blick. Spürte die Kette zwischen ihren Fingern, das Leichtgewicht des Anhängers. Das ferne Tosen des Flusses kam ihr plötzlich unheimlich laut vor. Joshua schwieg noch immer. „Und wenn dann einer deiner Freunde weg ist … “ Hana wusste genau, dass ausgerechnet Joshuas beste Freundin verschwinden würde, aber sie hatte nicht den Mut, diese Tatsache noch einmal auszusprechen. „ … Dann schaffst du es vielleicht auch, den Rest … der Krankheit zu besiegen.“ Sie wandte den Blick von dem Jungen ab. Spürte wie ihr ausgestreckter Arm langsam schwer wurde. Es war echt hart, Joshua anzusehen. Er war nicht wütend auf sie. Er war nicht entsetzt, nicht vorwurfsvoll. Joshua war einfach nur verletzt. Hana riss sich zusammen und blickte zu ihm auf, in seine traurigen Augen. „Ich kann dir helfen.“, sagte sie. „Wir können es zusammen schaffen. Damit du wieder alleine entscheiden kannst. Du brauchst nicht irgendwelche Stimmen, die dir sagen, was du tun sollst. Das bist nicht du, Joshua.“ Sie versuchte ein Lächeln, aber es misslang ihr kläglich. Also ließ sie es bleiben, suchte stattdessen weiter nach Worten. Ihr fielen keine mehr ein. „Okay?“, fragte sie dann nur noch, ganz leise. Einen Moment lang Stille. Zwei Momente. Dann nickte Joshua, ohne ein Wort. Irgendetwas war jetzt in seinen grünen Augen, was Hana nicht zu deuten wusste. Verunsichert fuhr sie mit der Zunge über ihre trockenen Lippen. „Okay.“, wiederholte sie stumm, mehr für sich selbst als für Joshua. Dann ließ sie die Schlaufen des Bandes durch ihre Finger rutschen. „Warte.“ Hana griff noch einmal zu, wusste selbst nicht genau warum. Sie presste ihre eiskalten Fingerkuppen auf das letzte Ende der Kette. Der Anhänger taumelte im Wind, reflektierte für einen kurzen Moment das Weiß des Himmels. Als wollte die Helligkeit heute nie dem Abend weichen. Hana sah Joshua an, wartete mit klopfenden Herzen ab. „Kannst du mir vorher noch etwas verraten?“, fragte er leise. Hana zog verwirrt die Augenbrauen zusammen. Was sollte das jetzt? Sie wollte ihm irgendetwas antworten, nickte aber stattdessen ein einziges Mal. Joshua zögerte. „Deinen Namen.“ Hana verstand nicht. „Du hast mir nie deinen Namen verraten.“ Was? Einen Augenblick schüttelte sie irritiert den Kopf. Dann begriff sie. Ihre Augen weiteten sich, ihr Herz setzte einen Schlag aus. Die Schlaufe entglitt ihren Fingern. Aber den Wind auf ihrer Haut spürte sie noch immer. „Ich heiße Hana.“, kam es ihr über die blassen Lippen, fast lautlos, fast erstickt. Aber Joshua verstand es. „Hana“, wiederholte er, kostete ihren Namen ganz leise auf der Zunge, mit einer Stimme aus Papier. Irgendwo tief unten wurde das Blechherz für immer von grauem Wasser verschluckt. Das letzte was Hana sah, war sein Lächeln. Joshuas ehrliches, trauriges Lächeln. Ende. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)