Dreaming Society von Gepo (Fortsetzung von Dead Society) ================================================================================ Kapitel 4: Am Altar ------------------- Fünf Jahre. Katsuya strich über die in Marmor gemeißelte Schrift, die Mokubas Namen, seine Lebensdaten und seine Geschichte für die Ewigkeit festhielt. Die letzten Zeilen fesselten seinen Blick. „Dieser junge, begabte, wundervolle Mensch starb in der Nacht des dreizehnten März als Opfer einer Jugendbande, die ihm eine Pulsschlagader durchschnitt und die Kehle zerfetzte.“, murmelte er kaum hörbar. Ein Unfall. Yamis sanfte Stimme durchschnitt seine Gedanken. Es war ein Unfall gewesen. Er hatte es nicht gewollt. Und er war dennoch Schuld. Er war schuldig am Tod von Mokuba Kaiba. Sein Atem verflachte sich, bis er kaum mehr als ein Hauch war, der über seine Nasenwände strich. Da war der Altar. Sein Blick fiel auf die davor knieende Figur. Seto. Sein Seto. Sein Geliebter. Er war es gewesen. Er hatte Mokuba ermordet. Er hatte diesem Mann den einzigen Grund zum Überleben genommen. Er hatte zu seiner Zerstörung beigetragen. Er und nur er. Immer nur er. War es richtig, dass Seto dort kniete und um Vergebung bat? Sollte nicht eigentlich er es sein, der sich auf den kalten Boden zu werfen hatte? Sollte nicht er an Noahs statt die Blumen austauschen? Sollte man nicht ihn hassen? Ohne es wirklich zu wollen oder befohlen zu haben trugen seine Füße ihn neben Seto, wo ihm die Beine weg klappten und ihn mit einem dumpfen Geräusch zu Boden brachten. Das Muster des kalten Marmors schwamm vor seinen Augen, während er die Hand hob und über die abgeflachte Kante des Altars strich. „Katsuya?“, fragte Seto besorgt, bevor sich eine Hand auf seine Schulter legte, „Hey... Katsuya...“, sie rüttelte ihn ein wenig, wodurch sein Kopf zur Seite fiel. Die blauen Augen hatten sich durch den Lichtmangel verdunkelt, die Pupillen waren erweitert. Die Brauen zusammengezogen, ein Spalt Luft zwischen den Lippen, das ganze Gesicht dem seinen so nahe- „Katsuya! Hey!“, eine zweite Hand griff ihn, drehte ihn zu dem Brünetten, „Was ist los?“ Warum hasste er ihn nicht? Warum schlug er ihn nicht? Warum ignorierte er ihn nicht? Er war doch Schuld. Er war doch die ganzen Probleme Schuld. Nur er war schuldig. Warum taten sie so lieb? „Was kann ich tun?“, fragte Noah und kniete sich neben den anderen. „Ruf Roland an, er soll Eiswürfel bringen. Schnell.“, wies Seto an, „Ich schaffe ihn erstmal hier heraus.“ Frische Luft umspülte den kalten Körper. Kalt. Es war kalt. Alles war so dumpf und kühl. So weit entfernt. In völliger Ruhe und Gleichgültigkeit beobachtete Katsuya, wie Seto ihn heraus trug, sich mit ihm auf einer Bank am Brunnen niederließ und den Kopf so auf seinem Schoß platzierte, dass Katsuya nur mit äußerster Anstrengung das Marmorbauwerk hätte erspähen können. Aber das war jetzt auch egal. Alles war egal. Es war alles nur ein dumpfes Nichts, das ihn umgab und im Schweben hielt. „Hier hinten!“, unterbrach Noahs Rufen den Schwall von Worten, der aus Setos Mund auf ihn prasselte. Über was sprach Seto? Er hatte kein einziges Wort vernommen, auch wenn die Lippen sich bewegt hatten. Seine Lider waren so schwer. Warum ließen sie ihn nicht einfach in Ruhe? Haut legte sich über seine Pupillen, sodass die Welt sich in ein verschwommenes Farbenmeer verwandelte. „Au!“, der junge Körper zuckte heftig zusammen, rollte von der Bank und robbte noch sicher einen Meter weiter von Seto weg, um ihn aus panischen Augen anzusehen, „Was... was war das denn?“ Warum zur Hölle hielt Seto einen Eiswürfel in der Hand? Katsuyas Hand schnellte zu seinem Hals, betatschte die kühle Stelle. Hatte Seto ihm gerade den Eiswürfel gegen den Hals gedrückt? Was zur Hölle sollte das? Etwas Nasses traf sein Handgelenk. Durchsichtig? Er strich über seine Wange. Tränen? Er weinte? Was war denn los mit ihm? „Katsuya?“, er fand Setos Blick, „Komm her, Kleiner.“, der Mann hatte den Eiswürfel weggelegt und breitete die Arme aus. Warum wollte er ihn denn jetzt im Arm haben? Gerade hatte er ihn doch verscheucht. Wieso machte Seto das mit ihm? Katsuya schluchzte. Was sollte er tun? Er verstand das alles nicht. „Okay, Katsuya, ich werde zu dir kommen. Bleib einfach sitzen. Ich komme.“, Seto ging vor der Bank in die Hocke und kam mit zwei langsamen Schritten heran. Was wollte er von ihm? Was sollte Katsuya jetzt tun? Warum geschah das hier? Seto griff unter seine Achseln, hob ihn in die Höhe, während er sich selbst mit einer Halbdrehung gegen den Brunnenrand lehnte und setzte ihn auf seinen Schoß. Eine Hand schlich sich an seinen Nacken heran und drückte ihn gegen den Älteren, sodass seine Wange auf dessen Schulter zu liegen kam. „Entspann dich...“, flüsterte Seto leise, „Ist okay... ganz ruhig...“, sein ganzer Arm legte sich über Katsuyas Kopf, nahm ihm Sicht und Gehör, „Komm zurück, wenn du wieder klar bist...“ Klar? War er denn betrunken? Nein, er hatte nichts angerührt. Aber warum war sein Kopf dann so chaotisch? Gedankenfetzen. Was machte er hier? Wo war er? Seto. Wer war Seto? Wieso wurde er festgehalten? „Katsuya? Kannst du mich hören, Katsuya?“ Wer war Katsuya? Er atmete tief durch. Er selbst war Katsuya. Man fragte nach ihm. „Ja?“ Der Arm wurde weg genommen, was ihm Blick auf einen großen, besorgten Mann mit wunderschönen Augen ließ. „Erkennst du mich?“ „Seto.“, Seto? Das war Seto? Woher wusste er das? Seto. Sein Lehrer. Sein Geliebter. Sein Mitbewohner. „Weißt du, wo wir sind?“ Katsuya hob den Kopf etwas. Ein Kiesweg. Ein Brunnen. Eine Bank. Büsche. Ein Mann mit türkisen Haaren und Augen. Mehr Büsche und Kies. Ein Haus aus Marmor. Mokuba. „Er ist tot.“, flüsterte Katsuya, den Blick an das Denkmal gefesselt. „Ja, das ist er.“, bestätigte der Ältere, der ihn mit beiden Armen an sich drückte. „Ich habe ihn umgebracht.“ „Ja...“, Seto schluckte, „Das hast du.“ „Was?“, flüsterte eine andere Stimme leise hinter ihnen. „Warum?“, fragte Katsuya unbeirrt. „Weil...“, Atem streifte seine Schulter, „Also...“, rhythmisch drückte die Brust gegen seine Seite, „Das war... es war ein Unfall.“, die Stimme war überzeugungslos. Die Gedanken klärten sich langsam. Er hatte Mokuba umgebracht. Es war kein Unfall. Er hatte es nicht gewollt, aber er hatte es getan. Das wusste er. Das wusste auch Seto. „Hasst du mich?“ „Nein.“, die Aussage hatte an Festigkeit gewonnen. „Warum?“ Der Brünette fasste wieder an seinen Hinterkopf und zog ihn zurück an seine Brust, bevor er nach vorne gebeugt flüsterte: „Weil ich dir vergeben habe.“ Vergeben? Vergeben für eine Tat, für die es kein Vergessen gab? Wie konnte Seto vergeben? Wie konnte er ihn ertragen? Wieso vergab er den Menschen, die sein Leben zerstörten? Er war so krank, so schrecklich krank und vergab dennoch den Schuldigen. Er vergab seinen Eltern, seinen Pflegern, seinen Lehrern, seinen Freunden – und ihm. Wie konnte er ihm vergeben? Ein Messer namens Schmerz fuhr durch sein Herz. Hatte Seto ihm wirklich vergeben? Gab er es nicht nur vor? Würde er ihn nicht genauso töten wie Gozaburo? Aber auch Gozaburo hatte er vergeben. Er hatte ihn getötet und ihm vergeben. Setos Vergeben hieß nicht, dass er mit den Erinnerungen klar kam. Es hieß nicht, dass er seinen Hass begrub. Oder hatte er ihn erst getötet und dann vergeben? Was musste man tun, um vergeben zu werden? Musste man dafür sterben? Alle, denen Seto vergeben hatte, waren tot... sollte er sterben? „Katsuya.“, die Hand hob sein Gesicht, streichelte sanft über seine Wange, „Bitte glaube mir. Ich meine es ernst. Ich habe dir vergeben. Und wenn Mokuba mir vergeben kann, wird er auch dir vergeben. Bitte vertraue mir. Dir wurde vergeben.“ „Wie kannst du nur?“, murmelte der Kleinere und verkrallte seine Hand in dem blauen Hemd. „Du bist ein wundervoller Mensch, Katsuya.“, ein Kuss wurde auf seine Stirn gesetzt, „Das macht es möglich. Glaube mir, bitte.“ Katsuya drückte sich gegen Seto. Er wollte es glauben. Er wollte es einfach nur glauben und vertrauen. Er wollte glauben, dass man ihn lieben konnte. Er wollte nicht sterben. „Seto?“, fragte Noah vorsichtig. „Ja, bitte?“, der Blauäugige behielt seinen Freund eng an sich gepresst. „Kann ich noch irgendwie helfen?“ „Gerade nicht, danke.“, eine Hand kraulte seinen Nacken, die andere hielt ihn sicher auf dem Schoß. „Würdest du mich vielleicht darüber aufklären, was hier los ist, bitte?“ „Ich habe nur einmal wieder viel zu sehr an mich gedacht. Und ich habe meinen Generalsfehler begangen und mal wieder mich auf andere projeziert. Katsuya kann sich noch nicht so gut einschätzen. Wir haben beide nicht daran gedacht, dass das hier auch ihn belasten kann.“, er konnte sich nicht einschätzen? Treffer, versenkt. „Er war Teil der Jugendbande, die vor fünf Jahren Mokuba getötet haben. Genau genommen war er sogar der, der ihm die tödliche Wunde versetzt hat. Es war keine Absicht und hat ihn wohl auch ziemlich traumatisiert.“, Seto seufzte. „Dann... dann ist er der Junge, nach dem du fünf Jahre gesucht hast?“ „Ja.“, er legte seinen Kopf mit der Wange auf Katsuyas blonden Schopf, „Deswegen hatte ich auch diesen heftigen Rückfall.“ „Aber jetzt bist du mit ihm zusammen?“, er konnte Noahs Gesicht zwar nicht sehen, aber der Stimme nach zu urteilen dürfte es tief in Falten liegen. „Irgendwie hat es sich so ergeben, ja.“ „Nun... normalerweise weißt du ja, was gut für dich ist...“, ein Seufzen, „Hattest du eigentlich jemals eine feste Beziehung?“ „Nein.“, gab Seto ehrlich zurück. „Hm...“, tiefes Durchatmen, „Nun, ich denke nicht, dass ich voreilig ein Urteil bilden sollte. Aber ich mache mir ehrlich gesagt Sorgen um dich.“ „Danke.“, durch seine Kopfhaut konnte er spüren, wie sich Setos Mund zu einem Lächeln verzog, „Du erlebst uns heute aber auch in einem denkbar schlechten Zustand. Es geht eigentlich nur noch schlimmer, wenn wir beide Streit haben.“ „Den hattet ihr letztens, oder?“, Noahs Stimme wirkte irgendwie ein wenig dunkler. „Wie kommst du darauf?“, der Arm um seine Hüfte übte mehr Druck aus. „Deine Arme.“, die Arme? „Du hast dich geschnitten.“ „Ja... letztes Wochenende bin ich vollkommen abgedreht.“, die Hand strich über Katsuyas Stirn zu seiner Schläfe, „Ich habe ihn hier gegen einen Türrahmen gescheppert. Und danach habe ich wegen der Schuldgefühle einen zweiten Anfall gehabt.“ Noah seufzte nur tief. „Katsuya?“, Seto lockerte die Umarmung ein wenig. Schon wieder aufhören? Dabei war es so schön in Setos Armen. Er wollte noch etwas da bleiben. Nur noch ein bisschen. Was also tun? Er attackierte seinen Freund mit einem herzerweichenden Hundeblick. „Anscheinend geht es dir besser.“, stellte dieser nur mit hochgezogenen Brauen und gesenkten Lidern fest, bevor er seine Umarmung wieder schloss, „Dieses Biest hat echt gemeine Techniken.“ „Welpenblick of doom?“, fragte Noah mit Amüsement in der Stimme nach. „Kannst du ja als Inspiration an die Entwicklungsabteilung geben. Ein Spiel mit einer Menge süßen Kindern und dem Welpenblick wird sicher gut ankommen.“, Seto konnte sicherlich alles gut vermarkten, wenn er wollte, „Übrigens wollte ich Katsuya in den Herbstferien mal die Firma zeigen. Geht das in Ordnung?“ „Sicher, kein Problem. Solange ihr keine solchen Anfälle in der Firma kriegt, bitte.“, warum? Würde das den Ablauf zu sehr stören? Wahrscheinlich. Aber er kriegte auf der Arbeit auch keine Anfälle, das würde sicher gehen. Er bekam sowieso selten welche. Wirklich problematisch war nur Seto. „Als würde ich Anfälle in der Öffentlichkeit kriegen.“, der Brünette warf den Kopf in den Nacken, „Tz.“ „Hey, das ist mein Text.“, nörgelte Katsuya. „Du machst gerade einen auf labil, also hast du hier nicht rumzumosern.“, meinte Seto nur von oben herab. „Du bist ganz schön eingebildet, Drache.“ „Ich bin schließlich auch ein Genie.“, das amüsierte Schmunzeln auf seinen Lippen strafte seine ansonsten arrogante Haltung allerdings Lügen, „Ich bin nicht eingebildet, ich bin einfach zu gebildet für den Rest der Menschheit.“ „Und ich kann dir nicht einmal erzählen, dass du zurück auf den Teppich kommen sollst.“, Katsuya seufzte, „Zum einen hast du Recht und zum anderen haben wir hier keinen Teppich.“ Noah versteckte sein Schmunzeln hinter seiner Faust und übertönte sein Kichern mit einem Räuspern. „Wollen wir vielleicht ins Haus zurückkehren?“, sein Blick wurde durch Setos Anblick ein wenig getrübt, „Oder zu irgendeinem Ort, der keinen von euch beiden labilisiert?“ „Spazieren gehen ist nicht drin, oder?“, erkundigte sich Katsuya. „Tut mir Leid.“, Noah senkte den Blick, „Das machen meine Beine nicht mit.“ „Würdest du dich sehr beschämt fühlen, wenn wir dich im Rollstuhl durch den Park fahren?“, fragte Seto vorsichtig. Hm... hörte sich schon ein wenig beschämend an, wenn man eigentlich allein laufen und sicher auch allein Rollstuhl fahren konnte. Aber auf Kies war das wahrscheinlich auch nicht gerade leicht. „Keineswegs. Hört sich für mich nach einem guten Kompromiss an.“ Anscheinend hatte sich der Geschäftsmann doch relativ gut mit seinen Einschränkungen angefreundet. Katsuya wäre das peinlich gewesen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)