Seraphim von Alaiya (Das Erwachen (Wichtelfic)) ================================================================================ Kapitel 1: Seraphim - Das Erwachen ---------------------------------- Seraphim Ich sah ihm ungläubig in die Augen. Wieso? Wieso? Wieso? Warum hatte er das getan? Er erwiderte meinen Blick, doch der Ausdruck seiner Augen war kalt wie Eis. Kein Gefühl spiegelte sich in diesen Augen – nicht einmal Hass. War alles eine Lüge gewesen? Zitternd kniete ich hier auf dem Boden, die linke Hand an meiner rechten Schulter, aus der pulsierend das Blut lief und warm über meine Haut rann. Mein Hemd war bereits blutdurchtränkt. Immer wieder formten meine Lippen verzweifelt das eine Wort, ohne das ein Laut meinen Mund verließ. „Warum?“ Ich versuchte meinen rechten Arm zu heben, doch es gelang nicht – ich spürte ihn nicht einmal mehr. Langsam kam er auf mich zu, ohne den Blick von meinen Augen abzuwenden. Der Dolch, von dessen Klinge immer noch mein Blut tropfte, in seiner Hand. Wollte er mich nun endgültig töten? War es nun gänzlich vorbei? So schnell? Natürlich war es Nacht, als ich ihn das erste Mal traf. Eine sehr stille Nacht im Frühling – ja, diese Nacht war fast zu still. Kein Summen von Insekten war zu hören, obwohl es warm genug war, kein Zwitschern von Vögeln – nicht einmal das Geräusch von Autos, die die ferne Bundesstraße entlang fuhren. Doch vielleicht habe ich diese Stille auch erst später in meine Erinnerungen hinein konstruiert. Das Unterbewusstsein spielt einem ja öfter solche Streiche. Wie dem auch sei… Jedenfalls war ich in dieser Nacht mit meiner drei Jahre jüngeren Schwester, die ich eben von einer Freundin abgeholt hatte, auf dem Weg zu unserer Wohnung und wir durchquerten gerade den Stadtpark, da man so am schnellsten von der Innenstadt, wo ihre Freundin wohnte, zu uns nach Hause kam. Ein Auto hatten wir ja nicht. Es war bereits nach Mitternacht, als wir am See, der ziemlich in der Mitte des Parks lag und wo am Tag Eltern mit ihren Kindern Enten füttern gingen, vorbei kamen und wir es hörten. Es? Naja, das ist vielleicht der falsche Ausdruck dafür. Wir hörten wütende Schreie – ein Streit – etwas, was man eigentlich einfach ignoriert hätte, wenn man nicht hinein gezogen werden wollte, aber dann erklang plötzlich ein Geräusch, was uns beide zusammenfahren ließ: Ein Schuss. „Was war das?“, fragte meine Schwester – Karina – erschrocken und klammerte sich an meinen rechten Arm. „Da hat jemand geschossen…“ Ich nickte nur und sah mich angespannt um. Vielleicht wäre es das Beste, die Polizei zu rufen? Aber wir wussten ja nicht einmal, warum der Schuss gefallen war und wer ihn abgegeben hatte. Vielleicht war es auch einfach besser, die übliche Zivilcourage zu zeigen – also so zu tun, als hätte man nichts gehört und einfach zu gehen. Da erklang ein weiterer Schuss und ein Schrei, der gleichzeitig verzweifelt und wütend klang. „Was passiert dort?“ Meine Schwester zitterte. „Etwas, wo wir uns vielleicht besser von fernhalten sollten“, meinte ich ruhig, obwohl meine Gedanken rasten. Sollten wir wirklich einfach weitergehen? Es wurde wieder geschrieen, in einer Sprache die ich nicht kannte. Vielleicht waren das irgendwelche Bandenkriege? Zwar hatte ich bisher nicht gewusst, dass es so was in unserer kleinen Stadt gab, aber möglich war es durchaus. „Und wenn dort jemand stirbt?“, fragte Karina und sah mich flehend an. „Dann können wir auch nichts daran ändern“, erwiderte ich. „Wir können allerhöchstens die Polizei rufen.“ „Aber“, begann sie, doch ich packte sie am Arm und zog sie weiter. Da erklang ein weiteres Geräusch, kein Schuss, kein Schrei, etwas anderes, das ich nicht einordnen konnte, doch gleichzeitig stellten sich meine Nackenhaare auf und mein Körper spannte sich zur Flucht an. Hier lag etwas in der Luft. Ich wusste nicht, was es war, aber meine Instinkte warnten mich, dass es gefährlich war. „Der Tod“, murmelte meine Schwester und sah mit glasigen Augen in die Luft. „Der Tod ist hier.“ „Wir sollten hier weg“, meinte ich erneut und versuchte sie weiterzuzerren. Sie jedoch blieb stehen und starrte weiter. Es war nicht das erste Mal, dass ich sie so sah. Es lag an ihrem – unserem – Blut, dass sie Dinge spürte, sah, die anderen Menschen, die auch mir verborgen blieben. Trotzdem brachte sie uns gerade damit in unnötige Gefahr. Was auch immer da vor sich ging: Es war auch für uns gefährlich. Mittlerweile hatte ich sämtliche Theorien über Bandenkriege, Drogendealer oder ähnliches verworfen. Ich war mir sicher, dass das, was da vor sich ging, etwas Magisches war. Jäger? Dämonen? Im Moment wusste ich es nicht, wenngleich ich dahin tendierte, dass zumindest einer derjenigen, die dort kämpften, menschlich war – sonst hätte er keine Pistole benutzt. Selbst für die meisten Magier waren diese Schusswaffen unter ihrer Würde – so sagten zumindest all diejenigen, die wie so viele, die Menschen verachteten. Plötzlich – ohne Vorwarnung – riss sich Karina von mir los und rannte zum Gebüsch, am Rand des größeren Platzes, auf dem ich fassungslos im fahlren Licht stehen blieb. Mein Gehirn arbeitete mal wieder viel zu langsam und es dauerte einige Augenblicke, ehe ich begriff und ihr hinterher setzte. Mittlerweile hatte sie schon das Dickicht erreicht, war schon fast hindurch geschritten. Ganz genau wusste ich, dass ihr Blick noch immer genauso glasig war, wie vorhin. Sie handelte mehr oder weniger in Trance. Endlich – schon auf der anderen Seite des Gebüschs welches an meiner Kleidung gerissen hatte und einige blutige Kratzer auf meinen Händen und Armen hinterlassen hatte – erreichte ich meine Schwester und packte sie an der Schulter. „Karina!“ Sie wollte weiterlaufen. „Karina!“, rief ich erneut und riss sie unsanft zurück. Doch da glitt mein Blick an ihr vorbei auf den Boden. Dunkle Flecken, in der Finsternis war ihre Farbe nicht zu erkennen, bedeckten den Boden. Ich musste nichts Genaueres erkennen, um zu wissen, dass es Blut war. Immer noch war die Luft mit diesem unbeschreiblichen Etwas angefüllt, das mich vorsichtig machte. Doch das war nicht alles. Zwar sah ich niemanden, wie ich eigentlich erwartet hatte, der bewaffnet war und auf uns zielte, dafür aber jemanden, der mich umso mehr erschreckte. Jemanden der zusammengekauert auf dem Boden lag, die Beinen eng an den Körper gezogen, aber so still, dass ich mich fragte, ob er überhaupt noch lebte. Was sollte ich tun? Vorsichtig beugte ich mich zu dem scheinbar Verwundeten hinab. Es war ein Mann, so viel konnte ich vom Körperbau her erkennen, und er trug ein kurzärmeliges Hemd oder T-Shirt, welches aber zerrissen und mit Blut durchtränkt war. Das Haar war wirr und ebenfalls blutverklebt. „Ist er tot?“, erklang die Stimme meiner Schwester hinter mir. Sie war wohl wieder „normal“, jedenfalls so normal, wie meine kleine Schwester halt war. Trotzdem war ich froh, dass wir hier auf niemanden getroffen waren. Ich hatte schon einmal erlebt, was sie anrichten konnte, wenn sie keine Kontrolle mehr über sich hatte. „Ich weiß es nicht“, murmelte ich und streckte die Hand aus, um den Fremden zu berühren. „Hey“, flüsterte ich, in der Hoffnung, dass er reagierte – vergebens. Vorsichtig fasste ich an seinen Hals, um nach dem Puls zu tasten, doch als ich ihn berührte, zuckte ich zusammen. Seine Haut war eiskalt, wie bei jemanden, der schon einige Stunden Tod war, bei dem Wetter vielleicht bereits über einen Tag, aber das konnte nicht sein. Als ich nun nach seiner Schlagader tastete erwartete ich gar nicht mehr, einen Puls zu spüren, was sich auch bestätigte. Dieser Mann war tot… Doch da – ich wollte mich gerade abwenden – durchlief ein Zucken, wie ein Krampf seinen Körper und er gab ein leises Keuchen von sich. „Was?“, setzte meine Schwester erschrocken an, als er seinen Kopf hob und mich ansah. „Wer…“ Seine Stimme war sehr schwach und in seinen Augen spiegelte sich Furcht wider, während er mich zu betrachten versuchte. Schließlich ließ er den Kopf wieder sinken und rollte schlaff auf die Seite. „Durst…“, murmelte er. „Ich habe Durst.“ Misstrauisch sah ich ihn an, so tot, wie er nun wirkte. Er war kein Mensch, das war mir nun klar… „Er ist ein Vampir“, hauchte ich und spürte gleichzeitig, wie sich meine Schwester, die nun ganz dicht hinter mir stand, anspannte. Sie dachte dasselbe wie ich: „Wir“, begann sie unsicher. „Sollten wir ihn dann nicht ‚töten’?“ Letzteres betonte sie merkwürdig, so als wäre es eigentlich nicht der Begriff, nach dem sie gesucht hatte. Ich wusste warum und ich verstand auch, was sie meinte. Ein hungriger Vampir war, wenn man ihn hier liegen ließ, eine Gefahr für jeden Menschen, der vorbei kam, auch wenn die Morgensonne, die in einigen Stunden aufgehen würde, seinen sofortigen und vor allem endgültigen Tod bedeuten würde, sollte er bis dahin nichts getrunken haben und nicht kräftig genug sein, einen Unterschlupf für den Tag zu finden. Vampire waren eine Unterform der Dämonen. Hexerwerk – da war ich mir sicher. Er hatte nichts anderes als den Tod verdient und wir hatten scheinbar seinen Jäger, oder wer es auch immer gewesen war, verscheucht, bevor er ihn töten konnte. Ich sah zu Karina. Ihr Gesicht wirkte starr, doch in ihren Augen spiegelte sich Wut wider. Dieselbe Wut, die ich empfand und die sich schon seit Jahren angestaut hatte. Erneut wanderte mein Blick zu dem Vampir. Einen von vielen Dämonen, die auf unserer Welt herum irrten. War es wirklich unser Recht, sie einfach zu töten? So wie sie uns töteten? Hatte überhaupt irgendjemand das Recht, jemanden zu töten? Gab es dafür einen Grund? Ich fühlte die Wut in meinem Herzen und doch – da war auch noch etwas anderes, etwas, das mir sagte, dass es falsch war. Alles war falsch. Um mich herum war es stockfinster, als ich aus dem Schlaf aufschreckte. Noch immer schallte das Geschrei meiner Schwester in meinen Ohren wider. Das erste Mal seit langem, hatte ich wieder diesen Traum gehabt. Traum? Man konnte es eher als Erinnerung bezeichnen, wenngleich mein Gehirn im Schlaf diese verzerrte, verbesserte, übermalte. Aber es war eine Erinnerung, es war wirklich geschehen… Vorsichtig tastete ich nach der Nachttischlampe und schaltete sie ein, ehe mein Blick auf den Wecker wanderte. Es war zwanzig vor Zwölf. Ich seufzte. Jeden Tag nahm ich mir aufs Neue vor, früher aufzustehen, doch nie klappte es. Wenn man am Tag nicht wirklich etwas tat, fehlte einem dazu einfach die Motivation. Wie spät war es gestern wieder geworden? Da erschrak ich, denn nun, als ich meinen Blick hatte durchs Zimmer wandern lassen, blieb dieser auf einer Gestalt, die am Boden lag, hängen. Ein Mann… Ein Vampir – deshalb waren auch die Jalousien so weit runter gelassen, dass der Raum komplett verdunkelt war. Jetzt fiel es mir wieder ein. Was hatte ich mir dabei gedacht? Wieso hatte ich ihn gerettet? Gerettet? Ja, wahrscheinlich hatte ich ihm sein kleines, beschissenes Unleben gerettet. Ich Idiot! Meine Schwester war vernünftiger als ich und wahrscheinlich im Moment mehr als wütend auf mich. Mit Recht. Alles wäre vernünftiger gewesen, als einen Vampir zu retten, einen Vampir mitzunehmen, in unsere Wohnung. Dabei wusste ich doch besser als viele andere, was für Mörder Vampire waren, was für Dämonen! Aber ich war anders als meine Schwester. So sehr ich auch auf Rache brannte (Tat ich das wirklich?), ich konnte nicht einfach irgendjemanden umbringen – sterben lassen. Nicht jeder Vampir hatte sich sein Unleben ausgesucht – war aber zu feige zu sterben! Ich Idiot! Versuchte ich mich jetzt wirklich vor mir zu rechtfertigen? Die Wahrheit war, dass ich es nicht über mich brachte, ich war zu feige gewesen, ihn zu töten, irgendwas zu machen, ich versteckte mich gerade hinter meiner falschen Moral. Ein Feigling – pah! Ein elender Idiot… Doch all die Selbstschelte half jetzt auch nichts. Wenn ich ihn nun der Sonne aussetzte, würde wahrscheinlich das ganze Haus abbrennen! Außerdem wünschte ich niemanden, dabei zusehen zu müssen, wie jemand in den Flammen umkam. Es war zu grausam. Mit einem erneuten Seufzen stand ich auf und nahm mir das erstbeste T-Shirt, was ich in die Hand bekam. Vielleicht wäre es angebracht, mal wieder aufzuräumen… Den Kopf schüttelnd stolperte ich einen Stapel Bücher umwerfend zu meiner Kommode und nahm mir auch hier die erstbeste Hose heraus. Eine Jeans – was wollte man mehr? Nun, zumindest hatte ich wohl mehr Glück als Verstand. Wäre der Vampir noch in der Nacht erwacht, wäre ich nun mit großer Wahrscheinlichkeit ein toter Mann. Wieso war ich überhaupt eingeschlafen? Ich hatte wohl wieder einmal zu lange gelesen. Als ich an der Zimmertür stand, wanderte mein Blick noch einmal zu dem Toten hinüber. Er war wahrscheinlich Mitte zwanzig gewesen, als er „starb“, war hager und hatte etwas längeres, ausgebleichtes braunes Haar, war wahrscheinlich sogar einmal hübsch gewesen, irgendwann, als er noch lebte. Ein Monster jedoch, konnte nicht hübsch sein. Niemals. Ich verließ den Raum und betrat den ebenfalls abgedunkelten Flur. Fast wunderte es mich, dass meine Schwester hier nicht einfach die Gardinen aufgerissen hatte, da nur ein einzelner Sonnenstrahl reichte, um den Körper des Untoten in Flammen zu setzen. Dies ließ mich schmunzeln. Man ahnte gar nicht, welche Klischees der Menschen tatsächlich galten. Die Tür hinter mir schließend begab ich mich so zur kleinen Küche der Wohnung, die gleichzeitig das Wohnzimmer bildete. Hier stach die Sonne, welche durch das große Fenster fiel, in die Augen, sodass ich ein paar Sekunden geblendet blinzelte. Meine Schwester, Karina, war bereits auf der Arbeit, sonst wäre sie hier gewesen. Aber sicher, ihre Schicht begann normal auch um halb elf. In einer Thermoskanne fand ich noch etwas heißen Kaffee, irgendwo im Kühlschrank noch einen Joghurt. Natürlich war es meine Aufgabe einkaufen zu gehen, doch ich hatte es wohl wieder einmal vergessen. Ich war ein schlechter großer Bruder, fürchte ich. Die Wahrheit war nämlich, dass meine Schwester mit ihren achtzehn Jahren den ganzen Tag in einem Coffeeshop arbeitete, das Geld verdiente, von dem wir neben der Waisenrente lebten, während ich hier in der Wohnung oder in verschiedenen Bars oder ähnlichem hing und mein Leben vor mich hin lebte. Ich las Bücher, ja, traf mich auch ab und zu mit Freunden, von denen ich wenig hatte, und tat ansonsten nichts, nicht wirklich. Karina war zu gut, als das sie sich beschwerte. Ja, im Gegenteil: Sie hatte auch noch Mitleid mit mir. Dabei wäre sie wohl sogar im Recht gewesen, hätte sie mich rausgeschmissen, mich unnützen Trottel. Ich schüttelte den Kopf: Und dazu war ich auch noch selbstmitleidig. All das hatte vor etwas mehr als vier Jahren begonnen, als wir zu Waisen wurden, zu Vollwaisen, im wörtlichsten Sinne, denn damals starb unsere Familie, oder das, was davon übrig war. Ich war der einzige, der verschont blieb. Karina hatte mehr als Glück, dass man sie retten konnte, doch bis heute trug sie noch einige Narben mit sich herum. Vorsichtig nippte ich am Kaffee. Er war nicht besonders stark, aber besser als nichts. Der Joghurt war fettarm. ‚Lecker’, dachte ich sarkastisch, aß ihn aber trotzdem. Natürlich hatte ich mich mehr als einmal gefragt, warum ich damals verschont geblieben war. Niemand wusste es, auch wenn ich etwas ahnte. Am Ende, war ich schon immer anders gewesen – auch anders als meine Familie. Und wir waren keine Menschen. Ich war kein Mensch – das glaubte ich zumindest. Vielleicht sollte ich heute wirklich einkaufen gehen. Eine halbe Stunde später war ich auf dem Weg zum nächsten Supermarkt. Was? Ach so, einige fragen sicher, warum ich denn so anders war und was es mit meiner Familie, mit unserer Familie auf sich hat. Wie gesagt: Wir waren keine Menschen, wir waren das, was solche als Magier, Hexer und Hexen bezeichnen. Doch keine bösen, nicht wirklich. Weißmagier, das waren wir, Weißmagier vom Clan der Angeli – so abgedroschen und klischeebehaftet das auch klingt. Mutter, Vater, Tante… Sie halfen den Menschen, wenn auch nicht ganz unentgeltlich. Sie konnten heilen, mit Kräutern umgehen und Geister zur Ruhe betten. Einige hatten besondere Fähigkeiten, konnten zum Beispiel mit Tieren sprechen oder Gedanken lesen. Meine Cousine Magrett schaffte es sogar, verdorrte Blumen wieder zum Blühen zu bringen. Nur ich konnte nichts. Das einzige, was an mir nicht ganz menschlich war, waren die Visionen, die ich ab und zu hatte und meine Augen, die fast komplett weiß waren. Aber ansonsten war ich schwach. So etwas wie meine Fähigkeiten, das gab es nicht. Ich war kein Mensch, aber zu ihnen gehörte ich auch nicht. Seufzend stellte ich fest, dass ich beim Supermarkt angekommen war. Viel Geld hatte ich nicht, aber es würde zumindest für Aufstrich, Brot und etwas Milch reichen. Zumindest würden wir so nicht verhungern. So lief ich recht lustlos durch den Laden, schaute nach Angeboten, fand nichts, was ich hätte gebrauchen können, nahm schließlich etwas Brot, Aufstrich und Milch ging zu Kasse, zahlte und verließ den Supermarkt wieder. Mir war es ein Rätsel, wieso manche Leute – besonders Frauen – dafür so lange brauchen konnten. Ich sah auf die Uhr. Mittlerweile war es fast eins und viel gegessen hatte ich noch nicht. Der Coffeeshop, in dem meine Schwester arbeitete, war nicht weit von hier entfernt, sodass ich nicht lange überlegte und beschloss, ihr einen Besuch abzustatten, in der Hoffnung, dort ein „Frühstück“ zu bekommen. Wie gesagt: Ich war kein guter großer Bruder. Diese Entscheidung bereute ich jedoch, kaum hatte ich den Shop betreten. Karina musterte mich und ihr Blick verriet mir, dass sie sauer – sehr sauer – auf mich war und ich ahnte wieso. „Was machst du hier?“, zischte sie, als ich zu ihr ging. „Ich habe Hunger“, entschuldigte ich mich und versuchte ihren Blick zu ignorieren. „Wieso bist du nicht zu Hause?“, erwiderte sie. „Angst vor deinem ‚Gast’?“ Sie packte mich am Hemd und zerrte mich in die Personaltoilette. „Nein, aber zu Hause ist nichts mehr zu essen.“ Ich zuckte möglichst gleichgültig mit den Schultern. „Dann geh einkaufen!“ Als Erwiderung hielt ich ihr die Tüte vor die Nase. „War ich schon.“ „Na, dann kannst du auch in der Wohnung essen.“ „Aber, Schwester…“, begann ich. „Schwester?“ Sie schnaubte verächtlich. „Die ganze Zeit nur ‚Schwester’, die ganze Zeit! Und dann das! Du bist doch aufgeschmissen ohne mich, du kleiner Emo!“, fauchte sie. „Und dann… Dann nimmst du dieses… Dieses…“ Um Worte ringend sah sie mich an. „Dieses Monster! Diesen Dämon! Du hilfst ihm!“ „Ja, aber… Ich meine… Ich helfe nicht… nicht…“ Sie unterbrach mich. „Hau ab. Du kannst mich anrufen, wenn dieses Ding aus unserer Wohnung verschwunden ist, solange bleibe ich bei Marie. Aber dein Essen zahlst du dir selbst, du Schnorrer… Parasit. Und jetzt raus hier. Geh nach Hause, geh sonst wohin, aber lass mich hier arbeiten!“ Damit packte sie mich und versuchte mich aus der Tür zu schieben. „Aber, Karina…“, begann ich. „Schnauze!“, rief sie nur und schubste mich weg. „Aber“, setzte ich erneut an. „Hau ab!“ Sie sah mich auf eine Art an, bei der ich wahrscheinlich tot umgefallen wäre, hätten Blicke töten können. Daraufhin verließ ich mit einem weiteren Seufzen und hängenden Schultern den Raum und den Shop. So hatte ich meine Schwester noch nie erlebt. Wie ich bereits sagte, war sie normalerweise die Freundlichkeit in Person. Sie nahm (zu viel) Rücksicht auf ihren armseligen Bruder, der genau wusste, dass er eigentlich ein Idiot war, aber trotzdem nichts daran änderte. Aber sie hasste Vampire… Trotzdem hätte ich niemals erwartet, dass sie mich so anschrie. Nein, niemals, nicht von ihr… Aber sie wusste auch ganz genau, wie abhängig ich von ihr war. Ich war wirklich ein Loser, ein Idiot, ein selbstmitleidiger Mistkerl, doch damit war ich die letzten Jahre irgendwie halbwegs durchs Leben gekommen. Es war Abend, gegen neun Uhr, als ich wieder zur Wohnung zurückkam. Ich hatte irgendwo zwei trockene Brötchen gegessen und mich dann in eine Kneipe gesetzt und das ein oder andere getrunken. Demnach war ich jetzt auch betrunken, so dass ich gerade noch laufen konnte. So etwas passierte mir ein, zwei Mal die Woche, auch wenn ich meistens nicht so viel trank und vorher gegessen hatte. Zumindest schaffte ich es nun beim dritten oder viertem Anlauf die Tür zur Wohnung aufzuschließen und mich samt der Einkaufstüte, die ich noch immer mit mir herum trug, hinein zu schaffen, sodass ich nun in der Küche stand. Hier ließ ich die Tüte auf einen Stuhl gleiten und wollte eigentlich ins Bad torkeln. Soweit kam ich jedoch nicht, bis mir klar wurde, dass ich nicht allein im Raum war. Dort stand er, direkt vor dem Fenster, durch das schwach das Licht von der Straße flutete und starrte mich mit seltsam schimmernden Augen an. Es war, als hätte mir jemand einen Eimer Eiswasser über den Kopf geschüttet. Ich fühlte mich fast nüchtern, als ich zu dem Vampir hinüber starrte und automatisch ein paar Schritte zurück wich. Soweit ich im Dunkeln erkennen konnte, hatte er sich das Blut und den Dreck nicht abgewaschen, denn eine dunkle Linie zog sich über sein Gesicht. Ich wich weiter zurück, wobei er mich weiterhin fest mit dem Blick eines Falken, kurz bevor dieser sich auf die Maus stürzte, fixierte. Langsam bekam ich es mit der Angst zu tun. Was sollte ich machen wenn er mich anfiel? ‚Du hättest auf Karina hören sollen’, flötete eine Stimme in mir, auch wenn sie mir gerade ziemlich egal war. Ich sollte lieber etwas Abstand zwischen mich und den Vampir bringen. So machte ich einen weiteren Schritt zurück, stand nun fast im engen Flur, schon halb in der Tür. Wenn ich noch zwei weitere Schritte machte, würde ich sie schließen können. Er duckte sich etwas und ich spürte fast, wie er seine Muskeln spannte, während er mich keinen Augenblick aus den Augen ließ. ‚Wie eine Katze’, schoss es mir durch den Kopf und ich verspürte den Wunsch in mir, zu laufen. Ein weiterer Schritt… Da war es zu spät! Der Vampir löste sich aus seiner Halbstarre und sprang mit nur ein oder zwei Sätzen auf mich zu. Er packte mich mit klauenartigen Händen bei den Schultern und warf mich zu Boden, ehe ich auch nur wusste wie mir geschah. Dann spürte ich auch schon einen brennenden Schmerz zwischen Schulter und Nacken, als sich seine Zähne in mein Fleisch schlugen und er begann, mein Blut zu saugen. Wie bei Mutter… Wie bei Vater… Ich fühlte mich kraftlos, so, wie ich dort unter ihm lag, spürte meinen schmerzenden Rücken, spürte das Brennen, welches seine Zähne verursachten. Mir schwindelte. Plötzlich durchlief ein Zucken seinen Körper und dann wich er wie ein geschlagener Hund zurück, blieb zitternd ein Stück von mit entfernt auf dem Küchenboden sitzen. Seine Augen glühten nicht mehr, doch ich war mit trotzdem sicher, dass er mich anstarrte. Vorsichtig und schwach rutschte ich noch etwas weiter von ihm weg, griff reflexartig an die blutende Wunde am Hals. Ein Knurren drang aus seiner Kehle, dann keuchte er. „Was…“, brachte er heiser hervor. „Was bist du?“ Er würgte. Ich antwortete nicht. Ich verstand nicht einmal seine Frage. Stattdessen rutschte ich noch ein Stück zurück, sodass ich mich an der Wand aufsetzen konnte. Er ließ ein weiteres Würgen hören, ehe er sich auf einmal vornüber beugte und sich auf die Fliesen übergab. Er keuchte und sah mich schließlich wieder an. „Was… Was… bist du?“ Ich war müde, mir war schwindelig und mein Kopf schmerzte und ich wusste nicht, ob es vom Alkohol, der Uhrzeit oder dem Angriff des Vampires kam. Ich hatte die Küche gewischt, nachdem er sich dort übergeben hatte. Ich wollte duschen… Leider war er, der Vampir, nun im Bad, um sich zu waschen, beziehungsweise ebenfalls zu duschen. Auch wenn er es bitter nötig hatte, konnte ich es nicht glauben: Ich ließ Jemanden noch dazu einen Vampir, der mich gerade hatte töten wollen, mein Bad benutzen… Irgendwie lief hier etwas ganz gewaltig falsch – wobei: Das tat es eigentlich immer bei mir, womit wir wieder bei dem Thema wären, was ich für ein Idiot bin. Hier saß ich nun in der Küche, trank Kaffee und wartete darauf, dass der Vampir mein Bad verließ. Ich brauchte Aspirin… Verdammt! Ich hörte, wie die Badezimmertür geöffnet wurde und drehte mich herum. Da stand er, der Vampir, in meinem ziemlich zerschlissenen Morgenmantel und mit nassen Haaren und sah zu mir herüber. Ich sagte nichts und wandte meinen Blick wieder ab. Am Kaffee nippend sah ich zum Fenster hinüber, in dem er sich nun, wo das Licht in der Küche brannte, spiegelte, als er aus dem Flur eintrat. Aber ich verwirrte mich. Zwar spürte ich Wut auf dieses Wesen in mir, aber bei weitem nicht genug. Er war ein Vampir, er hatte mich töten wollen – ich hätte genug Gründe gehabt, als dass ich den Wunsch, ihn umbringen zu wollen, hätte selbst vor mir rechtfertigen können, doch dieser Wunsch war nicht da. Das verwirrte mich wirklich. Ich trank den restlichen Kaffee in einem Zug aus, was mir meine Kehle mit Würgereiz dankte, ehe ich aufstand und mich zum Flur drehte, um nun ebenfalls duschen zu gehen. Das Blut an meiner Schulter war verkrustet, fühlte sich unangenehm an. Doch gerade als ich in der Tür stand, erhob er die Stimme: „Es tut mir leid“, sagte er. Ich drehte mich um. Was war das? Ein Vampir der sich entschuldigte? „Was?“, fragte ich. „Es tut mir leid“, wiederholte er und suchte meinen Blick. „Ich hätte dich beinahe getötet.“ Ich starrte ihn an. „Wa… Wa…“ „Das lag nicht in meiner Absicht“, fuhr der Vampir ungeachtet meiner offensichtlichen Verwirrtheit fort. „Ich habe dir mein Leben zu verdanken, glaub ich. Doch das ändert nichts an meinem Durst.“ „Aber…“ Was sollte ich davon halten? Nun starrten wir uns gegenseitig an. Was sollte ich davon halten? Er war ein Vampir, hatte mich fast ausgesaugt, meinte, es hätte am Durst gelegen, hatte sich übergeben und benahm sich nun normal? Irgendwas konnte daran nicht stimmen – oder? Allein seine Freundlichkeit – konnte man es so nennen? Ich glaubte fast, ja – machte mich misstrauisch. Er war ein Vampir, auch wenn er im Moment aussah wie ein normaler, junger, wenngleich blasser Bursche von vielleicht zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig Jahren, ja, man konnte ihn sogar als durchaus hübsch bezeichnen, sodass er wahrscheinlich mein Interesse geweckt hätte – hätte ich nicht gewusst, dass er ein Vampir war. „Wieso bist du dann jetzt ‚normal’?“ Mir gefiel das Wort so nicht, aber mir fiel auch einfach kein besseres ein. Er mochte ja viel sein, aber ich war mir sicher: Nicht normal. Er schwieg eine Weile. „Dein Blut hat mich wieder halbwegs zur Vernunft gebracht.“ „Aber… Du hast dich… Übergeben…“ „Vielleicht deswegen“, meinte er nur. „Aber du hast Recht: Ich habe immer noch Durst, doch du musst dich nicht fürchten. Dein Blut werde ich garantiert nicht noch einmal zu trinken versuchen.“ Er versuchte mich anzulächeln, fürchtete scheinbar, dass ich Angst vor ihm hatte. „Es ist außerdem nicht meine Art, jemanden so anzufallen.“ „Ach, und wie ‚speist’ du normal?“, erwiderte ich abfällig. „Freiwillig wird dir wohl kaum jemand sein Blut geben – oder?“ Er grinste. „Das denkst du. Am Ende gibt es genug Freaks und genug Frauen – manchmal auch Männer – denen es schon eine richtige Freude ist. Und ein Schluck hier und ein Schluck da reicht vollkommen aus.“ „Das glaube ich nicht…“, murmelte ich, obwohl ich es mir durchaus vorstellen konnte. Wie gesagt, er sah durchaus hübsch aus, hübsch genug, um jemanden den Verstand zu rauben. Und mir war auch klar, dass es mit Sicherheit genügend Gruftis und ähnliches Volk gab, die es sogar cool fanden, wenn etwas von ihrem Blut als Zwischenmahlzeit diente… „Wirklich nicht?“, fragte er. „Dann kennst du die Menschen schlecht.“ „Nein, ich glaube nicht, dass ein Vampir so viel Anstand besitzt. Ihr seid Dämonen, Monster, Teufel… Ihr tötet.“ Nun wurde er ernst. „Manche“, sagte er nur. „Das ist nicht wahr!“, antwortete ich nun ziemlich laut. „Meine Eltern…“ Ich brach ab. Das ging ihn nichts an. „Hör mal“, begann er daraufhin, doch ich stand auf. „Ich gehe mich duschen“, meinte ich und drehte mich ohne ein weiteres Wort um. Nur nicht weiterreden. Außerdem war ich wirklich müde. Ich verschloss die Tür des Bades, bevor ich unter die Dusche ging. Das Wasser stellte ich extra etwas kühler ein. Ich war so verwirrt… Der Vampir war komisch. Wobei ich wahrscheinlich nicht besser war. Wieso hatte ich ihn noch einmal mitgenommen? Wahrscheinlich hatte meine Schwester Recht gehabt. Oder? Als ich wieder aus dem Bad kam, war die Wohnung leer. Also war er gegangen. Auch gut, sogar besser als wenn ich ihn hätte rauswerfen müssen. Ich machte das Licht aus und ging in mein Schlafzimmer. Ich war total KO. Gerade noch so schaffte ich es zu meinem Bett hinüber, mich hinzulegen und das Licht auszumachen. Es dauerte keine Sekunde, ehe ich eingeschlafen war. Die Jalousien hatte ich offen gelassen, ebenso die Zimmertür. Erst, als ich am nächsten Mittag in einem stockdunklen Zimmer aufwachte, wurde mir klar, dass dies auch auf die Wohnungstür zutreffend gewesen war. Vampire schliefen am Tag wie Leichen. ‚Wie schön…’, meldete sich mein Sarkasmus zu Wort. Es war kurz nach Acht als der Vampir erwachte. Ich saß zu der Zeit in der Küche und las irgendein Sachbuch über die französische Revolution. Es interessierte mich nicht wirklich, aber ich las es einfach. Tatsächlich war ich sogar vertieft genug, dass ich gar nicht merkte, wie der Vampir den Raum betrat. Deshalb zuckte ich auch zusammen, als er mich freundlich und mit einen ironischen Unterton grüßte: „Guten Morgen.“ Ich starrte ihn an, anstatt etwas zu erwidern. Im Gegensatz zum Vortag, wo er mir sehr blass und mager erschien war, so dass man mit dem nötigen Wissen sogar darauf gekommen wäre, was er war, wirkte er heute tatsächlich irgendwie lebendig. Zwar war er noch immer blass, aber durchaus im Bereich des Normalen. Zudem wirkte sein Haar nicht mehr fahl, sondern hatte einen leichten Glanz, und die Augen schienen tatsächlich irgendwie von innen heraus zu leuchten… „Du scheinst letzte Nacht gut ‚gespeist’ zu haben“, meinte ich und wandte meine Aufmerksamkeit wieder dem Buch zu. „Ja, tatsächlich“, erwiderte er relativ ausgelassen. „Du hättest mir auch sagen können, dass es hier eine Gothicdisco gibt.“ Na wunderbar, kommentierte ich nur gedanklich. „Wieso bist du dann wieder zurückgekommen?“, fragte ich mit genervtem Ton, während ich vermied, ihn anzusehen. Daraufhin schwieg er. „Naja“, setzte er an. „Naja…“ Er seufzte und setzte sich mir gegenüber an den Küchentisch. „Ich wusste ehrlich gesagt nicht, wo ich sonst hin sollte.“ Ich blätterte um. „Haben Vampire nicht so was wie einen Clan oder ein Coven?“, fragte ich. „Normal schon…“ Unbehagen war seiner Stimme zu entnehmen. „Aber?“, harkte ich nach. „Sagen wir es so: Ich habe meine Familie verloren.“ Oh, schön, damit wären wir schon zwei, dachte ich ironisch, fragte aber: „Und eine eigene Wohnung?“ „Die ist abgebrannt.“ Ich knallte das Buch zu. „Und wieso wohnst du dann nicht in einem Hotel?“ „Ich habe keinen Personalausweis?“ Das leuchtete natürlich ein. Irgendwie… Aber… „Kannst du dir keinen fälschen?“ Er sah mich verständnislos an. „Wieso?“ Ich seufzte und packte mir an den Kopf. Vampir hin oder her, er schien unselbstständig wie ein Zehnjähriger. Was hatte ich mir da nur aufgehalst? Zum sicherlich hundertsten Mal verfluchte ich mich dafür, ihn nicht einfach im Park liegen gelassen zu haben. Ich war wirklich ein viel zu gutmütiger Mensch und nun sah man wieder, wie es einem gedankt wurde. „Wann ist deine Wohnung abgebrannt?“, fragte ich, da ich ihm in der Hinsicht nicht traute. „Vorletzte Nacht“, erwiderte er. „Es waren Jäger.“ „Oh“, machte ich daraufhin. „Ich weiß nicht, wie sie mich gefunden haben“, murmelte er. „Sie haben mich gestellt und gejagt. Ich wäre beinahe gestorben. Deswegen… Du hast mir das Leben gerettet, nehme ich an. Danke.“ Nun seufzte ich. „Bilde dir darauf nichts ein. Ich hasse Vampire.“ „Und wieso…“, setzte er an, doch ich unterbrach ihn: „Ich kann es einfach nur nicht ertragen, wenn jemand stirbt.“ Ich wandte den Blick dem Fenster zu. Draußen regnete es. „Ich konnte dich einfach nicht sterben lassen, okay?“ Er schwieg eine Weile. „Trotzdem danke“, murmelte er schließlich. Darauf erwiderte ich nichts. „Ich“, setzte er nach einer Weile wieder an. „Soll ich gehen?“ Ja!, dachte ich, sagte aber nichts. Wäre er ein Mensch gewesen, wäre es mir egal gewesen, wenn er ein paar Tage geblieben wäre. Dann hätte es mir sogar durchaus gefallen. Aber dann wäre meine Schwester auch nicht ausgezogen, weil er da war. Dann hätte ich mich auch nicht mit ihr gestritten. Eigentlich schien er ja ganz in Ordnung zu sein – wobei, so genau wusste man das bei Vampiren nicht – und gut erwischt hatte er es nicht mit den Jägern (wobei es in meiner Familie genügend Jäger gegeben hatte)… „Was würdest du machen, wenn ich dich rausschmeiße?“, fragte ich. Er zuckte nur ratlos mit den Schultern. „Ich weiß nicht…“ Unterkommen würde er sicher irgendwo, oder? Ich seufzte. Erwähnte ich, dass ich oft zu gutmütig war? „Nur ein paar Tage, verstanden?“, meinte ich mürrisch. „Schau, dass du irgendwas für dich findest. In spätestens drei Tagen fliegst du raus, klar?“ Er nickte nur. „Danke…“ Nun, aus den drei Tagen wurden fünf, ohne dass ich ihn rausschmiss. Ich schnauzte ihn nicht einmal an. Nein, tatsächlich… Warum? Wenn ich ehrlich bin: Ich fand ihn nett. Wirklich. Man konnte gut mit ihm reden und mir fiel es mit jeder Stunde, die ich mit ihm verbrachte, schwerer, im Kopf zu behalten, was er war. Und irgendwie hasste ich mich selbst dafür, wenngleich nicht so sehr wie meine Schwester, die sich weigerte, ein Wort mit mir zu sprechen, solange der Vampir noch im Haus war. Er hieß übrigens Nicolas, auch wenn ich ihn nur Nic nannte. Er hingegen weigerte sich, mich Micha zu nennen, wie es die meisten taten. Außerdem kam er aus Frankreich. Nur wie alt er war, wollte er mir nicht sagen… Nun war es zumindest Nacht und wir saßen irgendwo im Park, wo ich ihn vor nun fast einer Woche gefunden hatte, auf einer Bank am See. Die Nacht war warm, wir trugen beide T-Shirts, und es war noch nicht sehr spät. Vielleicht neun oder zehn. Zumindest war es noch eine Zeit, zu der auch noch andere Leute, bevorzugt Pärchen, durch den Park liefen. Auch ein, zwei, die noch irgendwo hin wollten oder gerade von der Arbeit kamen. „Weiß du“, begann ich, den Blick auf eine Laterne, um die herum Insekten schwirrten, gerichtet. Er sah auf. „Hmm?“ „Ich muss zugeben: Du bist ganz okay“, sagte ich. Daraufhin lächelte er mich an. „Wieso meinst du?“ „Weil du ein Vampir bist“, murmelte ich. „Ich habe bisher eigentlich gedacht, dass ihr Monster seid, dass weißt du… Aber du wirkst auf mich eigentlich… Wie ein Mensch.“ „Mag dran liegen, dass ich einmal ein Mensch gewesen bin“, erwiderte er. „Ich weiß“, murmelte ich. Wir schwiegen. „Wieso denkst du so über Vampire? Hat man es dir so beigebracht?“, fragte er schließlich. „Nein“, murmelte ich und überlegte eine Weile. Ich hatte außer mit meiner Schwester noch nie mit jemandem darüber gesprochen. „Nein, es ist so…“ Ich machte eine Pause. „Naja… Meine Familie… Sie wurde von Vampiren umgebracht… Alle… Sie haben sie niedergemetzelt…“ Wieder kamen mir die Bilder vor Augen. All das Blut… „Sie haben nur mich und meine Schwester verschont.“ „Oh“, meinte er nur. Scheinbar wusste er nicht, was er sagen sollte. Derweil starrte ich nur mit gläsernem Blick in die Gegend. „Tut mir leid“, murmelte er schließlich. „Du warst nicht dabei.“ Ich sah ihn an. „Oder?“, fragte ich dann unsicher. „Nein“, erwiderte er. „Nein…“ Erneutes Schweigen. „War es deine Schwester, die dabei war, als du mich gefunden hast?“, kam dann die Frage von ihm. Ich nickte nur. Er lachte kurz auf. „Ach so…“ „Wieso fragst du?“ „Ich habe es nicht so wirklich mitbekommen“, meinte er. „Ich war mehr oder weniger in einem Dämmerzustand…“ Er grinste mich an. „Ich dachte, es sei deine Freundin.“ „Freundin?“ Es dauerte etwas, bis ich verstand, was er meinte. „Ach so… Nein… Ich habe keine Freundin. Werde ich wohl auch nie haben.“ Ich grinste ihn an. „Wieso?“ „Ist egal“, murmelte ich. „Übrigens wohne ich eigentlich mit meiner Schwester zusammen.“ „Aber?“, harkte er nach. „Sie redet im Moment nicht mehr mit mir.“ „Wieso nicht?“ Ich schwieg. „Lass uns ein Stück gehen“, meinte ich dann und stand auf, woraufhin er nur mit den Schultern zuckte und mir folgte. „Jetzt sag schon“, forderte Nic nach einer Weile. „Warum redet deine Schwester nicht mehr mit dir.“ „Sie ist sauer auf dich.“ Eigentlich wollte ich mit ihm darüber nicht reden. „Und wieso?“, bohrte er weiter. „Wegen dir“, gab ich schließlich zu. „Sie wollte… Das ich dich töte… Ich sagte dir doch. Sie hasst Vampire.“ „Oh“, machte er. „Ich bin dir glaube ich wirklich viel schuldig.“ Zur Antwort konnte ich nur mit den Schultern zucken. Das Gespräch war irgendwie komisch, wie die Situation allgemein. Ehrlich gesagt, verstand ich noch immer nicht, wieso ich ihm den Hals gerettet hatte, aber nun… Tja, ich sollte ihn loswerden, aber so sicher, ob ich das wollte, war ich mir nicht. Allgemein war es angenehm, mal wieder mit jemand anderem als meiner Schwester zu reden. „Sag mal“, begann er nach einer Weile wieder. Ich hatte das Gefühl, dass es ihm schwer fiel, zu schweigen. „Wieso arbeitest du eigentlich nicht?“ „Ich bekomme keinen Job“, meinte ich, was jedoch halb gelogen war. Ich bemühte mich selten um einen und wenn nicht ernsthaft. „Du hast keine Lust?“ Das hatte er wohl aus meinem Ton herausgehört – hoffte ich zumindest. Soll heißen: Ich hoffte wirklich, dass er nicht meine Gedanken lesen konnte. „Sagen wir es so“, begann ich. „Ich bin nicht gerne von Menschen umgeben. Ich mag sie nicht sonderlich. Dreizehn Jahre Schule haben mir da gereicht.“ Nun war es an ihm, mit den Schultern zu zucken. „Menschen sind komisch, ja… Aber wieso stört dich das so – bist du nicht selbst einer?“ Als hätte er seine Worte ein paar Nächte zuvor selbst vergessen. „Ich weiß es nicht“, antwortete ich. „Zumindest bin ich mir nicht sicher. Ich dürfte keiner sein, aber ich weiß es nicht…“ „Wie meinst du…?“ Durfte ich ihm das sagen? „Weißt du…“ Ich war unsicher. „Meine Familie… Wir sind keine Menschen, jedenfalls die anderen waren es nicht… Wir… Sie sind Magier.“ „Und du?“ „Das weiß ich nicht. Ich habe nie Fähigkeiten entwickelt.“ Daraufhin schwieg er. „Ich war halt“, murmelte ich. „Immer etwas anders.“ „Hmm?“ Er sah mich fragend an. „Naja, ich bin kein Mensch, jedenfalls von meiner Abstammung her nicht. Wir, also meine Schwester und ich, galten in der Schule immer als Freaks… Sie hat es trotzdem irgendwie geschafft, sich einzubringen… Keine Ahnung… Aber ein Magier bin ich auch nicht. Ich bin gar nichts wirklich.“ „Und deswegen verkriechst du dich in deiner Wohnung…“ „Der Wohnung meiner Schwester“, korrigierte ich. Er fasste sich an den Kopf. „Du bist wirklich komisch“, meinte er. „Und du schimpfst über Vampire… Wir sind zumindest geselliger als du.“ „Ich gehe zumindest ab und zu mal raus“, verteidigte ich mich. „Und redest mit wem?“ „Naja… Also… Mit dem Barkeeper?“ Nun wurde ich verlegen, wobei ich gar nicht wusste wieso. Was hatte er denn für ein Recht, an meinem Leben herum zu meckern? „Außerdem…“, begann ich. „Außerdem fühl ich mich in großen Gruppen einfach nicht wohl.“ „Du bist komisch“, erwiderte er mit den Schultern zuckend. „Ich meine, sicher, mich nerven die Menschen auch manchmal, das kann ich ja verstehen, aber deswegen verstecke ich mich nicht den ganzen…“ Er unterbrach sich. „Die ganze Nacht und hocke in einer Kammer und… Nein, das kann ich wirklich nicht verstehen.“ Darauf konnte ich nichts erwidern. „Ich bin doch auch kein Mensch“, meinte er. „Ja, aber du weißt wenigstens, was du bist.“ Nun war ich ein wenig beleidigt. Ich konnte es einfach nicht leiden, wenn jemand versuchte, an meinem Leben herum zu korrigieren, mir zu sagen, wie ich seiner Meinung nach besser leben würde. Was wusste er schon? Er war in der Schule nicht als Freak und Außenseiter abgestempelt worden. Er war mit Sicherheit nicht gehänselt worden und niemand hatte über ihn gelacht, weil er sich in der Oberstufe mit Jungen getroffen hatte – auf die Art, wie es normal andere Jungen mit Mädchen machten… „Bist du sauer?“, fragte Nic. Statt zu antworten ging ich einfach nur weiter. Ich wollte jetzt nicht darüber reden. Er lief hinter mir. „Hey, Michael, so war das doch nicht gemeint“, versuchte er sich zu entschuldigen. „Verzeih bitte… Ich sollte nicht über dein Leben urteilen.“ Da hatte er Recht. „Hey, es tut mir ehrlich leid“, meinte er. „Ich weiß ja schließlich kaum etwas über dich… Ich…“ Ich blieb stehen. Eigentlich sollte ich wirklich auf ihn wütend sein, aber ich war es schon nicht mehr. „Du bist selbst komisch.“ Mit einem weiteren Schulterzucken drehte ich mich zu ihm. Daraufhin grinste er verlegen. „Weiß du“, setzte er dann an. „Wollen wir nicht irgendwas machen? Irgendwo hingehen?“ „Ist mir egal“, murmelte ich… Und so gingen wir. Nic suchte sich irgendeine Cocktailbar – eine überfüllte Cocktailbar – aus, in die wir uns dann setzten und tranken. Mir war das Ganze zuwider, aber ich hatte die Chance gehabt, ihm zu widersprechen. Nun saß ich mit ihm auf irgendeiner Bank, an irgendeinem Tisch und hatte irgendeinen großen, bunten Cocktail vor mir. Vor der lärmenden Menge in dem dafür relativ kleinen Raum, wäre ich trotzdem lieber geflohen. „Ist was?“, fragte Nic nun, während ich wie hypnotisiert auf mein Glas schaute. „Ich sagte doch, dass ich große Gruppen nicht mag.“ „Aber außer mir redet doch niemand mit dir.“ Ich sah ihn nicht an. „Trotzdem…“, murmelte ich, ehe ich einen Schluck durch den Strohhalm nahm. Das Zeug war extrem süß. „Sagen wir es so: Ich habe ein Schultrauma.“ „Wieso?“, erwiderte er augenblicklich. „Ist doch egal…“ Noch ein Schluck – dabei schmeckte es widerlich, aber solange ich den Strohhalm im Mund hatte, brauchte ich nicht reden. „Ist es nicht.“ „Doch“, nuschelte ich. „Dickkopf“, erwiderte er und seufzte. Mal wieder herrschte Schweigen, wenngleich es hier, mit der Musik und dem Lärm um uns herum, nicht so drückend war, wie in der Wohnung. „Ich sagte doch“, begann ich nach einer Weile und dem halben Cocktailglas wieder. „Ich war immer anders als die anderen… Wir…“ Ich seufzte. „Meine Schwester und ich waren nie wirklich Menschen, und wir sind trotzdem auf eine normale Schule gegangen. Und die anderen haben gespürt, dass wir anders waren.“ Erneutes Seufzen. „Aber meine Schwester hat es trotzdem irgendwie geschafft Freunde zu finden, aber ich blieb irgendwie immer außen vor… Später hatte ich dann einen Freund von einer anderen Schule, aber damit fing es dann erst an.“ Ich trank wieder einen Schluck Cocktail. „Ich wurde die ganze Oberstufe durch gemobbt“, nuschelte ich schließlich ins Glas. Nic sah mich irritiert an. „Gemobbt?“, fragte er. „Du meinst gehänselt?“ „Wie auch immer du es nennen willst…“ „Aber warum denn?“ Er klang fast kindlich naiv – verstand er denn wirklich nicht? „Lass uns gehen“, murmelte ich, anstatt zu antworten, und stand schon auf. Er griff nach meinem Arm. „Aber wir sind doch eigentlich grade erst gekommen.“ Grummelnd riss ich mich los. „Ist mir egal. Du kannst ja bleiben, wenn du willst“, erwiderte ich und ging zur Tür, ohne noch einen Gedanken an Zahlen oder den Drink zu verschwenden. Sollte er sich doch drum kümmern. Draußen wieder die kalte Nacht und die Ahnung eines aufziehenden Regenschauers in der Luft. Ich wollte nicht mit ihm darüber sprechen, musste ich mir eingestehen, vielleicht einfach, weil ich dann auch noch hätte etwas anderes ihm gestehen müsste, etwas das mir selbst noch nicht ganz klar war, mich aber dazu veranlasste, das Gespräch mit ihm über das Thema zu meiden. So hoffte ich, dass er mir nicht folgte, als ich schon den Weg nach Hause einschlug. Hinlegen und Schlafen klang in meinen Ohren gerade ganz gut… Sollte Nic doch machen, was er wollte – dabei schämte ich mich fast für diesen Gedanken. Jedoch lief ich nicht lange, bis ich hinter mir Schritte hörte. Mir war sofort klar, wer es war, aber ich drehte mich nicht um, auch nicht, als er mich ansprach. „Michael, warte doch.“ Zur Antwort grummelte ich wieder nur etwas. „Jetzt warte doch!“ Er packte mich an der Schulter und zwang mich stehen zu bleiben und ihn anzusehen. „Michael, warte.“ „Was ist?“ Ich wich seinem Blick aus, starrte auf den Boden. Wir standen in einer kleinen Gasse auf dem Bürgersteig. Die Fenster der Häuser um uns herum, waren wahrscheinlich schon lange verdunkelt. „Wieso willst du mir das nicht erzählen?“, fragte er. „Was?“ „Du weißt, wovon ich rede.“ Natürlich wusste ich es, aber durfte ich es nicht für mich behalten? „Du hast mir auch nichts von dir erzählt. Nicht wirklich.“ „Ich wusste nicht, dass es dich interessiert. Es ist eine lange Geschichte. Du hättest fragen können.“ Ja, sicher! Er hatte mir ja nicht einmal sein Alter verraten wollen. Ich erwiderte wieder einmal nichts. „Also, willst du mich was fragen?“ „Nein“, murmelte ich. „Schon gut.“ Erneut wandte ich mich zum Gehen, doch er griff nach meiner Hand. „Beantwortest du jetzt meine Frage?“, drängte er. „Ich will dich doch nur verstehen.“ „Verstehen?“, zischte ich ohne mich ihm wieder zuzuwenden. Kam es vom Alkohol, dass meine Wangen so brannten? „Was hast du denn?“ Wieder schwieg ich kurz. „Lass mich bitte“, murmelte ich dann. Nun schwieg auch er und ließ schließlich meine Hand los. „Tut mir leid.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Ich gehe nach Hause“, meinte ich und setzte mich in Bewegung, woraufhin er es mir nachtat und bald schweigend neben mir ging. Ich fühlte mich nicht wohl. Es ging mir weniger darum, ihm die Sache zu erzählen oder es nicht zu tun, aber es störte mich, dass ich die ganze Zeit reden sollte und dabei doch nichts über ihn erfuhr. Wieso wollte ich das überhaupt wissen? Und was interessierte mein Leben ihn? Damit waren wir wieder bei der Frage, warum er mich überhaupt interessierte und warum ich ihn immer noch in der Wohnung wohnen ließ. „Bist du sauer?“, fragte er nach einer Weile – scheinbar war auch ihm das Schweigen unangenehm. Zur Antwort erhielt er nur erneutes Schulterzucken meinerseits. Er seufzte. „Du bist schwer zu durchschauen“, meinte er dann. „Findest du?“ Das glaubte ich eher nicht. Meine Schwester meinte, ich sei ein offenes Buch. „Ja“, murmelte er und schwieg wieder eine Weile. „Sag mal, Michael, was hältst du eigentlich von mir?“ „Ist die Frage ernst gemeint?“ „Natürlich – warum sollte sie das nicht?“ „Weiß nicht.“ Ich sah zu ihm, ohne meinen Schritt zu verlangsamen. „Aber wieso fragst du?“ „Weil ich dich einfach nicht verstehe“, erwiderte er ohne Umschweife. „Du bist so abweisend und trotzdem hast du mich noch nicht rausgeschmissen. Manchmal denke ich, du hast Angst vor mir.“ „Nein, das hab ich nicht“, murmelte ich. Als sein Blick nun meine Augen suchte, sah ich wieder auf den Boden vor mir. Einzelne Regentropfen fielen vom Himmel. Bald würde es richtig zu regnen anfangen. „Ich werde aus dir nur leider auch nicht schlau“, meinte ich dann. „Ich verstehe nicht, was du an mir findest… Die Wohnung ist nicht der Grund, warum du bei mir bleibst, oder?“ „Hmm“, machte er. „Kann sein.“ Er lachte leise. „Vielleicht auch einfach, weil du mir gefällst.“ „Was?“ Ich blieb stehen und sah ihn an. Hatte ich mir das gerade nur eingebildet? Er grinste mich an. „Was ‚was’?“, meinte er. „Was hast du gesagt… Ich meine, was meinst du damit?“, stotterte ich. Man, ich führte mich schon wieder auf wie ein Trottel! Wahrscheinlich war ich sogar rot. „Du meinst, dass du mir gefällst?“ Ich schluckte und nickte. Sicher bildete ich mir nur ein, dass er es so meinte, wie ich dachte. „Damit meine ich, dass ich dich mag“, erwiderte er ohne Umschweife. Dann seufzte er. „Auf was für eine Art?“ Wie ein guter Freund, nahm ich an. Ich war schließlich einfach nur ein Dummkopf, und sicher fühlte ich etwas total anderes als er. Er war ein Vampir und Vampire waren… Ja, ich hatte viele Vorurteile. Er musterte mich eine Weile, dann grinste er. „Wieso fragst du?“ „Weil ich es wissen will“, meinte ich. Dabei fragte er doch viel öfter merkwürdige Dinge. „Du bist komisch.“ Das sagte der Richtige. Dann beugte er sich auf einmal vor, legte seine Hand unter mein Kinn und küsste mich kurz auf den Mund. „Zählt das auch als Antwort?“ Nun war ich sicher rot. „Idiot“, murmelte ich und wandte mich verlegen ab. „Und? Sagst du mir jetzt, wie du über mich denkst?“ Er war komisch, dachte ich bei mir. Wie konnte er mich so einfach küssen, als wäre nichts dabei? Er war um so vieles selbstsicherer als ich, aber ich verstand trotzdem nicht, ob er es ernst meinte. Würde er später über mich lachen? Das hatte schon einmal jemand gemacht, weswegen ich nicht darüber sprach. Ich hatte später nie zugegeben, wenn mir ein Junge gefiel. Es durfte einfach nicht sein. „Ist dir das ernst?“, fragte ich und sah ihn unsicher an. Er lächelte. „Du hast wirklich schlechte Erfahrungen bei den Menschen gemacht, was?“ Auch er schien unsicher zu sein, als er die Hand hob und mir auf die Wange legte. Also konnte ich ihm vertrauen? Ich wusste es nicht. Trotzdem trat ich nun wieder näher zu ihm und küsste ihn nach kurzem Zögern auf die Lippen und fühlte mein Herz rasen, als er den Kuss erwiderte. Ich war ein Idiot. Ich war wirklich ein Idiot. Zumindest benahm ich mich in den folgenden Tagen wie ein gehirnamputierter Affe. Naja, dafür aber ausnahmsweise nicht wie ein Elefant im Porzellanladen, also nicht so, wie ich es sonst immer tat. Stattdessen schwebte ich im siebten Himmel, na ja, auch das nicht ganz, aber zumindest war ich so glücklich, wie ich es seit ewigen Zeiten nicht mehr gewesen war. Wieso? Wer fragt das überhaupt noch? Es war immerhin erst die zweite wirkliche Beziehung, die ich in meinem Leben hatte. Nic war genau die dritte Person in meinem Leben, die wusste, dass ich schwul war, und damit kein Problem hatte. Gut, das wiederum mochte daran liegen, dass er selbst bi war – waren das alle Vampire oder entsprach er einfach nur dem Bücherklischee? – und wir so nun zusammen (?) waren. Ich war ungezwungener als sonst. Es fiel mir um so vieles leichter, zwischen Menschen zu sein, als wir zwei Abende darauf in einer Bar waren, ich fühlte mich sicherer – mit mir selbst zufriedener. Und auf einmal hatte ich auch kein Problem mehr damit, wenn er zu Beginn der Nacht für eine halbe Stunde verschwunden war, um zu trinken. Ich ignorierte es. Ich behandelte ihn wie einen Menschen. Ja, in den Nächten mit ihm war ich wirklich glücklich gewesen. Der einzige Schatten über dem Ganzen schien meine kleine Schwester, schien Karina zu sein, die mich, als ich versuchte, mit ihr zu reden, ihr das Ganze zu erklären, kurzerhand aus der Wohnung ihrer Freundin schmiss. Trotzdem ließ ich mich nicht wie sonst runter ziehen. Ich wollte einfach einmal nur glücklich sein. So vergingen die Tage. Eine Woche. Zehn Tage… Dann... Dann war er verschwunden. Ich wachte auf, es war kurz vor elf in der Nacht und Nic war nicht da. Erst dachte ich, er sei draußen, etwas trinken, doch er kam in der Nacht nicht zurück. Auch nicht in der folgenden. Ich verstand einfach nicht… Das einzige, was ich verstand, war der Spruch „Wer hoch steigt, fällt tief“, als ich am Morgen mit einer Flasche billigem Wodka in der Hand auf dem Boden meines Zimmers saß und Löcher in die Luft starrte. Wie konnte das sein? Wo war er? Warum war er weggegangen? Ich weinte. Meine Schwester ging nicht ans Handy, wie oft ich auch versuchte, sie anzurufen. Ich schaffte es nicht, die Wohnung zu verlassen. Hatte ich denn alles nur geträumt? Wir hatten viel gesprochen, in den Nächten, die wir zusammen verbracht hatten, Nic und ich. Ich glaube, ich habe noch nie mit jemandem so viel über mich, meine Familie, meine Vergangenheit und all das geredet. Trotzdem habe ich über ihn nur wenig erfahren. Ich wusste sein Alter noch immer nicht. Aber wieso war er gegangen, ohne etwas zu sagen? Ich verstand es nicht. Ich verstand es einfach nicht. Wollte auch er mich enttäuschen? War ich wirklich zu vertrauensselig? In den folgenden Tagen schlief ich kaum. Ich trank. Ich sah fern. Ich saß stundenlang einfach herum. Ich aß so gut wie gar nichts und wenn ich einmal schlief, so träumte ich schlecht, träumte ich von Flammen und von dem Tag, an dem meine Familie starb, nur dass ich in den Flammen Nicolas sah und jedes Mal, wenn ich aufwachte, so war ich schweißgebadet und meine Haut glühte. Ich wusste, dass ich krank wurde, dass ich krank war. Ich musste schlafen, aber ich konnte es nicht. Ich hatte Angst. Irgendwann gegen Abend wachte ich auf. Ich lag auf dem Boden meines Zimmers, von draußen schien das orangerote Licht der untergehenden Sonne hinein. Wann war ich eingeschlafen? Ich fühlte mich furchtbar. Mein Kopf schmerzte, mir war schwindelig und ich hatte das Gefühl zu verbrennen. Meine Haut war wirklich brennend heiß. Hatte ich Fieber? Unfähig mich zu bewegen, blieb ich auf dem Boden des Zimmers liegen, starrte zum Fenster hinauf und versuchte nicht zu denken. Ich hatte schon wieder einen dieser Alpträume gehabt: Flammen, Schmerzen, Nic… Das Gefühl ins Bodenlose zu fallen. Irgendwann schaffte ich es aber dennoch, mich aufzurappeln und in die Küche zu schleppen und in den Kühlschrank zu sehen. Ich hatte furchtbaren Durst. Ich hatte Hunger. Doch wie fast erwartet, war der Kühlschrank leer. Ich schleppte mich ins Badezimmer und machte die Dusche an. Kaltes Wasser. Fast erwartete ich, dass es verdunsten würde, als ich mich hinunter stellte. Die Kälte ließ mich zusammen zucken, aber sie verscheuchte die Kopfschmerzen zumindest etwas. Ich hätte wirklich Aspirin und Ruhe gebraucht. Doch Medikamente waren so gut wie keine im Haus, genauso wenig wie Geld und wenn ich mich hinlegte, war da die Angst einzuschlafen – zu träumen. Ich wollte nicht träumen! Außerdem merkte ich das erste Mal seit Tagen, dass ich wirklich Hunger hatte. Bisher war es mehr so ein unterschwelliges Gefühl gewesen, etwas, das man ignorieren konnte, auch wenn ich mir das vielleicht nur eingeredet hatte, doch jetzt schmerzte mein Magen, weil ich den Hunger kaum noch ertragen konnte. Eine Weile saß ich melancholisch in der Küche herum, ehe ich mich zwang, aufzustehen, mich anzuziehen und das Haus zu verlassen. Es war kurz vor acht, wie sollte ich zum Supermarkt kommen, bevor dieser schloss? – Ich konnte ja kaum laufen. Ich ging durch die Straßen, verfolgt von dem Gefühl, beobachtet zu werden. Sahen die Leute, die ab und zu vorbei kamen nicht alle zu mir? Am liebsten wäre ich gerannt, doch meine Beine trugen mich nicht. Irgendwo in der Stadt schlug eine Turmuhr acht Uhr. So viel zum Thema einkaufen… Dabei hatte ich solchen Hunger. Ich musste irgendetwas essen, also schleppte ich mich weiter. Das ganze endete damit, dass ich irgendwann in einem Fastfoodlokal saß und mir Hamburger und Pommes für ein paar Euro in den Mund schob. Ja, das verscheuchte den Hunger, die kalte Cola auch den Durst, doch es sorgte nur dafür, dass mir furchtbar übel wurde und ich mich schließlich auf der Toilette des „Restaurants“ übergab. Zwar versuchte ich danach noch etwas langsamer ein paar Pommes zu essen, doch ich fühlte mich immer noch schwach. Irgendwann, es war schon dunkel, schlug ich schließlich wieder den Weg nach Hause ein. Ich wusste immer noch nicht, was ich tun sollte. Ich fühlte mich immer noch furchtbar und noch immer, als würde ich verbrennen. Schließlich konnte ich nicht mehr und ließ mich in einer Seitenstraße auf den Boden sinken, den Rücken gegen eine Hauswand gelehnt. Mir war zum Heulen zumute. Ich sah zum Himmel hinauf, wo einzelne Wolken vorüber zogen. Ein leichter Wind fuhr über mein Gesicht und ich merkte, dass ich nun doch wieder weinte. Ich hasste mich. Es war so still hier… Meine Augen brannten. Ich schloss sie. Dunkelheit und Stille und wieder hatte ich das Gefühl zu fallen. Schreie… Meine Schreie, wurde mir bewusst. Wieso schrie ich? Und wieso klangen sie, als kämen sie von sehr weit weg? Ich fiel weiter, immer weiter und dann kam auf einmal der Schmerz. Ich schlug die Augen auf. Was war hier los? Was…? „Guten morgen, mein Kleiner“, flüsterte Nic. Ich starrte ihn an. Wie konnte das sein? Was war mit ihm? Als ich in sein Gesicht sah, schossen mir tausend Fragen durch den Kopf. Irgendetwas stimmte nicht, er war so anders, als noch in der Nacht, bevor er verschwunden war. Sein Blick war kalt. Seine Augen glühten. Erst langsam bemerkte ich den Schmerz, der von meiner rechten Schulter ausging. Ich sah hin. Ein Messer steckte da in meinem Fleisch, ein Dolch, den Nicolas hielt. Verständnislos sah ich ihn an. „Du bist zu gutgläubig, Michael“, hauchte er nun in mein Ohr und küsste mich auf die Wange. „Du bist naiv wie ein Kind.“ „Was…?“ Ich verstand nicht. Was ging hier denn eigentlich vor? Wieso sah er mich so an, mit einer ungehemmten Mordlust in seinem Blick? „Was tust du? Wieso…?“ „Es tut mir leid“, meinte er. „Aber du musst sterben, Seraphim.“ Was redete er denn da? War er nicht mehr bei Verstand? Tränen liefen über mein Gesicht. „Das ist nicht dein Ernst!“ Er schwieg. Ich stieß ihn weg, riss das Messer aus meiner Schulter und versuchte zitternd und erst einmal Erfolglos. Ich wurde mir gewahr, dass ich nicht wusste, wo ich war. War ich hier eingeschlafen? Nein… Aber wo war ich? Hastig stand ich auf, auch wenn es im ersten Moment wieder so schien, als würden mich meine Beine nicht tragen. Doch es ging. Ich hatte wirklich keine Ahnung, wo ich hier war. Was geschah hier? Ich war in einem Gebäude, beziehungsweise viel mehr in einer Ruine. Eine Ruine, die früher mal eine Halle gewesen sein mochte, mittlerweile ohne Dach. Hatte er mich hierher gebracht, als ich schlief? Wieso? Damit er mich töten konnte? Warum tat er das nur? Warum? Mich mit einer Hand an der Wand festhaltend, während ich die andere auf die Wunde gedrückt hielt, schlurfte ich Stück für Stück voran, aber bei weitem nicht schnell genug – das war mir klar. „Du hast nicht ernsthaft vor so zu fliehen, oder?“, erklang seine Stimme hinter mir, doch ich ignorierte sie. Er ging neben mir. „Du bist dumm, Michael.“ „Lass mich“, keuchte ich. „Das geht leider nicht“, meinte er nur, ehe er mich schlug, sodass ich das Gleichgewicht verlor und bäuchlings zu Boden fiel. Nur langsam schaffte ich es, mich aufzurichten. Ich zitterte. Ich hatte kaum noch Kraft und spürte, wie die Ohnmacht immer wieder meinen Geist zu greifen versuchte. Wieso sträubte ich mich überhaupt dagegen? Ich sah ihm ungläubig in die Augen. Wieso? Wieso? Wieso? Warum hatte er das getan? Er erwiderte meinen Blick, doch der Ausdruck seiner Augen war kalt wie Eis. Kein Gefühl spiegelte sich in diesen Augen wider – nicht einmal Hass. War alles eine Lüge gewesen? Zitternd kniete ich hier auf dem Boden, die linke Hand an meiner rechten Schulter, aus der pulsierend das Blut lief und warm über meine Haut rann. Der Stoff um die Wunde herum war bereits blutdurchtränkt. Immer wieder formten meine Lippen verzweifelt das eine Wort, ohne dass ein Laut meinen Mund verließ. „Warum?“ Ich versuchte meinen rechten Arm zu heben, doch es gelang nicht – ich spürte ihn nicht einmal mehr. Langsam kam er auf mich zu, ohne den Blick von meinen Augen abzuwenden. Den Dolch, von dessen Klinge immer noch mein Blut tropfte, in seiner Hand. Wollte er mich nun endgültig töten? War es nun gänzlich vorbei? So schnell? Noch immer starrte ich zu ihm. Warum tat er es nicht endlich? Ich würde mich ohnehin nicht mehr wehren können. Wenn er es tun wollte, so sollte er es schnell hinter sich bringen. Ich wollte das alles nicht mehr ertragen. Tränen rannen über meinen brennenden Wangen. Immer öfter verschwamm das Bild vor meinen Augen. Das Bild, wie er vor mir stand, das braune Haar ordentlich zu einem Zopf gebunden, in einem schwarzen Ledermantel, wie er mit kalt glühenden Augen auf mich herab sah. Feuer! Auf einmal wurde mir etwas klar. Er hatte mich angelogen. „Du warst dabei“, keuchte ich. „Du… Du hast meine Eltern getötet.“ Auch damals hatte er mit so einem Blick auf mich herab gesehen. „Endlich merkt du es“, meinte er und grinste mich an. „Ich dachte schon, es wird dir nie klar.“ Wieso hatte er mich damals verschont? Ich schluchzte. „Wieso hast du mich damals verschont?“ „Weil du ein Kind warst“, erwiderte er. „Wir dachten, ihr Kleinen seit keine Gefahr, wir dachten, wir hätten die, die wir töten wollten, getötet… Vielleicht aber auch nur, weil wir keine Lust, keine Zeit mehr hatten. Wieso interessierst du dich überhaupt noch dafür?“ Das Blut rann weiter. Ich schwieg. Nun kniete er sich vor mich, legte den Dolch an meinen Hals. „Es ging damals nicht um die ganze Familie, es ging um die Seraphim.“ Wovon redete er? „Du hast keine Ahnung von irgendetwas, oder?“ Er lachte mich aus. Der Dolch schnitt ein Stück in meine Haut. Ich spürte, wie etwas Blut meinen Hals hinunterlief. Er leckte es ab. „Was… Was heißt Seraphim?“, fragte ich. Sicher, ich hatte den Begriff gehört, aber ich verstand nicht, was er meinte. „Engel“, antwortete er flüsternd, den Mund noch immer an meinem Hals und noch immer den Dolch in der Hand. „Ein Seraphim ist ein mächtiger Engel. Engel töten Dämonen.“ Engel – Angeli? Sagte er die Wahrheit? Aber das hieße ja… „Verstehst du jetzt?“ Wieder fuhr er mit seiner Zunge über meinen Hals. „Engel töten auch Vampire. Du hattest Recht, wir sind Dämonen.“ Nun richtete er sich ein Stück auf, um mich anzusehen. „Wenn ich dich nicht töte, wirst du bald erwachen und dann wärst du eine Gefahr für viele von uns.“ „Wieso?“ „Du würdest uns töten. Du würdest auch mich töten, glaub mir.“ „Das könnte ich nicht“, widersprach ich. „Doch, das könntest du.“ Für einen Moment wurde sein Blick wärmer. Vielleicht nur eine Illusion, die einen Augenblick später verblasste. „Dann war das von Anfang an so geplant?“, fragte ich ungläubig. „Du wolltest mich von Anfang an töten?“ „Nein, als ich herkam, wusste ich nicht einmal, dass du hier lebst. Genauso wenig wusste ich, als du mich fandest, wer du warst. Aber als du mir von deiner Familie erzähltest, wurde es mir irgendwann klar.“ Ich zitterte noch immer. „Dann war alles nur eine Lüge? War alles nur gespielt?“ Er erwiderte nichts, sah mich nur an. Wieso konnte er nicht einmal antworten?! Wieder konnte ich ein Schluchzen nicht unterdrücken. „Was ist mit meiner Schwester?“ „Sie ist nur eine Magierin… Keine so große Gefahr wie du, aber vielleicht muss ich mich später auch um sie kümmern.“ Ich spürte die Wut in mir auflodern, wenn auch nur für einen Moment, ehe die Verzweifelung wieder Überhand gewann. Es war ein reines Chaos, das meinen Kopf beherrschte. Wieso hatte ich ihm nur vertraut? Wieso hatte ich nicht auf meine Schwester gehört? „Ich bin ein Idiot“, murmelte ich schwach. Bald würde ich wirklich das Bewusstsein verlieren. „Ich bin so ein Idiot.“ „Wenn du meinst.“ Wieder fuhren seine Lippen meinen Hals entlang, einzelne Blutstropfen aufnehmend. „Weiß du, ich habe dich wirklich geliebt…“, flüsterte ich und schluckte. Er schwieg eine Weile. „Ich weiß“, murmelte er dann und drückte plötzlich und nur für einen kurzen Moment seine Lippen gegen die meinen. Dann wanderte sein Mund erneut zu meinem Hals, zu meinem Nacken und plötzlich biss er hinein. Es war nur ein Augenblick des Schmerzes, nur ein kurzer verzweifelter Aufschrei von mir. Ich griff ihn an den Schultern, wollte ihn von mir wegdrücken, doch dann verlor ich schließlich doch das Bewusstsein. Ich spürte Wasser auf meiner Haut. Tropfen. Ich öffnete die Augen. Meine Sicht war verschwommen, doch ich erkannte, dass der Himmel grau war. Es regnete… Was war passiert? Nur einzelne Fetzen kamen mir ins Gedächtnis. Nicolas – er wollte mich töten. Er hatte mich gebissen. Aber wieso war ich nicht tot? Ich spürte nicht einmal mehr Schmerzen… Konnte es sein…? War ich ein Geist? Nein, dann würde ich auch den Regen nicht spüren. Ich blieb liegen und sah in den grauen Himmel. War vielleicht alles nur ein Traum gewesen? War ich auf der Straße eingeschlafen? Aber wieso sah ich dann keine Häuser? Schließlich richtete ich mich auf. Ich hatte wieder Kraft – wieso? Was war mit mir geschehen? Noch immer lag ich in der Ruine also war es doch kein Traum gewesen… Wo war ich? Ich tastete nach meiner Schulter – keine Wunde, obwohl ich inmitten einer Blutlache lag. War das wirklich mein Blut? Erst nach einiger Zeit, wurde ich mir dessen gewahr, dass nicht weit von mir ein Leichnam lag. Wirklich ein Leichnam? Schon bevor ich ihn näher betrachtete, wusste ich, dass es Nic war. Doch ich verstand nicht warum. War er wirklich tot? Wieso war er nicht verbrannt? Es war doch Tag? Was machte er überhaupt noch hier? Was war geschehen? So viele Fragen und keine Antwort. Tränen bildeten sich in meinen Augen, wurden vom Regen fortgespült. Warum weinte ich? Weinte ich um ihn? Um mich? Des Verrates wegen? Ich wusste es nicht. Trotzdem begann ich bald, hemmungslos zu schluchzen. All das ist mittlerweile schon einige Jahre her. Heute weiß ich, was ich bin und vor allem, dass ich wirklich nie ein Mensch war. Nicolas hatte Recht – ich bin wirklich ein Engel, so merkwürdig das auch heute noch in meinen Ohren klingt. Ich weiß heute auch, dass ich es war, der Nicolas tötete, oder besser mein Blut, was für ihn giftig war. Er hatte gewusst, wurde mir später klar. Er hatte sich selbst umgebracht, glaube ich. Aber wieso, weiß ich nicht. Ich will jedoch daran glauben, dass er mich nicht belogen hat. Durch seinen Biss bin ich erwacht, wurde ich unsterblich aber kein Vampir. Trotzdem sah ich meine Schwester nie wieder, kehrte nie in diese Stadt zurück. Sie musste nicht wissen, was geschehen war, sie hätte es nicht verstehen wollen. Ich weiß nicht, was aus mir werden wird, aber zumindest weiß ich, dass ich leben werde. Ich will leben. Ich bin es jemandem schuldig. ENDE ~*~*~ Kommentare und Kritik erwünscht ;) Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)