Alles wird sich ändern von DoctorMcCoy (2. Platz bei Fanfiktion/Originalstory Wettbewerb) ================================================================================ Kapitel 1: Wenn Schnee fällt... ------------------------------- So, hier ist das erste Kapitel zu meiner OF. Ich hoffe doch, dass es trotz der etwas anderen Jahreszeit gefallen wird. Über Kommentare würde ich mich sehr freuen. Viel Spaß beim Lesen. LG Lady_Sharif Wenn Schnee fällt... Kennt ihr dieses Gefühl? Wenn man denkt, es könnte gar nicht mehr besser werden, weil alles schon perfekt ist? Für mich läuft es im Leben gerade genau so. Ich habe den besten Freund, den man sich nur vorstellen kann. Er sieht gut aus, er ist liebenswert und freundlich. Dazu kommt noch, dass er sehr beliebt ist, weil er der Captain des Basketballteams ist. Sein Name ist Chris und ich könnte euch jetzt noch viel mehr von ihm erzählen, aber ich will euch ja nicht langweilen. Außerdem könnte es in der Schule gar nicht besser laufen. Und es ist Winter. Diese Jahreszeit ist für mich die beste im ganzen Jahr. Natürlich bin ich auch im Winter geboren, so wie alle Kinder, die diese kalte Jahreszeit lieben. Ach ja, übrigens, mein Name ist Catherine. Meine Freunde nennen mich jedoch immer nur Cat. Sie meinen, manchmal wäre ich wie eine Katze. Dieser Spitzname hat sich dann irgendwann zu einem Kosenamen entwickelt und jetzt nennt mich jeder so, sogar meine Familie. Das Schwierigste für mich ist es, morgens aus dem Bett zu kommen. Ich bin ein totaler Morgenmuffel. Vielleicht denken auch deswegen meine Freunde, dass ich eine Katze bin. Auf jeden Fall brauche ich immer Stunden. Ich meine, das könnt ihr doch gewiss verstehen. So ein warmes, kuscheliges Bett ist doch viel schöner, als zur Schule zu gehen. Aber heute hatte ich kein Problem damit. Kaum hörte ich den Wecker klingeln, sprang ich aus dem Bett. Denn dieser mir wohlvertraute Geruch lag in der Luft und ich wusste direkt, um was es sich handelte. Ich stürmte also zum Fenster und blickte hinaus. Es war so wunderschön. Eine weiße Landschaft erstreckte sich vor mir. Die Dächer, Straßen und Bäume waren alle von zentimeterhohem Schnee bedeckt. Auf meinen Lippen breitete sich ein Grinsen aus. Bei dem Anblick musste ich einfach lächeln. Ich liebte Schnee und das war der erste in diesem Jahr. Das hieß, heute Nachmittag würde erst einmal ein Schneemann gebaut. Selbst der Gedanke, dass ich davor noch einen ganzen Vormittag Schule aushalten musste, konnte meine Stimmung nicht trüben. Ich glaube, in dem Moment hätte mich so gut wie nichts traurig stimmen können. Während ich da am Fenster stehe, kann ich euch schnell berichten, wie mein Zimmer so aussieht. Also eigentlich ist es nichts Besonderes, sogar ziemlich klein, wenn ich ehrlich bin, aber ich fühle mich hier drin wohl und das ist ja wohl die Hauptsache. Also kommen wir zurück zur Beschreibung. In der einen Ecke steht mein Bett direkt neben der Tür, ganz gewöhnlich: ein bisschen Holz, ein Lattenrost, eine Matratze. Das einzige, was einen persönlichen Touch hat, ist die Bettdecke. Eine weiße Schneelandschaft ist darauf zu sehen. Ich liebe diesen Bettbezug im Winter und wenn ich ehrlich bin, auch den ganzen Rest des Jahres. Über dem Bett hängt ein großes Bild. Eigentlich kann ich mit Kunst so überhaupt nichts anfangen, aber das hier hat meine Schwester mir zum Geburtstag geschenkt und seitdem hängt es dort. Und so schlimm sieht es auch nicht aus. Ich glaube sogar, dass sie ganz gut malen kann. Neben dem Bett befindet sich ein kleiner Nachtschrank, auf dem ein Wecker und eine Lampe stehen. Außerdem liegt da noch mein Buch, was ich derzeit lese. Für mehr Sachen wäre dort auch kein Platz. Gegenüber dem Bett steht mein Schreibtisch und ist auch das Erste, was man sieht, wenn man mein Zimmer betritt. Dieser ist nie hundertprozentig aufgeräumt. Immer gibt es irgendetwas, was nicht an seinem Platz liegt. Heute ist es zum Beispiel meine neue CD von Linkin Park, die eigentlich in das CD-Regal gehört. Normalerweise steht dort ein Computer, meine Stiftdose und an der Seite sind ordentlich die Schulbücher aufgestellt. Dann gibt es noch den Kleiderschrank, der sich hinter der Tür versteckt, was auch gut so ist, denn eigentlich ist er nicht besonders schön, eher altmodisch: Groß, aus Holz und mehr sage ich nicht dazu. So, jetzt haben wir so ziemlich mein Zimmer durch. Außer Binkley, meine Stoffkatze, die es sich gerade auf meinen Bett gemütlich gemacht hat. Seit ich diesen Spitznamen habe, bekomme ich sehr viel geschenkt, was mit Katzen zu tun hat. Glück ist da nur, dass ich Katzen auch wirklich gern habe. Sonst wüsste ich wohl mit dem meisten Zeugs gar nichts anzufangen. So, mein Zimmer, wie schon gesagt, klein und schlussfolgernd passt auch nicht viel hinein. Aber es ist mein kleines Paradies und ich möchte es nicht missen. Chris gefällt es übrigens auch. Aber kommen wir endlich zurück zur Geschichte, zur Erinnerung: Ich stehe immer noch am Fenster. Nur mit höchster Überwindung konnte ich mich vom Fenster loseisen. Am liebsten hätte ich dort noch wer-weiß-wie-lange verbracht. Ich holte schnell meine Kleidung aus dem Schrank und zog mich um. Noch ein kurzer Besuch im Bad und schon war ich fertig. Nun konnte es mit der zweiten Phase weitergehen. Wie jedes Jahr beim ersten Schnee gab es bei mir ein bestimmtes Ritual, was ich durchspielte. Die erste Phase bestand darin, am Fenster zu stehen und sich zu freuen, dass es endlich geschneit hat und natürlich die wunderschöne Welt zu genießen. Die zweite Phase war zwar nicht so melancholisch, doch um einiges spaßiger. Ich ging aus dem Bad, an meinem Zimmer vorbei und schlich auf Zehenspitzen weiter zum nächsten Zimmer. Ganz langsam und leise drückte ich die Türklinke hinunter. Ich riss die Tür auf und schrie: „Es hat geschneit!“ Ein Gemurmel drang unter der Bettdecke hervor: „Ist mir doch egal.“ Meine Schwester war genau so ein Morgenmuffel, wie ich es war. Doch leider war sie ein Sommerkind und konnte schlussfolgernd nichts mit der Schönheit von Schnee anfangen. Doch ich ließ noch nicht locker. Ich öffnete das Fenster, nahm etwas Schnee vom Fensterbrett, formte es zu einem Ball und begrüßte meine Schwester damit. Man dürfte ja eigentlich meinen, dass sie es mittlerweile wusste, da ich dies ja jedes Jahr tat, doch irgendwie schien sie es immer wieder zu vergessen. Aber so war es umso spaßiger. Kaum hatte der Schneeball ihr Gesicht getroffen, schrie sie auf, was mir ein Lächeln auf Gesicht zauberte. Es gab doch nichts Besseres, als dieses wohlklingende Geräusch am Morgen zu hören. „Bist du denn des Wahnsinns?“, protestierte sie zu meinen Vergnügen. „Eigentlich nicht, Lucy. Ich wollte dich nur wecken. Sonst kommst du noch zu spät zur Schule“, meinte ich in einem gespielt besorgten Ton. Ich schenkte ihr noch ein letztes Lächeln und verließ ihr Zimmer. Ich musste ja immerhin noch den Rest des Hauses die frohe Botschaft vermitteln. Phase zwei war noch nicht abgeschlossen… „Guten Morgen, Schatz. Hast du gut geschlafen?“, begrüßte mich meine Mutter, als ich in die Küche kam. Das war der Standardsatz, den meine Mutter jeden Morgen von sich gab. Meist bekam sie nur ein genervtes „Ja“ von mir und meiner Schwester, doch heute würde das anders laufen. Aber bevor ich überhaupt meine gute Laune hinausposaunen konnte, kam meine Mutter mir zuvor: „Ich habe es schon gesehen, Cat. Es hat geschneit. Und deine Schwester habe ich auch schon gehört. Du solltest das wirklich mal lassen. Jedes Jahr das Gleiche. Irgendwann wird sie sich dafür rächen, das weißt du schon, oder?“ Meine Mutter mischte sich nie in die Streitereien von uns beiden ein. Sie meinte, dass wir alt genug wären, um das selber zu regeln. Aber für einen kleinen Ratschlag war sie sich auch nicht zu fein. „Ich weiß“, sagte ich etwas genervt, aber wirklich nur etwas, weil ich immer noch fröhlich war. „Aber es ist doch ihre Schuld, wenn sie vergisst, was ich jedes Jahr mache. Also ich meine, sie hat einfach ein total schlechtes Gedächtnis, das muss man wirklich mal sagen. Ich verstehe wirklich nicht, wie sie so gut in der Schule sein kann, wenn sie solche Kleinigkeiten immer vergisst.“ Ich hörte mit meinen Vortrag auf, da mein Vater in die Küche kam. Er hatte wie üblich einen Anzug an und war gerade dabei, seine Krawatte zu binden, wobei er immer noch Schwierigkeiten hatte. Dabei trug er bestimmt jetzt schon zehn Jahre eine Krawatte, wenn er zur Arbeit ging. Mein Vater war nämlich ein sehr hohes Tier bei irgendeiner Firma. Eigentlich hatte mich das nie so genau interessiert. Ich wusste halt nur, dass er an seinem Arbeitsplatz viel zu sagen hatte. Alles tanzte nach seiner Pfeife und dann konnte er sich nicht einmal die Krawatte richtig binden. „Komm her, Dad. Ich helfe dir“, meinte ich und band ihm die schwarze Krawatte. Nebenbei erwähnte ich dann noch: „Hast du schon gesehen? Letzte Nacht hat es geschneit.“ „Ja, habe ich gesehen. Ich hoffe nur, dass es nicht zu glatt draußen ist.“ Er schaute besorgt aus dem Küchenfenster auf die Straße. „Vielen Dank, Cat“, meinte er noch, als ich mich dann von ihm entfernte. Mein Vater dachte wirklich nur immer praktisch. Schnee bedeutete für ihn nichts anderes als Chaos auf den Straßen. Die wenigsten Leute sahen es heute noch als das, was es eigentlich war: nämlich Schnee. Und Schnee bedeutete Spaß, Freude, Winter und Weihnachten. Ich glaube, dass man es nach und nach einfach verliert, sich darüber zu freuen wie ein Kind. Daher war ich sehr froh, dass mir diese Gabe geblieben ist. Jetzt gab es nur noch ein Familienmitglied, dem ich Bescheid sagen musste und dann wäre die zweite Phase auch endlich beendet. Ich verließ die Küche und ging ins Wohnzimmer. Ich schaute mich nicht einmal um, sondern steuerte sofort auf die Terassentür zu. Dann öffnete ich sie. Komischerweise geschah nicht das, was ich erwartete. Es passierte nämlich nichts. Deshalb drehte ich mich wieder um und rief: „Nancy!“ Noch immer keine Reaktion. „Nancy“, versuchte ich es noch einmal. „Komm her. Sieht mal, draußen liegt Schnee.“ Nancy war wohl das einzige Familienmitglied, das sich über Schnee genauso freute wie ich. Und endlich kam sie auch. Ich kniete mich hin und kraulte ihr über den Kopf, als sie sich neben mich setzte. Nancy war ein fünf Jahre alter Golden Retriever und bestimmt das netteste Familienmitglied, was ich hatte. Sie war nicht so gemein wie meine Schwester, nicht so nervig wie meine Mutter und bestimmt auch nicht so langweilig wie mein Vater. Jetzt denkt aber bloß nicht, dass ich meine Familie nicht liebe, denn das tue ich. Aber manchmal geht sie einen schon ein wenig auf die Nerven und dann ist es einfach schön, mit den Hund spazieren gehen zu können und den Stress aus dem Haus zu entfliehen. Nancy blieb nicht lange sitzen, denn sie bemerkte, dass die Tür zum Garten offen stand. Sie rauschte nur noch an mir vorbei und tobte sich im Garten aus. Sie schnappte nach dem Schnee, als ob es ihre Beute wäre und wälzte sich in dem weißen Flocken. Ich liebte diesen Anblick. Es war einfach zu süß. „Cat, jetzt komm endlich. Das Frühstück ist fertig“, schallte die Stimme meiner Mutter zu mir. Genau genommen hatte ich kaum Hunger, aber meine Mutter war sehr penibel, wenn es ums Frühstück ging, nach dem Motto „die wichtigste Mahlzeit des Tages“. Ich rief Nancy hinein, die auch sehr unglücklich darüber wirkte, und schlurfte zurück in die Küche. Das tat ich, nebenbei erwähnt, sehr gerne. Zu Hause schlurfte ich fast nur die ganze Zeit, was Lucy und meinen Vater richtig aufregte. Wahrscheinlich tat ich es deswegen auch so gerne. Lucy hatte uns mittlerweile auch die Ehre erwiesen und saß am Frühstückstisch. Bei meiner Mutter musste dieser immer bis zu den Ecken voll stehen. Es durfte nichts fehlen. Eine schreckliche Angewohnheit von ihr und folglich gab es jeden Morgen die Qual der Wahl. Was würdet ihr denn essen, wenn von Rührei, Bratkartoffeln, Pancakes bis hin zu normalen Brot oder Brötchen mit Aufschnitt alles auf den Tisch steht? Für mich, die sich bei so was sowieso schon schwer tat, nur eine unnötige Qual. „Was möchtest du denn haben, Cat?“, fragte meine Mutter, als ich mir immer noch nichts auf den Teller gepackte hatte. Die perfekte Gelegenheit für mich. Ich reichte ihr meinen Teller und meinte: „Such du heute mal für mich aus. Mir ist es egal.“ Typisch Mutter, nahm sie meinen Teller entgegen und füllte ihn bis zum Rand mit allen möglichen Sachen. Ich achtete gar nicht darauf, was sie mir alles drauf tat, und auch gar nicht erst, was ich alles aß. Dafür war ich viel zu sehr mit den Gedanken beschäftigt, dass mich Chris gleich abholen würde. Es war der erste gemeinsame Schnee für uns beide und ich freute mich schon riesig darauf. Wie er wohl zu Schnee stand? Das hatte ich ihn noch gar nicht gefragt, was wirklich sehr eigenartig war, weil ich schon seit Wochen an gar nichts mehr anderes denken konnte. Auf jeden Fall leerte ich meinen Teller, damit Mum zufrieden war und wartete ungeduldig auf die Türklingel. Und dann kam endlich dieses befreiende Geräusch. Ich sprang auf, rannte aus der Küche, zog meine Jacke an, nahm meine Schultasche und wollte gerade aus der Tür raus, als mir einfiel, dass ich ja noch gar nicht Tschüss gesagt hatte. Ich streckte noch mal kurz meinen Kopf zur Küche rein, meinte: „Bin dann mal weg. Könnte vielleicht heute etwas später werden.“ und war auch schon wieder weg. Früher war ich immer mit meinen Freunden zur Schule gegangen. Mittlerweile wurde ich von Chris abgeholt, was auch um einiges besser war. Dafür ging ich meist nach der Schule mit den Mädels nach Hause. Man brauchte ja auch noch die Zeit, um ein bisschen über Jungs zu quatschen und so weiter. Aber jetzt kommen wir mal wieder zu Chris. Ich machte die Tür auf und da stand er. Mit seinen unglaublichen Lächeln, der perfekten Frisur und den coolsten Klamotten weit und breit. Wie konnte ein Junge nur so gut aussehen? Zur näheren Erläuterung: strahlend blaue Augen, ein harmonisch proportioniertes Gesicht, kurze hochgegelte, braune Haare. Er trug eine einfach blaue Jeans, die an ihm einfach nur göttlich aussah, und ein Shirt, das in etwa den gleichen Status verdiente wie die Jeans. Die Lederjacke, die er darüber an hatte, liebte ich auch. Auf meiner Liebesskala kam sie an dritter Stelle, direkt hinter Chris und Schnee. Sie sah einfach umwerfend aus, genau wie er. Nicht, dass ihr jetzt denkt, dass ich nur in ihn verliebt bin, weil er so gut aussieht. Das ist nur ein zusätzlicher Bonus zu dem ganzen Rest. Natürlich mochte ich ihn nur wegen seiner inneren Werte, oder zumindest größtenteils. Er war wirklich liebenswert, freundlich, hilfsbereit, überhaupt nicht egoistisch und er setzt sich immer für die Schwächeren ein. Einen besseren Menschen als ihn kann man überhaupt nicht finden, oder zumindest würde das sehr schwer werden. Als ich ihn sah, wurde das Lächeln auf meinem Gesicht noch breiter, wenn das überhaupt noch möglich war. Ich nuschelte ein klägliches „Guten Morgen“ und küsste ihn so, als ob ich ihn seit Tagen nicht mehr gesehen hätte. So wie jeden Morgen, denn schon nur die Nacht von ihm getrennt zu sein, war wirklich kaum auszuhalten. Aber meine Mutter verbot es mir in der Woche bei ihm zu schlafen. So musste halt dieses morgendliche Ritual her und das war wirklich nicht übel. „Guten Morgen, Kitty Cat“, sagte Chris, als unsere Lippen sich endlich wieder voneinander lösten. Wenn ihr mich fragt, war das jedoch immer noch zu früh. „Hast du gesehen? Der erste Schnee ist endlich gefallen.“ Er lächelte mir zu. Mein Gott, Chris war einfach perfekt. Kapitel 2: Der Neue ------------------- Der Neue Der Schnee knisterte unter meinen Schuhen. Ich streckte meine Arme seitlich aus wie bei einem Hochseilakt und genoss jeden einzelnen Schritt. Ich setzte meine Ferse auf und rollte ganz vorsichtig meinen Fuß ab. Für jeden Millimeter, den ich mich bewegte, gab es dieses wunderbare Knistern als Belohnung. Ich strahlte über das ganze Gesicht. „Jetzt komm endlich, Cat. Wenn du so weitermachst, kommen wir noch zu spät zur Schule. Ich kann mir aber Nachsitzen nicht leisten. Also beeil‘ dich.“ Selbst dieser kleine Vorwurf klang himmlisch, wenn er es aussprach. Und er hatte ja auch Recht. Wir würden zu spät zur Schule kommen. Ich hatte mich halt hinreißen lassen. „Tut mir leid, Chris. Du hast ja Recht“, entschuldigte ich mich. „Ich liebe dieses Knirschen und wollte es genießen. Aber jetzt sind wir spät dran. Lass uns einfach laufen, dann müssten wir es noch schaffen. Und wenn wir immer noch zu spät kommen, werde ich die volle Verantwortung auf mich ziehen. Ich werde dem Lehrer sagen, dass ich verrücktes Mädchen mit meinem Schnee-Wahnsinn ganz alleine daran Schuld bin, dass wir zu spät sind. Und dass du, als edler Ritter, mich natürlich nicht alleine lassen konntest. Immerhin hätte ich ja ausrutschen und mir den Fuß verletzten können.“ Ich lächelte ihn an, was er erwiderte, nahm seine Hand und lief los. Leider war ich nur kurz die erste, denn er überholte mich schon in der nächsten Sekunde. Tja, das hat man davon, wenn man mit einem Basketball-Champion zusammen ist. „Ein kleines Wettrennen gefällig?“, meinte er, als er auch schon meine Hand losließ. Wenn Chris die Gelegenheit dazu bekam, ein kleines Wettrennen zu veranstalten, ließ er sich dies nicht nehmen. Dann war er immer Feuer und Flamme. Er liebte es, sich mit anderen zu messen. Und zu meinem Leidwesen liebte er es auch, sich mit mir zu messen. Meist zog ich dabei immer den Kürzeren, da ich in Sport eine ziemliche Niete war. Aber es machte ihm Spaß, und wenn es ihm Spaß machte, stimmte es mich auch glücklich. Auch wenn ich nicht besonders schnell war, gab ich mir die größte Mühe. Chris war ja auch so gütig und machte extra ein bisschen langsamer. Er wusste, dass ich nicht die geringste Chance hatte, aber er wollte mich auch nicht haushoch verlieren lassen. Da sah man mal, wie zuvorkommend er war. Er wartete am Eingang der Schule auf mich. Sein bezauberndes Lächeln empfing mich. Was sehr unfair war, war die Tatsache, dass er überhaupt nicht außer Atem war und ich kein einziges Wort mehr herausbrachte. „Wir sind wirklich noch rechtzeitig angekommen. Sehr gut“, stellte er zufrieden fest. Mehr als ein Nicken brachte ich jedoch nicht zustande. Er hielt mir die Tür auf, wir gingen hinein und die Treppe hinauf. Oben angekommen, blieben wir stehen. Er gab mir einen liebevollen Kuss auf die Stirn. „Viel Spaß beim Unterricht“, flüsterte er mir ins Ohr. Ich seufzte. Leider hatten wir beide in der ersten Stunde getrennt Unterricht. Er hatte Physik und ich hatte Mathe. Was für eine ungerechte Welt. Doch durch so was musste man halt durch. Ich winkte ihm noch einmal und wandte mich dann nach rechts. Zum Glück jedoch fand ich Mathe sehr interessant, wodurch der Unterricht auch schneller vorüberging. „Bis später“, sagte ich noch und verschwand in den leeren Gang. Zwar war ich noch nicht zu spät zum Unterricht, jedoch war es bereits die Zeit, dass alle Schüler schon in den Klassen saßen. Und meine Klasse machte da keine Ausnahme. Mit Erleichtern stellte ich fest, dass unser Lehrer wirklich noch nicht da war, und setzte mich auf meinen Platz. Sofort beugte sich meine Freundin Jenny zu mir rüber. Sie hatte mal wieder diesen Ich-weiß-was-du-getrieben-hast-Blick drauf. „Es ist wirklich nicht so, wie du denkst“, versuchte ich mich zu verteidigen und hob abwehrend meine Hände. „Wir sind nur zu spät, weil-“ „Jaja, ist schon okay. Ich glaub dir ja“, unterbrach sie mich. Ihr Blick verriet mir aber, dass sie mir ganz und gar nicht glaubte und dass sie sich ihren Teil dachte, zumindest nach dem Lächeln zu schließen, was sich gerade auf ihrem Gesicht ausbreitete. Von einer Sekunde auf die andere schaltete Jenny um. Das war einer ihrer Spezialitäten. Gerade sprach sie noch von Hasen und im nächsten Moment konnte sie von Bananen erzählen. In diesem Fall dachte sie gerade über Chris und mich nach und setzte dann einen hoch interessierten, reporterähnlichen Blick auf. Hatte ich schon erwähnt, dass sie Leiterin der Schülerzeitung war? Dementsprechend konnte sie ihre Neugier für neue Storys nie ablegen. Manchmal war das auch ein wenig lästig. Aber solange das sich nicht auf mich ausbreitete, war es in Ordnung. Nun kam sie mir verschwörerisch nahe, so nahe, dass nur noch ich sie hören konnte. „Hast du es schon gehört?“, fragte sie mich leise. Ja, klar hatte ich es schon gehört und gesehen und gespürt. Der Schnee war nun mal nicht zu übersehen. Ich schüttelte jedoch den Kopf, denn das war es bestimmt nicht, was Jenny mir mitteilen wollte. „Joe hat mit Natalie Schluss gemacht. Gestern Nachmittag im Park. Jeder, der vorbeikam, konnte es mitkriegen, denn Natalie hat eine ziemliche Show abgezogen. Sie hat ihm zugeschrien, dass er das nicht machen könnte. Dass sie es wäre, die sich solche Mühe gegeben hätte, dass die Beziehung bestehen bleibt und so weiter und so fort. Ich finde, sie hat es verdient. Diese Tussi schaut doch jedem Typen hinterher und Joe hat sich das schon viel zu lange gefallen lassen. Das Einzige, was schade daran ist, ist, dass ich gestern nicht im Park war. Das wäre eine großartige Story geworden.“ Ich schaute sie etwas schräg an, denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie keine Story daraus machte. „Es wäre eine großartige Story geworden, wenn ich vor Ort gewesen wäre“, ergänzte sie, als sie meinen Gesichtsausdruck bemerkte. „So kann ich die Fakten nur aus zweiter Hand erfahren und das ist nichts im Vergleich dazu, wenn ich live vor Ort gewesen wäre. So wird die Story wahrscheinlich nur toll.“ Um das zu verstehen, sollte ich euch vielleicht noch erzählen, dass Jennys Storys alle mindestens toll sind. Das ist bei ihr sozusagen das Schlechteste. Ich weiß, dass klang wirklich ein bisschen arrogant, aber sonst war sie wirklich ziemlich nett. Ich meine, jeder hat doch seine kleinen Macken. Jennys Macke war halt, dass sie dachte, sie wäre die Beste. Aber zu ihrer Verteidigung, sie war wirklich gut. In der Schülerzeitung waren ihre Artikel immer die Besten, auch wenn der Inhalt manchmal ein wenig gemein war. „Der Artikel wird bestimmt super und Natalie wird sich auf jeden Fall eine Woche lang nicht in der Öffentlichkeit blicken lassen.“ Ich zwinkerte ihr zu. Ein kleines Ritual von uns, fragt lieber nicht, wie das zustande gekommen ist. Bevor ich sie jedoch noch weiter aufheitern konnte, kam unser Lehrer herein. Ein kleiner, pummeliger Kerl mit Halbglatze und einer Brille auf der Nase. Aber von Mathematik verstand er wirklich etwas. Kurz hinter ihm lief ein Junge, den ich zum ersten Mal sah. Er musste wohl neu sein. So war es auch. Kaum war Mr. Henderson hinter seinem Pult angekommen, sagte er auch schon: „Dies ist ab heute ein neuer Mitschüler von euch. Ich erwarte, dass ihr ihn gebührend empfangt. Möchtest du noch etwas von dir erzählen?“ Er wandte sich dem Jungen zu. Dieser sah nicht besonders begeistert aus, aber ihm war wohl klar, dass er da nicht drumherum kam. „Natürlich“, meinte er mit einem strahlenden Lächeln zu Mr. Henderson gerichtet. „Mein Name ist Jack Newsome. Ich bin hierher gezogen, weil mein Vater versetzt wurde. Eigentlich mag ich Schule nicht…“ Ein paar Schüler fingen an zu lachen. Jack schien das eingeplant zu haben, denn er hielt kurz inne. Als es langsam leiser wurde, fuhr er fort: „… aber da ich nun mal die Pflicht habe, zur Schule zu gehen, bin ich jetzt hier und werde mich mit euch durch den Mathematikunterricht quälen.“ Mit einem kurzen Nicken zum Lehrer, beendete er seinen Vortrag. Na toll, nun hatten wir einen neuen Klassenclown. Besser hätte der Tag auch nicht anfangen können. Mr. Henderson sah ein bisschen entsetzt aus, so schien es mir jedenfalls. „Äh, ja, danke, Mister Newsome. Sie können sich dann setzten“, sagte er mit ziemlicher Überwindung. Er sah sich im Klassenzimmer um. „Neben Miss Hagan ist noch ein Platz frei“ Das war übrigens ich. Ich glaube, dass ich meinen Nachnamen noch gar nicht erwähnt hatte. Na ja, egal, jetzt wisst ihr es ja. Jack schaute sich um, da Mr. Henderson in seiner Verpeiltheit vergessen hatte, ihm zu zeigen, wer „Miss Hagan“ ist. Es gab nur zwei freie Plätze im ganzen Raum, einmal neben mir und Ronny, unserem Gorilla in der Klasse. Jack entschied sich dafür, dass Ronny keinesfalls mit „Miss Hagan“ gemeint sein konnte, und steuerte auf den Platz neben mir zu. Jenny beugte sich mal wieder zu mir rüber. „Was meinst du? Der Typ sieht doch gar nicht schlecht aus, oder? Und witzig scheint er ja auch zu sein.“ Na ja, so gut sah der Typ nicht aus. Eher durchschnittlich, das Übliche eben. Und witzig? Ich hielt ihn eher für die Sorte Mensch, die immer mit einem coolen Spruch auf den Lippen rumliefen, aber wo eigentlich nichts dahinter war. Zumindest war dies mein erster Eindruck von Jack. Aber natürlich würde ich das so nie meiner Freundin sagen, und ganz bestimmt nicht, wenn sie an ihm interessiert war. Ich rückte noch ein Stück näher, denn Jack wäre bestimmt bald auf seinem neuen Platz angekommen und er sollte dieses Gespräch nicht direkt mitbekommen. „Du hast Recht“, flüsterte ich Jenny zu. „Er sieht wirklich gar nicht schlecht aus. Vielleicht ist er noch Single.“ Mit diesem Satz hatte ich es geschafft, dass sich für den Rest der Stunde ein Dauergrinsen bei Jenny eingesetzt hatte. Sie war wohl jetzt im siebten Himmel, nur bei dem Gedanken, dass sie vielleicht Chancen bei Jack haben könnte. Ich würde ihr auf gar keinen Fall in den Weg kommen. Aber ich konnte mir gut vorstellen, dass sich Natalie für den zukünftigen Bericht noch rächen würde, und wenn sie herausfand, dass Jenny der neue Typ gefiel, war es klar, in welche Richtung die Rache gehen würde. Jedoch hatte ich nicht länger Zeit, mir darüber Gedanken zu machen, denn gerade glitt Jack elegant neben mir auf seinen Stuhl. „Hi, ich bin Jack.“ Ja, das hatte ich schon mitgekriegt. Hielt er mich etwa für beschränkt? Ich konnte ja wohl zuhören, wenn er was sagte. Natürlich hatte ich ihm das nicht ins Gesicht gesagt. Wäre ja ein toller Start mit dem neuen Schüler geworden. Stattdessen setzte ich ein gezwungenes Lächeln auf und stellte mich meinerseits vor: „Hi, mein Name ist Cat.“ „Oh, ein Kätzchen. Da muss ich aber aufpassen, dass du mich nicht kratzt.“ Wie schon gesagt, ein Sprücheklopfer. Und ich glaube, dass dieser Typ sich für supercool hielt. Na ja, wirklich glauben nicht, ich war mir sogar relativ sicher. Sein schelmisches Grinsen, was auch noch auf den Satz folgte, ließ mich keine weitere Sekunde mehr zweifeln. Die meisten Mädchen sprangen ja auf so etwas an, wie man an Jenny sehr gut sehen konnte. Aber Mädchen wie ich, die einen tollen Freund hatten, ließ das Ganze so ziemlich kalt. Außerdem konnte ich solche oberflächlichen Typen überhaupt nicht ausstehen. Die dachten doch immer nur an das Eine. Jetzt hieß es nur noch, den Rest der Stunde neben diesem Blödmann aushalten. Zum Glück, wie mir schien, erkannte Mr. Henderson meine Notlage oder ich hatte einfach nur Glück. Denn er forderte mich auf, meine Hausaufgaben an der Tafel vorzurechnen. So konnte ich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Ich kam von diesem Jack weg und konnte gleichzeitig mit meinen richtigen Hausaufgaben glänzen und so einen Pluspunkt gewinnen. Danach bildeten wir Gruppen, um etwas Neues zu erarbeiten. Natürlich musste Jack mies in Mathe sein, sodass Mr. Henderson ihn mit der Besten aus der Klasse zusammensteckte, meiner Wenigkeit. Wieso mussten es denn auch ausgerechnet Zweiergruppen sein? Wenn es wenigstens Vierergruppen gewesen wären, dann hätte Jack mich bestimmt nicht so nerven können. Aber das Schicksal meinte es wohl nicht gut mit mir. Während ich mich auf den Beweis konzentrieren wollte, laberte mich Jack nur voll. Er fragte mich, wo ich wohnte, was ich für Hobbys hatte und noch anderes Zeug. Ich war sehr erstaunt, wie viele Fragen man in einer Minute stellen konnte. So schnell wie sich sein Mundwerk bewegte, konnte man fast meinen, dass er ein Wasserfall sei. Ich aber wollte mich endlichen mit den Beweisen für die Integrale beschäftigen. „Also sieh mal“, fing ich an. „Wenn du jetzt ein Integral von der Funktion f plus der Funktion g hast, kannst du auch sagen, das Integral von der Funktion f plus-“ Ich war gerade dabei den Beweis aufzuschreiben, als Jack meine Hand nahm. „Das ist doch langweilig. Lass uns lieber noch ein bisschen reden. Ich möchte noch mehr von dir erfahren.“ Er zwinkerte mir zu. Was hatte er denn schon von mir erfahren? Ich hatte doch auf keine einzige Frage geantwortet. Eigentlich kannte er nur meinen Namen. Hatte er vielleicht sogar Interesse an mir? Das wäre wirklich nicht gut. Ich meine, ich hatte doch schon einen Freund und diesen wollte ich auf keinen Fall ersetzen und bestimmt nicht durch diesen Jack. Aber vielleicht wollte er ja auch einfach nur höflich sein oder einen neuen Freund finden. Immerhin war er neu an der Schule und kannte keinen einzigen. Und ich war sein erster Sitzpartner. Da war es doch völlig normal, dass er sich ein wenig mit mir unterhielt, oder? Was denkt ihr darüber? Ja, ich weiß, ich war mir da auch nicht so hundertprozentig sicher. Ich war mir sogar sehr, sehr unsicher. Deshalb versuchte ich einfach höflich zu sein – obwohl wir eigentlich Mathe machen sollten, aber das wollte Jack ja nicht hören. „Was willst du denn wissen?“ Ich setzte mein nettestes Lächeln auf, und wie mir selbst auffiel, war dies nicht gestellt. Es war ein ehrliches Lächeln. Ich dachte in dem Moment, dass ich Jack vielleicht die ganze Zeit falsch eingeschätzt hatte und ihm noch eine zweite Chance geben sollte. Er war vielleicht gar nicht so übel. „Hast du einen Freund? Sonst würde ich nämlich gerne um diesen Platz werben.“ WAS? Die letzten netten Gedanken, die ich von diesem aufgeblasenen, selbstverliebten und egoistischen Sprücheklopfer hatte, zerbrachen wie Porzellan. In meinen Kopf herrschte totales Chaos. Ich war mir im Klaren, dass er für diesen Satz büßen musste. Man konnte doch ein Mädchen nicht eine solche Frage stellen. Das gehörte sich nicht. Dieser Typ war einfach nicht auszuhalten. Mit jeder Sekunde kochte mein Blut mehr. Ich war kurz davor durchzudrehen und so was tat ich sonst nie, wie ich hier bemerken will. Das passte einfach nicht zu mir und mir gefiel es nicht, dass ein Typ in mir solche Gefühle verursachte. Am liebsten hätte ich laut losgeschrien, aber dann hätte mich Mr. Henderson nur vor die Tür geschickt und das konnte ich nicht riskieren. In dem Moment, als ich Jack gerade eine passende Antwort geben wollte – natürlich leise –, stoppte Mr. Henderson die Stillarbeitsphase und mir kam eine hervorragende Idee. Meine Hand schoss in die Höhe. „Ja, Miss Hagan?“, nahm mich mein Lehrer dran. „Mein Partner Jack würde gerne den Beweis vorrechnen.“ Ich schenkte ihm, also Jack, ein triumphierendes Lächeln. Das einzige, was ich von Jack wusste, war, dass er schlecht in Mathe war. Und so konnte ich ihn schon mal vor der ganzen Klasse bloßstellen. Ich lobte mich selbst für meinen genialen Einfall. Jack stand inzwischen widerwillig auf und schritt zur Tafel. Er nahm das Stück Kreide von Mr. Henderson entgegen und fing an zu stottern: „Also, ähm, wenn man das Integral von, ähm, der Funktion f, ähm, plus der Funktion g hat, kann man auch sagen, ähm-“ Er brach ab und sah mich hilfesuchend an. Tja, er hätte mich wohl doch ausreden lassen sollen. Aber wenigstens hatte er das, was ich gesagt hatte, schon mal behalten. Leider reichte das nicht mal ansatzweise aus. Auf meinen Lippen breitete sich ein Lächeln aus. Sonst taten mir die Schüler immer Leid, die da vorne standen, und es einfach nicht wirklich kapiert hatten, aber Jack war ein richtiger Genuss. Besonders weil er nicht sofort aufzugeben schien. Er wandte sich wieder der Tafel zu und fuhr mit seinem Gestotter fort: „Wenn man jetzt das Integral von der Funktion f plus der Funktion g hat, kann man das auch ganz einfach umformen in die Summe vom Integral von der Funktion f und dem Integral von der Funktion g. Das geht ganz leicht, indem man das erste Integral auflöst.“ Mittlerweile klang Jack ziemlich sicher und er schrieb sogar etwas an die Tafel. Er war wirklich ein guter Schauspieler. Er konnte es gut überspielen, dass er überhaupt keine Ahnung davon hatte. „Um ein Integral auszurechnen, muss man die Stammfunktionen der jeweiligen Funktionen bilden. Da kommt dann die Stammfunktion F von b minus die Stammfunktion F von a plus die Stammfunktion G von b minus die Stammfunktion G von a heraus. Wenn man das ganze nun wieder in Integrale umschreibt, hat man zum einen das Integral von der Funktion f…“ Er kreiste den Term F(b)-F(a) ein. „… und zum anderen das Integral von der Funktion g.“ Er kreiste den Term G(b)-G(a) ein. „Somit ist der Beweis vollendet.“ Er schrieb noch ein „q.e.d.“ unter den Beweis und wandte sich wieder der Klasse zu. Mr. Henderson ging wieder nach vorne. „Wirklich gut, Mr. Newsome. Sie haben das gut dargelegt. Und vielen Dank an Sie, Miss Hagan, die ihm das erklärt hat. Sie bekommen beide einen Pluspunkt.“ Was für ein Mistkerl. Hinterhältig und gemein. Erst sagte er, dass er schlecht in Mathe war, um mit mir in einer Gruppe zu sein, und dann ließ er noch meinen schönen Plan in Luft aufgehen. Er setzte sich wieder neben mich. „Und, habe ich das gut gemacht? Ich hoffe, du bist zufrieden mit mir und gehst jetzt mit mir aus? Wie wäre es, wenn du mir die Schule zeigen würdest?“ Ich zog die Luft ein. Ich dachte ja schon, dreister konnte man gar nicht sein. Doch Jack legte immer noch einen drauf. Ich kannte ihn vielleicht mal eine halbe Stunde und schon konnte ich mir keinen schlimmeren Menschen vorstellen, obwohl ich sonst wirklich mit jedem zu Recht kam oder mich zumindest anstrengte, damit es einigermaßen klappte. Aber für Jack gab es, glaube ich, keine Rettung. Er war hinterhältig, selbstverliebt und aufgeblasen. Das genaue Gegenteil von Chris und ich wollte nur noch so schnell wie möglich von ihm wegkommen. Endlich kam die erlösende Klingel. Ich packte meine Sachen und sprang auf, rauschte an Jenny vorbei, die mich nur verdutzt ansah, und flüchtete auf die Damentoilette. Das war wohl die schlimmste Stunde Mathe, die ich je in meinen Leben gehabt hatte. Nach etwas erfrischendem Wasser in meinem Gesicht und dreimal Ein- und Ausatmen, kam ich langsam wieder zur Ruhe. Ich durfte mir nicht den schönsten Tag im Jahr vermiesen lassen, nur weil irgend so ein komischer Kerl dahergelaufen kam. Mit dem Vorsatz, den Rest des Tages nur noch an Chris und Schnee zu denken, verließ ich die Toilette wieder. „Und wie sieht es aus? Zeigst du mir die Schule?“, begrüßte mich Jack. Er lächelte mir zu. Mein Gott, Jack war einfach schrecklich. Kapitel 3: Wie ein kleines Kind ------------------------------- Wie ein kleines Kind Irgendwie schaffte ich es, Jack den Rest des Tages aus dem Weg zu gehen. Ich versteckte mich hinter Chris und meinen Freunden. Zum Glück standen wir meist in so einer großen Gruppe, dass mich dort keiner belästigen konnte. Erst einmal war da das ganze Basketballteam, rund um ihren Captain versammelt. Noch hier und da ein paar Cheerleader, die sich schmachtend an die Sportler warfen und dann meine eigentliche Freunde, wie Jenny und Lily. Die beiden kenne ich schon seit dem Kindergarten und auch wenn wir alle drei ziemlich unterschiedlich sind, sind wir immer noch die besten Freunde. Jenny ist die spontane Draufgängerin, die auch manchmal ziemlich hinterlistig sein kann. Das kommt meist daher, dass sie mit ihren Geschichten so gut wie alles an die Öffentlichkeit bringt. Doch das stört sie meist nicht, eigentlich beflügelt sie das nur noch mehr. Ich bin die Verrückte und lasse mich so gut wie auf alles ein. Ich mache alles mit, was Jenny mal wieder vorschlägt. Eigentlich sollte ich mir das lieber mal abgewöhnen, denn oft genug ist das schon schief gelaufen. Lily ist die Ruhige von uns Dreien. Sie ist auch ein bisschen schüchtern, aber wirklich ein liebes Mädchen und ich mag sie wirklich gerne. Sie ist die Stimme der Vernunft in unserer kleinen Clique. Manchmal verlassen Jenny und ich uns viel zu sehr auf Lily. So nach dem Motto, falls wir zu weit gehen, Lily wird uns schon aufhalten. Und meistens tut sie das auch. Einmal hat sie das nicht getan, nur um uns eine Lektion zu erteilen. Was genau passiert ist, möchte ich jetzt hier nicht näher erläutern. Es war einfach zu peinlich. Für zwei Monate blieb uns das auch im Gedächtnis haften, doch dann haben wir wieder wie üblich weitergemacht. Wir können manchmal richtig begriffsstutzig sein. Ich meine, wenn wir ein bisschen mehr auf Lily hören würden, kämen wir nicht so oft in Schwierigkeiten. Aber wer will sich denn solchen Spaß nehmen lassen? Außerdem würde ich sonst den Satz „Ich hab’s euch doch gesagt!“ von Lily sehr vermissen. Apropos Spaß, ihr habt doch nicht vergessen, was ich heute noch vorhabe? Nein? Ich natürlich auch nicht. Aber alleine ist das so eine Sache. Ich würde es unter Not machen, aber mit ein paar Freunden macht es doch umso mehr Spaß. Also versuchte ich mein Glück. Jenny und Lily kannten es ja schon. Und wie jedes Jahr erwartete ich mal wieder allgemeines Gestöhne, aber einer der beiden hat sich bis jetzt immer überreden lassen. Da merkt man schon, dass sie wirkliche Freunde sind. „Wer will denn heute noch mit mir einen Schneemann bauen?“, platzte es aus mir heraus, als ich es nicht mehr länger aushalten konnte. Mit der Reaktion, die auf diesen Satz folgte, hatte ich überhaupt nicht gerechnet. Erst sahen mich alle entsetzt an, als ob ich eine Verrückte wäre. Also eine im negativen Sinne und nicht im positiven, wie ich eine bin. So als ob ich nicht mehr alle Tassen im Schrank hätte. Ich hatte das Gefühl, als ob gleich alle ihre Köpfe zusammenstecken würden und dann flüsternd über mich herziehen würden. „Habe ich denn irgendetwas Falsches gesagt?“, war der einzige Gedanke, der mir in dem Moment durch den Kopf schoss. Ich schaute rüber zu Chris, doch er sah mich nicht an. Er schaute in die entsetzten Gesichter seiner Freunde und da war was in seinen Augen, was ich nicht ganz zu deuten wusste. Ich hatte es noch nie an ihm gesehen und ich hatte ein eigenartiges Gefühl. Ich konnte es nicht ganz zuordnen, was es genau war, aber ich wusste, dass es etwas mit unserer Beziehung zu tun hatte. Das war das erste Mal… Auch wenn dieser Moment nur einige Sekunden anhielt, dauerte er für mich schon eine halbe Ewigkeit. Plötzlich fing Chris laut an zu lachen. Doch es war nicht sein herzhaftes Lachen, was ich sonst von ihm gewohnt war, es klang leer und kalt. Die anderen schienen das nicht zu bemerken, denn sie stimmten mit ein. „Das war wirklich ein guter Witz, Cat. Als ob wir noch in unseren Alter einen Schneemann bauen würden“, brachte er unter größter Mühe hervor. „Es war kein Witz!“ Dieser Satz hallte in meinem Kopf wider, doch ich ließ ihn nicht über meine Lippen. ich hatte so ein Gefühl, als ob es falsch gewesen wäre. Stattdessen entfernte ich mich aus der Gruppe und ließ die angeheiterten Sportler zurück. Irgendwie schienen sie mir jetzt völlig andere Personen zu sein, Personen, mit denen ich sonst nie reden würde. Ich hörte, wie Jenny und Lily mir folgten, doch ich wollte erst einmal so weit wie möglich von allen anderen weg. Sie sagten nicht „Stopp“ oder „Halt an“, sonder folgten mir so lange, bis ich selber stehen blieb. An meiner Lieblingsbank auf dem Schulhof stoppte ich dann endlich. Ich ließ mich auf ihr nieder. Jenny setzte sich dann auf meine rechte Seite, Lily nahm links Platz. „Ist alles in Ordnung?“, fragte Lily zaghaft. „Ich weiß nicht“, meinte ich unsicher. Es war komisch, aber ich konnte selbst gar nicht einschätzen, wie ich mich gerade fühlte. Chris war irgendwie ... anders gewesen. „Habt ihr Chris gesehen?“ „Nein, aber ich habe diese Idioten gesehen. Die müssen ja echt beschränkt sein“, regte sich Jenny auf. „Hast du gesehen, wie bedröppelt die geguckt haben. Die kennen nicht einmal so viele Wörter, dass sie deinen Satz verstehen konnten. Ich meine, wie hohl muss man denn dafür sein? Und dann machen sie dann auch immer alles nach, was Chris gerade tut. Der einzige Normale und Intelligente in dieser Clique. Also wenn ihr mich fragt, könnte man alle diese hirnlosen Sportler sowieso vergessen.“ „Jenny!“ Lily warf ihr einen ihrer berühmt-berüchtigten Scham-dich-Blicke zu. „So wirst du sie doch nicht aufheitern. Und das versuchen wir gerade, falls du es vergessen hast. Du musst mitfühlender sein.“ Sie beugte sich über mich und redete mit Jenny, als ob ich überhaupt nicht mehr anwesend wäre. „Mitfühlend?“, fragte Jenny etwas mehr als skeptisch. „Da fühlt sie sich doch nur noch beschissener. Wir müssen ihr zeigen, dass wir nichts von diesen blöden Typen halten.“ Und auch Jenny tat so, als ob ich gar nicht mehr da wäre. Die beiden stritten und stritten sich weiter, ohne überhaupt noch einen einzigen Gedanken an mich zu verschwenden. Und genau das war es, was mich schließlich wieder zum Lachen brachte. Plötzlich brach es aus mir heraus, wie ein Schwall Bienen, der seinen Stock verlässt. Ich krümmte mich vor Lachen und meine Freundinnen sahen mich nur noch verdutzt an. „Wisst ihr, dass ihr wirklich komisch seid.“ Sie sahen mich so an, als könnten sie überhaupt nicht verstehen, warum ich jetzt lachte und das war auch wahrscheinlich so, denn meist bekamen sie nicht mal mit, wenn sie anfingen zu streiten. „Ich möchte euch nur raten, dass ihr nie jemanden zusammen aufheitern wollt. Denn ich glaube jeder, der nicht ich bin, würde da schreiend Wettrennen. Aber ich danke euch. Es geht mir schon viel besser. Nichts ist aufheiternder als euch streiten zu sehen ... oder diskutieren“, fügte ich noch schnell hinzu, denn Lily warf mir einen bösen Blick zu. Sie mochte es nicht, wenn jemand sagte, dass sie gerade gestritten hätte, denn so etwas tut Lily nicht. „Auf jeden Fall geht es mir wieder gut!“ Ich stand auf und entfernte mich ein paar Schritte von der Bank. Ich konnte die Blicke von Jenny und Lily förmlich in meinem Rücken spüren. Sie wussten nicht, was ich vorhatte, und eigentlich war das schade, denn sie müssten mich eigentlich besser kennen. Ich bückte mich, schob etwas Schnee zusammen und formte es zu einem Ball. Blitzschnell kam ich wieder hob, drehte mich herum und warf den Schneeball. Und Lily war getroffen. Was ich nicht erwartete, war, dass von der anderen Seite ein Schneeball direkt auf mich zu kam. Jenny hatte sich wohl leise von der Bank weggeschlichen und gleichzeitig auch einen Schneeball vorbereitet. Also kannten mich meine Freundinnen doch ganz gut. Nur ich kannte sie wohl nicht so gut oder ich dachte, sie wären noch zu verwirrt von meinem Vortrag gewesen. Jedenfalls begann nun eine wilde Schneeballschlacht. Die Bälle flogen nur wie Geschosse durch die Luft. Keiner blieb verschont, nicht einmal die armen kleinen Sechstklässler, die ganz unschuldig vorbei liefen. Ich glaube, die hatten einen Schreck fürs Leben bekommen. Als sie vom ersten Schneeball getroffen worden, war es noch nicht weiter schlimm, aber als der zweite und der dritte kamen, liefen sie schreiend davon. Das war wirklich lustig und hob meine Stimmung nur noch mehr. Wir machten solange weiter bis wir alle keinen Schnee mehr vor unseren Füßen hatten und uns lachend in den Schnee warfen. Ich starrte in den Himmel. Eine kleine Schneeflocke kam auf meine Stirn zu. „Und? Habt ihr denn noch Zeit mit mir einen Schneemann zu bauen?“ Das übliche Genörgel blieb aus. Wahrscheinlich wollten sie nicht riskieren, dass ich wieder so mies drauf werden würde. „Okay“, kam es gleichzeitig von ihnen. Das war ja sogar noch normal, aber der nächste Satz kam auch wie aus einem Munde: „Aber ich kann nicht so lange bleiben.“ Sie schauten sich an und fingen an zu lachen. Tja, zwei Seelen, ein Gedanke. Oder vielleicht auch nur zwei Seelen, gleicher Terminplan? „Ich habe meiner Mutter versprochen, ihr beim Hausputz und bei den Essensvorbereitungen zu helfen. Heute Abend hat Papa nämlich Besuch von seinem Chef und dessen Frau. Scheint ein sehr wichtiges Treffen zu sein.“ Sie schaute mich entschuldigend an, doch dabei hatte sie gar nicht den Grund dazu. Doch so war Lily nun einmal. „Ist okay. Es ist ja nicht so, dass ich euch tage vorher Bescheid gegeben hätte, dass wir heute was zusammen machen.“ „Und ich bin an einer heißen Story dran und um vier mit meinen Informanten verabredet“, rechtfertigte sie sich mit ihrem schelmischen Grinsen auf dem Gesicht. Das setzte sie immer auf, wenn sie von einer Story spricht. „Scheint ein sehr wichtiges Treffen zu werden“, machte sie Lily noch nach. Ich ging nicht darauf ein, konnte mir sogar gerade noch ein Lachen verkneifen. Lily hatte es zum Glück nicht bemerkt, sonst hätte es bestimmt wieder ein paar „Diskussionen“ gegeben. Ich klatschte aufmunternd in die Hände. „Dann beeilen wir uns halt ein bisschen. Ist doch kein Drama. Oder ich kümmere mich zum Schluss alleine um Henry.“ „Henry? Ich wusste nicht, dass wir uns noch mit einem Jungen treffen. Vielleicht lasse ich meinen Termin doch noch-“ Jenny stockte, als ich lauthals losprustete. Lily schüttelte nur den Kopf. Weil ich keine Luft mehr fand, um es zu erklären, ergriff sie das Wort: „Cat nennt den Schneemann Henry. Sie gibt doch jeden Schneemann einen Namen, schon vergessen? Letztes Jahr war es Charles gewesen.“ Stimmt, Charles. Charles war wirklich schön geworden. Statt des üblichen Zylinders habe ich ihm eine Melone auf dem Kopf gesetzt und ich muss sagen, dass es ihm wirklich ausgezeichnet stand. Dann bekam er noch einen Schirm in die Hand und der geborene Engländer war geschaffen. Also ich muss sagen, so ein Gentleman ist nicht verkehrt. Wir machten uns auf den Weg in den Park. Unser jährliches Ziel für den ersten Schnee. Meist war er nach der Schule ziemlich leer, denn die ganzen Kinder waren schon längst zu Hause und die Erwachsenen gingen erst abends hindurch, wenn sie mit ihrer Arbeit fertig waren. So konnte man immer davon ausgehen, dass man ungestört war. Meist tummelten sich hier auch viele Pärchen um und taten halt das, was Pärchen so machten. Manchmal kam es dann aber auch zu Diskussionen, die Jenny jedes Mal liebend gerne mitangehört hätte. Es ist ja nicht so, dass sie fast 60 Prozent dieser Gespräche mitkriegt, weil sie so gut wie jeden Nachmittag hier verbringt. An einem Tag, wo der erste Schnee gefallen ist, ist es aber erstaunlich leer. Kein einziges Paar, was händehaltend durch den Park spaziert. Dabei ist es doch der schönste Tag im Jahr. Mich störte es aber nicht weiter, weil ich am liebsten alleine war, wenn ich meinen Schneemann baute. Natürlich nicht ganz alleine, sonst hätte ich nicht meine Freunde überredet, mit mir zu kommen. Nach einer halben Stunde hatten wir den Körper so gut wie fertig. Die drei Kugeln standen aufeinander und nun musste das Erscheinungsbild nur noch perfektioniert werden. Die Übergänge durften nicht so abrupt aussehen, deshalb vertuschten wir dies mit weiterem Schnee. Mit ein wenig Fingerspitzengefühl und Know-how könnte das ein richtiges Meisterwerk werden. Nun stand das Grundgerüst, es fehlten nur noch die Details. Gerade als ich den anderen sagen wollte, wonach sie genau Ausschau halten sollten, packte Jenny ihre Tasche und auch Lily schaute schuldbewusst drein. „Ich muss jetzt los. Sonst haut mein Informant noch ab.“ Sie schwang ihre Tasche über die Schulter, verabschiedete sich noch von Lily und mir und verschwand dann in Richtung Innenstadt. „Ich muss jetzt auch gehen.“ Sie machte eine kurze Pause. „Ist es auch wirklich okay, wenn wir gehen?“ „Ja, klar. Sieh mal, Henry ist doch schon fast fertig. Da fehlen nur noch ein paar Einzelheiten. Und ich bin so gut drauf, dass ich gar keine Gesellschaft mehr brauche. Außerdem ist Henry ja noch da.“ Ich schenkte ihr einer meiner breitesten Lächeln. Es stimmte wirklich, was ich gerade gesagt hatte. Wenn Lily gegangen war, würde ich die paar restlichen Sachen noch erledigen und morgen könnten wir ihn zusammen bewundern. „Es ist wirklich okay“, versicherte ich ihr noch einmal, als sie noch immer keine Anstalten machte, zu verschwinden. Wie es schien, hatte sie es nun endlich akzeptiert. Sie packte nun auch ihre Tasche und schaute noch einmal zu Henry herüber. „Ich bin schon gespannt, wie er aussehen wird“, meinte sie. Dann wandte sie sich mir zu. „Bis morgen dann. Und noch viel Spaß mit Henry.“ „Ja, danke. Und dir viel Spaß beim Kochen.“ Wir umarmten uns noch und dann verschwand Lily auch. Jetzt war ich ganz alleine. Aber schlimm war das nicht. Ich fühlte mich großartig, mir konnte es gar nicht besser gehen. Außerdem war ich gerne einmal alleine mit dem Schnee. Mir gefiel es in seiner unmittelbaren Nähe zu sein und diese Kälte zu spüren. So konnte ich mich lebendig fühlen. Dabei ließ ich den Schnee sanft durch meine Hände gleiten und schloss meine Augen. Wenn ich das tat, kam ich immer in die richtige Stimmung, um einen Schneemann zu bauen. Zwar hatte ich ja jetzt schon angefangen, doch ich brauchte noch ein bisschen Inspiration, um ihn fertig zu stellen. Ich stellte ihn mir vor meinem inneren Auge vor, so wie Henry eben aussehen sollte. Als ich ihn sah, stahl sich ein Grinsen auf meine Lippen. Ich öffnet meine Augen, sprang von der Bank auf – auf die ich mich kurz gesetzt hatte – und machte mich auf die Suche nach den fehlenden Utensilien. Dabei ließ ich meinen Blick immer über den Boden schweifen, um nach Ästen, Steinen und anderen nützlichen Dingen Ausschau zu halten. Ich hatte schnell etwas Passendes gefunden, war mir aber noch nicht hundertprozentig sicher, ob es auch wirklich perfekt aussehen würde. Die zwei Äste steckte ich ihm in die Seiten und die paar Steine drückte ich in den Körper. Dann noch zwei Steine für die Augen. Jetzt fehlte nur noch die Karotte, der Schal und der Zylinder. Ich kramte in meiner Tasche und holte die entsprechenden Teile raus. Natürlich hatte ich heute morgen noch einiges eingepackt. Bevor ich jedoch die letzten Teile anbringen konnte, zuckte ich vor Schreck zusammen. Plötzlich stand Jack neben Henry und der hatte mal wieder sein Ich-bin-nicht-zu-übertreffen-Lächeln aufgesetzt. Das Erste, was ich ihm daraufhin zuwarf, war mein Das-glaubst-auch-nur-du-Blick. „Du baust ja einen Schneemann. Wie ein kleines Kind.“ Er betrachtete Henry von oben bis unten. „Ja, genau, aber das geht dich gar nichts an. Also verschwinde und lass mich in Ruhe.“ Ich hatte wirklich keinen Bock auf den Kerl. Eben hatte ich noch die beste Laune und kaum sehe ich diesen Typen, landet diese im Keller. Und dahin würde ich mich jetzt auch am Liebsten verkriechen, denn alles war besser als Jack. „Nein, ich finde das süß.“ Was? Eigentlich hätte ich ja sofort gedacht, dass das nur mal wieder einer seiner coolen Sprüche sei, doch da lag etwas in seiner Stimme, das mich keine Sekunde daran zweifeln ließ, dass er es ehrlich meinte. Diese fünf kleinen Worte waren die ersten ehrlichen Worte, die ich von ihm gehört hatte. Ich hatte sehr bezweifelt, dass er zu so etwas überhaupt im Stande war. Ich wollte gerade etwas zu seinem überaus merkwürdigen Verhalten sagen, als er auch schon meinte: „Tja, werde jetzt gehen. Ich möchte ja keinen Ärger.“ Und da war es wieder, dieses Grinsen, und sonst war auch alles wieder beim Alten. Vielleicht hatte ich mich ja nur geirrt? Vielleicht war es eine kleine Illusion von mir gewesen, um diesen dämlichen Typen etwas sympathischer wirken zu lassen. Ich schüttelte den Kopf. Raus finden würde ich das wohl nie. Selbst wenn ich ihn darauf ansprechen würde, die Wahrheit käme nie im Leben aus seinem Mund. „Was machst du denn hier?“ Ein weiteres Mal zuckte ich zusammen. Ich drehte mich um und schaute Chris in die Augen. Gott sei Dank, ich dachte schon, dass es noch schlimmer werden würde. Das Lächeln kehrte auf meine Lippen zurück. „Hey, du“, sagte ich und reckte mich ein wenig, um ihn zu küssen. Chris erwiderte den Kuss nicht und als ich ihn ansah, musste ich feststellen, dass er ziemlich mies gelaunt aussah. Ob er Jack gesehen hatte? Wahrscheinlich war es so. „Das eben war Jack. Er ist neu auf der Schule und er verfolgt mich schon den ganzen Tag. Ziemlich nervig der Typ. Ich wünschte, er würde mich in Ruhe lassen.“ Ich hoffte, dass ihm das milde stimmen würde, doch irgendwie sah er noch unverändert aus. „Was?“ Jetzt sah er ziemlich verwirrt aus. Anscheinend hatte er Jack wohl doch nicht gesehen. Darum war er so schnell verschwunden. „Ich meinte das.“ Er zeigte auf Henry. Jetzt war ich verwirrt. Was meinte er denn damit jetzt? Auf Henry musste er wohl wirklich nicht eifersüchtig sein. Der war mir doch ein wenig zu kühl. „Hast du den gemacht?“ Ich nickte. Chris war irgendwie sehr eigenartig. Mir gefiel das Ganze nicht. „Was hast du dir dabei gedacht?“ Ich wollte etwas sagen, doch brachte kein einziges Wort heraus. So hatte ich ihn noch nie erlebt und es machte mir Angst. „Du bist sechszehn. Da baut man keine Schneemänner mehr. Das ist doch nur Kinderkram. Wenn dich jemand dabei sieht -“ Er brach ab. Die Vorstellung musste für ihn schrecklich sein, zumindest kam es mir so vor. Er schaute mich nicht an und drehte sich weg. Ich hatte das Gefühl, als ob er jetzt gehen würde und dabei fühlte es sich so an, als ob es das letzte Mal wäre. Ein schwarzer und kalter Schleier legte sich um mich. Angst. Angst, dass er gehen würde und nicht mehr zurück kam. Und dieser Gedanke verursachte nicht nur Angst, sondern auch Schmerzen. Es tat höllisch weh. Es tat weh, ihn zu verlieren. Wenn es jetzt schon so brannte, wie würde es dann erst auf Dauer aussehen. Mein Herz würde wohl zerbrechen, wenn er gehen würde. Doch das wollte ich nicht. Ich wollte ihn nicht verlieren. Ich konnte es nicht. Dafür brauchte ich ihn viel zu sehr. Ich brauchte ihn mehr, als er sich vorstellen konnte. Ich konnte mich für ihn ändern. Ich würde alles tun, um ihn nicht zu verlieren. „Warte!“, rief ich ihm hinterher und er blieb stehen. Ich holte auf und schaute zu ihm hoch. „Ich kann damit aufhören, wenn du willst. Mir ist das nicht so wichtig. Zumindest nicht so wichtig, wie du mir bist.“ Ich wartete auf eine Antwort. Es kam mir wie Stunden vor. Jetzt sag doch endlich etwas, Chris. Und dann kam es: „Ja, das fände ich schön. Das will ich wirklich, Cat.“ Er lächelte mich an und küsste mich zärtlich. Für einen kurzen Moment hatte ich gedacht, dass ich dies nie wieder fühlen würde. Seine Lippen auf meinen. Aber jetzt war dieser Albtraum vorbei. Chris war immer noch bei mir und daran würde sich auch so schnell nichts ändern. Ich schenkte ihm ein Lächeln. Ich wollte ihm zeigen, dass ich glücklich war und das sah er auch. Doch ich musste mit Entsetzten feststellen, dass ich selber nicht sah, dass ich glücklich war. Tief in mir drinnen kam es mir so vor, als ob ich etwas verloren hätte. Ich verstand dieses Gefühl nicht. Ich hatte diesen Verlust doch noch gerade so abwenden können. Chris stand hier vor mir und er war für mich da. Ich umarmte ihn, drückte ihn fest an mich, um mich noch einmal davon zu überzeugen, doch das Gefühl der Freude blieb trotzdem verborgen. Kapitel 4: Der beste Moment in meinen Leben ------------------------------------------- Der beste Moment in meinen Leben Die nächsten Wochen fasste ich kein Krümelchen Schnee mehr an. Ich hatte viel zu viel Angst, dass Chris mich dabei sehen könnte und dann einfach Schluss machen würde. Ich habe mich auch nicht getraut zu fragen, warum er diese Tatsache so schrecklich fand. Eigentlich zählte auch nur, dass er es nicht mochte und dass ich ihm versprochen hatte, nicht mehr mit Schnee zu spielen. Um mich quälend an mein Versprechen zu erinnern, hörte es auch nicht auf, zu schneien. Diese weiße Ungetüm wollte der Erde einfach nicht fern bleiben. Meistens schloss ich mich in meinem Zimmer ein und lernte für die Schule oder ich unternahm etwas mit Chris, um mich daran zu erinnern, weshalb ich das ganze tat. Und es tat mir mehr weh, als ich es vermutet hätte. Ich vermisste den Schnee, doch keiner konnte mich umstimmen. Um Chris zu behalten, würde ich jedes Opfer auf mich nehmen. Hieß es nicht: Liebe erfordert Opfer? Der Schnee war mein persönliches Opfer, was ich eingehen musste. Ich dachte, ich würde es schaffen, den Schnee zu vergessen und ich war auch wirklich davon überzeugt, es zu schaffen. Es wäre auch nie im Leben so schwer gewesen, wären da nicht meine Freundinnen und meine Schwester gewesen. Sie meinten, nur weil sie mich lieb hätten, müssten sie mich bei jeder Krise meines Lebens unterstützen. Dabei war es überhaupt keine Krise, es war eine Entscheidung gewesen. Eine Entscheidung, die ich auch nicht rückgängig machen würde. Meine Schwester hatte es sofort gemerkt, als ich nach dem Vorfall nach Hause kam. Ihr schien direkt aufzufallen, dass irgendetwas nicht stimmte, dabei war doch eigentlich alles in Ordnung. Ich kam nach Hause und wimmelte meine Mutter damit ab, dass ich keinen Hunger hätte, da ich bereits schon was gegessen hatte. Das stimmte ja sogar. Jenny, Lily und ich hatten uns ein paar Reibekuchen vom Weihnachtsmarkt besorgt, da wir alle noch einen langen Tag vor uns hatten und einige von uns später nach Hause kommen würden als andere. Mit schnellen Schritten verschwand ich dann auch in mein Zimmer. Mit einem lauten Seufzer ließ ich mich auf mein Bett fallen, den einzigen Schnee, den ich noch berühren durfte. Ich schaltete den CD-Player an und Linkin Park dröhnte mir entgegen. Das beruhigte mich doch immer wieder. Meine Augen fielen langsam zu und ich horschte gebannt der Musik. „Numb“ war wirklich ein tolles Lied. Jetzt kam die beste Stelle ... und meine Schwester stürmte herein. „Hi, Cat.“ Geradewegs steuerte sie auf den CD-Player zu und stellte auch schon, ohne irgendeine Vorwarnung die Musik aus. „Stell doch mal diesen Krach aus.“ Dieser Satz hatte wirklich keinen Sinn, da sie ja bereits diesen „Krach“ ausgestellt hatte. Aber die meisten Sätze von Lucy ergaben keinen Sinn. „Jetzt zeig es mir.“ Sie ließ sich neben mir auf das Bett plumpsen. „Was denn?“ Ich tat gespielt unwissend, dabei wusste ich ganz genau, worauf sie hinaus wollte. „Na, das Bild. Du weißt schon. Wie jedes Jahr.“ Den morgendlichen Weckruf vergaß sie jedes Mal, aber an sowas musste sie sich dann doch erinnern. Was sollte ich ihr denn jetzt erzählen? Dass ich meine Kamera vergessen hatte? Oder sollte ich lieber die Wahrheit sagen? Aber das mit der Kamera war riskant. Vielleicht würde sie dann von mir verlangen, dass ich morgen ein Bild schießen würde. Vielleicht sollte ich es mit der Wahrheit versuchen, oder zumindest etwas, das der Wahrheit nahe kam. „Ich habe den Schneemann nicht fertig gebaut“, sagte ich dann schließlich. „Oh, warum nicht?“ Sie klang wirklich sichtlich interessiert. So kannte ich sie sonst nicht. „Naja ...“ Ich suchte nach den richtigen Worten. „Chris kam vorbei und ich wollte mit ihm nach Hause gehen. Außerdem habe ich mir gedacht, dass ich doch langsam wirklich zu alt werde für diesen Kinderkram.“ Lilly sah mich entgeistert an. „Aber du liebst Schnee doch. Du vergötterst ihn, oder worauf sitze ich hier?“ Sie zeigte auf meine Bettdecke. Ich folgte ihr mit meinem Blick. Das Weiß der Bettdecke strahlte mir entgegen. Ich musste mich zusammenreißen, damit ich überzeugend klang. „Schnee finde ich ja immer noch schön, das hat sich nicht geändert. Aber diesen Kinderkram, wie Schneemänner oder Schneeballschlachten brauche ich wirklich nicht mehr. Immerhin bin ich ja schon sechszehn. Das sollte man lieber den kleinen Kindern überlassen. Sonst ist nachher kein Schnee mehr für sie übrig.“ Ich lächelte ihr zu. „Na, wenn du meinst. Ist ja deine Sache“, meinte sie und stand auf. Sie schaute mich noch einmal an und ich wusste ganz genau, dass sie mein heuschleriches Lächeln durchschaut hatte. Aber sie sagte nichts mehr weiter und ließ mich alleine im Zimmer zurück. Ich schaltete die Musik wieder ein und schloss erneut meine Augen. Die nächsten Tage, beziehungsweise Wochen, ließ Lucy kaum locker. Erst fing es ziemlich harmlos an. Sie kam täglich in mein Zimmer und fragte, ob wir was zusammen machen wollten. Zum Beispiel mit Nancy rausgehen. Dabei ließ sie es strikt aus, den wahren Grund ihres Erscheinens zu erwähnen. Mir kam es so vor, als ob sie nur kam, um zu sehen, wie es mir ging. Eigentlich war das ja wirklich lieb von ihr, aber ich brauchte ihre Hilfe nicht. Ich kam alleine damit fertig. Irgendwann habe ich es ihr dann auch gesagt. Ich müsste jetzt mehr für die Schule tun, weil das Halbjahr bald zu Ende sein würde. Daraufhin kam sie seltener. Doch jedes Mal, wenn ich sie sah, bemerkte ich ihre besorgten Augen. Eigentlich sollte ich glücklich sein, so eine tolle Schwester zu haben. Sie machte sich wirklich Sorgen, das sah man ihr an. Und ich ließ sie einfach so im Schnee stehen. Ich sagte ihr nichts von dem Streit mit Chris. Sonst sagte ich ihr alles und ich weiß selber nicht, warum ich ihr davon kein Sterbenswörtchen erzählte, aber vielleicht habe ich mich damals nur geschämt. Geschämt, dass es mir so schwer fiel, den Schnee zu vergessen. Vor einer Woche dann kam es zur Eskalation und seitdem besuchte sie mich nicht mehr. Es fing ganz normal an. Sie kam in mein Zimmer und setzte sich auf mein Bett. Der Katzenbezug unter ihr knitterte leicht. „Und, was machst du Schönes?“, sagte sie beiläufig. „Nur Mathe. Nichts Schwieriges“, gab ich monoton zurück. Ich hatte wirklich keine Lust auf noch ein Gespräch dieser Sorte. „Für dich hat ‚schwer‘ wohl einen anderen Begriffsstatus als für mich. Wenn es dir so viel Spaß macht, kannst du meine Mathehausaufgaben gleich noch nebenbei machen. Ich habe davon nämlich überhaupt keine Ahnung. Wer soll auch bei den ganzen Brüchen und Kurven noch durchschauen? Mathe ist wirklich das sinnloseste Fach auf der ganzen Welt.“ „Was willst du hier?“, sagte ich etwas gereizt und drehte mich zu meiner Schwester um. Mit mir über Mathe reden, wäre das Letzte, was Lucy tun würde. Und ich hatte wirklich keine Lust mehr auf ihre Besuche. „Ich mache mir Sorgen. Mit dir stimmt doch irgendetwas nicht. Du sitzt fast nur noch in deinem Zimmer, dabei ist es der schönste Winter seit Jahren. Es hört gar nicht mehr auf zu schneien.“ Sie zeigte nach draußen, doch ich vermied es, dort hinzusehen. „Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Alles läuft prima. Mir geht es wirklich gut.“ Meine Stimme war zum Glück etwas ruhiger geworden. Ich wollte nämlich keinen Streit. „Dir geht es gut?“, schrie sie mir fast entgegen. „Und warum bist du dann nicht draußen, wenn es schneit? Und tanzt im Schnee und freust dich, dass eine Flocke auf deiner Nase gelandet ist?“ Ihre Stimme wurde mit jedem Wort lauter. „Weil ich Schnee nicht mehr brauche, um glücklich zu sein. Ich brauche nur ihn.“ Im Gegensatz zu meiner Schwester wurde ich immer leiser. Ich wollte einfach nicht, dass sie herausfand, warum ich mich so verhielt. „Und ob du den Schnee brauchst. Das sieht ein kleines Kind, dass du nicht glücklich bist. Ich würde dir ja helfen, doch du erzählt mir ja nichts mehr. Ich würde dir so gern helfen.“ In ihrem Auge bildete sich eine kleine Träne. „Ich vermisse meine Schwester, die von der Schule kommt und mir einen Schneeball ins Gesicht wirft. Die anfängt zu strahlen, wenn sie nur das Wörtchen Schnee in den Mund nimmt. Aber langsam glaube ich, dass sie gar nicht mehr existiert. Irgendwer hat sie einfach mitgenommen. Und du bist das, was übrig geblieben ist.“ Mit diesen Worten stand sie von meinem Bett auf und verschwand aus meinem Zimmer. Sie schaute nicht einmal zurück. Lucy tat mir wirklich leid. Sie hatte Recht. Die Schwester, die sie wollte, gab es nicht mehr. Sie war vor Wochen bei diesem Schneemann geblieben und sie traute sich nicht mehr zurück, denn sie hatte Angst vor Chris. Doch Lucy hatte auch Unrecht, denn ich war glücklich. Wie hätte ich denn nicht glücklich sein können? Ich hatte den besten Freund, den ich mir nur vorstellen konnte und ich liebte ihn, mehr als ich beschreiben konnte. Lucy musste wohl nur mit ihrer neuen Schwester zurecht kommen... In der Schule lief es nicht unbedingt anders ab. Ich hatte zwar bis jetzt noch keinen großen Streit mit Jenny und Lily, doch ich spürte immerzu ihre besorgten Blicke im Rücken. Jeden Morgen sahen sie mich mit dem gleichen Mitgefühl an, dabei wussten sie gar nicht, was genau geschehen war. Sie wussten nur, dass ich nicht mehr die war, die ich vorher war. Am Anfang beglückten sie mich jeden Morgen mit einer Schneeballschlacht. Inzwischen haben sie wohl verstanden, dass ich das wirklich nicht mehr wollte. Sie sagten es zwar nie, aber ich wusste, dass sie sich Sorgen machten. Sie fragten mich häufig, wie es mir geht, aber nicht zur Begrüßung wie gewöhnlich, sondern immer mal wieder zwischendurch. Und der Tonfall in ihrer Stimme ließ darauf schließen, dass sie nicht nur ein normales „Wie geht es dir?“ loswerden wollten, sondern eigentlich noch Fragen wie „Ist wirklich alles in Ordnung?“ oder „Kann ich dir nicht irgendwie helfen?“ hinterherschieben wollten. Sie machten sich Sorgen, genau wie meine Schwester. Und es störte mich. Es war ganz und gar meine Angelegenheit. Sie hatten damit gar nichts zu schaffen. Hundertmal hatte ich es ihnen gesagt, doch keiner ließ locker. Sie wollten mir unbedingt helfen, dabei brauchte ich keine Hilfe. Mir ging es gut. Mir ging es wirklich gut. Mittlerweile hatte ich auch keine Probleme mehr mit dem Schnee wenn Schnee fiel, schaute ich hinaus, doch ich verspürte keine Sehnsucht, sofort hinauszustürmen. Chris hatte Recht gehabt. Es war kindisch gewesen. Immerhin bin ich schon 16 Jahre alt. Da muss ich wirklich nicht mehr mit Schnee spielen. Und es ging mir gut dabei. Die einzigen Personen, die mich normal behandelten, waren Chris und seine Freunde. Ich hing jetzt immer öfters mit ihnen rum. Sie waren wirklich korrekt und keiner von ihnen sah mich mit diesem Blick an, als ob ich gleich zerbrechen würde. Sie redeten zwar wirklich viel über Basketball – wovon ich nicht viel verstand – doch das war mir egal. Hauptsache sie behandelten mich normal. Und das taten sie. Die Cheerleader haben mich sogar gefragt, ob ich gerne bei ihnen Mitglied werden würde. Das war gestern. Ich habe ihnen gesagt, dass ich mir das noch überlegen müsste. Aber mir gefiel der Gedanke, Chris nicht nur von der Tribüne aus anzufeuern, sonder direkt aus der ersten Reihe, von der Spitze der Pyramide. Gerade saß ich mit ihm auf der Bank im Park. Er hatte den Arm um mich gelegt, ich kuschelte mich an seine kicke Daunenjacke. Es war still hier, denn keiner außer uns war im Park. Vielleicht weil es eben erst wieder geschneit hatte. „Cynthia hat mich gefragt, ob ich Cheerleader werden will“, durchbrach ich die Stille. „Echt? Hat sie das?“ Chris klang nicht wirklich überrascht. Es klang eher so, als ob er überrascht tun würde. Und Chris war keine guter Schauspieler. Zumindest nicht in meiner Gegenwart. Ich durchschaute ihn immer. Mir konnte er nichts vormachen. Ich tat ihm trotzdem den Gefallen und ignorierte seine schlechten schauspielerischen Qualitäten. „Ja, hat sie“, betonte ich es viel zu übertrieben. „Und ich glaube, dass ich das Angebot annehmen werde. Es wird Zeit für eine paar Veränderungen.“ „Das finde ich gut. Ich freue mich schon, dich in dem sexy Cheerleader-Outfit zu begutachten“, grinste er mich an und gab mir einen Kuss. „Naja, ob ich wirklich so sexy aussehen werde, davon bin ich nicht überzeugt.“ Sowas stand mir einfach nicht. Kurze Röcke waren für mich eigentlich das Todesurteil. Wenn ich eine Hose drunter hatte, war es okay, aber nicht mit nackten Beinen. Dafür hatte ich einfach nicht die Figur. Ich war nicht der Typ für kurze Röcke. „Du siehst in Allem sexy aus“, versicherte er mir. Ich spürte, wie ich rot wurde und schaute zu Boden. „Hey, du musst nicht rot werden. Das stimmt.“ Er nahm mein Kinn in seine Hand und zwang mich, ihn anzusehen. „Du bist das hübscheste Mädchen, was ich kenne. Ich liebe dich, Kitty Cat.“ Auf mein Gesicht stahl sich ein Lächeln und er drückte mir den zauberhaftesten Kuss auf die Lippen, den ich je von ihm bekommen hatte. „Ich muss jetzt gehen“, flüsterte er mir ins Ohr, als er sich von mir gelöst hatte. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte er ewig so weitermachen können. „Kommst du mit?“ Ich schüttelte geistesabwesend den Kopf. Ich wollte noch etwas hierbleiben. Den Moment genießen und ihn in meinem Gedächtnis verankern – für immer. Er stand auf und wollte gehen. Ich hielt ihn fest, stand ebenfalls auf und blickte ihm tief in die Augen. „Ich liebe dich auch, Chris.“ Ich umarmte ihn. „Ich liebe dich so sehr.“ Ich wollte ihn gar nicht mehr loslassen, doch schließlich drückte er mich sanft weg und ging. Ich ließ mich zurück auf die Bank fallen und hielt ihn fest: den besten Moment in meinem Leben. Kapitel 5: Gespräche mit Jack ----------------------------- Gespräche mit Jack Ich weiß nicht, wie lange ich auf der Bank saß. Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Irgendwann fiel mein Blick nach vorne, auf den Schneemann. Auf den unfertigen Schneemann, der seit drei Wochen ohne Hut und Schal in der Kälte stand. Wenn er nicht schon aus Eis bestanden hätte, hätte er wohl fürchterlich gefroren. Und obwohl er dies nicht tat, fühlte ich Mitleid mit ihm. Jedes Mal, wenn ich hier vorbei kam, fiel mein Blick automatisch auf ihn. Es war schrecklich mit anzusehen, dass niemand ihn fertigstellte, dass niemand sich erbarmte, ihn einen Zylinder und Schal zu leihen. Ich schalte mich selbst für dieses Mitleid, doch er war mein Werk und es war meine Schuld, dass er nun völlig nackt im Schnee stand. Ich stand von der Bank auf und ging auf den Schneemann zu. Er sah wunderschön aus. Seien Haut glänzte in der Sonne und es zeigten sich keine Anzeichen, dass er schmelzen würde. Doch seine Augen sahen traurig aus, was ich ihm nicht verübeln konnte. Seine wichtigsten Sachen fehlten. Am liebsten würde ich ihn trösten. Ich streckte meine Hand aus. Langsam und zögerlich näherte sich der glänzenden, weißen Haut. Jetzt war sie nicht mal mehr einen Zentimeter entfernt. Jede Sekunde würde ich den kalten Schnee auf meinen Fingern spüren. Nein! Ich zog meine Hand ruckartig zurück, hielt sie mit der anderen Hand fest. Fast so, um zu vermeiden, dass sie noch einmal ein Eigenleben entwickelte. Ich hatte geschworen, nie wieder Schnee zu berühren und ich würde mich auch daran halten. Nicht mal dieser Schneemann, der mir so unendlich Leid tat, würde mich von meinem Versprechen abhalten. Nein, keiner würde mich von meinem Versprechen abhalten. „Hey, Kätzchen, streunst du mal wieder durch die Gegend?“ Ich drehte mich um und da stand Jack, lässig gegen einen Baum gelehnt. Natürlich hatte er wieder sein unabnehmbares Grinsen aufgesetzt. Er konnte es einfach nicht lassen. Jeden Tag begrüßte er mich mit einen dieser bescheuerten Sprüche. Eigentlich könnte ich froh sein, denn er behandelte mich ganz normal. Okay, eigentlich kannte er mich nicht anders. Er hatte mich nur einen Tag so erlebt und da ist es ihm wahrscheinlich auch gar nicht aufgefallen. Nach einem Tag kennt man die Person ja noch nicht. Ich seufzte genervt auf. „Was willst du hier?“ Er nervte mich zwar, doch ich musste zugeben, dass ich so für kurze Zeit meine Probleme vergessen konnte. Es war eine angenehme Ablenkung. Deshalb war ich meist froh, ihn zu sehen. Doch ich tat trotzdem genervt, sonst würde er sich noch falsche Hoffnungen machen. „Eigentlich nichts.“ Er stieß sich vom Stamm des Baumes ab. „Ich war nur gerade in der Gegend, habe dich gesehen und da dachte ich, dass ich mal ‚Hallo‘ sage, so wie es sich für einen Gentleman gehört.“ „Du und ein Gentleman?“ Ich musste mir das Lachen verkneifen. Das war wirklich das Lustigste, was ich je gehört hatte. „Du bist meilenweit davon entfernt, ein Gentleman zu sein. Nicht einmal in deinem früheren oder späteren Leben wirst du einer sein. Das ist ganz und gar gegen deine Natur.“ Er kam langsam auf mich zu. „Woher willst du das denn wissen?“ Seine durchdringenden blauen Augen schienen mich zu durchbohren. „Vielleicht bin ich ja ganz anders, als du denkst, Kätzchen.“ Ich hasste es. Seit ich mich als Cat vorgestellt hatte, nannte er mich immer „Kätzchen“. Es war einfach nicht zum aushalten. „Kitty Cat“, so wie Chris mich manchmal nannte, war ja richtig süß, aber „Kätzchen“ ging mir wirklich auf die Nerven. Fast alles, was Jack tat, zehrte an meinen Nerven. Diesen Typen konnte man einfach nicht ernst nehmen. „Wann hörst du endlich auf mich so zu nennen. Hundertmal habe ich dir schon gesagt, dass ich Cat heiße. Und diese coolen Sprüche mit den Anspielungen auf eine Katze kannst du auch mal sein lassen. Es nervt einfach. Es nervt, Jack. Ich habe genügend andere Probleme, mit denen ich mich zurzeit rumschlage. Da brauche ich nicht auch noch dich. Es ist einfach zu viel.“ Ich ließ mich wieder auf die Bank sinken. Diesmal nicht, weil ich den Moment genießen wollte, sondern weil ich selbst erschreckt darüber war, was ich gesagt hatte und kaum noch stehen konnte. Ich atmete einmal tief durch. Hatte ich gerade gesagt, dass ich Probleme hatte? Ja, das habe ich getan. Dabei hatte ich meinen Freundinnen und meiner Schwester versichert, das es nicht so war. Es war alles in Ordnung, sogar mir hatte ich das eingeredet. Und jetzt stand ich hier vor Jack und schüttete ihn mein Herz aus. Einem Kerl, dem ich nie etwas anvertrauen würde, dem ich nicht einmal traute. Einem Kerl, der das genaue Gegenteil von Chris war. Chris, der mir eben noch gesagt hatte, dass er mich liebte. Und ich saß hier und erzählte von Problemen. Probleme, die mit Chris zu tun hatten? Nein, ich hatte keine Probleme mit Chris. Es lief alles bestens. Höchstwahrscheinlich meinte ich die Tatsache, dass ich mich gerade nicht so gut mit Lucy, Lily und Jenny verstand. Es war schon traurig. Ich hatte es ausgesprochen und wusste nicht einmal genau, was ich damit meinte. Ich starrte auf meine Füße, als ich Jacks Stimme vernahm: „Es tut mir leid. Ich werde jetzt besser gehen und dich nicht mehr belästigen.“ Er meinte es ehrlich, dass hörte ich in seiner Stimme. Er würde gehen und mich hier mit meinen Gedanken alleine lassen, doch jetzt brauchte ich eine Ablenkung mehr denn je. „Warte, geh noch nicht.“ Ich streckte meine Hand nach ihm aus und kriegte seinen Arm zu fassen. „Warum bist du so, Jack? Warum bist du immer so unausstehlich? Manchmal gibt es so Momente, wo ich denke, dass du eigentlich ganz anders bist. Warum verstellst du dich?“ Ich suchte Augenkontakt, doch er wich meinen Blick aus. Also hatte ich Recht, er verstellte sich wirklich. Sonst hätte er nicht so reagiert. Nur warum tat er es? Warum wollte er denn bei allen cool ankommen, aber nie wirkliche Freunde haben? Es herrschte eine lange Zeit vollkommene Stille. Jack bewegte sich keinen Zentimeter. Er überlegte wahrscheinlich, was er jetzt tun würde. Ich befürchtete schon, dass er jetzt einfach gehen würde oder dass er wieder einer seiner Phrasen ablassen würde, als „Weil es so viel einfacher ist. Es tut nicht so weh.“ „Das ... verstehe ich nicht.“ Ich meinte das ehrlich und es interessierte mich auch. Sein trauriger Blick und seine leise Stimme ließ Mitleid in mir aufkeimen. Jack war wohl sehr einsam, nur sah dies nie jemand. Er verstand sich sehr gut darauf, es zu verdecken. Ich hätte es selbst nie im Leben vermutet. Er wirkte so lebenslustig und froh, doch der Schein trog. „Wie kann es denn weh tun, wenn du dich so verhältst, wie du eigentlich bist?“ „Du verstehst das nicht.“ Er schüttelte den Kopf und wollte gehen, doch ich hielt seinen Arm fest. Ich würde ihn nicht gehen lassen, nicht jetzt. „Dann erklär es mir.“ Ich warf ihm einen flehenden Blick zu. Ich wollte ihm gerne helfen, doch dazu musste er mich erst einmal lassen. „Ich bin gar nicht so dumm wie du denkst.“ Ich schenkte ihm ein Lächeln. Und er lächelte schwach zurück. Ich hätte nie gedacht, dass ihm das Lächeln einmal schwer fallen würde. Doch er setzte sich neben mich. Er brauchte noch kurze Zeit, bevor er anfing, zu erzählen: „Mein Vater muss durch seine Arbeit oft umziehen. Natürlich nimmt er meine Mutter und mich dann immer mit. Doch es ist schwer, mindestens jedes Jahr in ein neues Haus zu kommen, in eine neue Stadt und in eine neue Schule. Das Schwerste daran ist der Abschied von seinen alten Freunden. Nach dem dritten Mal habe ich es einfach nicht mehr ausgehalten. Von da an habe ich mir geschworen keine emotionale Bindung mehr zu irgendwem aus der Schule einzugehen. Und es hat auch funktioniert, solange ich mich hinter dieser Maske versteckt habe. Denn so dachte jeder, dass es mir fabelhaft ginge. Und das tut es auch, denn so tut es nicht mehr weh beim Abschied.“ Ich hatte ihn ausreden lassen, weil ich mir vorstellen konnte, wie schwer es ihm fiel, mir davon zu erzählen. Doch sobald er geendet hatte, konnte ich nicht länger an mich halten. Es war doch völliger Schwachsinn, was er da von sich gab. Etwas Blöderes hatte ich wirklich noch nicht gehört. „Spinnst du eigentlich?“ Meine Stimme klang etwas zu scharf, darum versuchte ich ruhiger zu werden. Ich wollte ihn ja nicht vergraulen. „Glaubst du wirklich das, was du sagst? Du legst dir eine Maske auf, damit alle denken, dass es dir gut geht. Ich glaube eher, dass du eine Maske auflegst, um dich zu täuschen. Wenn du nie richtige Freunde hast, kann es dir doch gar nicht gut gehen. Du leidest nur nicht mehr, weil du auch gar nicht mehr glücklich bist. Wenn du an keiner Person hängst, ist es natürlich, dass du sie nicht vermisst. Das heißt aber auch, dass dich ebenso keiner vermisst. Und das finde ich wirklich traurig. Jeder braucht einen Freund. Auch du.“ Ich stupste ihn mit meinem Zeigefinger auf die Brust. Ich wollte wieder eine bisschen Spaß in die Sache bringen. Mir war es hier eindeutig zu ernst geworden. Ich lächelte ihn herzhaft an, in der Hoffnung, dass er mir auch ein Lächeln zeigen würde, ein ehrliches Lächeln. Doch es kam nicht. Er blieb ernst, sagte auch nichts mehr. Ich wusste nicht, was ich noch sagen sollte. Vielleicht brauchte er auch einfach nur Zeit, um nachzudenken. Ich war mir nicht sicher. Deshalb stand ich auf und als er immer noch nichts sagte, meinte ich zu ihm: „Ich werde jetzt nach Hause gehen. Ich hoffe, du denkst über meine Worte nach. Ich fände es nämlich wirklich toll, den echten Jack kennen zu lernen.“ Dann ging ich. Nach ein paar Metern schaute ich noch einmal zurück, doch Jack saß immer noch auf der Bank und hatte seinen Blick auf den Boden gerichtet. Auch wenn das Äußerliche genau so war, wie an seinem ersten Tag, wusste ich sofort, als er in der Tür stand, dass er sich verändert hatte. Denn er sah mich an und lächelte mir zu. Und dieses Lächeln war ansteckend und nicht nervend, wie die Tausenden davor, mit denen ich jeden Morgen begrüßt wurde. Er kam auf mich zu und setzte sich. „Hallo, Jack. Wie geht es dir?“ Es war eigentlich eine dumme Frage, denn ich sah ihm an, dass es ihm bestens ging. Doch diese Floskel war bei einer Begrüßung nunmal Pflicht. „Hey, Cat. Mir geht es richtig gut.“ Er nahm meine Hand, woraufhin ich ihn etwas verdutzt ansah. „Ich ... ich wollte dir-“ „Mr. Newsome, lassen sie das Geflirte in meinem Unterricht. Es gibt nur Eines, was ihre Augen fixieren sollten und das ist die Tafel und nicht Miss Hagan.“ Mochte Jack auch noch so gut in Mathe sein, Mr. Henderson konnte ihn trotzdem nicht ausstehen. Bisher hatte ich ihn auch ganz gut verstehen können. Zum Glück wurde bei diesem Satz keiner der Schüler aufmerksam, denn eigentlich begrüßte Mr. Henderson Jack jeden Morgen so. Das war auch einer der Gründe, weshalb ich Jack nicht leiden konnte. Er konnte nie die Augen von mir lassen und war ständig mir mir am Flirten gewesen. Ich war so froh, dass das Alles nur zu dieser Arschloch-Nummer gehört hat. „Es tut mir leid“, entschuldigte Jack sich aufrichtig. „Das wird bestimmt nicht wieder vorkommen.“ Den darauffolgenden Blick von Mr. Henderson werde ich nie in meinem Leben wieder vergessen. Er wirkte – was wäre wohl das beste Wort? Ach ja – baff. Auch meine anderen Mitschülern blieb die Veränderung von ihm in keinem Fall verborgen. Alle finden lauthals an zu lachen. Als ich zu Jenny schaute, sah ich ihren triumphierenden Blick. Spätestens morgen wusste die ganze Schülerschaft von Mr. Hendersons Ausrutscher. Man musste dazu sagen, dass Mr. Henderson ein Mensch war, der es hasste, wenn nicht alles nach Plan lief und etwas Unvorhergesehenes passierte. Besonders konnte er es nicht leiden, wenn er selbst seine Fassung dabei verlor. Bisher war es nur einmal passiert – leider vor meiner Schulzeit, denn dieser Blick war einfach nur köstlich anzusehen. Leider ging es so schnell, wie es auch gekommen war. Seine Gesichtszüge normalisierten sich wieder und er strich seinen Anzug glatt. „Das ist schön zu hören, Mr. Newsome. Ich kann nur hoffen, dass sie sich wirklich an ihr Versprechen halten werden.“ Dann wandte er sich wieder der ganzen Klasse zu. „Und ihr beruhigt euch auch mal langsam, denn jetzt widmen wir uns wieder der wunderbaren Mathematik.“ Die ganze Klasse verstummte abrupt. Sie wusste, dass Mr. Henderson kein Lehrer war, mit dem man sich anlegte. Auch ich traute mich nicht, noch eine weiteres Wort zu sagen. Deshalb nahm ich ein kleines Zettelchen, schrieb darauf: „Wir treffen uns heute nach der Schule. Am gleichen Ort wie gestern.“ und schob ihn vorsichtig zu Jack. Er las ihn sich durch und nickte mir zu. Ich ließ mir extra viel Zeit, damit Jack nicht auf die Idee kam, dass ich mich auf das Treffen freuen würde. Doch genau das tat ich. Aufgeregt fummelte ich an meinen Händen herum. Schrecklich, diese Angewohnheit. Schließlich war ich an der Bank angekommen ... und Jack war noch nicht da. Toll, da war ich umsonst so langsam gegangen. Ob Jack wohl ein chronischer Zu-spät-Kommer war? Naja, auch egal. Ich wollte mich gerade hinsetzten, als „Ist das eigentlich dein Lieblingsplatz?“ Das Überraschen hatte Jack wohl nicht verlernt. Das musste ich ihm unbedingt noch austreiben. Ich drehte mich zu ihm um. „Kann schon sein.“ Daraufhin folgte eine unangenehme Stille. Ich wusste nicht, was ich noch sagen sollte. Und Jack schien es auch nicht zu wissen. Wenn er keinen coolen Spruch hatte, war er wohl ziemlich wortkarg. „Sollen ... sollen wir uns nicht setzten?“ Er zeigte auf die Bank. Da ich nicht nur sinnlos herumstehen wollte, nickte ich. Ich näherte mich der Bank und wollte mich setzten. „Warte!“ Ich zuckte mal wieder zusammen. Jack hingegen zog seine Jacke aus. Was kam denn jetzt? „Die Bank ist nass.“ Er breitete seine Jacke darauf aus. „So, sonst erkältest du dich noch.“ Jack war ja richtig zuvorkommend. Ich hatte wirklich aus ihm einen Gentleman erschaffen. Im Geiste klopfte ich mir selber auf die Schulter. „Dankeschön.“ Wie klang denn meine Stimme? Sie zitterte vor Aufregung. Aber warum? Jack war doch nur ein Freund. Ja, er war ein Freund. Kaum zu glauben. Vorgestern konnte ich ihn noch nicht leiden und jetzt war er mir sehr sympathisch. Das lag wohl daran, dass er plötzlich so nett war. Fast so nett wie Chris. Natürlich reichte er an Chris trotzdem nicht heran. Keiner war besser als Chris. „Ich wollte mich bei dir bedanken, Cat“, sagte Jack irgendwann in die Stille hinein. „Du hattest vollkommen Recht, mit dem, was du gesagt hast. Ich kann gar nicht glücklich sein, wenn ich keine Freunde habe. Ich mache mich nur selbst unglücklich damit. Ich hatte es nie wahrhaben wollen, weil es mir doch so viel besser ging. Zumindest hatte ich mir das eingeredet. Mir ging es gut, das hatte ich mir immer wieder gesagt. Und irgendwann war diese Rolle für mich selbstverständlich. Aber jetzt werde ich wieder der Jack sein, der ich früher einmal war und der Freunde hatte.“ An dieser Stelle hörte er abrupt auf. Eigentlich hatte ich das Gefühl, dass er noch etwas sagen wollte, doch er gab keinen einzigen Ton mehr von sich. Konnte es sein, dass er einfach nicht den Mut fand, das zu sagen, was er noch sagen wollte? Ich nahm es ihm dann ab: „Wollen wir nicht Freunde sein, Jack?“ Er strahlte förmlich und es tat gut, ihn so glücklich zu sehen. Jack war ein wunderbarer Junge und ich hatte keine Bedenken, dass er noch mehr Freunde finden würde. Als ich bemerkte, dass ich ihn die ganze Zeit angestarrt hatte, wandte ich meinen Blick ab und dieser fiel ausgerechnet auf Henry. Ich seufzte wohl laut, denn Jack fragte mich, was los sei. Immer noch schaute ich auf den Schneemann. „Keiner stellt ihn fertig“, sagte ich ganz leise, doch Jack schien es trotzdem gehört zu haben. „Und wieso machst du es nicht? Schließlich ist es doch deiner. Zumindest habe ich dich am ersten Tag dabei gesehen, wie du ihn gebaut hast.“ Er sah mich fragend an, fast schon fordernd. Plötzlich wusste ich, wie Jack sich wohl gestern gefühlt haben musste. Unsicherheit, ob man den anderen vertrauen konnte. „Ich kann es nicht“, kam es so leise wie ein Hauchen von mir. „Wieso nicht?“ Jack stand auf und blickte auf mich herab. „Chris ... er-“ Ich hielt mir den Mund zu. Jetzt hätte ich doch beinahe Jack alles erzählt. Dabei hatte ich Lucy und meinen Freundinnen nicht mal davon berichtet. Aber ich konnte Jack doch trauen, oder? Vielleicht könnte er mir sogar helfen. Ich versuchte es, so wie er mir gestern sein Geheimnis anvertraut hatte, so würde ich es jetzt auch tun. „Er will nicht, dass ich mit Schnee spiele. Er findet das zu kindisch. Ihm zu Liebe habe ich damit aufgehört. Und so ist es auch besser.“ „Deshalb hast du dich also so verändert.“ Er drehte sich von mir weg und schaute ihn die Ferne. „Und ich dachte schon, dass ich mich in dir geirrt hätte.“ „Was? Wieso geändert?“ Er hatte es also doch bemerkt. Bei diesen neuen Jack war das kaum verwunderlich. Er hatte wegen seinem Image nur nichts sagen dürfen. „Ich habe dich gesehen, als du den Schneemann gebaut hast. Ich habe dir zugeschaut. Und da war dieses Strahlen, was dich umgeben hat. Du warst glücklich. Nur weil du diesen Schnee zu einem Etwas geformt hattest. Ich habe direkt gesehen, dass du ein sehr lebenlustiger Mensch bist. Doch am nächsten Tag war dieses Strahlen verschwunden. Du warst vollkommen verändert. Du hast kaum noch gelacht, zumindest nicht richtig-“ „Nein, das stimmt nicht. Mir geht es gut. Alle wollen mir einreden, dass ich nicht mehr fröhlich bin, doch das weiß ich selber doch am besten. Mir geht es prima.“ Meine Stimme wurde immer lauter. „Ich habe doch Chris, was will ich mehr?“ „Wieso verlangt Chris so etwas von dir?“ Jacks Stimme war so ruhig. Ich war fast am durchdrehen und er schaute mich nur ganz normal an. Wie konnte er denn so ruhig bleiben? „Ich weiß es nicht“, gab ich zu. Es störte mich ungemein, dass Jack genau die Frage gestellt hatte, die ich mich auch immer gefragt habe. „Es ist ein bisschen seltsam, findest du nicht?“, hakte er weiter darauf herum. „Ja, kann schon sein. Aber ich wollte ihn nicht verlieren. Ich liebe ihn, weißt du?“ Ich schaute Jack an. Er schien nicht mehr so ruhig zu sein, wie noch eben. Ich konnte seinen Blick nicht ganz deuten. „Und Chris liebt mich auch. Das hat er mir gesagt. Er liebt mich, verstehst du? Ich darf ihn nicht enttäuschen. Ich will ihn nicht verlieren.“ Ich spürte, wie mir eine Träne über die Wange lief. „Er liebt dich?“ Jacks Stimme wurde lauter. Er schien wütend zu sein. Aber warum? „Wenn er dich wirklich lieben würde, würde er nicht so etwas von dir verlangen. Er würde nicht zulassen, dass dir etwas Wichtiges genommen wird.“ Was? Wie konnte Jack behaupten, dass Chris mich nicht liebte? Er kannte uns beide doch kaum. Er hatte keine Ahnung von unserer Beziehung. Ich sah ihn an und ich wusste, dass ich den ganzen Hass, den ich plötzlich verspürte, ihm entgegenwarf. Ich war wütend. Wütend, dass er sowas überhaupt nur sagen konnte. Was wollte Jack eigentlich von mir? „Was willst du?“, schrie ich ihm entgegen. Er sollte mir einfach nur eine Antwort geben. Sagen, warum er so etwas von sich gab. Mir erklären, was er eigentlich wollte. „Ich will, dass du glücklich bist!“, kam es genauso laut zurück. „Ich kann es nicht ertragen, dich so unglücklich zu sehen. Du darfst nicht so werden wie ich. Unglücklich, um glücklich zu sein. Das tut im Nachhinein nur noch mehr weh.“ „Du hast doch keine Ahnung.“ Ich sprang auf und lief. Ich lief davon. Ich konnte ihm einfach nicht länger in die Augen blicken. Es lag nur Mitleid darin und das ertrug ich nicht. Genausowenig wie seine Worte. Ich wollte es einfach nicht mehr hören. Nicht auch noch von ihm. Es fing an zu schneien. Meine Schritte wurden endlich langsamer, bis ich schließlich stehen blieb. Ich schaute in den Himmel hinauf. Die Flocken segelten zur Erde. Ein paar landeten auf meinem Gesicht, vermischten sich mit meinen Tränen, die einfach nicht aufhören wollten, aus meinen Augen zu fließen. Vermisste ich den Schnee wirklich so sehr? War ich unglücklich gewesen, ohne es zu bemerken? Aber ich liebte Chris und ich wollte ihn nicht enttäuschen, wollte ihn nicht verletzten. Wenn er es so wollte, konnte ich damit leben. Oder nicht? Jack hatte doch keine Ahnung. Er wusste nicht, wie weh es tat, jemanden zu verlieren. Doch er wusste es. Er hatte es mir doch gestern erzählt. Dieses Gefühl war der Grund gewesen, warum er sich verändert hatte. Und genau deshalb hatte ich mich auch verändert. Wurde ich wirklich so wie Jack? War der Schnee eine Art Freund für mich, den ich nun auch verloren hatte? Doch wer war für mich wichtiger? Chris oder der Schnee? Ich schaute noch einmal hinauf in den Himmel, betrachtete die hinunterfallenden weißen Flocken und musste zugeben, dass ich es nicht wusste. Gestern hätte ich noch laut „Chris“ geschrien, doch heute war ich mir nicht sicher. Jack hatte mich mit seinen Vortrag richtig verwirrt, denn es klang sehr logisch, was er gesagt hatte. Warum tat Chris überhaupt so etwas? Alle anderen hatten bemerkt, dass ich mich verändert hatte und störten sich daran, nur Chris schien es nichts auszumachen. Er nahm mich so wie ich war, obwohl ich nicht mehr die Alte war. Vielleicht liebte er nur die neue Cat und die alte Cat war nur eine gute Freundin für ihn gewesen. Und vielleicht wollte ich aber wieder die alte Cat sein, die glücklich gelacht hat, wenn es angefangen hat zu schneien. Ich zog mir meinen Handschuh aus und fing ein paar Flocken darin. Sie waren kalt, doch in meinen Körper kam eine Wärme auf, die ich sehr vermisst hatte. Ja, ich wollte wieder die Cat werden, die wie ein kleines Kind den Schnee kaum erwarten kann. Die jeden damit auf die Nerven fällt und einfach nur glücklich ist, weil es draußen eine weiße Landschaft geworden ist. Aber alleine würde ich das nicht schaffen. Ich drehte sofort um und lief zurück zur Bank. Doch Jack war schon weg. Wer könnte ihm das verübeln. Ich hatte ihn angeschrien, obwohl er das gar nicht verdient hatte. Er wollte mir nur helfen und ich hatte ihn verjagt. Das geschah mir Recht. Doch ich wollte mich trotzdem immer noch verändern. Ich rannte wieder los und hielt erst an, als ich zu Hause war. Ein kurzes „Ich bin zurück“ zu meiner Mutter und da war ich auch schon die Treppe hoch. Langsam ging ich auf die Tür zu, klopfte vorsichtig an und machte die Tür auf. Wir hatten seit einer Woche nicht miteinander geredet und ich hatte ein bisschen Angst, wie sie reagieren würde. Erst sah sie mich ziemlich wütend an, doch dann änderte sich ihr Blick. Sie lächelte. Bemerkte sie etwa, dass ich wieder anders war? „Lucy, ich brauche deine Hilfe.“ Kapitel 6: Ein nicht leicht auszuführender Plan ----------------------------------------------- Ein nicht leicht auszuführender Plan Wir hatten den ganzen Abend gequatscht, was wirklich wunderbar gewesen war. Ich wusste gar nicht, wie sehr ich Lucy vermisst hatte. Eine Lösung war auch schnell gefunden gewesen. Doch ich musste zugeben, dass ich Angst vor ihr hatte. Für Lucy war der Fall klar gewesen, aber sie war auch nicht sechs Monate mit Chris zusammen gewesen. Ich sollte ihn vor ein Ultimatum stellen, so wie er es vor einigen Wochen mit mir getan hatte: entweder ich durfte wieder im Schnee herumtollen oder ich würde gehen. Und genau das machte mir zu schaffen. Ich hatte Angst, dass ich es nicht überzeugend rüberbringen konnte. Ich hing einfach viel zu sehr an Chris. Immerhin war er der liebste Mensch, den ich bisher kennen gelernt habe. Nervös stand ich vor dem Spiegel und zupfte mir an den Haaren. Wenn ich unsicher war und vor irgendetwas Angst hatte, wusste ich nie, was ich mit meinen Haaren anfangen sollte. Schließlich ließ ich sie offen mit einer Hello Kitty-Spange an der Seite. Diese Frisur hatte ich auch bei unserem ersten Date getragen. Ich betrachtete mich noch einmal im Spiegel und lächelte mir zu, doch zusätzlichen Mut brachte das nicht. Es war zum Verrücktwerden, ich würde mich das niemals trauen. Plötzlich klopfte es an der Badezimmertür. „Herein“, rief ich. Lucy spinkste vorsichtig herein. „Du siehst gut aus“, stellte sie fest. „Aber trotzdem musst du das Bad nicht eine halbe Stunde lang blockieren. Es gibt auch noch andere Leute, die zur Schule müssen.“ erschreckt schaute ich auf die Uhr. Tatsächlich. Schon eine halbe Stunde versuchte ich mir hier vergeblich Mut zu machen. „Tut mir leid“, meinte ich. „Ich habe wohl die Zeit vergessen.“ „Ja, ja, ist schon gut“, winkte sie ab. „Aber jetzt geh lieber nach unten. Mama bekommt gleich einen Tobsuchtsanfall, weil du noch nichts gegessen hast.“ Lucy lächelte mich an. Ich lächelte gequält zurück. Mir war heute einfach nicht zum Lachen zumute. Ich steuerte auf die Tür zu, doch bevor ich draußen war, hielt mich Lucy nochmal zurück. „Hey, das schaffst du schon.“ Ich nickte ihr zu. Dieser eine Satz hatte mir viel mehr gebracht, als das halbstündige Selbstgespräch, was ich eben mit mir geführt hatte. Ich lächelte ihr noch einmal zu, diesmal ein etwas ehrlicheres Lächeln, und verschwand dann endlich aus dem Badezimmer. Nun stand ich im Flur und wartete auf Chris. Zuvor hatte ich noch etwas gegessen, damit meine Mutter zufrieden war. Ungeduldig sprang ich von einem Fuß auf den Anderen. Immer wenn ich nervös war, wurde ich hibbelig. Das war eine schlechte Angewohnheit von mir. Da gab es nur eine Sache, die ich tun konnte. Ich atmete ein paar Mal tief ein und aus, beruhigte mich somit. Normalerweise funktionierte das bestens, doch heute wollte es nicht klappen. Kaum war ich etwas in mich gegangen, hallte auch schon der Satz „Du musst es ihm gleich sagen“ durch meinen Kopf hindurch und die Ruhe war verflogen. Ich starrte zur Tür. Wann kam Chris denn endlich? Je früher er kam, desto früher würde es auch vorbei sein. Ich hatte mich gerade dazu entschlossen, nach draußen zu gehen und ihm sogar eventuell etwas entgegen zu gehen, als ich Gepolter auf der Treppe vernahm. „Warte“, schrie Lucy ganz laut. Also blieb ich noch etwas stehen. Sie peste hinunter und kam völlig aus der Puste vor mir an. Sie stütze ihre Hände auf die Knie, um Luft zu holen. „Ich habe noch etwas für dich“, keuchte sie kaum hörbar. Sie hielt mir ein Stück Papier entgegen. Ich faltete das Papier auf. Es war ein Bild, bei Lucy auch nicht anders zu erwarten. „Da habe ich die ganze Nacht noch dran gearbeitet.“ Es war wirklich süß. Eine kleine Katze mit einem triumphierenden Blick warf Schneebälle auf einen dumm dreinschauenden Hund. Darüber stand in schwarzen Buchstaben: „Mach ihn fertig!“ Sehr direkt. Aber Lucy war immer direkt. Was sie meinte, sagte sie auch. So war sie nun mal und so liebte ich sie auch. Als sie wieder gerade stand, warf ich mich ihr um den Hals. „Vielen Dank. Du hast mir wirklich geholfen. Du hast was gut bei mir.“ „Das will ich auch hoffen. Immerhin hast du mich wochenlang ignoriert“, betonte sie nochmal. Auch wenn sie das nur scherzhaft gemeint hatte, versetzte es mir doch einen kleinen Stich. Ich wusste, dass ich mich dumm aufgeführt hatte. Sogar mehr als dumm. Aber ich würde das auch wieder gut machen. Dann klingelte es endlich. Lucy sah mich noch einmal an und ich grinste ihr zu. Ich steckte das Bild in meine Tasche und öffnete die Tür. Da stand er, Chris. Er sah noch immer unglaublich gut aus und seinen Charme hatte er auch nicht verloren. Doch jetzt würde die Stunde der Wahrheit kommen. Seit zehn Minuten ging ich nun schon stumm neben ihm her. Wie schon befürchtet, traute ich mich einfach nicht, es ihm zu sagen. Ich hatte Angst. Ich hatte furchtbare Angst. Chris hatte natürlich bemerkt, dass es mir nicht gut ging. Ich hatte ihm damit abgewimmelt, dass ich schlecht geschlafen hätte. Vielleicht brauchte ich einfach noch ein bisschen Zeit oder noch mehr Unterstützung, wie von Jenny und Lily oder sogar Jack. Ich wurde ein bisschen zuversichtlicher, als ich an meine Freunde dachte und schwor mir, auf jeden Fall noch heute mich Chris zu sprechen. Auf der Treppe verabschiedete ich mich von Chris und ging zum Mathematikunterricht. Dort würde ich als erstes mit Jenny reden und dann vielleicht auch noch mit Jack, wenn er mir verzeihen konnte. Ich ließ mich auf den Stuhl neben Jenny gleiten, die mich keines Blickes würdigte. Das wunderte mich nicht und ich wusste auch, dass ich das mehr als alles andere verdient hatte. Aber trotzdem versuchte ich es mit einer Konversation: „Die Reportage von gestern hat mir sehr gut gefallen.“ Zwar reagiert sie noch nicht wirklich, aber ich sah, dass sie ihre Ohren gespitzt hatte. „Vielleicht ein wenig zu bissig-“ „Bissig?“ Jenny klang entrüstet. „Du musst es doch zugeben, Cat, dass Natalie das verdient hat. So schnell wie die einen Freund verschleißt...“ „Ja, vielleicht hast du Recht“, gab ich mich geschlagen. Ich rückte ein bisschen näher an sie ran. „Ich hätte vielleicht bald noch eine andere Story für dich. Auch eine heiße Trennungsgeschichte. Doch die wird unter meinen Bedingungen geschrieben.“ Ich war froh, dass ich so unbefangen darüber reden konnte, auch wenn ich immer noch Zweifel hatte. Jenny gab mir wirklich mehr Mut, als ich vorher hatte. Diese sah mich doch nur verdutzt an, weil sie nicht richtig verstand. Sonst stand sie eigentlich nie so lange auf den Schlauch. „Ich erklär‘s dir in der Pause. Da muss ich dann auch noch mit Lily reden.“ Jenny lächelte mir zu und seit vielen Wochen ging es mir endlich mal wieder richtig gut. Und vielleicht würde Chris das auch einsehen. Dann kam leider Mr. Henderson hinein und ich musste mein Gespräch mit Jenny einstellen. Ich schaute deprimiert nach links. Jack war noch nicht da. Ich seufzte und konzentrierte mich, so gut es ging, auf den Unterricht. Mathe schaffte es fast in allen Lebenslagen mich abzulenken. Die ganze Stunde starrte ich jedoch gebannt auf die Tür und wartete darauf, dass Jack hindurch kam. Auch Mr. Henderson blieb nicht verborgen, dass Jack nicht anwesend war. „Wo ist denn Mr. Newsome? Am Anfang hatte ich noch gedacht, dass er sich verspätet, aber nun ist ja schon die halbe Stunde um.“ Er schlug das Klassenbuch auf, um ihn als fehlend einzutragen. „Da wird er wohl mal wieder blau machen. Dieser Junge wird es später zu Nichts bringen“, redete er vor sich hin. „Mr. Henderson? Ich glaube, dass Jack wieder weggezogen ist“, kam es aus der hintersten Ecke von Ronny. Ich drehte mich alarmiert zu ihm um. Das konnte doch nicht sein. „So ein Schwachsinn, Mr. Jackson. Er ist doch gerade mal ein Monat hier. Da wird er doch nicht wieder wegziehen.“ Ich atmete erleichtert aus. Ich hatte schon einen Schreck bekommen. „Also Jack hat mir am Anfang erzählt, dass es hier für seinen Vater nur eine Übergangslösung sei. Sie wollten von vornherein nur einen Monat bleiben. Und der ist jetzt glaube ich um.“ Ronny zählte an seinen Fingern die Wochen ab, während ich erneut Panik bekam. Warum hatte Jack mir nichts davon erzählt? Wir hatten gestern Freundschaft geschlossen und so etwas Wichtiges verheimlichte er mir? „Na gut, sie scheinen ja sehr informiert zu sein. Das ist natürlich schade, dass Mr. Newsome uns so schnell wieder verlässt“, sagte Mr. Henderson wenig überzeugend. Den Rest der Stunde dachte ich nur an Jack. Es war komisch, aber Chris hatte ich so gut wie vergessen. Ich konnte nur noch daran denken, ob ich Jack noch einmal sehe. Oh Gott, hatte ich mich etwas ...? Nein! Wahrscheinlich lag es nur daran, dass wir gestern im Streit auseinander gegangen waren. Ich wollte es einfach wieder gut machen. Ich hatte ihn angeschrien. Ohne eine Entschuldigung konnte ich ihn schlecht gehen lassen. In der Pause traf ich mich mit Jenny und Lily. Jenny musste ein wenig Überredungskunst anwenden, damit Lily mitkam. Es war schwieriger sich bei Lily zu entschuldigen als bei Jenny. Sie war viel anspruchsvoller. Ein kleines Lob und Sticheleien wirkten bei ihr nicht. Da musste schon eine anständige, wirklich ernst gemeinte Entschuldigung her. Doch mir tat es ja unglaublich leid, daher war dies auch nicht so schwierig, wie ich zuerst befürchtet hatte. Lily hat mich dann sogar irgendwann in meiner „Ich war ein Idiot“-Rede unterbrochen und wollte fieberhaft wissen, was mich nun endlich wieder zur Vernunft gebracht hat. So erzählte ich den beiden, was die letzten Tage passiert war. Ich berichtete ihnen, wie ich zuerst Jack geholfen hatte und wie Jack dann schließlich mir geholfen hatte. Den Plan von Lucy ließ ich natürlich auch nicht aus. Jedoch erwähnte ich nicht, dass ich sehr besorgt war, ob ich Jack noch einmal treffen würde. Die beiden hörten gebannt zu, so wie ich es von ihnen gewöhnt war und an manchen Stellen grinsten sie auch breit, was ich nicht so ganz verstand. Als ich zum Beispiel von Jack anfing, lächelte Jenny etwas eigenartig und Lily blickte zu Boden, was sie immer tat, wenn sie etwas verheimlichen wollte. Ich ging jedoch nicht näher darauf ein. Wenn sie ein Geheimnis hatten, war das okay. Ich hatte sie immerhin ein paar Wochen lang belogen. Als ich dann endlich mit meinen Erzählungen geendet hatte, ließen sich die beiden es natürlich nicht nehmen, mir ihre Meinung mitzuteilen. „Ich finde es wirklich toll, dass du uns endlich alles erzählst“, gestand Lily. „Doch du hättest schon viel früher kommen sollen. Wir hätten dich doch auch geholfen.“ „Ich weiß, Lily. Es tut mir auch furchtbar Leid.“ Ich nahm ihre Hand. „Aber ich war einfach völlig blind. Ich hatte solche Angst, Chris zu verlieren.“ Lily nickte verständnisvoll. Das war mehr wert als jedes Wörtchen von ihr. „Meintest du deine Trennung sei eine heiße Story? Das kommt höchstens auf die Seite ‚Was die letzte Woche alles geschah.‘ Dafür werde ich doch keine Wörter verschwenden, außer du gibst mir die Erlaubnis.“ Ich sah in Jennys Augen, dass sie wirklich heiß auf die Story war. „Aber nur zu meinen Bedingungen, wie ich schon gesagt habe. Und außerdem hoffe ich immer noch, dass es nicht dazu kommt, denn dafür mag ich Chris viel zu sehr.“ „Ja, wir drücken dir die Daumen“, meinte Lily. Doch ich merkte, dass sie es nicht ernst meinte. Verübeln konnte ich es ihnen nicht. Chris trug an den ganzen Ärger mit Schuld. Der Schulgong ertönte. So eine Pause konnte schnell vorbei sein. „In der zweiten Pause rede ich mit Chris. Entweder ihr beobachtet es von weitem oder ich berichte euch alles nach der Schule.“ „Natürlich sind wir dabei. Live gesehene Storys sind glaubwürdiger als recherchierte. Außerdem will ich mir den Spaß nicht entgehen lassen“, rief Jenny heraus. Ich war froh, dass wenigstens die beiden dieses Gespräch als Spaß ansahen. Bei mir kam langsam wieder die Angst davor zurück. Die nächsten Stunden vergingen wie im Flug und schon sah ich mich neben Chris wieder. Ich stupste ihn an, weil er gerade mit einem Team-Kollegen am reden war. „Können wir kurz unter vier Augen sprechen?“ So, der erste Schritt war getan. Chris entschuldigte sich kurz bei Sam (zumindest glaube ich, dass er so heißt), nahm mich an die Hand und wir entfernten uns ein paar Schritte, sodass wir ungehört blieben, wenn man nicht genau darauf achtete. Ich atmete noch einmal tief durch. Ich würde es ihm jetzt sagen. Ich würde nicht weglaufen und ich würde es auch nicht mit irgendwelchen Ausreden probieren. Nur die Wahrheit, nur der Plan von Lucy. „Also, Chris, ich wollte etwas Wichtiges mit dir besprechen“, fing ich an. Meine Stimme zitterte schon leicht. Ich befahl ihr, dass sie ruhiger werden sollte. „Kannst du dich noch an den Tag des ersten Schnees erinnern?“, fragte ich ihn. Vielleicht half es ein wenig, wenn erstmal Chris etwas sagte. „Was soll denn an diesen Tag gewesen sein?“ Chris schien wirklich schwer zu überlegen. „Naja, als du mich nach der Schule dabei gesehen hast, wie ich einen Schneemann gebaut habe“, half ich ihm auf die Sprünge. „Einen Schneemann?“ Er tat wirklich unwissend. Das gab es doch gar nicht. „Das machen doch nur kleine Kinder.“ „Ja, genau.“ Jetzt hörte sich meine Stimme ein bisschen gereizt an. Das konnte doch nicht wahr sein. Für mich war dieser Tag ausschlaggebend gewesen und er konnte sich nicht einmal daran erinnern? „Das hast du mir damals auch gesagt und du hast mir verboten, mit Schnee zu spielen!“ So mal sehen, was er darauf zu sagen hatte. „Nein.“ Was? Wie kam er denn jetzt auf die Frechheit so etwas zu behaupten. „Ich habe dir nie etwas verboten. Was wäre ich denn da für ein Freund? Ich habe nur dein Angebot angenommen, dass du es für mich unterlassen willst. Aber verboten habe ich es nicht.“ Ich hielt inne und dachte nach. Oh mein Gott. Er hatte recht. Ich hatte Angst gehabt, dass er mich verlässt, doch davon hatte er auch nie etwas gesagt. Ich hatte es nur angenommen. Also war das ganze nur ein Missverständnis gewesen? Hatte ich mich ganz umsonst diese Wochen so verrückt gemacht? Ein Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus. „Also kann ich mit Schnee spielen und du hast nichts dagegen?“ Chris schüttelte den Kopf. „Nein, das stimmt nicht so ganz. Du kannst natürlich mit Schnee spielen, wenn du willst, aber eigentlich hätte ich es lieber, wenn du es nicht tust. Es gibt so viele Schüler, die das für kindisch halten und dich dann nur noch auslachen werden. Wahrscheinlich bekommst du dann auch für das ganze nächste Jahr einen Spitznamen. Ich möchte nicht, dass dir so etwas passiert, darum hatte ich dich gebeten, es zu unterlassen. Und wie du siehst, warst du sehr beliebt. Also, was ist, wie entscheidest du dich?“ Im ersten Moment dachte ich, dass Chris wirklich der coole Typ war, für den ich ihn immer gehalten habe und wollte ihm sagen, dass es wirklich süß ist, wie viel Sorgen er sich um mich macht, doch dann sah ich es wieder in seinen Augen. Den gleichen Ausdruck, den er schon gehabt hatte, als ich gefragte habe, ob jemand mit mir einen Schneemann bauen will. Damals konnte ich den Blick nicht deuten, doch heute hatte ich keine Zweifel. Es war pure Angst. Er sah zu seinen Freunden hinüber und hatte Furcht in seinen Augen. Mir hatte er eine Frage gestellt und schaute doch hinüber zu seinem Team. Seinem Team, die ihm zum Captain gewählt hatte. Und plötzlich wurde es mir klar. Es war keine Angst, mich unglücklich zu wissen. Nein! Es war Angst, um sein Image. Angst, dass er den Posten des Captains verlieren könnte, nur weil er so eine kleine kindische Freundin hatte. Ich dachte an Lucys Bild und plötzlich fiel es mir überhaupt nicht mehr schwer, den ausgearbeiteten Plan auszuführen. „Weißt du, Chris, ich muss zugeben, dass ich Schnee einfach liebe und dass ich ungern damit aufhören würde. Ich weiß, dass du nur mein Bestes willst, doch ich kann schon alleine auf mich aufpassen. Und außerdem bin ich sicher, dass du mich vor den bösen Leuten beschützen wirst, oder?“ Das war meine beste Vorstellung, die ich bis jetzt hingelegt hatte. Chris sah mich erschreckt an. Mit so einer Antwort hatte er wohl nicht gerechnet. „Was? Bist du dir sicher?“, fragte er noch einmal nach und schaute weiterhin zu seinem Team, um sich zu vergewissern, ob sie etwas mitbekommen hatten. „Ja, ich bin mir sicher“, bestätigte ich. „Ich weiß, du findest das nicht gut, aber ich muss auch manchmal an mich denken.“ „Cat, bedenke, dass sie dich zerreißen werden. Ich habe Angst davor, dass du das nicht aushältst. Ich mache mir Sorgen um dich.“ „Ach ja?“ Ich sah ihn herausfordernd an. Meine Stimmlage zwang ihn zum ersten Mal in diesem Gespräch mich für kurze Zeit direkt anzusehen. „Ich glaube eher, dass du dir um dich Sorgen machst. Du hast mich gerade zum ersten Mal angesehen. Davor hast du nur zu deinen Freunden geschaut. Du hast Angst, dass du zerrissen wirst. Mir geht es blendend, doch du machst dir vor Angst fast in die Hosen. Du kannst den Gedanken nicht ertragen, dass dich deine Freunde vielleicht wegen deiner komischen Freundin auslachen oder sogar einen neuen Captain wählen. Dann wäre es nämlich mit deinem Ruf zu Ende und mittlerweile glaube ich, dass das dir das wichtigste im Leben ist.“ „Nein.“ Er hielt meine Hand fest. „Ich habe dir doch gesagt, dass ich dich liebe. Und du liebst mich auch.“ „Ja, das stimmt. Ich habe den Chris geliebt, für den ich dich gehalten habe. Es kann auch sein, dass du mich magst, doch nur solange ich dir nicht im Weg bin. Und ab heute werde ich wohl das für dich sein.“ Ich riss meine Hand los und wandte mich von ihm ab, um zu gehen. „Warte!“, rief er mir hinterher. Das tat er so laut, dass nun alle interessiert zuschauten. Ein paar hatten schon früher die Aufmerksamkeit auf uns gerichtet, doch das hatte ich beflissentlich ignoriert. Ich drehte mich noch einmal zu Chris um. „Wenn du mich wirklich lieben würdest, wenn ich dir wirklich wichtiger bin als dein Image, würdest du jetzt die richtigen Worte finden, um mich aufzuhalten.“ Alle Augen starrten nun auf Chris. Er tat mir schon ein wenig Leid, doch es tat auch gut. Er hatte mich die ganzen sechs Monate angelogen. Er hatte mich nur benutzt, um ein besseres Image zu bekommen. Ich wartete noch ein paar Sekunden, doch kein Wort kam mehr aus Chris heraus. Also drehte ich mich wieder um und ging. Als ich an den Cheerleadern vorbei kam, wandte ich mich noch schnell an ihre Kapitänin. „Hey, Cynthia“, rief ich ihr zu. „Ich glaube, dass ich doch nicht in eurer Team komme. Kurze Röcke stehen mir einfach nicht.“ Und mit einen breiten Grinsen verließ ich das Schulgebäude. Ich streckte meine Arme aus und drehte mich im Kreis. Der herunterfallende Schnee begrüßte mich, als ob er froh darüber wäre, dass wir wieder vereint waren. Es tat so gut, hier zu stehen, und keine Schuldgefühle zu haben. Es tat gut, einfach wieder die alte Cat zu sein. Und ich konnte auch gar nicht mehr aufhören zu grinsen. Ich war einfach nur unglaublich glücklich. „Das war wirklich mal spannend“, ertönte die prägnante Stimme von Jenny. „Ich glaube, dass ich auch schon die richtige Überschrift im Kopf habe: ‚Chris verliert das Wichtigste in seinem Leben!‘. Also werde ich dich kaum erwähnen.“ Lily kam auf mich zugerannt und packte sofort meine Hände. „Und, wie geht es dir, Cat? Du darfst ruhig weinen, wenn du traurig bist. Immerhin warst du solange mit Chris zusammen.“ Am Anfang hatte ich auch gedacht, dass ich weinen müsste, doch jetzt war mir nur zu Lachen zumute. „Nein, Lily, mir geht es gut. Aber danke für dein Mitgefühl. Ich glaube, dass ich in den letzten Wochen so unglücklich war, dass ich jetzt einfach nur fröhlich sein kann. Vielleicht kommt die Trauer dann noch später.“ Lily nickte verständnisvoll, aber Jenny schob sich zwischen uns. „Ist doch Schwachsinn. Diesem Jungen sollte man keine Träne nachweinen. Der hat das gar nicht verdient. Er hat dich sechs Monate nur an der Nase herumgeführt. Das werde ich ihm nicht verzeihen. Es gibt hier viel bessere Jungen auf der Schule.“ Plötzlich klingelten bei mir die Alarmglocken. Jack war einer dieser besseren Jungen. Ich musste unbedingt heute noch zu ihm. Ich drehte mich um und lief los. „Hey, wo willst du denn hin, Cat? Die Schule ist doch noch gar nicht zu Ende“, rief Lily mir hinterher. Stimmt ja, das hatte ich gerade vollkommen vergessen. Aber ich musste das jetzt unbedingt machen. Würde ich jetzt noch zu den letzten Stunden gehen und in nachher nicht sehen können, würde ich mir das nie verzeihen können. „Es tut mir leid.“ Ich blieb noch einmal kurz stehen. „Ich habe noch etwas wichtiges zu tun. Ich werde euch in den Ferien auf jeden Fall anrufen. Dann machen wir etwas Schönes zusammen.“ Lily schien noch etwas sagen zu wollen, doch Jenny hielt sie zurück, indem sie ihr etwas zuflüsterte. „Okay, wir sehen uns dann.“ Sie winkte mir zu und Lily tat es auch nach einiger Zeit, jedoch etwas widerwillig. „Okay, tschüss.“ Ich wollte gerade wieder los laufen, als mir etwas einfiel. Ich bückte mich zum Boden und erledigte die Vorbereitungen. „Ich habe noch etwas für euch, sozusagen als kleines Weihnachtsgeschenk. Hier.“ Und somit warf ich den einen Schneeball genau auf Lily und den anderen auf Jenny. „Cat!“, schrien beide aus vollem Mund. Doch ich hatte mich schon wieder umgedreht und lief mit erhobenen Arm davon. „Tschüss. Bis bald.“ Epilog: Man braucht Freunde, um glücklich zu sein! -------------------------------------------------- Epilog: Man braucht Freunde, um glücklich zu sein! Ich lief solange, bis mir plötzlich einfiel, dass ich gar nicht wusste, wo Jack wohnte. Ich blieb abrupt stehen, um zu schauen, wo ich mich befand. Im „Park der Liebenden“, wie er von den Jugendlichen genannt wurde. Niedergeschlagen schlenderte ich weiter. Wie sollte ich mich von Jack verabschieden, wenn ich nicht einmal wusste, wo er wohnte? Mir fiel auch keiner ein, der es wissen könnte. In der Schule konnte ich auch schlecht nachfragen, da ich ja gerade blaumachte. Deshalb war ich sehr traurig und hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben, bis ich zu meinem Lieblingsplatz kam. Ich traute meinen Augen nicht. Nach all den Wochen... Ich lief zu ihm hin. „Oh, Henry. Du hast ja einen Zylinder auf und einen Schal hast du auch.“ Ich nahm den Schal in meine Hand, um ihn näher zu betrachten. Es war ein sehr Schlichter, hellblau, doch an seinem Ende war in goldenen Buchstaben ‚Henry‘ eingestickt. „Und sogar mit deinem Namen darauf.“ „Ich dachte, dass Henry vielleicht friert.“ Ich drehte mich um. So froh, da ich schon befürchtet hatte, diese Stimme nie wieder zu hören. „Außerdem wollte ich dieses Lächeln noch einmal sehen.“ Ich schenkte ihm zu gern dieses Lächeln, doch ich bezweifelte, dass dieses Lächeln nur Henry zu verdanken war. „Woher wusstest du seinen Namen? Ich habe ihn nicht erwähnt.“ „Ich habe mir den Namen von zwei jungen Damen besorgt. Der war aber wirklich nicht billig. Du willst gar nicht wissen, was ich dafür tun musste.“ Typisch Jenny. Nicht ist umsonst. Aber nun wusste ich wenigstens, warum die beiden so gegrinst hatten. „Also ich wollte-“, fingen wir beide gleichzeitig an. Das hatte ich bisher nur in Filmen gesehen. Jetzt würden wir gleich, wieder zu selben Zeit, „Du zuerst“ sagen. Auf dieses Spielchen hatte ich jedoch keine große Lust, deshalb wartete ich einfach, dass Jack mir den Vortritt gab. „Ladies first“, sagte er schließlich. „Ich wollte mich entschuldigen. Ich habe dich angeschrien, was du gar nicht verdient hast. Du hattest nämlich vollkommen Recht. Und außerdem wolltest du mir nur helfen. Es tut mir wirklich leid.“ Dieser Tag war absoluter Rekord. So oft hatte ich mich noch nie bei so vielen Leuten entschuldigt. „Du hast dich also von Chris getrennt?“ Jack wollte wohl neutral klingen, doch ich bemerkte, dass er sich freute. Mir ging es natürlich auch nicht viel anders. „Ja, das habe ich. Er war wirklich ein Mistkerl. Hättest du heute nicht blau gemacht, hättest du die Show auch gesehen.“ „Das ist ja schade, dass ich das verpasst habe. Aber ich hatte noch etwas Wichtiges zu erledigen. Und das konnte leider nicht mehr warten“, erklärte er. Und jetzt war ich mir ziemlich sicher, dass er wegzog. Was sollte er sonst meinen? Aber ich wollte wirklich hundertprozentig sicher sein. „Jack, darf ich dich etwas fragen?“ „Ja, klar.“ „Fährst du weg?“ Mein Herz raste wie wild. Sag nein. Bitte sag nein. Einfach nur nein. „Ja, heute Abend schon“, sagte er und ich hatte das Gefühl, dass Etwas in mir wieder verloren ging, etwas, was ich gerade erst wieder gewonnen hatte. „Deshalb bekommst du auch schon heute dein Weihnachtsgeschenk.“ Er holte ein kleines Päckchen hinter seinem Rücken hervor. Auf dem Geschenkpapier waren viele kleine Schneemänner drauf. Ich nahm es zaghaft entgegen. Vorsichtig löste ich die Schleife und nahm den Deckel ab. Es war eine Schneekugel, in der eine kleine Katze saß. „Ich habe mir gedacht, dass es so für dich das ganze Jahr über schneien kann. Und du bist mittendrin.“ Er zeigte auf die Katze. „Lies auch noch die Inschrift“, forderte er mich auf. „Du brauchst Freunde, um glücklich zu sein!“, stand darauf. Ja, das stimmte. Egal, wie die Freunde aussahen. „Und wenn Freunde gehen, tut es sehr weh“, ergänzte ich den Satz. Ich sah Jack in die Augen und konnte nicht verhindern, dass mir eine Träne über die Wange lief. „Hey, was hast du denn?“ Seine Hand kam meiner Wange näher, dann hielt er kurz inne, schien zu überlegen. Schließlich wischte er die Träne fort. „Ich will nicht, dass du gehst, Jack“, gestand ich ihm. „Was?“ „Ich will, dass du hier bleibst. Es ist nicht fair. Wir sind gerade mal einen Tag befreundet und schon musst du wieder fort.“ „Aber die zwei Wochen kommst du doch auch bestimmt ohne mich klar, oder?“, fragte er mich. Ich sah ihn verwirrt an. „Was? Ziehst du nicht weg?“ Jetzt verstand ich überhaupt nichts mehr. „Nein, ich fahre nur in Urlaub“, meinte er. „Wer hat dir denn erzählt, dass ich wegziehe?“ „Ronny hat es gesagt. Er meinte, dass du von vornherein nur für einen Monat hier bleiben wolltest.“ Ich schluckte. „Als er das sagte, hatte ich furchtbare Angst, dich nicht mehr zu sehen, weil wir uns doch gestern so gestritten hatten.“ „Ja, stimmt, ich hatte Ronny davon erzählt.“ Er blickte in den Himmel, als ob er sich an etwas weit entferntes erinnern müsste. „Eigentlich hatte das mein Vater vor, aber die Stelle gefiel ihm so gut, dass er länger bleiben will. Er meinte, dass es vielleicht sogar für Immer ist.“ Jacks Stimme hallte nur so vor Hoffnung wider. Auch ich war jetzt voller Hoffnung. Mir fiel regelrecht ein Stein vom Herzen. „Das ist ja wirklich wunderbar und ich hatte geglaubt, dass ich dich nie wieder sehen werde.“ Ohne großartig darüber nachzudenken, fiel ich Jack um den Hals. Als ich bemerkte, was ich getan hatte, wollte ich mich wieder lösen, doch Jack hielt mich fest. Er kam mir ganz nahe. „Ich habe dir etwas verheimlicht“, flüsterte er mir ins Ohr. „Als ich am ersten Tag in die Klasse kam und dich erblickte, wusste ich sofort, dass mir mein Schutzpanzer diesmal nicht helfen würde. Ich mochte dich auf den ersten Blick und ich wusste, dass der Abschied mir schwer fallen würde. Ich hatte Angst davor, aber ich konnte nicht aufhören, mit dir zu reden, denn das tat noch mehr weh.“ Er ließ mich wieder los. Ich starrte zu Boden, denn ich wusste nicht, was ich sagen sollte, wie ich darauf reagieren sollte. Jack mochte mich. Ich war mir aber nicht sicher, ob ich ihn genauso sehr mochte. Oder vielleicht hatte ich auch einfach nur Angst. Immerhin kannte ich ihn erst einen Tag richtig. Sein wahres Ich war für mich noch ein ziemlich großes Rätsel. „Ich ... ich“, stotterte ich los, ohne überhaupt zu wissen, was ich sagen wollte. „Ist schon in Ordnung“, sagte Jack. „Du hast gerade erst mit deinen Freund Schluss gemacht und du bist dir noch nicht sicher, was du für mich empfindest. Ich kann warten. Ich kann lange warten.“ „Danke! Aber das brauchst du nicht.“ Ich streckt mich und drückte ihn einen Kuss auf die Lippen. „Du hast mich aus meinen Tief geholt und du weißt, was ich brauche.“ Ich zeigte auf Henry und hielt ihm die Schneekugel entgegen. „Und ich habe bemerkt, was ich für dich empfinde, als ich dachte, dass ich dich nie wieder sehe.“ Ich machte eine kurze Pause und schmiegte mich an ihn. „Ich dachte, ich hätte wieder einen Teil von mir verloren. Und es tat weh, es tat so unglaublich weh.“ Ich schaute ihm ins Gesicht. „Ich will dich nie wieder verlieren.“ „Ich dich auch nicht, Cat“, sagte er und küsste mich. Es war so ein schönes Gefühl, doch etwas musste noch korrigiert werden. „Nenn mich ruhig ‚Kätzchen‘. Das finde ich sehr süß.“ „Okay. Ab heute bist du mein Kätzchen.“ Wir verharrten noch etwas in dieser Position. Ich genoss es und wollte mich nie wieder von ihm lösen. Es tat einfach so gut, jemanden an seiner Seite zu wissen. Jemanden, der dich wirklich versteht. Schließlich löste sich Jack und zerstörte so diesen Moment. „Ich muss jetzt leider gehen. Mein Koffer ist noch nicht gepackt.“ „Aber ich habe gar kein Geschenk für dich. Dabei hast du mir so ein Schönes gemacht.“ „Das ist nicht nötig“, versicherte er mir. „Du bist Geschenk genug.“ „Warte.“ Ich hatte plötzlich eine sehr gute Idee. Ich nahm meine Spange aus meinen Haaren und legte sie in seine Hand. „Damit du mich über die zwei Wochen ja nicht vergisst. Dann bekomme ich sie aber zurück im Umtausch gegen dein richtiges Geschenk.“ „Vielen Dank, Kätzchen.“ Dann nahm er meine Hand und wir gingen gemeinsam aus dem „Park der Liebenden“ hinaus. Vieles verändert sich im Leben. Ich kann euch nur raten, lasst es einfach auf euch zukommen, denn meistens ist es eine Verbesserung. Denn selbst, wenn ihr denkt, dass gerade alles perfekt ist, kann es einstürzen wie ein Kartenhaus. Veränderungen können es dann wieder perfekt machen... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)