Übernatürlich... von abgemeldet (Wenn man das zweite Gesicht hat...) ================================================================================ Prolog: Wie es begann --------------------- Prolog Ich könnte ein ganz normales Mädchen sein. Ich könnte zur Schule gehen, die Schule hassen, gute wie schlechte Noten schreiben und viele Freunde haben, die mir jeden Tag versüßen. Doch so was habe ich nicht und hatte es auch nie. Natürlich, ich gehe zur Schule und hasse sie auch, aber Freunde… Ich möchte hier meine Geschichte erzählen, die Geschichte der Minty Josephs. Heute gehe ich in die 10te Klasse, doch beginnen möchte ich viel früher! Erstmal warum ich so ein Sonderfall bin: Ich habe das zweite Gesicht! Also wenn ich einem Menschen in die Augen sehe, dann sehe ich den Moment seines Todes. Das mag nicht so schlimm sein, doch das Schlimmere ist, dass der Tod dann auch ein paar Tage später eintrifft. Aber genug jetzt zu meiner „Höllengabe“ und nun zu meiner Geschichte! Kapitel 1: Mintys Kindheit -------------------------- Meine Kindheit war eigentlich recht gut, bis ich 7 Jahre alt war. In der ersten Klasse war noch alles in Ordnung, jeder war irgendwie mit jedem befreundet und niemand wurde ausgegrenzt. Doch in der zweiten Klasse trat zum ersten Mal meine Gabe auf. Jodie Chesterfielt war zu der Zeit meine beste Freundin. Ich erinnere mich noch genau, sie hatte schulterlanges, blondes Haar, die sie immer in zwei Zöpfe flocht, ein freches Gesicht und leuchtend blaue Augen. Eines Tages passierte etwas Seltsames als ich ihr in die Augen sah. Plötzlich sah ich einen Ball, der auf die Straße rollte. Ich erkannte ihn sofort, es war Jodies Lieblingsball. Nun sah ich Jodie, die dem Ball hinterher rannte. Als nächstes sah ich ein Auto, ein blendend weißes Licht, ein lautes Hupen ertönte und Jodies Schrei… Ich schrie auf und fing an zu weinen, was ja verständlich war, denn ich hatte mit gerade mal 7 Jahren den Tod meiner besten Freundin gesehen. Ich hörte Jodies Stimme, die immer wieder meinen Namen rief. Ich klammerte mich an sie und sagte, sie dürfe diesen Donnerstag auf keinen Fall mit ihrem Ball spielen. Sie versprach es mir, doch es gab einen Faktor, den ich nicht berechnet hatte: Steve, Jodies jüngeren Bruder. Er war sechs Jahre alt und ärgerte seine Schwester öfter. Das tat er auch am Donnerstag. Er nahm Jodie ihren geliebten Ball weg. Als sie ihn dann fast erwischt hatte, schoss er ihn weg. Und, wie konnte es auch anders sein, er landete auf der Straße. Bevor sie auf die Straße ging, drehte sie sich noch mal zu Steve um, um ihren Bruder einen wutentbrannten Blick zuzuwerfen. Sie wandte sich um und rannte geradewegs in das ankommende Auto. Ich wusste, dass Steve keine bösen Absichten hatte. Alles, was er wollte war Aufmerksamkeit, weil ihre Eltern gerade kurz vor der Scheidung standen und er sehr darunter litt. Nach Jodies Tod schien meine Psyche etwas angeschlagen. Mein einziger Freund war nun Larry, mein geliebter Hund. Ich liebte ihn sehr, doch als ich ihn dann einmal ansah, sah ich wie er, wie Jodie, von einem Auto überfahren wurde, was dann auch einige Tage später wirklich passierte. Das machte mich völlig fertig. Und verschloss mich noch mehr. Von da an war mein kleiner Stoffhase Jojo mein bester Freund, denn er war der einzige, der nicht starb wenn ich ihn ansah. Nach Jodies Tod schien Steve ebenfalls gestorben zu sein. Er verschloss sich in einem Autismus-ähnlichen Zustand. Er schwieg immerzu und sah niemanden mehr an. Ich denke, genau das war der Grund, weshalb ich so eine starke Freundschaft zu ihm aufbaute. Da er mir nie in die Augen sah, konnte ich auch nicht seinen Tod voraussehen und wir wurden die besten Freunde. Wir hatten eine wunderbare Zeit…bis zu einem schlimmen Tag in der 5ten Klasse. Steve machte einen schrecklichen Fehler: Er sah mich an. Diesen Fehler verzeihte ich ihm nie! Natürlich, das war ein guter Schritt für ihn, aber das änderte nichts an dem, was ich sah. Ich sah ein brennendes Haus. Ich ging hinein, aber die Flammen machten mir nichts. Plötzlich rannten zwei Feuerwehrmänner an mir vorbei. Bei ihnen waren Steves Eltern. Als sie draußen waren, hörte ich einen fernen Ruf. Steve! Ich lief weiter durch das Haus. Überall Feuer! Dann fand ich endlich Steves Zimmer. Ich wollte die Tür auftreten, doch stattdessen glitt ich sauber hindurch. Was ich sah war schrecklich! Steve saß zusammengekauert in einer Ecke. Schwach versuchte er noch mal um Hilfe zu rufen, doch niemand schien ihn zu hören. Ich wollte ihm helfen, ihn auf die Füße ziehen, mit ihm raus rennen, doch ich konnte ihn nicht berühren. Es war wie ein böser Traum nur noch viel echter. Ich konnte die Hitze der Flammen spüren, hörte Steves Wimmern, aber ich konnte ihm nicht helfen. Ich konnte nur dastehen und zusehen wie er bei lebendigem Leibe verbrannte. Auch diesmal war es wie bei Jodie. Weinend fand ich mich in Steves Zimmer wieder. Bei Jodie und Larry hatte ich genau gewusst, wann es passieren würde und diesmal war es nicht anders. Schon morgen! Ich weinte, klammerte mich an Steve. Ich wollte ihn einfach nur festhalten und ihn nie wieder loslassen. Doch auch dieses Mal blieb es mir nicht erspart. Als ich auf dem Weg zu Steve die Feuerwehrautos sah, wusste ich, was mich erwartete. Ich rannte so schnell ich konnte zu einem der Feuerwehrmänner und sagte ihm, Steve sei noch im Haus. Der Mann erwiderte, dass er es wüsste, aber nichts tun konnte, weil Steve von Feuer eingeschlossen war. Verzweifelt sah ich das brennende Haus an. Von da an gestand ich mir ein, dass man für die, dessen Tod ich sah nichts tun konnte. Nach Steves Tod zerbrach meine Psyche vollends. Aus Angst weitere Tode zu sehen schaute ich niemanden mehr an und redete nur, wenn es unbedingt sein musste. Meinen Hasen Jojo hatte ich immer noch überall dabei, auch in der Schule und es war mir egal wenn die anderen deswegen über mich lachten. Eines Tages jedoch machte ein Junge aus meiner Klasse einen schrecklichen Fehler. Er sprach schlecht über Steve und das nur um mich zu ärgern. Ich hasste ihn so sehr dafür. Doch irgendwann wurde es mir einfach zu viel! Ich machte etwas Schreckliches: Ich sah ihn absichtlich an. Wie immer hatte ich eine Vision. Diesmal sah ich ihn, wie er aus dem Fenster fiel und sich das Genick brach. Dies geschah auch einige Tage später, weswegen ich mich dann auch ziemlich schuldig fühlte. Und ich verschloss mich weiter. Irgendwann fiel meiner Mutter mein Zustand auf und sie machte sich große Sorgen. Sie schickte mich zu einer Psychologin, der ich aber nichts erzählte. So blieben ihre Versuche zu mir durchzudringen fruchtlos. Dann aber bekam ich mit, wie sie meiner Mutter erzählte, sie müsse mich in eine psychologische Anstalt schicken, wenn ich nicht bald anfing auf die Behandlung anzusprechen. Ich wollte auf keinen Fall in eine Anstalt und ich begann ihr vorzulügen, es ginge mir schon viel besser. Doch dann wollte sie, dass ich sie ansah. Ich hatte also keine andere Wahl, ich musste sie ansehen. Ich sah, wie sie an einer Überdosis Schmerztabletten starb. Natürlich passierte auch das ein paar Tage nachdem meine Therapie beendet war. Auch deswegen fühlte ich mich schuldig und verschloss mich wieder. Die Jahre vergingen. Dann in der 8ten Klasse wurde ich in eine andere Klasse versetzt und in dieser Klasse fing mein Leben erst richtig an… Kapitel 2: Die neue Klasse -------------------------- Die Klasse schien ganz nett zu sein, doch ich hatte immer noch Angst andere anzusehen. Judy Anderson war die Erste, die versuchte, mit mir Kontakt aufzunehmen. „Hey, ich bin Judy!“, sagte sie lächelnd und streckte mir eine Hand entgegen. „Minty…“, sagte ich mehr zum Boden als zu Judy und nahm ihre Hand nicht. Ich fand es sehr nett von ihr, dass sie mich ansprach, doch ich wollte einfach nur in Ruhe gelassen werden, sonst nichts. Ich musterte Judy kurz, wobei ich sorgfältig darauf achtete, ihr Gesicht zu meiden. Sie war ziemlich dünn, hatte langes, dunkelblondes Haar und grünliche Augen, die ich niemals sehen würde. Sie lächelte immer noch und ich sah wieder gen Boden. Ich seufzte leise. Das war erst mein zweiter Tag und schon rückten die Leute mir auf die Pelle. Das konnte ja ein “tolles“ Jahr werden. Judy brach wieder das Schweigen. „Weißt du…“, begann sie und musterte mich kurz, „du bist zwar erst zwei Tage hier, aber du erinnerst mich irgendwie schon an jemanden…“ „An wen…?“, fragte ich meinen Tisch. „Bengee!“, meinte sie lächelnd. Ich schwieg kurz. Was konnte dieser Bengee denn schon mit jemandem wie mir gemeinsam haben?! „Wer ist das…?“, fragte ich leise, den Blick immer noch auf meinen Tisch gerichtet. „Ähm…“ Suchend sah Judy sich in der Klasse um. Dann zeigte sie auf einen Jungen, der still an seinem Platz saß. „Das ist Bengee!“ Sie sah mich an. „Er ist genauso still wie du…“, meinte sie schulterzuckend, „ihr habt beide irgendwie etwas Mystisches an euch…“ Sie hatte Recht. Bengee war ungefähr 10cm größer als ich. Er hatte schwarzes, mittellanges Haar und hellblaue, traurig aussehende Augen. Er musste sehr viel Schmerz und Trauer hinter sich haben, das spürte ich immer sofort. Irgendwie wollte ich mehr über ihn wissen, doch schon betrat ein junger Mann die Klasse. Er war groß, recht schlank, jung und hatte braune Locken. Ich schätzte ihn so Mitte bis Ende zwanzig. Judy verschwand schnell auf ihren Platz. „Guten Morgen!“, sagte der Lehrer. „Guten Morgen, Mr. Smith!“, antwortete die Klasse. Er musterte die Klasse, bis sein Blick schließlich auf mich fiel. „Ah, du musst Minty sein!“, sagte er. Ich nickte die Tafel an. Er kam zu mir an meinen Tisch. „Einen guten Start und ich hoffe du gewöhnst dich hier schnell ein!“ Er streckte mir eine Hand entgegen. Ich zögerte kurz, doch dann gab ich ihm rasch die Hand, wobei ich immer noch den Tisch anschaute. Er nickte lächelnd und ging zurück nach vorne. Die begannen über ein Ereignis in den letzten Tagen zu sprechen, das ich nicht miterlebt hatte und ich hörte auch überhaupt nicht zu. Stattdessen beobachtete ich Bengee, der – ich wusste nicht, warum – anscheinend mein Interesse geweckt hatte. In der Pause sprach ich noch mal mit Judy. Sie erzählte mir alles, was sie über Bengee wusste. Sie erzählte mir, dass Bengee ein Waise war und bei einer Pflegefamilie wohnte. Anscheinend war er ein Außenseiter, weil er mit kaum jemandem sprach. Auch in den Unterrichtsstunden danach beobachtete ich Bengee. Mir fiel auf, dass er immer ziemlich still im Unterricht war, obwohl Judy mir doch gesagt hatte, er sei ein 1er-Schüler. Dann, als schiene er meinen Blick zu spüren, sah er mich ganz plötzlich an. Das geschah so schnell, dass ich seinem Blick nicht ausweichen konnte. Das war nun die längste Vision, die ich je hatte! Ich erinnere mich noch genau an jedes Detail! Ich befand mich in einem kleinen Raum, es schien ein Kinderzimmer zu sein. Es war sehr dunkel. Ich sah auf eine kleine Uhr, die auf einer großen Kommode stand. Es war kurz vor ein Uhr nachts. Dann bemerkte ich ein kleines Kind in einer Wiege. Ich schätzte es auf etwa 2 oder 3 Jahre. Es schlief friedlich unter einer babyblauen Decke. Dann hörte ich auf einmal von draußen ein lautes Poltern und Klirren. Ich hörte das gedämpfte Schreien eines Mannes. „W-wer sind Sie?! Was wollen sie hier?!“, rief der Mann, „bitte verschwinden Sie aus… hey! Bitte legen sie die Waffe auf den - “ Ein Schuss unterbrach das Geschrei. Ich hörte eine Frau kreischen. Dann hörte ich jemanden die Treppe raufrennen. Kurz darauf wurde die Tür aufgestoßen und eine blonde Frau mit einem rosa Morgenmantel stolperte herein. Sie knallte die Tür zu und rannte zur Wiege. Weinend hob sie ihren Sohn sanft aus der Wiege und drückte ihn leicht an sich. Plötzlich wurde die Tür erneut aufgestoßen und ein Mann mit einer Motorradmaske und schwarzer Kleidung trat ein. Er hatte eine Pistole in der Hand und richtete diese nun auf die Frau. „Bitte…“, wimmerte sie leise. Der Mann schüttelte den Kopf und drückte ab, doch die Frau duckte sich weg. Der Mann fluchte. Die Frau stand vor dem Fenster. Sie hatte keine Wahl, sie musste wohl springen. Sie zögerte. Der Mann lief in Richtung Fenster doch es war zu spät. Das Baby fest an ihren Bauch gedrückt sprang die Mutter. Doch der Mann zielte und drückte schließlich ab. Er erwischte sie mitten in der Luft. Die Frau fiel leblos zu Boden – auf ihr Kind! Der Einbrecher schien zufrieden. Er trat hinaus zu der Mutter und rollte sie von ihrem Kind runter. Auch ihr Sohn lag regungslos am Boden. Er war tot… Um mich herum wurde es schwarz. Ich blinzelte und fand mich in meinem Klassenraum wieder. Ich hatte beide Hände am Kopf und stützte mich mit dem Ellenbogen auf den Tisch. Ich konnte mich nicht erinnern in diese Position gegangen zu sein. Mein Herz raste. Ich fuhr mir mit dem Handrücken über die Stirn und sah mich um. Bengee wandte den Blick wieder zur Tafel, mit demselben, ausdruckslosen Blick wie vorher. Ich sah meine Mitschüler an. Sie schienen nichts bemerkt zu haben. Ich sah wieder auf den Tisch. Das war seltsam… Normalerweise sah ich in meinen Visionen den Tod der Person, die ich ansah. Doch in meiner Vision von Bengee hatte ich nur eine Frau und ihr ungefähr 2 Jahre altes Kind sterben sehen. Und Bengee war ja, soweit ich wusste, weder eine Frau, noch 2 Jahre alt. Auch die Zeit, die ich spürte, war merkwürdig. 12ter Juni vor 11 Jahren…!! Ich konnte es mir nicht erklären und ich hatte ja auch niemanden, mit dem ich rumrätseln konnte, also machte ich mir vorerst keine Gedanken darüber. Judy versuchte auch weiterhin Kontakt zu mir aufzunehmen. Ich ließ das mehr oder weniger zu, aber ansehen konnte ich sie immer noch nicht. Auch Bengee wollte ich nicht noch mal ansehen, aus Angst, dieses Mal seinen richtigen Tod zu sehen. Bald darauf kam ein neues Mädchen in unsere Klasse. Noch wusste ich es nicht, aber sie würde später einmal eine unheimlich wichtige Rolle in meinem Leben spielen…! Kapitel 3: Amina Maddox und Bengee Matthews ------------------------------------------- Das Mädchen hieß Amina Maddox und kam eine Woche nach mir in die Klasse. Sie war etwa 1,74m groß, hatte langes, braunes Haar und sanfte, grüne Augen. Sie wurde auf einen Platz vor mir gesetzt. Es war dasselbe, wie bei Bengee, auch sie weckte auf unerklärliche Weise mein Interesse. Ich wollte mehr über sie wissen, doch diesmal gab es niemanden, den ich fragen konnte. Am nächsten Tag in der ersten Pause entschied ich mich mal mit ihr zu reden. Ich stand auf, doch bevor ich zu ihr gehen konnte, stand sie schon vor mir und lächelte mich an. „Hallo!“, sagte sie. „Hallo…“, sagte ich, den Blick auf den Tisch gerichtet. Ich setzte mich wieder. „Ich bin Amina! Und du?“, fragte sie mich. „Minty…“, antwortete ich dem Tisch. „Hm?“ Sie schaute mich fragend an und fragte: „Was ist denn da?“ Sie besah sich den Tisch, „also ich seh’ da nichts…!“ „Da ist auch nichts…“, meinte ich. „Nicht?“, fragte sie, „warum schaust du dann hin?“ „hmm…“, machte ich, „ich mh… ich sehe Leute nicht so gern an…“ Wir schwiegen, was mich wunderte, denn ich hatte ein „Warum?!“ oder ein „Okaaay…“ erwartet. Ich sagte nichts. „Weißt du….“, unterbrach Amina schließlich die Stille, „du bist mir gleich aufgefallen, als ich mir die Klasse angesehen habe…“ Klasse! Noch ein Fan!, dachte ich, sie hält mich sicher auch für verrückt! „Ach ja?“ Sie nickte. „Ja, du und…“, sie zeigte auf einen Jungen aus der Klasse, „…er!“ Ich folgte ihrem Fingerzeig. „Bengee?“, sagte ich erstaunt, „wieso gerade er?!“ „Weiß ich nicht…“, meinte sie, „…er ist mir einfach aufgefallen…“ Ich nickte. Zufall…, dachte ich, aber… gibt es denn überhaupt Zufälle…? Die Lehrerin betrat die Klasse. Amina ging an ihren Platz. Ich fand es schade, dass ich nun nicht mehr mit ihr reden konnte, denn ich wollte mehr wissen. Irgendwann schrieb ich dann auf einen Zettel Warum bist du eigentlich auf unsere Schule gekommen? und steckte ihr den Zettel heimlich zu, sodass die Lehrerin es nicht sah. Ein paar Minuten später flog ein kleiner Zettel durch die Luft und landete auf meinem Tisch. Darin stand Naja… auf meiner anderen Schule hielten mich alle für verrückt… Mir stockte der Atem. Konnte es sein, dass es zwischen ihr und mir eine Verbindung gab? Erstmal nachfragen…, dachte ich und schrieb zurück. Warum das?! Ich warf ihn wieder zu Amina. Als Antwort kam Es geschehen seltsame Dinge, wenn ich anderen Menschen in die Augen sehe… Fassungslos sah ich den Zettel an. Das… das kann nicht sein!!, dachte ich, während ich ihr wieder eine Notiz schrieb. Hast du …Visionen? Nervös tippte ich mit dem Finger auf den Tisch und wartete auf ihre Antwort. Endlich warf sie mir wieder einen Zettel zu. Ja! …du hälst mich sicher für verrückt! …Woher weißt du das?! Ja… das war die Frage… woher wusste ich das? Was sollte ich ihr nur darauf antworten? Ich entschied mich, erstmal nicht weiter darauf einzugehen. Zittrig schrieb ich Nur so… ich denke nicht, dass du verrückt bist! …Was genau siehst du in den Visionen? …Siehst du den Tod anderer Leute? Ich warf ihr den Zettel zu und wartete gespannt. Dem Unterricht folgte ich nun schon lange nicht mehr. Es schien ewig zu dauern, bis endlich ihr Zettel angeflogen kam. Nein, das wäre ja schrecklich! …Ich sehe… ja… das ist eine gute Frage, was genau ich sehe… Sagen wir es ist bei jedem Menschen unterschiedlich… meistens relativ gute Dinge… Ich war leicht enttäuscht. Trotzdem, sie hatte fast genau das selbe Schicksal wie ich. Sollte ich ihr von meinen Visionen erzählen…? Ist das dein Ernst oder verarschst du mich nur? schrieb ich zurück. Nachdenklich wartete ich auf Aminas Antwort. Diese kam schnell. Nein, das ist mein Ernst! Warum sollte ich denn lügen? Glaubst du mir nicht?! Ich überlegte, ob ich ihr vertrauen konnte. Ich entschied mich dafür, denn was hatte ich denn schon groß zu verlieren? Ich glaube dir! Ich habe auch Visionen… aber schlimmere als deine! Ich sehe die Menschen, die ich ansehe sterben… das Schlimme ist, dass es dann ein paar Tage später auch passiert. Ich warf ihr den Zettel zu und wartete aufgeregt. Als sie die Nachricht gelesen hatte, drehte sie sich kurz zu mir um und sah mich unverwandt an. Ich konnte nicht so schnell reagieren und wegsehen, also sahen wir uns einen Moment lang an. Ich erwartete das übliche Schwummerigwerden, das Wiederfinden in einem anderen Raum und das Schreckliche-Dinge-Sehen. Doch es geschah nichts. Keine Reaktion, als würden zwei ganz normale Menschen einen Blick austauschen. Amina drehte sich wieder um und schrieb. Warum ist gerade nichts passiert?! Eigentlich hätte ich gerade etwas sehen müssen! stand dort. Ja! Ich eigentlich auch! Ich hätte gerade sehen müssen, wie du stirbst…! schrieb ich mit zittrigen Händen zurück. Ich warf ihr den Zettel zu. Eigenartig…, dachte ich. Amina und ich schrieben noch den restlichen Unterricht miteinander und wurden nach und nach richtig gute Freunde. Es hatte noch nie einen Menschen gegeben, der nicht starb, wenn ich ihn ansah. Ausgenommen Jodie, sie konnte ich ansehen, als meine Fähigkeit noch nicht ganz ausgereift war. Doch das lag in ferner Vergangenheit und ich konnte mich kein Stück daran erinnern. Doch nun konnte ich es bei Amina und deshalb war das alles sehr neu für mich. Auch für Amina war das alles recht neu. Früher hatte sie, wenn sie eine Freundin ansah, gesehen, wie diese schlimme Dinge tat, so erzählte sie mir. Dadurch war Amina natürlich immer sehr misstrauisch geworden und daran scheiterte die Freundschaft wie schon so viele andere. Eines Tages in der großen Pause erzählte ich Amina von Bengee. Ich bat sie, Bengee anzusehen und mir zu sagen, was sie sah. Das tat sie auch. „Ich…“, sagte sie langsam, während sie versuchte Augenkontakt herzustellen, „ich sehe…“ Sie stockte, blinzelte und sah noch mal hin, als würde sie nicht glauben, was sie sah. „Was ist?“, fragte ich, „was siehst du?“ „Ähm… ich sehe…“, sie lachte matt, „ich sehe ein Kind!“ Ich sah sie an. „Was? Ein Kind?... Was denn für ein Kind?!“, fragte ich. „Ja, ein Kind…“, meinte sie und wandte den Blick von ihm ab, „nicht sehr alt… so um die 2 oder 3 Jahre alt…“ Ich nickte und erzählte ihr genau, was ich in der Vision gesehen hatte. Wir grübelten beide, doch egal, wie wir es drehten und wendeten, es ergab keinen Sinn. Einige Tage später beschloss ich mal mit Bengee zu reden. In der Pause stand er wie immer am Fenster und sah hinaus. Ich atmete tief durch. Es war das allererste Mal, dass ICH die jenige war, die den Kontakt aufnahm. Sonst würde mir das immer von den anderen abgenommen. Zusammen mit Amina überlegte ich, ob ich ihm gefahrlos in die Augen sehen konnte. Wir hatten uns dafür entschieden, denn wir hatten beide das Gefühl, er habe etwas Besonderes an sich. Ich schritt auf Bengee zu. „Hi!“, sagte ich und lächelte vorerst die Wand hinter ihm an. Er wandte sich zu mir. Er sah mich für den Bruchteil einer Sekunde verwirrt an und schien zu überlegen, was da wohl hinter ihm an der Wand war. Doch dann sagte er mit einem leicht fragenden Ton in der Stimme: „Hey…“ „Und? Wie ähm… geht’s dir?“, sagte ich und lächelte leicht nervös. Ich nahm all meinen Mut zusammen und sah ihm schließlich in die Augen. Nichts geschah. Ich lächelte erleichtert. „ganz gut…“, meinte er. Er wandte sich wieder von mir ab und sah nach draußen. Da war es wieder. Nur für einen ganz kurzen Moment. Dieser Ausdruck in seinen Augen als er sich abwandte… Es war ein Ausdruck von Schmerz und Trauer. „Du hast viel hinter dir…“, murmelte ich. „Bitte?!“, sagte Bengee und sah mich verwundert an. Shit, dachte ich, hab ich das gerade laut gesagt?! Ich lachte leicht nervös. „Ähehe… ähm sorry… ich ähm…“ Er unterbrach mich. „W-Woher weißt du das?!“, fragte er mich. Ich zögerte kurz. „Ähm… na ja… ich merke so was schnell…“, meinte ich leise. „Woran denn das?“, fragte er erstaunt und musterte mich interessiert. Ich zeigte kurz auf seine Augen. „Dieser Ausdruck…“, sagte ich, „eben… als du dich weggedreht hast…“ Er sah mich verwundert an. Ich überlegte kurz, ob ich weitermachen sollte. Dann redete ich weiter. „Und vorhin hast du kurz nach links geguckt…“ Ich lächelte kurz. „Das bedeutet Erinnerung an die Kindheit…“ Er schwieg. „Wow…“, sagte er schließlich, „du kannst so viel allein aus den Augen lesen?“ Er lächelte, ich zuckte einfach nur mit den Schultern und lächelte ebenfalls. Er musste ja nicht wissen, dass nicht ich, sondern Amina diese guten Menschenkenntnisse hatte. Sie hatte mir vor dem Gespräch ein bisschen was darüber erzählt. „Aber…“, meinte er nachdenklich, „mir ist etwas an dir aufgefallen…“ „Was denn?“, fragte ich. Irgendwie freute es mich, dass ihm etwas an mir aufgefallen war, denn das hieß ja wiederum, dass er mich irgendwie beobachtet haben musste oder sonst was. „Dass… joah dass du nur zwei Leuten wirklich in die Augen siehst…“, er lächelte, „dieser Amina und mir…“ Mein Lächeln verschwand. Was bitte sollte ich DARAUF antworten, ohne dass er mich für verrückt erklärte? „Also…“, er fuhr fort, „bei Amina kann ich es ja noch verstehen… ihr seid ziemlich eng befreundet oder? …aber bei mir…?“ Warum fragte er mich nicht etwas Leichteres? Warum fragte er mich nicht einfach, warum ich allgemein niemanden ansah? Darauf hätte ich antworten können, dass ich ein Trauma aus meiner Kindheit hätte oder so was… Aber, dass er es direkt auf sich selbst beziehen musste…! Ich schwieg. Nach einer Zeit sah er mich verwirrt an, weil ich nicht antwortete. Ich zögerte. Doch dann beschloss ich, mich ihm anzuvertrauen. „Versprichst du …mich nicht für verrückt zu halten…?“, fragte ich zaghaft. Bengee nickte. Ich atmete tief durch. „Also die Sache ist die, dass ich …Dinge sehe, wenn ich Menschen in die Augen sehen…“, ich machte eine kurze Pause, „aber… bei Amina und dir ist das irgendwie nicht so…“ Er muss ja nicht ALLES wissen…, dachte ich. „Nicht?“, sagte er nachdenklich, „’ne Ahnung, warum das so ist?“ Ich schüttelte den Kopf. Wir redeten den Rest der Pause über noch ein bisschen miteinander und grübelten über meine Gabe nach. Wir freundeten uns relativ gut an und redeten auch die weiteren Pausen miteinander. Irgendwann fand ich, Bengee habe ein Recht darauf, zu erfahren, was genau ich gesehen hatte. Ich redete mit Amina darüber und sie unterstützte meine Meinung. Also beschloss ich Bengee in der nächsten Pause darauf anzusprechen. Den Unterricht über grübelte ich, wie ich mit ihm darüber reden konnte. Kaum hatte es zur Pause geklingelt, kam Bengee auch schon angehoppst. Warum war er eigentlich so fröhlich geworden? Als ich ihn kennen gelernt hatte, war er viel verschlossener gewesen. Anscheinend hatte er Amina und mich wirklich ins Herz geschlossen… Ich hatte keine Zeit genauer darüber nachzudenken, denn schon stand er vor mir. „Naa!“, sagte Bengee fröhlich und setzte sich neben mich. „Hey!“, sagte ich und lächelte leicht, „du ich muss mal mit dir reden…“ Sein Lächeln verschwand. Ich kann mir vorstellen, dass das in dem Moment ziemlich ernst rüber kam. Er legte den Kopf leicht schief. „Worum geht’s?“, fragte er. „Um… ähm…“, begann ich, „joah… um dich …mehr oder weniger“ Ich versuchte zu lächeln. Nun kam ich mir albern vor. Weiß Gott was er in diesem Moment von mir gedacht hatte… Ich kann mir gut vorstellen, was… „Ach ja?“, kam es von ihm mit einem seltsamen Grinsen, aus dem ich nicht recht schlau wurde. „Jaaa…“, sagt ich langsam, „na ja es geht eher um die Vision, die ich hatte, als ich dich angesehen habe…“ Das merkwürdige Grinsen verschwand. „Aha?“, machte er, „ich dachte da war nichts…?“ So schnell konnte ich mir keine sinnvolle Antwort überlegen und so sagte er: „Und was ist damit?“ Er schien leicht beunruhigt. Die Unruhe bezog ich auf die Angst vor der Vision, weil das ja nie was Gutes verhieß… „Alsooo…“, sagte ich langsam und ich ertappte mich dabei, wie ich die Sache vor mir her schob. Es war mir sichtlich unangenehm… „Also…“, sagte ich noch mal, „du weißt, ich sehe normalerweise die Tode, derer die ich ansehe…?“ Ich sah ihn an und er nickte. „Naja… als ich dich angesehen habe…“, fuhr ich fort, „…habe ich nicht deinen Tod gesehen…“ Ich machte eine Pause. „Was denn dann?“, fragte er. Ich schilderte ihm meine Vision genau. Als ich zu ende erzählt hatte, sah ich ihn an und erschrak leicht. Er war ganz blass geworden. „Was ist?!“, fragte ich leicht entsetzt. „Gar nichts…“, sagte er knapp, stand auf und ging zu seinem Platz zurück. Was ist denn mit ihm?!, dachte ich. Sein ernster Gesichtsausdruck blieb mir danach noch tagelang in Erinnerung… Kapitel 4: Passfotos, Paul Jeweman und eine rätselhafte Katze ------------------------------------------------------------- KapiteDie Passfotos standen vor der der Tür. Ein Ereignis, das mich ziemlich beunruhigte. „Was ist, wenn meine Gabe auch durch Fotos funktioniert?!“, fragte ich Amina unruhig. In zwei Tagen würden die Klassenfotos und Schülerausweise gemacht werden. „Was ist, wenn jedes Mal, wenn jemand mein Bild ansieht, ich eine Vision bekomme und tausende Menschen verrecken, nur weil sie mein Bild gesehen haben!!“, rief ich und war den Tränen nahe. Amina nahm mich in den Arm und versuchte, mich zu beruhigen. „Ganz ruhig…“, sagte sie leise, „du weißt, ich habe fast die selbe Gabe wie du… Ich wurde schon oft fotographiert und ich hatte nie Visionen, weil Menschen mein Foto gesehen haben…“ „Aber was, wenn es bei mir anders ist…?“, hauchte ich leise. Amina wusste keine Antwort darauf und schwieg. „Der Fotograph wird so oder so durch meine Hand sterben…“, sagte ich, „oder besser gesagt durch meine Augen…“ Ich lachte verbittert. Egal, wie sehr ich mich dagegen sträubte, ich konnte nichts dagegen tun, ich musste fotographiert werden. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie ich es anstellen sollte, auf dem Foto zu lächeln, wenn ich kurz davor die Vision des Fotographen gesehen hatte. Amina munterte mich auf und sagte immer wieder, es würde schon werden… Auch Bengee (er war mittlerweile wieder der normale, fröhliche Bengee geworden), der ja auch eingeweiht war, versuchte immer wieder mir Mut zu machen. „Komm schon!“, sagte er aufmunternd an dem Morgen des Fototags, „es wird schon gut gehen!“ Ich war ein nervliches Wrack und entgegnete: „Du hast leicht Reden! Du hast ja auch keine Visionen, wenn du Menschen ansiehst!“ Er nickte und musste sich doch eingestehen, dass ich Recht hatte. Die Schüler wurden alphabetisch aufgerufen und so war ich von uns Dreien die Erste, die dran war. Ich atmete tief durch und ließ mich schnell noch mal von Amina durchknuddeln. „Du schaffst das!“, flüsterte sie in mein Ohr und ich ging in den Raum, in dem das Foto gemacht wurde. Ich trat ein und sah mich um. Der Raum war sehr klein. An der einen Wand war der Fotograph mit seiner Ausrüstung und an der gegenüberliegenden Wand war eine hellblaue Leimwand, vor der ein kleiner Hocker stand. Der Fotograph selbst war ein etwas dickerer, sympathisch aussehender, junger Mann. Ich schätzte ihn auf etwa 28 Jahre. Er lächelte mich an und sagte: „Hallo, Minty! Setz dich bitte auf den Hocker dort!“ Schade, dass er sterben muss, dachte ich, während ich mich auf den Hocker setzte, er ist noch so jung… Der Fotograph sah durch seine Kamera und gab mir Anweisungen, wie ich mich hinsetzten sollte. Erst sträubte ich mich dagegen, in die Kamera zu gucken und veränderte absichtlich meine Sitzposition so, dass er mich immer wieder korrigieren musste. „So, dreh dich etwas nach links. Beine zusammen. Kopf gerade. Jetzt wieder nach links drehen. Nein, nach links. Jetzt sind deine Beine wieder zu weit auseinander. Beine zusammen. Kopf gerade…“ Doch dann als der Fotograph mit den Nerven am Ende zu sein schien, überwand ich mich doch. Ich hörte nur noch, wie er fröhlich sagte „Lächeln!“, bevor ich dann ganz wegtrat. Alles um mich herum wurde schwarz. Dann sah ich eine Katze. Sie war grau und rekelte sich genüsslich auf einem Esstisch. Dann hörte ich, wie hinter mir ein Schlüssel ins Türschloss geschoben wurde und klimpernd die Tür aufschloss. Ich drehte mich um und sah den Fotographen durch die Tür schreiten. Er erblickte die Katze auf dem Tisch. „Dana!“, rief er und schmiss seine Tasche auf den Boden, „du sollst doch nicht auf den Tisch!“ Aufgeschreckt von dem Schrei und der Tasche, die ein paar Meter vor dem Tisch landete, sprang die Katze vom Esstisch. Dabei warf sie noch eine dünne, zerbrechliche, sehr teuer aussehende Vase um. Diese fiel auf den Boden und zerbrach so, dass etliche lange, spitze Scherben senkrecht in die Höhe ragten. Fluchend ging der Fotograph in die Küche, um etwas zum Auffegen zu holen. Er kam wieder. „Verdammtes…“, murmelte er. Plötzlich stolperte er über seine Tasche und fiel direkt in die scharfen Scherben. Ich schrie kurz auf, was natürlich niemand mitbekam. Der Fotograph lag am Boden und regte sich nicht… Es wurde wieder schwarz um mich. Dann fand ich mich in dem kleinen Raum in der Schule wieder, wo die Fotos gemacht wurden. Plötzlich blitzte ein helles Licht auf. „Was zum…?!“ Ich zuckte und rieb mir die Augen. Vor mir saß der Fotograph hinter seiner Kamera. Er sah auf einen kleinen Monitor. „Oh…“, sagte er, „das müssen wir noch mal machen!“ Er lachte. „Auf diesem Foto hier siehst du aus, als hättest du den Tod gesehen…“ Nachdem mein Foto gemacht wurde, taumelte ich aus dem Raum heraus. Amina und Bengee kamen bereits auf mich zu. „Wie war’s?“, fragte Amina. Ich zuckte mit den Schultern. „Er wird in Glasscherben fallen…“, sagte ich als sei das etwas ganz Normales, „in drei Tagen…“ Mitleidig sah Amina mich an und nahm mich in den Arm. Schon bald war dann auch Amina an der Reihe. Sie blieb etwa fünf Minuten im Fotoraum. Dann kam sie mit blassem Gesicht und entsetztem Blick wieder heraus. Bengee und ich stürmten auf sie zu. „Was ist?!“, fragte ich. „Es war schrecklich…“, murmelte sie, „ich hatte auch eine Vision…“ Bengee hatte keine Zeit sich um Amina zu kümmern, denn nun war er an der Reihe. Widerstrebend ging er schließlich in den kleinen Raum, um sich fotografieren zu lassen. „Kinder…“, fuhr Amina fort, als habe sie keinen Notiz davon genommen, dass Bengee verschwunden war, „er fotografiert Kinder… in seinem Keller… er lockt sie in seine Wohnung und…“ Sie begann zu weinen. Ich nahm sie in den Arm. „So ein mieses Schwein!“, rief sie schluchzend, „er macht Kinderpornos in seinem Keller! Wie kann man nur so etwas Schreckliches tun?!“ „Ich weiß es nicht…“, flüsterte ich, „bist du sicher, dass er das macht…?“ Amina zuckte leicht mit den Schultern. „In der Vision habe ich gesehen, wie er nackte, kleine Kinder fotografiert hat und wie andere Leute…“, sie brach ab. Was ist nur aus den Menschen geworden…?, dachte ich und bereute es auf einmal, dass es mir vor meinem Foto Leid getan hatte, dass er sterben musste. Es hat es verdient zu sterben!, dachte ich bitter. Es dauerte einen Moment, bis Amina sich wieder gefangen hatte und fortfuhr. „Dann machte es einen kurzen Zeitsprung und ich sah, wie er Magazine mit diesen Fotos verkauft hat…“ Ich beruhigte sie weiter und überlegte, ob wir zur Polizei gehen sollten. Bengee kam wieder aus dem Raum heraus. „So, was ist jetzt los?!“, fragte er uns nun. Wir erzählten ihm, was passiert war und was Amina gesehen hatte. „Meinst du, wir sollten zur Polizei gehen?“, fragte ich zaghaft. Er überlegte. „Ich weiß nicht…“, meinte er schließlich. „Ja, genau!“, sagte Amina mit gespielter Fröhlichkeit, „was sollen wir machen?! Zur Polizei hingehen und sagen >Hey, wir haben übersinnliche Fähigkeiten und haben zufällig gesehen, dass unser Schulfotograph Kinderpornos macht. Können sie das mal bitte überprüfen?<“ Wir schwiegen. Dann sagte Bengee plötzlich: „Ja, genau das!“ Wir sahen ihn beide blöde an, als hätte er vorgeschlagen auszutesten, ob wir fliegen wenn wir vom Hochhaus springen. „Ein Kumpel von mir…“, erklärte er, „sein Vater ist Polizist… den können wir um eine Hausdurchsuchung bitten, oder nicht?“ Wir glotzten ihn immer noch an, als wäre er ein grünes Marsmännchen. Doch dann sagte ich: „Wäre möglich…“ Aber Amina schüttelte den Kopf. „Das geht nicht so einfach…“, sagte sie, „eine Hausdurchsuchung ist Eindringen in die Privatsphäre… Wir können nicht einfach zu denen hingehen und sagen, sie sollen in seine Privatsphäre eindringen… Da müssten wir schon illegale Drogen bei ihm gesehen haben…“ Wir schwiegen wieder für eine kurze Zeit. Dann kam mir eine Idee. „Wieso machen wir das nicht einfach?“, sagte ich. „Hä?“, sagten Bengee und Amina und schauten mich blöde an. „Ja, wieso gehen wir nicht hin und sagen, wir hätten gesehen, wie Mr. Faralley einen Joint geraucht hat oder sich was durch die Nase gezogen hat oder so… Dann würden sie eine Hausdurchsuchung bei ihm machen und schwupps, man würde die Kinderpornos finden!“ Amina und Bengee überdachten diese Idee. „Bisschen riskant…“, sagte Bengee, „was wenn sie uns nicht glauben? Oder noch schlimmer… Was wenn Aminas Vision nicht stimmt?“ Ich winkte ab. „Also darüber mach dir mal keine Sorgen! Also bisher sind unsere Visionen zu 99% wahr geworden. Also das ist unser kleinstes Problem…“, sagte ich. Wieder schwiegen wir alle drei. Alle dachten darüber nach, wie wir es schaffen konnten, dass Mr. Faralley einen Hausdurchsuchungsbefehl an den Hals bekam. „Wisst ihr was…?“, unterbrach Amina die Stille, „ich glaube wir müssen uns gar nicht so viel Aufwand darum machen…“ Sie sah mich an. Ich gab den Blick verwundert zurück. „Ich glaube ich habe mal irgendwo gelesen, dass die Polizei, wenn ein Verdacht auf Kinderpornos besteht, das sofort nachprüfen müssen…“, sagte sie. Ich sah sie verblüfft an. „Nee, jetzt echt?“, fragte ich. Sie nickte. „Das heißt, wir müssen da einfach nur reingehen und sagen >Faralley macht Kinderpornos< und die gehen dem sofort nach, ohne Fragen zu stellen…“ Ich nickte und sah Bengee an. „Wär’ ’n Versuch wert…“, meinte ich, „oder?“ Er nickte. „Ja, hört sich viel versprechend an…“, sagte er. Wir beschlossen heute direkt nach der Schule bei der Polizei vorbei zu gehen. Mittlerweile waren alle Fotos gemacht und wir gingen wieder zu unserer Klasse. Auf dem Weg mussten wir durch die Pausenhalle. Dort stand eine Gruppe etwa 15-jähriger Schüler. Ich merkte, dass zwischen dem einen und Amina eine seltsame Spannung herrschte. Amina blickte zu ihm, ohne ihm in die Augen zu sehen und lächelte verstohlen. Der Junge wusste anscheinend, dass er gemeint war, obwohl sie ihn nicht ansah, und lächelte zurück. Obwohl wir nicht lange Zeit hatten, besah ich ihn mir rasch genauer. Er war etwa 1,77m groß, schlank und hatte braune Haare. Seine Augen sah ich mir nicht an (natürlich nicht, sonst würde er ja in den nächsten Tagen sterben!). Ich wandte den Blick ab und sah Amina an. „Wer ist er?“, fragte ich und grinste. Amina lächelte ertappt. „Paul Jeweman… Er geht mit mir in Katholisch“, murmelte sie und beschäftigte sich mit einem Haargummi. „Ich sah noch mal leicht über die Schulter zurück. „Er ist süß“, stellte ich fest. „Nicht wahr?“, kicherte Amina. Ich nickte. „Also Katholisch, ja?“, meinte ich. Sie nickte. Ich grinste. „Erzähl mal“, sagte ich. Sie sah mich an. „Was denn erzählen?“ „Erzähl mal!“, wiederholte ich mit einer viel sagenden Geste. Amina schien zu begreifen. „Ach sooo…“, sagte sie, „na ja... es gibt gar nicht mal sooo viel zu erzählen…“ „Ja, das habe ich eben gesehen“, lachte ich, „ein Wunder, dass ihr nicht übereinander hergefallen seid!“ Ich kicherte. Amina warf mir einen tödlichen Blick zu und fuhr fort, als habe sie mich nicht gehört. „Jedenfalls sieht er mich im Unterricht, öfter mal an und lächelt mir auch mal zu…“, sagte sie, „ja… und das war’s auch schon…“ „Er steht auf dich“, sagte ich gleichgütig. „Meinst du echt…?“, sagte Amina und wurde rot wie ein kleines Kind. Ich nickte. „Ach, ich weiß nicht...“, sagte sie zweifelnd. Ich wandte mich an Bengee, der die ganze Zeit über schweigend und in Gedanken versunken neben mir hergelaufen war. „Bengee, was würdest du tun, wenn du auf ein Mädchen stehst und es ihr zeigen willst?“, fragte ich. „Na ja…“, sagte er nachdenklich, „ich denke, ich würde sie im Unterricht immer ansehen und auch mal anlächeln...sofern wir hier von einem Mädchen aus dem Unterricht die Rede ist…“ Er sah mich an. Ich wandte mich wieder zu Amina. „Der Beweis!“, stellte ich fest und zeigte auf Bengee, der kein Stück unserer Unterhaltung mitbekommen hatte. Amina zuckte mit den Schultern. Wir hatten die Klasse erreicht. „Danke für deine Mitarbeit!“, sagte ich lachend zu Bengee, der immer noch keine Ahnung hatte, worum es ging. Ich setzte mich neben Amina, denn wir hatten nun eine Vertretungsstunde und die Lehrerin wusste natürlich nicht, wo unsere festgelegten Plätze waren, also ging das. Bengee setzte sich ebenfalls auf seinen Platz, der eine Reihe vor mir auf der anderen Seite der Klasse war. Die Lehrerin gab uns eine Stillarbeit, oder eher eine Lautarbeit, denn still war hier niemand, und setzte sich vorne an den Pult. Ihr schien es völlig egal zu sein, ob wir unsere Aufgaben taten oder nicht, das einzige, was sie interessierte war, dass wir leise genug waren und das waren wir anscheinend. Ich unterhielt mich die Zeit seelenruhig mit Amina. „Wieso fragst du ihn nicht, ob er Lust hat mit dir was zu unternehmen?“, fragte ich sie, „du stehst doch auf ihn oder?“ „Naja-“, begann Amina, doch ich unterbrach sie. „Dann tu es, verdammt!“ Sie lächelte, schien aber immer noch nicht ganz überzeugt. „Ach, ich weiß nicht…“, druckste sie herum. Ich sah sie durchdringend an. „Muss ich noch mal Bengee als Beweis herbei holen…?“, sagte ich und zeigte in dessen Richtung. Amina lachte. „Nein, das geht schon…“, sagte sie und überlegte. „Na okay… ich schau’ mal, was sich machen lässt…“, meinte sie schließlich. Ich lächelte. „So ist’s brav!“, lobte ich sie, als würde ich zu einem Welpen sprechen, „willst’n Keks zur Belohnung?“ Ich lachte. „Hör auf damit!“, sagte sie und haute mir leicht an den Arm, lächelte jedoch, „…aber den Keks nehm’ ich gern!“ Nach dieser Stunde war der Schultag vorbei. Amina und ich packten unsere Sachen zusammen und gingen nach vorn, wo wir auf Bengee warteten. „Auf geht’s…“ Unsere gute Laune schien schlagartig verschwunden zu sein. Die Stimmung war angespannt und irgendwie unangenehm. Wir hatten uns doch entschieden, lieber doch zum Präsidium zu gehen, als extra den Vater von Bengees Kumpel zu belasten. Nach etwa einer halben Stunde Bahnfahrt waren wir da. Unterwegs hatten wir uns darauf geeinigt, dass Bengee sprechen würde. Dieser seufzte und erklärte sich dazu bereit. Wir gingen in das Präsidium, während ich mich an Bengees Arm klammerte. Als er mich seltsam ansah sagte ich: „Was denn? Ich bin nervös… und Polizisten machen mir irgendwie Angst…“ Bengee nickte und ließ zu, dass ich mich weiterhin an ihn klammerte. „Na, was kann ich für euch tun?“, fragte ein großer, bärtiger Polizist. Bengee räusperte sich und schüttelte mich ab. Beleidigt verkroch ich mich bei Amina. Bengee räusperte sich noch mal und sah den Polizisten. „Mr…?“, begann er und sah den Polizisten fragend an. „Jonnson!“, antwortete der Polizist. „Mr. Jonnson, wir haben leider den Verdacht, dass unser Schulfotograph, Bob Faralley, Kinderpornos in seinem Keller macht…“, sagte Bengee ernst. Ich war überrascht, wie gelassen Bengee sein konnte und auch Mr. Jonnson staunte nicht schlecht. „Habt ihr, ja?“, sagte er ernst, „habt ihr auch einen Grund zu dem Verdacht?“ Bengee zögerte kurz und drehte sich kurz zu uns um. „Ja, haben wir!“, sagte er dann, „aber den müssen wir ihnen nicht sagen!“ Mr. Jonnson sah ihn verblüfft an und sagte: „Nicht?“ „Nein!“, meinte Bengee, „wenn ein Verdacht auf Kinderpornografie besteht, müssen sie das nachprüfen, ohne einen Grund zu wissen!“ Mr. Jonnson sah ihn an und musste sich wohl eingestehen, dass Bengee Recht hatte. Er nickte. „Wir werden es nachprüfen…“ Bengee nickte ebenfalls. „Vielen Dank!“, sagte er lächelnd. Als wir wieder vor dem Präsidium standen, sah ich Bengee bewundernd an. „Was?“, fragte er mich. „Nichts…“, sagte ich lächelnd, „es ist nur… ich wusste gar nicht wie cool du sein kannst…“ „Was soll das heißen?!“, fragte er, „dass ich sonst nicht cool bin?!“ Er sah mich böse an. Ich lachte. „Natürlich nicht!“, ich kicherte, „ich mein ja nur, dass sonst nicht so gelassen bist, wie gerade eben…“ „Tse…“, machte Bengee und sah beleidigt weg. „Ach Gottchen, jetzt sei doch nicht beleidigt!“, sagte ich. Ich ging zu ihm und knuddelte ihn. Das schien ihn zu besänftigen. Am nächsten Tag sah ich einen Artikel in der Zeitung: Kinderpornografie im Keller! Der 29-jährige Schulfotograph Bob Faralley wurde gestern in seiner Wohnung festgenommen. Der Grund: Ein verstecktes Studio in seinem Keller. Dort produzierte Faralley schon seit Jahren Kinderpornografie. Nach Angaben der Zeugen lockte Faralley erst Kinder mit Süßigkeiten von der Straße in seine Wohnung. Dann brachte er sie in seinen Keller, um sie dort zu fotografieren .Diese Fotos veröffentlichte er dann später in bestimmten Magazinen, die er auf dem Schwarzmarkt verkaufte. Das Ausschlaggebende für die Durchsuchung von Faralleys Wohnung war ein Tipp anonymer Zeugen. Die Polizei weiß nicht, wie die Zeugen wissen konnten, was Faralley heimlich tat, doch was zählt ist, dass Faralley jetzt endlich sichergestellt wurde. Faralley selbst sitzt nun vorerst in Haft. In einigen Wochen wird der Prozess gegen Faralley laufen. Da wird sich dann zeigen, was für eine Strafe er bekommen wird. Ich war sprachlos als ich das las. Ich riss den Artikel raus, um ihn später in der Schule Amina und Bengee zu zeigen. „Morgen!“, rief ich als ich durch die Tür unserer Klasse schritt. Ich ging zu meinem Platz und legte erstmal meine Sachen ab. Amina tat es mir gleich. Dann kam auch schon Bengee auf mich zugehoppst und knuddelte mich zur Begrüßung. „Schaut mal…“, sagte ich und zeigte Amina und Bengee den Zeitungsausschnitt. Die beiden lasen ihn rasch durch. „Wow!“, sagte Bengee als er fertig war, „also hatte Amina tatsächlich Recht…“ Er lächelte und sah Amina an. „Tse…“, machte Amina beleidigt, „also dass du je an mir gezweifelt hast kränkt mich doch nun sehr…“ Sie rümpfte die Nase. „Ähh… ich hab nie an dir gezweifelt, Ami!“, sagte Bengee rasch, „ich meinte doch nur-“ „Jaja ich weiß schon, was du meinst…“, fiel Amina ihm gespielt beleidigt ins Wort. Belustigt sah ich den beiden zu. Hilfesuchend schaute Bengee zu mir. „Jetzt sag doch auch mal was!“, fuhr er mich an. Doch ich schüttelte den Kopf. „Tut mir Leid, aber ich hab’ leeeider gerade nicht zugehört…“, sagte ich gelassen und sah auf meine Fingernägel. „Ihr seid gemein!“, meinte Bengee. Amina und ich kicherten. Ich wandte mich an Amina. „Und? Was ist jetzt mit… wie heißt er noch gleich? Paul?“, fragte ich und stupste sie leicht mit dem Ellenbogen an. Sie sah mich teilnahmslos an. „Was soll mit ihm sein?“ „Hast du ihn jetzt endlich mal nach einem Date gefragt?“, fragte ich. Amina schwieg kurz. Doch dann sagte sie: „NOCH nicht…“ und betonte das erste Wort besonders. Ich grinste. „Hihi… wann fragst du ihn denn dann?“ „Nach der nächsten Katholisch-Stunde…“, antwortete sie nachdenklich, „denke ich…“ Ich nickte. „Braaav…“, sagte ich und tätschelte ihr den Kopf. Als ich am nächsten Tag nach dem Unterricht nach Hause ging, fragte ich mich, was wohl nun aus Mr. Faralley werden würde. War es möglich, dass er nun doch nicht sterben musste, weil er im Gefängnis saß? Denn im Gefängnis gab es keine Katze und schon gar keine zerbrechliche Glasvase, dessen Scherben ihm ins Gesicht gerammt werden konnten. Doch bei Jodie hatte ich ja auch versucht, ihr zu helfen und ihren Tod zu verhindern und auch sie hatte sterben müssen. Mal sehen…, dachte ich, während ich meine Tür aufschloss. Tatsächlich erwartete mich am Morgen danach ein Artikel in der Zeitung: Todesfall im Gefängnis! Kaum eingesperrt und schon gestorben! Bob Faralley, der gestern wegen Kinderpornografie festgenommen wurde, starb gestern Mittag gegen 12.00 Uhr. Schuld daran war der Mithäftling Joe Brandon, der wegen Betrug in Untersuchungshaft saß, ermordete Faralley. Als Mordwaffe benutzte er eine spitze Glasscherbe, die er anscheinend irgendwann hatte mitgehen lassen. Während der alltäglichen Mittagspause lauerte Brandon Faralley auf und stieß ihm die Glasscherbe dreimal ins Gesicht. Danach suchte er das Weite, doch Brandon wurde von einem Häftling beobachtet. Dieser gab sofort Alarm bei den Wachen und Brandon wurde unter Einzelhaft gesetzt. Was Brandon zu einer solchen Tat trieb und wie er sich die Glasscherbe aneignen konnte ist noch unklar. Brandon selbst wollte noch nichts aussagen. Nachdenklich starrte ich den Artikel an. …und stieß ihm die Glasscherbe dreimal ins Gesicht… Interessant…, dachte ich und riss den Artikel heraus. In der Schule zeigte ich Amina und Bengee sofort den Artikel. „Faralley ist also tot…“, sagte Bengee, nachdem er ihn gelesen hatte. Ich wedelte abwinkend mit der Hand. „Jaja, davon bin ich ausgegangen…“, meinte ich, „was ich viel interessanter finde ist, WIE er gestorben ist…“ Er nickte. Ich sah Amina an, die die ganze Zeit still dagesessen hatte. „Beschäftigt dich das soo sehr oder warum bist du so still?“, fragte ich sie. „Hä? Was?“, fragte sie und sah mich verwirrt an, „tut mir Leid, ich hab gerade nicht zugehört…“ Ich sah Bengee an und zog eine Augenbraue hoch, aber auch er sah mich unwissend an. Doch dann begriff ich. Ich grinste. „Ahh, ich weiß schon…“, sagte ich, „du hast heute Katholisch, nicht wahr?“ Amina nickte leicht verlegen. „Ja, und ich hab immer noch null Ahnung, was ich zu Paul sagen soll…“ Sie ließ den Kopf hängen. Ich piekste sie in die Seite. „Ach, komm, das wird schon!“, sagte ich aufmunternd. Amina zuckte mit den Schultern. Ein paar Sekunden lang schwiegen wir alle. Dann wedelte ich wieder mit der Hand uns sagte: „Wie auch immer…“ Ich deutete wieder auf den Ausschnitt. „Letztens erst habe ich mich gefragt, wie oder ob er überhaupt sterben würde…“, sagte ich und sah Bengee an. Dieser nickte, schwieg aber. Da er nichts sagte, fuhr ich fort. „In meiner Vision habe ich gesehen, wie Faralley in Glasscherben gefallen ist und im Gefängnis wurde er dann umgebracht… mit einer Glasscherbe…“, sagte ich, „ich dachte, Faralley sei dem Tod im Gefängnis vielleicht noch mal davon gekommen… aber jetzt weiß ich, es gibt keine Rettung…“ Meine Stimme verlor sich. Ich bemerkte, dass ich abgedriftet war. Ahh, wie peinlich…!, dachte ich. Ich sah Bengee an und sah, dass er auch nicht ganz bei der Sache zu sein schien. „Hallo?!“, sagte ich laut, „was zum Geier ist mit euch los?!“ Beide reagierten nicht wirklich und ich stöhnte genervt. „Man, ist das schrecklich mit euch!“, murmelte ich und legte das Kinn auf meine Arme. Bengee lächelte. „Na ja…“, sagte er, „genau deswegen liebst du uns doch auch so, ne?!“ Er lachte und sah mich belustigt an. Er piekste mich leicht an den Arm. Ich grummelte irgendwas Unverständliches. In der dritten und vierten Stunde hatten wir schließlich Religion. Bengee und ich gingen in Ethik und Amina verschwand zu Katholisch. Ich stieß sie noch mal mit dem Ellenbogen an und murmelte: „Lass jucken, Kumpel…“ und lachte. Dann ging ich mit Bengee einen Stock höher in Ethik. Ethik war so ein Der-Lehrer-labert-und-kaum-einer-folgt-dem-Unterricht-außer-den-Strebern-die-sich-immer-beteiligen-Fach. Ich hörte fast nie zu, sondern dachte immer nur über Gott und die Welt nach. Wozu denn auch zuhören? Wir schrieben keine Arbeiten, nur hin und wieder mal kleine Referate. Mit dem Kopf auf meinen Ellenbogen gestützt, sah ich zum Fenster heraus. Halb dachte ich an Amina und fragte mich, ob sie in diesem Moment wohl mit Paul sprach. Mein Blick schweifte über die Klasse. Wir waren etwa 15 Leute aus verschiedenen Klassen. Bengee, ich und noch ein anderes Mädchen waren die einzigen aus unserer Klasse. Der Rest war aus zwei anderen Klassen. Unsere Lehrerin war eine alte, recht sympathische Frau, die eigentlich nur mit den drei Strebern aus dem Kurs diskutierte. Ich saß in der letzten Reihe neben zwei Türkinnen aus einer anderen Klasse. Moment, erst muss ich erklären, wie die Klasse aufgereiht ist. Eine Tischreihe ist parallel zur Tafel aufgebaut. An den Ecken der Reihen grenzen dann noch senkrecht zwei gegenüberliegende Tischreihen an. Ist schwer zu verstehen, ich weiß, aber das war der einfachste Weg es zu beschreiben. Wie auch immer, ich saß jedenfalls in der Mitte der Reihe, die gegenüber der Tafel lag. Bengee saß rechts von mir an einem der senkrechten Tische. Ich starrte die Tafel an und wunderte mich, wie es Unterricht geben konnte, der so langweilig sein konnte. Wieder ließ ich den Blick über die Klasse schweifen. Dabei stieß mein Blick auf Bengee, der mich ansah. Er lächelte und so lächelte ich aus Reflex zurück. Dann wendete ich meinen Blick wieder ab. Ich denke ich würde sie im Unterricht immer mal wieder ansehen und auch mal lächeln… Dieser Satz drängte sich plötzlich zwischen meine Gedanken. Bengee war es, der ihn gesagt hatte, als ich ihn gefragt hatte, was er tun würde, um einem Mädchen zu zeigen, dass er sie gern hat. Das hat nichts zu bedeuten…, sagte ich mir. Nach Ethik ging ich mit Bengee vor die Tür und wartete auf Amina. Diese war immer noch in der Klasse, obwohl der Unterricht längst zu ende war. Ein paar Minuten später ging die Tür auf und Amina kam heraus. Sie strahlte. Ich lächelte. Er hat ja gesagt, dachte ich und fragte sie: „Na, wie ist es gelaufen?“ „Wir gehen am Samstag ins Kino!“, erzählte sie mit glitzernden Augen. „Cool!“, sagte ich, ebenfalls strahlend. „Ja!“, meinte Amina begeistert, „er hat mir seine Handynummer gegeben, damit wir uns noch mal um Einzelheiten kümmern können!“ Ich nickte. Wir machten uns auf dem Weg in die Pausenhalle. „Ach ja, bevor ich’s vergesse…“, meinte Amina beiläufig, „ich hab ihm gesagt, du kommst mit…“ Zunächst nickte ich einfach und realisierte gar nicht, was sie gerade gesagt hatte. „Was?!“, sagte ich und sah sie an. „Ich hab gesagt, du kommst mit“, wiederholte sie wie selbstverständlich. Ich sah sie immer noch entgeistert an. „Keine Angst, ich weiß, wie scheiße ein Doppeldate ist, wenn man selbst kein Date hat... Deswegen nehmen wir noch ähm…“, sie machte eine kurze Pause, um Nachzudenken. Dann packte sie Bengee am Arm und zog ihn zu sich. Sie zeigte auf ihn und fuhr fort: „…Bengee mit!“ Ich sah kurz zu Bengee und dann sah ich wieder zu Amina. „Dann ist es für dich kein Date, weil Bengee ja nur dein Kumpel ist“, fuhr sie fort, „aber mitkommen und mir seelisch beistehen kannst du trotzdem!“ Sie lächelte selbstzufrieden und ließ Bengee los, den sie die ganze Zeit über festgehalten hatte. Ich lächelte. Es war erstaunlich, wie überzeugend Amina sein konnte. Ich zuckte mit den Schultern. „Na okay…“, sagte ich und seufzte. Bengee sah Amina und mich verwirrt an. „Könnte mir vielleicht jemand mal sagen, was hier los ist?!“, fragte Bengee, der mal wieder gar nichts von unserem Gespräch mitbekommen hatte. „Du hast am Samstag ein Doppeldate mit Minty, Paul und mir“, sagte Amina beiläufig, während sie die Klasse betrat. Verwirrt blieb Bengee draußen stehen. „O-Okay…“, hörte ich ihn noch sagen, bevor ich zu meinem Platz ging. Als ich dann nach der 6ten Stunde auf dem Weg nach Hause war, dachte ich über das Date nach. Ich musste immer ein paar Haltestellen mit der Straßenbahn fahren und dann noch ein paar Meter zu Fuß laufen. Es ist ja nur für Amina ein Date…, dachte ich, für mich ist es nur Kino mit Bengee und Amina… und ihrem Date… Ich seufzte. „Anstrengend…“, murmelte ich. Ich hatte unser Haus erreicht. Es war ein einfaches, hässliches, graues Mehrfamilienhaus. Ich schob den Schlüssel ins Schlüsselloch und schloss auf. Dann ging ich die Treppe hinauf und schloss unsere Wohnung auf. Dabei fällt mir ein, ich habe noch gar nicht mein Zuhause und meine Mutter beschrieben… Meine Mutter ist groß, schlank und hat braune, kurze Locken. Ich kann mich noch erinnern. Bevor meine Visionen begonnen hatten, war sie ein richtig fröhlicher Mensch gewesen. Doch als ich anfing, die Leute nicht mehr anzusehen, wurde sie immer trauriger und ich hatte sie lange nicht mehr lachen sehen. Unsere Wohnung ist eine einfache 3-Zimmer-Wohnung. Sie ist nicht besonders groß, aber es recht halt für zwei Leute und einen Hund. Unsere Hündin heißt Tequila. Sie ist weiß mit braunen Flecken und uralt, doch immer noch fit wie sonst was. Sie ist irgendwie so ein Mischmasch aus einem Fox-Terrier und einem Jack Russel oder so, irgendwas in dieser Ecke jedenfalls. Ich trat ein und Tequila kam freudig auf mich zugesprungen, um mich zu begrüßen. „Hey, Baby!“, sagte ich und strich ihr über den Kopf. Sie freute sich wie sonst was uns wedelte wie verrückt mit dem Schwanz. Ich ging in mein Zimmer und legte meine Tasche in die Ecke. Dann ging ich ins Wohnzimmer und sah nach, ob meine Mutter zu Hause war. Das Wohnzimmer war menschenleer, sie war nicht zu Hause. Ich zuckte mit den Schultern. „Auch nicht schlecht…“ Ich schnappte mir Tequilas Leine und legte sie ihr um. „Komm, Schatz! Wir geh’n ’ne Runde!“, sagte ich und öffnete die Tür. Tequila freute sich sehr und sprang übermütig hinaus. Abgesehen davon, dass ich Tequila gern sah, war ich eigentlich nicht gern zu Hause. Es war immer so eine drückende, unangenehme Stille bei uns. Ich musste ständig aufpassen, dass ich meine Mutter nicht ansah und sie war immer so traurig. Ich konnte es ihr nicht verübeln. Ich wäre wahrscheinlich genauso drauf, wenn meine Tochter niemanden mehr ansehen würde und überhaupt so wie ich werden würde. Ich seufzte tief und bog in eine Seitengasse. Trotzdem, ich war einfach lieber in der Schule. Bei Amina und Bengee. Sie waren mehr oder weniger alles, was ich hatte. Ich hatte die große Hundewiese erreicht. Ich leinte Tequila ab und lief weiter. Tequila stürmte über die Wiese und sprang durch die Gegend, wie ein Hase. Ich lächelte. Die hat’s gut…, dachte ich, „ihr Leben ist so sorglos… Irgendwie beneidete ich sie dafür. Bald war ich mit meiner Runde fertig. „TEQUILA!!“, rief ich und sah mich um, „hey, Baby! Komm her! Wir woll’n nach Hause!!“ Sie war nirgends zu sehen. „Tequila?“, rief ich noch einmal. Plötzlich sprang eine Katze aus einem Gebüsch und rannte über die Straße, hinter ihr war Tequila. „Tequila!!“, rief ich zornig und stemmte die Hände in die Hüften. Tequila ließ von der Katze ab und kam schuldbewusst auf mich zu. „Also wirklich!“, sagte ich und leinte Tequila an, „die arme Katze!“ Ich sah mich nach der Katze um. Diese saß entspannt auf dem Bürgersteig ein paar Meter von mir entfernt. Sie hatte langes, flauschiges Fell. Es war grau und mit braunen und schwarzen Tupfern durchzogen. Die Katze saß da und sah mich mit skeptischen, grünen Augen an, bevor sie aufstand und im Gebüsch verschwand. Ich sah ihr überrascht nach. Doch dann wandte ich mich um und ging nach Hause. Kapitel 5: Dates und Träume --------------------------- Am nächsten Tag in der Schule bekamen wir unsere Passfotos. Mein Foto war recht gut geworden. Ich sah blass aus und lächelte sogar leicht. Aminas Foto war ebenso gut geworden. Bengee besah sich mein Foto. „Na das ist doch nicht schlecht geworden“, meinte er und lächelte. „Danke…“, sagte ich und sah mir sein Foto an. Seins war natürlich makellos perfekt. Er lächelte sehr schön und seine blauen Augen strahlten unter dem schwarzen Haar. Ich lächelte und sah ihn an. „Wow, deins ist echt toll geworden!“, sagte ich. „Meinst du echt?“, fragte er geschmeichelt. Ich nickte. Ich nahm mir eines der ganz kleinen Bildchen. „Ich darf doch, oder?“ Er nickte und ich steckte mir sein Foto ins Portemonnaie. Das Selbe machte ich auch mit Aminas Foto. „So“, machte ich, „jetzt hab ich euch immer bei mir!“ Ich lächelte ihnen zu. Am Samstag schlief Amina bei mir. Wir hatten mit Bengee und Paul ausgemacht, dass wir uns um 16:30 Uhr am Kino treffen würden. Amina und ich fingen schon um 14:00 Uhr an uns fertig zu machen, weil wir wussten, dass es ewig dauern würde, bis wir beide perfekt zurechtgefriemelt waren. Zum ungefähr hundertsten Mal kämmte ich mir meine glatten Haare und Amina erneuerte schon wieder ihr Make-up. „Geht das so mit den Haaren?“, fragte sie mich und wuschelte sich durch ihre kurzen, braunen Haare. Ich nickte ihr zu. „Klar geht das! Du siehst toll aus“, sagte ich. Sie lächelte leicht nervös und sagte: „Danke, du siehst aber auch super aus!“ Ich lächelte und sah auf die Uhr. „Shit, wir müssen los!“, sagte ich und packte meinen Krempel zusammen. „Ciao, Mom! Wir sind weg!“, rief ich noch zu meiner Mutter, bevor ich mit Amina zur Tür raus ging. Wir fuhren mit der Straßenbahn zum Kino. Dort standen Paul und Bengee bereits. Sie sahen beide umwerfend aus. Paul hatte seine brauen Haare vorne hochgegelt und stand lässig gegen die Wand des Kinos gelehnt. Er trug eine weite Baggyjeans und ein schwarzes T-Shirt. Amina umarmte ihn flüchtig zur Begrüßung. Bengee trug eine übliche Jeans und ein dunkelblaues T-Shirt mit einem schwarzen Karomuster drauf. Das Blau des T-Shirts betonte seine Augen perfekt. Ansonsten hatte er seine normale, schwarze Wuschelmähne. Trotzdem meinte ich, dass er heute irgendwie anders aussah als sonst, aber ich wusste nicht, warum. Ich knuddelte Bengee ebenfalls zur Begrüßung. Ich roch seinen tollen Bengee-Geruch. Er roch nicht nach Schweiß oder nach übermäßig viel Deo oder Aftershave, eben einfach nur nach Bengee. Ich löste mich wieder von ihm und sah Paul an. Ich nickte ihm zur Begrüßung zu. Paul sah auf die Uhr. „Es ist noch knapp eine dreiviertel Stunde bis der Film anfängt“, er sah fragend in die Runde, „was machen wir bis dahin?“ Ich zuckte die Schultern. „Wir könnten die Zeit ein bisschen durch die Stadt gammeln“, meinte Amina. Da niemand anders etwas Anderes vorschlug taten wir das. Wir liefen durch die endlos lange Fußgängerzone, Amina und Paul voran, Bengee und ich dahinter. Es schien ewig zu dauern, bis es dann endlich 17:00 Uhr war und wir wieder zum Kino gingen. Wir gingen zur Kasse, um die Karten zu kaufen. Mir war das ein bisschen unangenehm, weil ich fast nie Geld hatte. Ich hatte zu Hause extra mein letztes Geld zusammen gekratzt, um doch noch die acht Euro für den Eintritt zusammen zu bekommen. Normalerweise hätte Amina ja für mich gezahlt, aber selbst sie hatte nicht ewig Geld und ich hatte mir eigentlich schon genug von ihr geliehen. Als ich dann das Portemonnaie hervorzog, um du Karte zu bezahlen, legte Bengee die Hand darauf. Verwirrt sah ich ihn an und er lächelte. „Lass mal…“, sagte er und reichte dem Kassierer einen Schein, „das übernehme ich…“ Leicht verlegen lächelte ich. „Ähm… okay… danke…“, murmelte ich. Dann nahmen wir unsere Karten und gingen zu Paul und Amina, die bereits vor der Kinotür warteten. „Also dann“, sagte Amina und wir gingen hinein. Unsere Plätze waren in der hintersten Reihe. Oh, wie nett, dachte ich, Kuschelpältze… Ich seufzte lautlos und wir gingen auf unsere Plätze. Ich saß ganz außen an der Wand. Neben mir saß Bengee, daneben Amina und dann Paul. Wir waren schon recht früh, der Film würde erst in zehn Minuten beginnen. Paul stand auf. „Ich werd’ mal Popcorn holen…“, sagte er. „Oh, ich komm mit!“, meinte Bengee und stand ebenfalls auf. Sie gingen nach draußen und Amina und ich rutschten zusammen. „Und? Wie war’s soweit?“, fragte ich mit einem breiten Grinsen. Amina lächelte. „Also ich fand’s bisher super!“, ihr Lächeln verschwand, „und bei euch…?“ Sie klang bei den letzten Worten kleinlaut und leicht schuldbewusst. Anscheinend hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie die ganze Zeit nur auf Paul fixiert gewesen war. Ich winkte ab. „Ach, ganz okay“, sagte ich immer noch lächelnd, „ist ja bisher noch nicht so viel passiert…“ Ich zwinkerte ihr zu. Sie lächelte wieder. Wir schwiegen kurz. „Was machen die Jungs so lange?“, fragte ich. Amina lachte. „Hoffentlich nichts Unanständiges auf dem Jungenklo, ich hab heute ein Date mit Paul, nicht Bengee!“ Ich lachte auch. „Wieso? Die sind doch ein hübsches Pärchen…“, witzelte ich. Die Jungs kamen zurück, vollgeladen mit Popcorn, Nachos und Süßigkeiten. Ich tausche schnell einen belustigten Blick mit Amina und kicherte. „Ah, die Männer sind von der Jagd zurück gekehrt!“, sagte ich und wandte mich an Bengee, der sich auf den Sitz neben mir fallen ließ, „wart ihr erfolgreich?“ „Aber sicher!“, antwortete Bengee mir. Er hatte eine mittlere Tüte Popcorn, eine Cola und 2 Tüten Gummibärchen gekauft. Er hat echt zu viel Geld…, dachte ich. Bengee verstaute das ganze Zeug und ich sah zu Amina und Paul rüber. Paul war auch nicht schlecht versorgt. Er hatte eine große Popcorn, eine Portion Nachos mit Käsesoße und eine große Cola gekauft. Und er hat auch zu viel Geld!, dachte ich. Amina schnappte sich gleich die Nachos. „Danke!“, sagte ich und nahm mir einen Nacho. „Schnorrer!“, sagte Amina. Ich streckte ihr frech die Zunge heraus. Die Lichter verdunkelten sich. „Uhh, es geht los!“, hörte ich Paul sagen. Die Werbung begann und etwa fünf Minuten kamen Werbespotts. Dann wurde das Licht wieder heller. „Alles klar, Leute!“, rief Amina, „der Film ist vorbei und wir können alle wieder nach Hause!“ Ich lachte. Amina war manchmal richtig peinlich. Ich war aber nicht anders eigentlich. Das heißt, allein ging es eigentlich, aber wenn wir zusammen etwas unternahmen (was eigentlich immer der Fall war), wurde es immer total abgedreht und die, mit denen wir unterwegs waren schämten sich schon fast für uns. Ich lachte und wandte mich wieder zu Bengee. Ich sah ihn an und plötzlich fiel mir auf, was heute so anders war an ihm. „Bengee…“, sagte ich erstaunt, „hast du dich etwa geschminkt?“ „Naja, ähm…“ Ertappt sah er verlegen beiseite. Ich lachte und besah mir seine Augen näher. Seine Augen waren mit schwarzem Kajal nachgezogen. Dafür dass er ein Junge war, hatte er das wirklich gut hinbekommen. „Ich wollte es halt mal ausprobieren…“, murmelte er. „Nein, nein!“, sagte ich vergnügt, „ich finde, es steht dir sehr!“ Verblüfft sah er mich an. „Echt?!“ Ich nickte. „Solltest du öfter mal machen“, ich zwinkerte ihm zu. Dann wandte ich mich zu Amina. „Ey, Bengee ist geschminkt!“ „Ach…“, Amina lachte, „Schatz, manchmal bist du sooo eine Blitzcheckerin!“ „Püh!“, sagte ich und spielte beleidigt, „lass mich doch!“ Bengee lachte vergnügt. Kurz darauf wurde das Licht wieder dunkler. „Coool, noch mehr Werbung!“, rief ich gespielt begeistert. Doch es war keine Werbung, sondern tatsächlich der Film. Er war meiner Meinung nach nicht sehr toll oder anders gesagt, er war grottenlangweilig. Es war so eine Comedy-Romanze, wenn man DAS Comedy nennen konnte… Nach einer halben Stunde wurde Amina und mir zu langweilig und wir begannen lautstark Kommentare abzugeben und die Film Passagen lächerlich zu machen, während Paul und Bengee still und leise dasaßen und so taten, als würden sie uns nicht kennen. Um ca. 18:40 Uhr war der Film vorbei. Wir traten heraus und blinzelten in die Sonne, die immer noch am Himmel stand. Paul sah auf die Uhr. „Es ist noch nicht sehr spät…“, er sah uns an, „machen wir noch was?“ „Wie wär’s mit McDonald’s?“, fragte ich und die anderen willigten ein. Also gingen wir noch im McDonald’s etwas essen. Alles in Einem fand ich den Tag sehr schön. Ich hatte viel Spaß mit Bengee und teilweise auch mit Amina gehabt. Nach dem Essen im McDonald’s setzten wir uns noch irgendwo hin, um den Sonnenuntergang zu sehen und verabschiedeten uns dann von Bengee und Paul und fuhren wieder zu mir nach Hause. Amina schien total auf Wolke 7 zu sein. Ich lächelte. „Und?“ Sie sah mich an. „Was und?“ „Wie fandest du es?“, fragte ich. Sie lächelte. „Toll!“ Ich lächelte ebenfalls. „Das ist schön!“ Wir schwiegen eine Weile. Dann unterbrach ich die Stille. „Findest du Bengee steht die Schminke?“ Amina nickte. „Ja! Das hebt seine blauen Augen total hervor!“ Ich nickte. „Stimmt!“ Als wir an meiner Haltestelle angekommen waren, verabschiedete ich mich von Amina und stieg aus. Dann ging ich den Weg nach Hause. Der Weg war dunkel. Es hatte schon lägst zu dämmern begonnen. Normalerweise machte mir das nichts aus. Doch nun im schimmernden Mondlicht schien der Weg schon etwas gruselig. Es raschelte im Gebüsch und eine Katze sprang heraus. Es war die Selbe Katze, die ich schon einmal gesehen hatte, als ich mit Tequila unterwegs gewesen war. Ich lächelte. „Du schon wieder…“, murmelte ich, musterte die Katze kurz und ging weiter. Nach ein paar Schritten drehte ich mich noch mal zu der Katze um. Doch diese war verschwunden… Komisch…, dachte ich mir und ging weiter. Diese Katze blieb mir noch die ganze Zeit in den Gedanken, denn ich wurde das Gefühl nicht los, dass ich sie irgendwoher kannte. Doch ich wusste nicht, wo ich sie schon mal gesehen haben könnte… Zu Hause angekommen ging ich dann direkt ins Bett. Ich war sehr müde. Der Tag war anstrengender gewesen als ich dachte. Ich wachte früh wieder auf. Es war erst neun Uhr, normalerweise schlief ich sonntags immer bis um elf Uhr oder so. Ich richtete mich auf und rieb mir die Augen. Dann stand ich auf. Komischerweise war ich vollständig bekleidet. Hatte ich mich nicht vor dem schlafen Gehen umgezogen? „Hö?“, machte ich. Doch irgendwie war es mir egal. Ich ging nach draußen in den Flur. Vor meiner Tür stand wieder diese Katze. Ich sah ihr in die Augen, aber nichts passierte. Diese grüne Farbe… diese seltsame Form der Augen… Es kam mir alles so bekannt vor… Ich schaute wieder auf und Amina stand auf einmal vor mir. „Wo kommst du denn her?“, fragte ich sie verwirrt. Amina zeigte auf die Tür. Sie war sperrangelweit offen. Wie leichtsinnig, dass wir die Tür offen gelassen hatten. Ich sah kurz zu Boden. Die Katze war verschwunden. Wenn das Tequila mitkriegt…, dachte ich. Dann schlüpfte ich an Amina vorbei und schloss die Tür. „Stört es dich, wenn ich was esse?“, fragte ich Amina. Diese schüttelte den Kopf. Ich nickte und ging in die Küche. Amina stellte sich in den Türrahmen. Ich suchte mir Brot, Margarine und Honig zusammen. „Sag mal, was ist dir denn über die Leber gelaufen?“, fragte ich, während ich mir ein Messer aus der Schublade kramte. Sie antwortete nicht. „Amina?“, sagte ich und schaute zu ihr. Ich erschrak. Amina war verschwunden. Stattdessen stand da nun Bengee. „Bengee?!“, sagte ich erstaunt, „was machst du…? Wie bist du hier rein…?“ Ich war verwirrt. Er antwortete nicht. Er sah mich nur mit einem leichten Lächeln an. Was ist denn heute bloß los mit den Leuten?!, dachte ich. Ich störte mich nicht weiter an ihm und fuhr fort mir ein Brot zu machen. Auf einmal hörte ich ein Flüstern. Es war Bengees Stimme, aber ich verstand nicht, was er sagte. Als ich dann zu Bengee sah, war dieser verschwunden. Wo ist er denn hin?!, fragte ich mich. Dann schüttelte ich den Kopf und machte mein Brot weiter. Plötzlich hörte ich ein Miauen und sah wieder zur Tür. Dort saß wieder die Katze. „Du schon wieder…“, sagte ich, „was machst du überhaupt hier?“ Natürlich antwortete die Katze mir nicht und ich wandte mich wieder meinem Brot zu. Dann sah ich wieder zum Türrahmen und erschrak wieder. Die Katze war verschwunden. Stattdessen stand nun Judy in der Tür. „Judy?!“, sagte ich verblüfft, „was machst du hier? Wo ist die Katze?“ Auch Judy antwortete mir nicht. Wieder hörte ich ein Flüstern. Es war wieder Bengees Stimme. Doch Bengee selbst war nirgends zu sehen. Ich sah wieder zu Judy, doch die war wieder verschwunden. Dort, wo sie gestanden hatte, saß nun wieder die Katze. Plötzlich fauchte die Katze laut und sprang auf mich. Ich schreckte hoch. Ich atmete schwer und fand mich in meinem Zimmer wieder. Es war wohl nur ein Traum gewesen. Ich sah auf die Uhr. Es war neun Uhr morgens. Kapitel 6: Liebe liegt in der Luft... ------------------------------------- Der Montag war ein sehr heißer Tag. Na ja, „heiß“ war nicht der richtige Ausdruck. Es war eher schwül. Die Luft im Klassenraum war dick wie Butter und feucht wie ein nasser Lappen. Ich kam mir vor, als würde ich eine Wanderung durch einen tropischen Regenwald machen. Ein Gutes hatte die Hitze jedoch. Die Lehrer ertrugen die drückende Luft genauso wenig wie wir Schüler und gingen deshalb mit uns raus. „Und?“, fragte ich Amina, während wir die Treppe hinunter zum Schulhof gingen, „hast du noch mal mit Paul geredet?“ Amina nickte lächelnd. „Habt ihr noch ein Date ausgemacht?“, fragte ich sie grinsend. Amina nickte wieder. „Ja, am Freitag. Paul und ich… und du und Bengee natürlich…“, sie grinste. Ich musste lächeln. „Lieb von dir, dass du mich überall einbeziehst, aber du weißt schon, dass ich nicht ÜBERALL dabei sein kann?“ „Jaja, schon klar“, sagte Amina und winkte ab. „Und was ist diesmal geplant?“, fragte ich. Sie zuckte mit den Schultern. „Vielleicht Eis essen oder so… weiß ich noch nicht so genau…“, meinte sie. Ich nickte. „Ach so…“, meinte ich. Ich sah in die Klasse und mein Blick fiel auf Bengee. „Weiß Bengee schon davon Bescheid?“, fragte ich und nickte in seine Richtung. Amina schüttelte den Kopf. „Nein, noch nicht“, antwortete sie, „ich sag ihm nachher noch Bescheid... Sei so gut und sag du es ihm falls ich es vergesse…“ Sie lächelte. Ich zuckte mit den Schultern. „Okay…“ Wir hatten den Hof erreicht und suchten uns nun einen Platz im Gras. Wir hatten einen schönen etwas abgelegenen Platz im Halbschatten gefunden. Ich legte meine Jacke auf den Boden und setzte mich drauf. Amina und Bengee setzten sich ebenfalls. Als Aufgabe hatten wir bekommen, einen Text im Buch zu lesen. Ich hatte überhaupt keine Lust dazu. Es war viel zu heiß dafür. Ich beschloss den Text zu Hause zu lesen. Ich legte mich auf den Bauch und knüllte meine Jacke so zusammen, dass sie wie ein Kissen wirkte. Ich schloss die Augen und entspannte mich. Es war herrlich ruhig. Man hörte nichts, nur hin und wieder mal Stimmen von meinen Mitschülern und das Zwitschern einzelner Vögel. Bengee und Amina hatten sich anscheinend entschlossen die Aufgabe zu machen, denn sie schwiegen beide. Ein sachter Wind rührte die Blätter der Bäume. Ich konnte hören wie er durch die Äste rauschte. Ein Grashalm kitzelte meine Nase. Ich strich ihn beiseite und schloss die Augen wieder. Die Zeit verging und ich wurde müder und müder. Irgendwann döste ich leicht ein. Ich schlief nicht, also merkte ich noch halb, was um mich herum passierte, aber ich reagierte nicht, wenn man mich ansprach. Bald hörte ich wie Bengee und Amina sich unterhielten. Aminas Handy vibrierte. „Uhh! Er hat mir einen SMS geschrieben!“, hörte ich Amina jubeln. „Paul?“, fragte Bengee. „Jaaa! Mein Paul!“, sagte sie, „da fällt mir ein, wir haben am Freitag noch ein Date“ „Das ist schön für euch…“, meinte Bengee ausweichend. „Ja, und für dich auch!“ „Für mich?!“ „Ja! Du und Minty werdet natürlich dabei sein…“ Bengee schwieg kurz. Dann sagte er: „Und? Wo geht’s diesmal hin?“ „Weiß noch nicht. Vielleicht Eis essen oder so was…“ Sie schwiegen beide eine Weile und schienen zu überlegen, was sie am Freitag tun könnten. „Wie wär’s mit einem Videoabend?“, hörte ich Bengee fragen. „Hä?“ „Ja, vielleicht erst Eis essen und dann DVDs gucken bei dir oder Paul oder wem auch immer…“ Amina schwieg kurz und schien zu überlegen. „Klingt toll!“, sagte sie schließlich, „ich frag’ mal Paul, ob er damit einverstanden ist…“ Ich hörte, wie sie Handytasten drückte. Sie schwiegen wieder. Bis Amina sagte: „So, fertig!“ Sie schwiegen wieder. Dann sah ich einen Schatten. Anscheinend hatte jemand sich kurz über mich gebeugt. Der Schatten verharrte ein paar Sekunden und verschwand dann wieder vor meinen Augen. „Sag mal…“, hörte ich Amina schließlich sagen, „dir macht es doch nichts aus, dass du jetzt jede Menge Dates mit Minty hast, oder?“ Sie schmunzelte. Es dauerte ein paar Sekunden, bis Bengee antwortete. „Nein…“, meinte er, „es macht mir nichts aus…“ „Oh, das ist gut!“ „Wieso denn gut?“ „Sonst müsste ich ein richtiges Date für Minty auftreiben damit sie mich begleiten kann… und du weißt, wie schwer das für Minty ist… wegen dem in die Augen Sehen und so…“ Ich spürte Bengees Blick in meinem Nacken. Sie schwiegen. Dann hörte ich Aminas Handy wieder vibrieren. „Juhu! Er hat zurück geschrieben!!“, rief Amina aufgeregt und schwieg kurz, um die SMS zu lesen, „Er findet, es ist eine tolle Idee! Auch mit schlafen?“ „Ich weiß nicht…“, meinte Bengee teilnahmslos. „Okay, dann schreib ich ihm mit!“ Ich hörte wieder das tickern der Handytasten. Dann legte Amina das Handy weg und wandte sich wieder an Bengee. „Könnten wir dann im Zweifel bei dir pennen?“, fragte sie ihn. „Ich weiß nicht, kommt drauf an. Wer denn alles?“ „Ich denke mal wir alle drei! Wenn Paul gehen müsste, wär’s doof… und wenn Minty oder ich gehen müssten ja auch oder? Also wir alle drei…“ Bengee überlegte kurz. „Joah, ich denke schon, dass das klar geht…“, meinte er schließlich. „Wär’ super…“, sagte Amina, „ich mein’ nur, meine Mutter wird’s wahrscheinlich nicht erlauben, bei Minty ist zu wenig Platz für vier und ob es bei Paul geht weiß ich nicht… Außerdem ist bei dir schön viel Platz…“ Sie schmunzelte. „Ja, das geht schon irgendwie…“, sagte Bengee. Ich hörte, wie er sich neben mir auf den Boden legte. Aminas Handy vibrierte wieder. Sie las die SMS. „Schlafen ist okay, aber nicht bei Paul…“, meinte sie, „bei ihm klappt’s nicht…“ „Ist doch egal…“, hörte ich Bengees Stimme direkt hinter mir, „bei mir geht’s bestimmt…“ „Okay…“, sagte Amina, „und was schauen wir für Filme?“ „Das was uns halt gerade zur Verfügung steht…“, meinte Bengee, „frag Paul mal, ob er ein paar gute Horrorfilme hat“ Bengee, Amina und ich liebten Horrorfilme. Zwar gruselte es uns immer dabei tierisch und wir wollten auch niemals alleine einen Horrorfilm gucken, aber zu dritt schauten wir die Filme immer gerne. Eigentlich mochte ich solche Filme nicht besonders, aber wenn man jemanden dabei hatte, an den man sich im Zweifel klammern konnte, schaute ich solche Filme sehr gern. Meistens waren diese Personen bei mir immer Amina oder Bengee. Ich hörte wieder das Tickern der Handytasten. Dann hörte ich, wie Amina das Handy weglegte. Sie schwiegen. Allmählich bekam ich wieder die Ruhe von draußen mit. Das Zwitschern der Vögel, das Rauschen des Windes durch das Gras… Hin und wieder ratterte eine Bahn still und leise auf der Straße vorbei, die meilenweit weg von uns zu sein schien. Aminas Handy vibrierte wieder. „Ja, er hat Filme…“, meinte sie, nachdem sie die SMS gelesen hatte, „aber bring du doch trotzdem noch welche von dir mit…“ Bengee gab ein Brummen von sich, das wohl anscheinend „Ja“ bedeuten sollte. Ab da sagte niemand mehr ein Wort. Amina kramte ihr Buch aus der Tasche und begann zu lesen, während Bengee und ich im Gras lagen und vor uns hin dösten. Ob Amina und Bengee wohl mitbekommen hatten, dass ich ihr ganzes Gespräch gehört hatte? Ich denke eher nicht. Ich hatte mich die ganze Zeit nicht gerührt und dem Gespräch ja auch eher im Halbschlaf gelauscht. Wir schienen noch ewig dort zu liegen. Dann sah Amina, wie die Schüler wieder in Richtung Schulgebäude gingen. „Hey“, sagte sie und fasste mich an der Schulter, „aufstehen… wir müssen wieder rein…“ Ich öffnete die Augen und blinzelte in das helle Sonnenlicht. „Man, ich hab grad so schön geschlafen…“, nuschelte ich und rieb mir die Augen. Ich sah mich um. Bengee lag neben mir und schlummerte noch friedlich. „Ich weck den wohl besser mal…“, murmelte ich. Ich rüttelte leicht aber energisch an seiner Schulter. „Aufwachen!“, sagte ich laut. Er schreckte hoch. „Hm?!“, machte er, etwas betröppelt aussehend. Ich lächelte. „Na, eingeschlafen?“, fragte ich und er nickte. Amina packte ihre Sachen zusammen und sagte: „Kommt, Leute! Macht mal hinne, die sind schon fast alle wieder drinnen!“ Bengee stolperte schlaftrunken hinter Amina her, während ich schon wieder halb unter den Lebenden war. Man könnte meinen, ich sei ein normales Mädchen, wenn man mich vom Winkel eines Außenstehenden betrachtet. Mein Leben hatte mit Amina und Bengee eine drastische Wendung genommen. Früher, als ich sie noch nicht kannte, sah man in mir ein trauriges Mädchen, das niemandem in die Augen sieht und deshalb unantastbar wirkt. Heute sieht man in mir ein fröhliches Mädchen, das lachen und Spaß haben kann, obwohl es immer noch fast niemandem in die Augen sieht. Trotzdem, dank Amina und Bengee bin ich ein mehr oder weniger normales Mädchen geworden. Ich habe die gewöhnlichen Probleme, wenn man die Visionen mal weglässt, Schule, Freundschaft und all diese Teenager-Probleme. Ich bin ihnen sehr dankbar und liebe sie auch dafür. Doch irgendwie muss ich zugeben, dass mir etwas fehlte. Ich weiß nicht genau, was es war, aber ich glaube, es war Liebe, was mir fehlte. Ich hatte nie kennen gelernt, wie es ist, wenn man jemanden hat, der einen wirklich richtig liebt. Deshalb fühlte ich mich teilweise auch traurig und leer und hatte früher, also vor Amina und Bengee, auch Depressionen. Diese sind aber mehr oder weniger abgeklungen und treten nur noch selten auf. Aber der Gedanke an Amina und Bengee munterte mich immer wieder auf, weil sie mir wirklich sehr viel bedeuteten. Der Freitagmorgen war ein gewöhnlicher Julimorgen wie eh und je. Das Wetter war perfekt. Nicht zu heiß, aber auch nicht zu kalt. Die Schule schien schnell umzugehen und wir gingen alle nach Hause, um uns dann um 15:00 Uhr an der Eisdiele zu treffen. Wir hatten alles besprochen. Erst ein Eis essen, dann Videoabend mit anschließender Übernachtung bei Bengee. Ich hatte alles am Vortag mit meiner Mutter besprochen, die auch nichts dagegen hatte. So ging ich um 13:00 Uhr nach Hause, um noch eine Runde mit Tequila zu gehen und mich dann fertig zu machen. Ich schnappte mir Tequila und ging die Treppen hinunter. Als ich heraus in den Vorgarten trat, wartete dort eine alte Bekannte auf mich. Die Katze, die ich in den letzten Tagen schon gesehen hatte, saß am Zaun und sah mich mit ihren grünlichen Augen an. Tequila begann zu hecheln und wie verrückt an der Leine zu reißen, als sie Katze sah. Das muss der Terrier in ihr sein, dachte ich belustigt und ruckte leicht an der Leine, um Tequila zu zeigen, dass sie damit aufhören sollte. Die Katze kümmerte das nicht. Sie saß immer noch entspannt da und sah mich mit einem seltsamen Blick an. Manchmal kam sie mir schon etwas unheimlich vor. Einmal, als mit Tequila einmal meine letzte Runde für den Tag machte, kam sie auf einmal aus dem Gebüsch gesprungen. Ich hatte mich sehr erschrocken. Ihre grünen Augen schienen in der Dunkelheit zu leuchten. Doch ein paar Sekunden später, in denen wir uns nur anstarrten, ging die Katze weiter und verschwand im nächsten Gebüsch. Diesmal war es genauso. Die Katze saß ruhig am Zaun und ignorierte Tequila völlig. Mich schien sie viel interessanter zu finden, denn ihre großen Augen starrten mich immer noch unverwandt an. Ich stand ebenfalls nur da und erwiderte ihren Blick, die zappelnde Tequila an der Leine haltend. Ich weiß bis heute nicht, wie lange wir dagestanden und uns angestarrt hatten, bis die Katze sich dann endlich bewegte. Sie kehrte mir den Rücken, blickte mich noch einmal über die Schulter hinweg an und lief dann langsam fort. Ich stand immer noch da. Dieser Blick. Aus ihm wurde ich nicht recht schlau. Er war so seltsam gewesen, fast menschlich… Nach meiner Runde mit Tequila schaute ich auf die Uhr. Ich war so ziemlich genau 20 Minuten weg gewesen. Doch ich hatte immer noch genügend Zeit, mich fertig zu machen. Ich leinte Tequila ab, legte die Leine weg und ging in mein Zimmer zum Kleiderschrank. „Hmm…“, überlegte ich, als ich vor dem offenen Schrank stand. Was sollte ich anziehen? Ich schien noch eine Ewigkeit da zu stehen und zu grübeln, bis ich mich dann entschieden hatte. Ein knielanger, schwarzer Rock, ein Paar dunkelblaue Chucks, ein schwarzes Top und eine rote Krawatte darüber waren das Ergebnis. Dann trat ich vor den Spiegel und überlegte, was ich wohl mit meinen Haaren anstellen und wie ich mich schminken sollte. Es schien wieder ewig zu dauern, bis ich es wusste. Ich machte einfach das Übliche. Ein wenig Wimpertusche auf die Augen und dann noch eine schwarze Umrandung mit dem Kajal. Warum mache ich eigentlich so viel Wind um meine Augen?, fragte ich mich, während ich meine Augen ummalte, ich kann doch sowieso niemanden ansehen. Aber ich schminkte mich trotzdem weiter. Als ich fertig war, stellte ich mich noch mal vor den großen Ganzkörperspiegel im Flur, um das Endergebnis zu checken. Ich war recht zufrieden. Dann schnappte ich mir meine Tasche, verabschiedete mich von Tequila und ging los zur Bahnhaltestelle. Die Bahn kam erst in 10 Minuten. Ich seufzte. Warum, beeile ich mich eigentlich?, fragte ich mich und setzte mich auf die Bank neben dem Fahrplan. Ich strich mir durch meine langen, roten Haare und dachte an das Date. Dabei fiel mir auf, dass es das erste Mal seit Langem war, dass ich wieder mal bei Bengee zu Hause war. Ich zog einen kleinen Handspiegel heraus und sah noch mal nach, ob auch nichts verschmiert war. Dann holte ich ein kleines Buch aus meiner Handtasche und begann zu lesen. Es war Angewohnheit, die ich seit Neuestem hatte. Ich weiß nicht, woher es kam, doch irgendwie ging ich in letzter Zeit nicht mehr ohne ein Buch aus dem Haus. Einige Minuten später kam die Bahn angefahren. Donnernd rollte sie zur Haltestelle und blieb schließlich stehen. Ich klappte das Buch zusammen, hielt aber einen Finger zwischen die Seiten, stieg in die Bahn und suchte mir einen Platz. Ich las weiter. Nach drei Haltestellen musste ich aussteigen. Ich packte das Buch weg und machte mich auf den Weg zur Eisdiele. Dort wartete bereits Amina. Sie winkte, als sie mich sah. Paul und Bengee schienen noch nicht da zu sein. Ich setzte mich zu ihr. „Du siehst gut aus!“, sagte sie strahlend und umarmte mich. „Danke, du aber auch!“, antwortete ich und musterte sie. Sie trug eine lange Jeans, einen rosanen Gürtel mit Blümchenmuster, ein türkises Top mit einem total süßen Teddy vorne drauf und einen knallpinken Haarreif. Wäre es nicht sie gewesen, die den Gürtel trug hätte ich ihn für kitschig gehalten. Amina zog sich gerne mal etwas schrill an. An normalen Leuten würden diese Farbkombinationen wahrscheinlich schrecklich aussehen, aber an ihr sahen sie fantastisch aus. Fast ihre gesamte Garderobe bestand aus schrillen Klamotten mit irgendetwas Kitschigem oder Kindischem vorne drauf. Ich weiß bis heute nicht, wie sie dass anstellte, in solchen fast hässlichen Kleidern so gut auszusehen. Nicht nur, dass sie gut aussah. Sie schaffte es sogar die Anziehsachen selbst perfekt aussehen zu lassen. Weiß Gott, wie sie das immer hinbekommt. Ich sah auf die Uhr. „Die Jungs verspäten sich aber…“, meinte ich und fragte mich, was wohl sein könnte. Amina nickte. Doch dann sagte sie: „Oh, schau! Da hinten ist Paul!“ Ich drehte mich um. Tatsächlich. Paul kam eilig die Straße hinunter gelaufen. Aminas Augen glänzten, als er uns erreicht hatte und sie ur Begrüßung umarmte. Er hatte seine braunen Haare wieder mal vorne hochgegelt, trug eine weite, schwarze Baggy und ein graues T-Shirt. Die silberne Totenkopfmaske und die Aufschrift „Sido – Endlich Wochenende“ fielen mir als erstes auf. Er nickte mir zu als Begrüßung und setzte sich an unseren Tisch. Dann wandte er sich an Amina. Sie redeten und ich betrachtete sein T-Shirt, während ich darüber nachdachte, wo Bengee wohl blieb. Die Totenkopfmaske auf dem Shirt schien an einer roten Steinmauer zu hängen. Über ihr stand „Sido“ und unter der Maske „Endlich Wochenende“. Unter der Aufschrift sah ich mehrere Joints und Tabletten. Mehrere Rauchschwaden rankten sich um die Schrift. „Hey Leute!“ Bengees Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Atemlos keuchend ließ er sich auf einen Stuhl neben mir fallen. „Tut mir Leid…“, meinte er, „ich habe die Bahn verpasst…“ „Ist schon okay“, sagte ich lächelnd und warf einen Blick zu Amina und Paul, die sich wieder in ein Gespräch vertieft hatten, „die beiden sind zu beschäftigt, um das bemerkt zu haben“ Der Kellner trat heraus und kam zu uns. „Möchten Sie jetzt bestellen?“, fragte er. Ich bestellte ein Spaghetti-Eis und Bengee einen gewöhnlichen Eisbecher, während Amina und Paul sich ein Früchteeis teilten. Zeit, dass die zwei auch mal mitreden, dachte ich und räusperte mich. Sie hörten es nicht. Ich räusperte mich noch mal, aber lauter. Sie reagierten wieder nicht. Nun wurde ich langsam zunehmend ärgerlich. Ich griff nach der Karte, die mit Plastik umhüllt war und schlug damit auf den Tisch, sodass ein kleiner Knall entstand. Beide zuckten zusammen und sahen mich an. „Was sollte das denn?!“, fragte Amina geschockt. „Tut mir Leid…“, sagte ich und legte die Karte beiseite, „da war eine Fliege auf dem Tisch, die ich platt machen wollte…“ Bengee sah Amina und mich belustigt an. Der kleine Schock hatte seine Wirkung getan, denn anscheinend hatte Amina nun gemerkt, dass Bengee und ich auch noch da waren. Wir redeten ein bisschen. Nach ein paar Minuten kam auch schon das Eis. Ich begann sofort zu löffeln, sobald es vor mir stand. Dann linste ich zu Paul und Amina. Paul hatte den Löffel in die Hand genommen und begonnen Amina zu füttern. Warum sind die eigentlich immer noch nicht zusammen?, dachte ich. Ich wandte den Blick ab und sah zu Bengee. Unsere Blicke trafen sich. Eine peinliche Stille trat ein. Dann wandte ich mich wieder an mein Eis. Shit, was war das denn?!, fragte ich mich, während ich mir den nächsten Löffel in den Mund schob. Plötzlich bemerkte ich die Stille, die uns umgab. Sie wurde nur hin und wieder von einem Kichern oder Flüstern von Amina unterbrochen. Ich muss was gegen diese scheiß Stille machen!, dachte ich und sah wieder zu Bengee. Dieser saß still und leise auf seinem Stuhl und stocherte lustlos in seinem Eis herum. „Was ist los?“, fragte ich ihn verwundert. Er sah mich an und schüttelte den Kopf. „Gar nichts…“, meinte er. „Bedrückt dich was?“, fragte ich noch einmal leise, „du kannst es mir ruhig sagen…“ Er lächelte. „Danke, wirklich. Aber es ist nichts…“ Ich hasse es, wenn Leute so sind, dachte ich, gab aber auf. Ich schwieg und sah ihn noch einmal an. Er hatte knielange Skater-Shorts mit Bundeswehrmuster und einen blauen Pullover mit Kapuze an. Vorne auf dem Pullover war ein Grafitti abgebildet. Ich versuchte es zu lesen, gab aber auf, denn das einzige, was ich entziffern konnte, war „Smax“ und irgendwie bezweifelte ich, dass es richtig war. Er hatte wieder seine übliche Wuschelmähne und… „Sieh an…“, sagte ich lächelnd und streckte eine Hand aus, um ihm das Pony vor den Augen weg zu streichen, „…wir sind ja wieder geschminkt“ Ich schmunzelte und ließ sein Pony los. Er sah leicht verlegen beiseite. „Na ja…“, murmelte er, „ich find’ es ganz witzig…“ Ich lächelte. „Ist doch okay!“, meinte ich, „ich finde es steht dir!“ Er lächelte. Wieder trat eine peinliche Stille ein. Mein Blick fiel auf sein Shirt. Ich musterte es erneut. „Sag mal, was steht’n da?“, fragte ich. Er sah kurz auf den Pullover und zuckte dann mit den Schultern. „Keine Ahnung…“, sagte er und sah mich an, „das einzige, was ich bisher entziffern konnte, war ’Smax’, aber irgendwie bezweifle ich, dass das richtig ist…“ Ich musste lachen. Das Eis verschwand rasch von unseren Tellern und langsam wurden Amina und Paul auch wieder ansprechbar. „Okay, nun auf zu Bengee!“, sagte Amina enthusiastisch und deutete mit dem Finger in eine Richtung. „Ehm, du Ami, zu mir geht es hier längs…“, meinte Bengee und zeigte auf die entgegen gesetzte Richtung. Peinlich berührt lachte Amina. „Oh, mein Fehler“, sie wandte sich um und zeigte nun mit dem Finger in die Richtung, in die Bengee gezeigt hatte, „auf zu Bengee!“ Schon bald waren wir bei Bengee angekommen. Bengee schloss die Tür auf und trat ein. Er gab uns eine kurze Führung durch das Haus und zeigte uns dann sein Zimmer. Ich musterte es. Amina hatte Recht gehabt, es war wirklich sehr groß, etwa doppelt so groß, wie mein Zimmer. Es war ziemlich ordentlich. In der einen Ecke stand ein riesiger Kleiderschrank mit einem Spiegel. In der anderen Ecke stand Bengees Sofa. Das war das praktische an seinem Zimmer, denn er hatte kein Bett, sondern ein ausklappbares Schlafsofa, auf dem etwa sechs Leute Platz hatten, aber natürlich nur, wenn sie sich eng aneinander legten. Gegenüber vom Sofa stand ein riesiger Fernseher. Er war genau richtig um einen guten Horrorfilm zu sehen. Auf seinem Schreibtisch, der in einer anderen Ecke stand, lagen einige DVDs bereit. Nachdem ich einen Blick auf das Zimmer geworfen hatte, drehte ich mich zu Bengee um und umarmte ihn. „Ich liebe dieses Zimmer, kann ich hier einziehen?“, fragte ich. Bengee lachte. „Na klar, wieso nicht?“ Ich ließ von ihm ab und Amina und Paul gingen an uns vorbei. Sie ließen sich auf das Sofa fallen und Paul kramte in seiner Tasche herum. Er zog ein paar DVDs heraus. „So, das hier hab ich anzubieten…“, meinte er und gab mir die DVDs. Ich musterte sie. „Sieht viel versprechend aus…“, sagte ich, gab sie an Bengee weiter und ging zum Schreibtisch. Ich besah mir Bengees DVDs. Ich nickte. „Joah, ich denke, wir sind DVD-technisch soweit versorgt“, meinte ich und drehte mich um. Bengee nickte. „Ich hol mal etwas Verpflegung…“, sagte er und ging hinaus. Ich nickte, nahm die DVDs und setzte mich neben Amina. Wir suchten schon mal einen Film aus. Der Abend war meiner Meinung nach sehr lustig. Wir schauten uns ein paar Horrorfilme an, die mich aber kalt ließen. Dann schlief ich jedoch irgendwann ein. Mitten in der Nacht wachte ich wieder auf. Verschlafen sah ich auf die Uhr die über Bengees Fernseher hing. Es war kurz nach 3 Uhr nachts. Ich blickte zur Seite und sah Amina, Bengee und Paul neben mir liegen. Sie lagen eng aneinander geschmiegt und schliefen selig. Plötzlich bemerkte ich, dass es gar nicht dunkel war. Es war hell wie am Mittag. Ich sah nach rechts und erblickte auf einmal die Katze neben mir. Sie lag eingerollt da und schlief. Ich sah wieder nach links und bemerkte, dass Amina, Bengee und Paul wach waren. Sie saßen da, als hätten sie nie geschlafen. Auch die Katze saß neben ihnen. Ihre Augen sahen aber irgendwie anders aus. Ihre Blicke waren leer. Das machte mir Angst. Die Stimmung insgesamt war irgendwie unangenehm drückend, obwohl ich nicht genau wusste, woran das lag. Plötzlich waren die anderen verschwunden und ich war allein. Es schien als würde die Dunkelheit um mich herum immer drückender. Ich hatte Angst. Ich wollte nicht mehr allein sein! Ich wollte, dass das aufhört! Ich kauerte mich zusammen. Ich fasste mir an die Schläfen und schloss die Augen fest. Auch war die Atmosphäre um mich herum nicht mehr still, sondern laut. Es war dröhnend laut, dröhnte in meinem Kopf. Ich hielt mir die Ohren zu, doch es hörte nicht auf. Ich schreckte hoch. Amina und Paul lagen neben mir. Es war alles wie vorher. Es war sehr dunkel. Eine leuchtende Digitaluhr auf dem Schreibtisch zeigte die Uhrzeit an. Es war 3:04 Uhr. Ich rieb mir die Augen. Mein Mund war ganz trocken. Ich stand auf, um mir etwas zu trinken zu holen. Schlaftrunken tapste ich aus dem Zimmer, während ich die Küche suchte. Mist, wo war die Küche noch mal?, dachte ich und ging eine Treppe hinunter. Ein Zimmer zu meiner Rechten sah viel versprechend aus. Ich ging hinein und suchte nach dem Lichtschalter. Ich fand ihn links, neben dem Türrahmen. Ich knipste ihn an und bereute es sofort. Ein grelles Licht flammte auf. Geblendet stolperte ich zu einem Schrank und holte mir ein Glas heraus. Dann ging ich zum Wasserhahn und füllte es mit Wasser. Ich trank ein paar Schlucke. So war es besser. Ich stellte das Glas neben die Spüle und ging zum Lichtschalter. Als das Licht wieder aus was, sah ich gar nichts mehr. Na toll, dachte ich, während ich mir den Weg zurück ins Zimmer suchte. Oben im Zimmer angekommen, legte ich mich wieder auf meinen Platz. Plötzlich bemerkte ich, dass Bengee nicht da war. Ich richtete mich wieder auf. War er noch da gewesen, als ich in die Küche gegangen war? Ich wusste es nicht. Vielleicht war er ja auf die Toilette gegangen. Ich hatte niemanden gehört, als ich in der Küche gewesen war. Ich stand auf und ging hinaus in den Flur. Ich weiß bis heute nicht, warum ich nach ihm gesucht hatte. Ich hätte mich ja auch einfach wieder hinlegen und weiterschlafen können. Aber stattdessen ging ich in den Flur und suchte ihn. Dass ich das tat, gab meinem Leben eine gewaltige Wendung. Ich ging durch die Flure und suchte nach ihm. „Bengee?“, sagte ich leise. Niemand antwortete. Ich ging die Treppe hinab. Auf einmal kam ich mir albern vor. Warum suchte ich überhaupt nach ihm? Es war sein Haus. Er durfte machen, was er wollte, das ging mich nichts an. Ich drehte mich wieder um, um hoch zu gehen. Doch plötzlich sah ich ein bläuliches Schimmern hinter mir. Ich drehte mich abrupt um und erschrak. Kapitel 7: Bengees Geheimnis ---------------------------- Ich sah Bengee. Er stand, wie in Trance vor mir und sah leicht verträumt auf dem Boden. Ein silbrig blau schimmernder Lichtschleier umgab ihn. Er schien mich nicht bemerkt zu haben. „B-Bengee?“, stammelte ich. Er schreckte auf und sah mich an. „Minty?! Was machst du hier?! Du müsstest doch oben sein und schlafen!“, sagte er beunruhigt. „Ich hatte Durst… du warst nicht da, da hab ich dich gesucht…“, sagte ich, ohne recht zu wissen, was ich da redete. Ich schwieg kurz und sah ihn nur an. Dann holte ich Luft und fragte: „Bengee, was ist hier los…?“ Er machte einen unruhigen Schritt nach vorn und raufte sich die Haare. Er seufzte. „Du dürftest mich eigentlich gar nicht sehen…“, wich er aus. Ich lächelte matt. „Bengee, du weißt, ich bin nicht normal. Ich kann ziemlich viel sehen…“ Er lächelte. „Ja. Ja, ich weiß… du hast Recht…“ , er sah wieder zum Boden. Er schwieg. „Also?“, unterbrach ich die Stille. Bengee antwortete nicht. „Du bist ein Geist, nicht?“, ich atmete schwer, „du… du bist ein Geist, du bist tot… dich gibt’s gar nicht mehr, hab ich Recht?“ Ich schritt unruhig hin und her. „Minty...“, sagte er, doch ich ließ ihn nicht ausreden. „Meinst du nicht, dass wir das wissen sollten, Bengee?“, fragte ich, „hallo, ich heiße Bengee, ich bin in deiner Klasse, ich mag Horrorfilme, ich bin ein Geist!“ Bengee sah hilflos aus. Ich ging auf ihn zu und streckte die Hand aus. Sie ging glatt durch ihn hindurch. Ich zuckte zurück. „Oh mein Gott…“, sagte ich fassungslos und wich wieder zurück, „es ist also wahr…“ Ich sah ihn an. Bengee schwieg immer noch. „Ach scheiße, Bengee!“, sagte ich wütend, „du könntest mir das ruhig mal erklären!“ Er atmete tief durch. „Tut mir Leid, aber…“, er sah mich an, „…ich kann es mir selbst nicht erklären…“ Ich sah ihn fragend an. „Was?“ Er zuckte mit den Schultern. „Das, was ich jetzt bin…“, er machte eine kurze Pause, „das bin ich, so lang ich denken kann… ich erinnere mich, dass ich in einem Krankenhaus aufgewacht bin. Man sagte mir, dass meine Eltern tot seien und dann kam ich zu meinen jetzigen Eltern.“ Ich sah ihn mitleidig an. Ich konnte mir vorstellen, wie es sein musste im Krankenhaus aufzuwachen und gesagt zu bekommen, dass seine Eltern tot waren. Er fuhr fort: „Dann, in meiner ersten Nacht hier, bin ich aufgewacht…“, er deutete auf sich selbst, „so... Und ich stand auf und bin durch das Haus gewandert, die ganze Nacht… und das habe ich seit dem jede Nacht gemacht, jedoch ohne müde zu werden… am nächsten Morgen war ich immer topfit…“ Er sah mich an. „Davor ist nichts… ich kann mich an rein gar nichts erinnern…“ Wir schwiegen und sahen einfach nur einander an. „Und…“, unterbrach ich wieder die Stille, „wann wirst du wieder… normal?“ Er zuckte mit den Schultern. „Das ist unterschiedlich… meistens gegen 4 oder 5 Uhr früh… ich denke mal, das hängt davon ab, wann es hell wird…“ Ich nickte. „Ach so…“ Wir schwiegen wieder eine Weile. Wirre Gedanken schwirrten durch meinen Kopf. Ich verdrängte sie und fand mich damit ab. Mein bester Freund war ein Geist. Was machte das schon? Meine beste Freundin und ich hatten Visionen, normal war ich sowieso nicht. Wieso also aufregen? „Also… was machen wir jetzt? Rumstehen, bis du wieder normal wirst?“ Ich lächelte matt. „Ich weiß nicht…“, Bengee sah zum Fenster raus. Es dämmerte bereits. „Es dämmert… also wird es eh nicht mehr lange dauern bis ich wieder normal bin…“ Ich nickte. „Okay… ähm… sollen wir oben darauf warten…?“, fragte ich. Bengee schüttelte den Kopf. „Nein, lieber nicht. Nicht, dass sie aufwachen und mich so sehen… ich bin ja nicht umsonst hier herunter gekommen…“, meinte er. Er sah mich an. „Bitte… sag es keinem… auch nicht Amina… ich möchte, dass das unter uns bleibt…“, sagte er leise. Es fiel mir schwer, aber ich nickte. „Okay…“ Die ersten Sonnenstrahlen fielen herein. Das Leuchten, das Bengee umgab, verschwand. Ich streckte wieder die Hand aus und berührte ihn zur Sicherheit. „Du bist wieder normal!“, seufzte ich erleichtert und umarmte ihn. Dann ließ ich von ihm ab und sah ihn an. „Aber jetzt gehen wir hoch, oder?“, fragte ich, „ich bin hundemüde…“ Ich griff mir an die Stirn. In der ganzen Aufregung hatte ich gar nicht gemerkt, wie müde ich eigentlich war. Bengee nickte. „Na klar!“ Wir liefen die Treppe wieder hoch und standen nun wieder vor Bengees Zimmer. Vorsichtig linste ich hinein. Amina und Paul schliefen noch. Leise trat ich ein und legte mich wieder auf meinem Platz. Wow, war der die ganze Zeit schon so bequem?, fragte ich mich und kuschelte mich wieder in die Decke. Bengee legte sich neben mich und schlief ebenfalls noch ein bisschen. Um 10 Uhr wurde ich von Amina geweckt. „Hey, aufstehen. Wir müssen nach Hause… es ist schon 10…“, murmelte sie. Ich schlug die Augen auf und richtete mich auf. Bengee lag neben mir und schlief noch. Auch Paul schlief noch, doch Amina weckte ihn nun. Ich streckte mich. Was für eine Nacht…, dachte ich. Ich weckte Bengee und sagte ihm, dass wir nun los mussten. Paul kam noch mit zur Bahnhaltestelle, aber er fuhr mit einer anderen Bahn als wir. Er verabschiedete sich von Amina mit einer bärigen Umarmung und von mir mit einem kleinen Winken, dann stieg er in meine Bahn. Als seine Bahn weg war, redete ich mit Amina. „Du glaubst nicht, was heute Nacht passiert ist!“, sagte ich und streckte mich noch einmal. „Ach ja? Was denn?“ Ich hätte es ihr fast erzählt, doch dann fiel mir ein, dass ich Bengee mein Wort gegeben hatte. „Ähm, ich hatte voll den komischen Alptraum…“ Ich erzählte ihr von dem seltsamen Traum, von dem ich die Nacht aufgewacht war. Doch manchmal praktisch, so ein Alptraum…, dachte ich. „Tja, anscheinend hast du Angst davor, allein zu sein…“, überlegte Amina. „Ach, Quatsch! Ich war mein ganzes Leben allein, wieso sollte ich jetzt davor Angst haben?“, entgegnete ich. Die Bahn kam angerollt. „Vielleicht ist ja genau das der springende Punkt!“, sagte Amina, während wir einstiegen, „vielleicht hast du Angst davor, wieder allein zu sein…“ Ich dachte kurz nach. Doch dann beschloss ich das Gespräch hier zu beenden. „Könnten wir bitte über was anderes reden?“, meinte ich leicht genervt. „Natürlich. Und worüber?“, fragte Amina. Ich dachte kurz nach. Dann grinste ich schalkhaft und sagte: „Vielleicht über Paul und dich?“ Amina lächelte und sah auf ihren Schoß. „Wieso? Was soll denn da sein?“, fragte sie unschuldig. „Tjaaa, ich bin heute Nacht gegen 3 aufgewacht und was sah ich da? Amina und Paul, die sich anscheinend ganz doll lieb haben…“, erzählte ich immer noch frech grinsend und streckte ihr die Zunge raus, „…na okay, ich hätte das besser erzählen können, tut mir Leid…“ Amina warf mir einen mörderischen Blick zu. Nach einer langen Pause sagte sie: „Na und? Dann haben wir halt etwas gekuschelt! Was ist denn schon dabei?“ Ich zuckte mit den Schultern und lächelte. „Ich wollte dich doch nur ein bisschen ärgern, Ami…“ Amina grummelte leicht. Es herrschte Stille. Ich musste wieder an heute Nacht denken. Nachdenklich starrte ich aus dem Fenster. „Ist irgendwas mit dir?“, fragte Amina. „Hm?“ „Ob du was hast, du bist auf einmal so schweigsam…“ Ich sah Amina an und überlegte ernsthaft, ob ich ihr nicht doch erzählen sollte, was die Nacht passiert war. Doch dann schüttelte ich den Kopf. Ich hatte es Bengee nun mal versprochen. Ich konnte sein Versprechen einfach nicht brechen. Aber Amina war meine beste Freundin. Es war das erste Mal das ich ihr etwas absichtlich verschwieg. Es war wieder still. Ich überlegte, wessen Versprechen es sich eher lohnte zu brechen. Das Versprechen an Bengee, Amina nichts zu erzählen, oder das Versprechen an Amina, keine Geheimnisse voreinander zu haben. Insgeheim fand ich Bengees Versprechen weniger wichtig, aber irgendeine Stimme in mir hielt mich davon ab, es Amina einfach zu erzählen. Dann hatte ich aber wieder ein schlechtes Gewissen, Amina gegenüber. Wir hatten uns geschworen, niemals Geheimnisse voreinander zu haben. Aber es ging doch hier nicht um mein Geheimnis, sondern um Bengees… „Hey Minty! Deine Haltestelle!“, Aminas Stimme klang leise, als sei sie hunderte von Metern von mir entfernt. Ich wandte mich zu ihr. „Hm…?“ „Das hier ist deine Haltestelle!“ Die Bahn fuhr wieder los. Ich war so tief in Gedanken gewesen, dass ich nicht gemerkt hatte, dass sie angehalten hatte. „Oh…“, machte ich und sah meine Haltestelle entschwinden, „egal, nehme ich halt die nächste…“ „Sag mal, was ist los mit dir?!“, fragte Amina entgeistert. „Was meinst du…?“ „Du hast gerade deine Haltestelle verpasst, Minty!“ „Na und?“ „Ich hab dir ungefähr zehnmal gesagt, dass wir da sind, aber du hast nicht reagiert! In welcher Welt warst du bitte gerade?!“ Glücklicherweise hielt die Bahn wieder, sodass ich nicht zu antworten brauchte. Ich stand auf. „Ich muss raus, wir reden später, ja?“ Amina zuckte mit den Schultern und nickte. „Okay, bis dann…“ Ich umarmte sie kurz und stieg aus der Bahn. Ich seufzte. Weil ich die Haltestelle verpasst hatte, musste ich jetzt das Doppelte des Weges laufen. Also machte ich mich rasch auf den Weg. Vor unserem Haus saß mal wieder die Katze. Allmählich ging sie mir wirklich auf die Nerven, vor allem, weil ich ihr Geheimnis einfach nicht entschlüsseln konnte. Sie leuchtete mich mit ihren grünen Augen an. „Ssssst!“ Ich versuchte, sie zu verscheuchen, doch sie regte sich nicht. Sie saß immer noch genauso wie vorher da und sah mich nun fast spöttisch an. Einem normalen Menschen, einem Menschen, der keine Visionen hatte und nicht öfter mal seltsame Träume hatte, hätte sie wohl Angst gemacht. Bei mir verursachte sie nur ein leichtes Kribbeln im Nacken. Ich war wohl schon gegen alles halbwegs Gruselige abgehärtet. Ich ging an ihr vorbei, schloss die Tür auf und ging hinein. Man könnte eigentlich meinen, ein Hund sei genug, um eine Katze von einem Haus fernzuhalten, doch dieser Katze machte Tequila keine Angst. Aber das war es nicht, was ich so seltsam an ihr fand. Ich wusste selber nicht, was es war, aber irgendwas passte nicht zu ihr. Am Montag in die Schule zu kommen und Bengee zu sehen war irgendwie ein seltsames Gefühl. Ich hatte keine Ahnung, wie ich reagieren sollte, wenn ich Bengee sah. Anfangs war es ziemlich schwierig, mich normal zu geben, doch später wurde ich, wie immer. Es fiel niemandem aus der Klasse auf, nur Amina witterte etwas. In der ersten Pause sprach sie mich darauf an. „Sag mal, war da irgendwas mit dir und Bengee?“, fragte sie. Ich sah sie an und schüttelte den Kopf. „Nein, wieso fragst du?“ „Du bist heute irgendwie… anders…“ „Ich? Anders? Was ist denn an mir anders?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht, anders halt…“ „Ach so, na ja, keine Ahnung, es war jedenfalls nichts mit uns…“, log ich. Es war wie ein Messerstich ins eigene Herz. Ich hasste es ohnehin schon zu lügen und dann auch noch meine beste Freundin anzulügen war für mich unerträglich. Aber ich hatte es Bengee nun mal versprochen. Doch je länger ich Amina anlügen musste, desto unwichtiger erschien mir dieses Versprechen, also versuchte ich so wenig, wie möglich mit Amina darüber zu reden. Als ich am Dienstagmorgen aufwachte, wusste ich, warum auch immer, sofort, dass an diesem einen Dienstag etwas Besonderes passieren würde. Etwas, das mein Leben wieder grundlegend verändern sollte. Und wirklich. Nachdem die Hälfte der ersten Stunde verstrichen war, klopfte es an der Tür und ein Junge von etwa 15 Jahren trat ein. Er war etwa 20cm größer als ich. Er hatte einen leicht italienischen Touch, wie ich fand. Seine Haut war leicht gebräunt und er hatte schwarz-braune, leicht gewellte Haare. Seine Augen waren dunkelbraun, fast schwarz. Er hatte einen schwarzen Rucksack über eine Schulter gehängt. Außerdem trug er eine schwarze, weite Hose und ein grünes T-Shirt mit weißer Aufschrift. „Ah, du musst Milo sein“, sagte Mr. Smith, stand auf und trat zu ihm. Der Junge nickte. Er schüttelte ihm die Hand und wandte sich dann zur Klasse. „Das hier ist Milo Semiliah! Er geht ab heute in diese Klasse“, stellte Mr. Smith ihn vor. Kapitel 8: Milo Semiliah ------------------------ Die ersten Tage spielte Milo Semiliah keine große Rolle für mich, denn, weder sprach ich mit ihm, noch sah ich ihn an. Doch irgendwie weckte er zunehmend mein Interesse. Ich wollte unbedingt Kontakt zu ihm und sei es nur ein winziges Gespräch. Es war wie eine magnetische Anziehungskraft, die von ihm ausging und ich wusste nicht, warum das so war. Bald ertappte ich mich öfter mal dabei, wie ich ihn verstohlen von der Seite her ansah. „Du bist verknallt!“, meinte Amina bestimmt, als ich ihr davon erzählte. Es war Pause und sie saß auf einem Stuhl, den sie sich heran gezogen hatte, mir gegenüber an meinem Tisch. Ich sah sie entrüstet an. „Was?! Nein! Niemals! Wie denn auch? Ich kann ihn doch nicht mal ansehen und ich hab doch gar nichts mit ihm zu tun!“, sagte ich. Sie zeigte kurz mit dem Finger auf mich. „Dann wird es bald so sein!“ Ich verstand nur Bahnhof. „Hä?“ „Vielleicht gehört ihr ja zusammen und das Schicksal will dir ein bisschen auf die Sprünge helfen, möglich wär’s…“ Sie zuckte mit den Schultern. „Nein, ist es nicht…“, sagte ich dumpf. Sie seufzte. „Minty…“, sagte sie und schüttelte den Kopf leicht, „wir reden hier von UNSERER Welt! Unsere Welt ist nicht normal, also ist ALLES möglich“ Sie klang wie eine Mutter, die einem Kind erklärte, dass 1 und 1, 2 ergaben, weil 2 kleiner als 10 war. Dennoch, irgendwie fand ich die Theorie zutreffend. In unserer Welt war alles möglich. „Selbst wenn…“, sagte ich zweifelnd, „wie soll das denn funktionieren, wenn ich ihn nicht ansehen kann?“ Amina zuckte mit den Schultern. „Wer weiß, vielleicht kannst du es ja…“, meinte sie. „Was meinst du damit schon wieder?“ „Wenn du wirklich so einen Drang hast, Kontakt zu ihm aufzubauen, kann es doch wirklich sein, dass er besonders ist“, sie sah mich an, „ich meine bei Bengee und mir war es ja genauso…“ Ich nickte stumm. Bei Amina und Bengee war es genau dasselbe Gefühl gewesen und sie konnte ich ja schließlich ansehen… „Und was soll ich jetzt deiner Meinung nach machen?“, fragte ich sie. Sie zuckte mit den Schultern. „Sieh ihn an und schau, was passiert…“, antwortete sie. Einen Moment lang, dachte ich wirklich nach, ob ich das wagen sollte, aber dann schüttelte ich energisch den Kopf. „Nein…“, meinte ich, „das Risiko ist einfach zu groß…“ Amina zuckte mit den Schultern. „Musst du wissen…“, sagte sie. „Was muss sie wissen?“ Ich zuckte zusammen und fuhr zur Seite, sodass ich fast vom Stuhl fiel. „Bengee! Oh Gott, du hast mich fast zu Tode erschreckt!“, sagte ich atemlos, während ich versuchte, zu verhindern, dass mein Stuhl umkippte. „Tut mir Leid“, sagte er und setzte sich auf den Stuhl neben mir, „und was ist jetzt los?“ „Minty ist verknallt!“, sagte Amina grinsend und sah zu mir herüber. „Das stimmt doch überhaupt nicht!“, sagte ich wütend und boxte Amina leicht an den Arm. „Was? In wen?“, fragte Bengee und sah ebenfalls zu mir. „In den Neuen…“, ignorierte Amina mich. „Milo?!“ Amina nickte. „Jetzt hör doch mal auf, solchen Mist zu erzählen!“, sagte ich ärgerlich. Amina seufzte. „Na okay…“, sagte sie, „noch nicht…“ Bengee sah verwirrt aus. „Hä?“, machte er. Amina schüttelte abwinkend den Kopf. „Minty hat Schiss, Milo anzusehen…“, sagte sie. Er sah immer noch verwirrt aus. „Und wieso soll sie ihn überhaupt ansehen?“, fragte er. „Weil sie unbedingt Kontakt zu ihm will“ „Wieso das?“ „Weiß ich nicht…“ Ich sah die beiden an. „Könntet ihr mal bitte aufhören, über mich zu reden, als wäre ich nicht da?!“, brummte ich. „Hast du auch gerade was gehört…?“, fragte Amina gespielt verwirrt. Bengee lachte. Ich grummelte. „Ähm hey Leute…“, sagte eine Stimme direkt neben mir. „Hm?“, machte ich und wandte den Kopf. Als ich sah, wer da vor mir stand, zuckte ich so sehr zurück, dass ich wieder beinahe vom Stuhl gefallen wäre, wenn Bengee nicht da gesessen hätte, und mich aufgefangen hätte. Milo Semiliah stand vor mir und sah mich seltsam an. „Alles okay…?“, fragte er mich. Ich nickte und rappelte mich auf. Ich sah ihn an und vergaß völlig, dass er gar nicht zu meinen Freunden gehörte. Ehe ich mich wegsehen oder sonst was tun konnte, wurde es schon schwarz um mich. Es war eine sehr kurze Vision. Ich war in einem Wald. Es war dunkle Nacht und am Himmel leuchtete ein klarer Vollmond. Keine Wolke war am Himmel. Alles war still. Jegliche Geräusche, die man vom Wald gewohnt war, fehlten. Keine einzige Grille schien unterwegs zu sein. Ich hörte nicht einmal das Rascheln eines Igels, der sich seinen Weg durch das Laub bahnte oder eine Eule, die mit leuchtenden Augen nach Futter suchte. Nichts. Stille. Plötzlich hörte ich in der Ferne einen Wolf heulen. Erschrocken drehte ich mich in die Richtung, aus der das Heulen gekommen war. Doch dann wurde es wieder schwarz. Ich fand mich in meiner Klasse wieder. Neben mir saß Milo, der mich etwas besorgt ansah. „Wirklich alles in Ordnung mit dir…?“, fragte er. Ich sah ihn ein paar Sekunden lang an und nickte schließlich. „Ja, danke…“, sagte ich und spürte jäh wie ich rot wurde. In meinem Kopf war alles durcheinander. Das war doch keine richtige Vision gewesen. Ich hatte nicht einmal Milo selbst gesehen. Was hatte das zu bedeuten? Milo lächelte. Er hatte ein sehr schönes Lächeln, wie ich feststellte. „Dann ist ja gut“, sagte er. Seine Sprache war makellos. Wenn man ihn ansah, meinte man, er könne kaum unsere Sprache, doch seine Aussprache war frei von jeglichem Akzent. Ich lächelte und nickte. „Ja…“, sagte ich. Plötzlich fiel mir auf, dass wir uns ansahen. Anscheinend konnte ich die Leute ansehen, nachdem ich eine Vision von ihnen gesehen hatte. Ja, das machte Sinn… Wir schwiegen eine Weile und sahen uns einfach nur an. Keiner schien recht zu wissen, was man sagen sollte. Dann blitzte für einen kurzen Moment Amina durch meinen Kopf und mir fiel ein, was ich sagen konnte. „Ähm, das übrigens sind…“, begann ich und drehte mich zu Amina und Bengee um, doch ihre Sitze waren leer, „…ähm, waren Amina und Bengee“ Ich lächelte etwas verlegen. Er nickte und lächelte ebenfalls. „Deine Freunde?“, fragte er. Ich nickte. „Ja, sie sind die Besten“, sagte ich. Er schwieg kurz. Dann sagte er aber: „Hmm, ja ich bin übrigens Milo“ Er streckte mir seine Hand hin. „Ja, ich weiß“, meinte ich. „Ja, stimmt, dumm von mir…“, sagte er etwas verlegen und ich meinte einen Hauch rosa unter der dunklen Haut zu erkennen. Ich lächelte, nahm seine Hand und sagte: „Ich bin Minty“ Er lachte kurz. „Schöner Name!“, meinte er, „minzig…“ Er grinste mich schalkhaft an. „Hahaha, den kannte ich noch nicht…“, sagte ich tonlos. Er zwinkerte. „War doch nur ein Scherz“ Ich lächelte. „Ja, ich weiß, aber wenn man seit 14 Jahren Minty heißt, hört man den schon öfter…“, erklärte ich. „Hmm, tut mir Leid, was war immer dein Spitzname?“ Ich seufzte leise. „Minty Drop Atemfrisch…“ Milo lächelte. „Na, der ist doch nicht so schlimm…“, sagte er. Ich zuckte mit den Schultern. „Ja, kann sein“, entgegnete ich gleichgültig. Ich sah auf meinen Tisch, ohne ihn wirklich anzusehen, ich sah einfach durch ihn hindurch ins Leere. „Milo the Vamp“, sagte Milo. Ich sah auf. „Bitte?“ Er lächelte. „So wurde ich immer genannt“ „Warum?“, fragte ich. Er grinste breit, sodass seine Zähne zum Vorschein kamen. Mir fiel auf, dass seine Eckzähne ziemlich ausgeprägt waren. Ich lächelte. „Ah, verstehe…“, meinte ich. Er zuckte mit den Schultern. „Ja, ich hab mich nie sonderlich dran gestört…“ Er lehnte sich auf dem Stuhl zurück, legte den Kopf in den Nacken und streckte sich. „Na, müde?“, fragte ich lachend. Er nickte. „Du glaubst nicht, wie müde…“, meinte er, ließ die Arme sinken und gähnte kurz. Er sah nach links und ließ seinen Blick über die Klasse schweifen. Plötzlich fiel mir etwas an seinem Hals auf. Es waren drei oder vier feine Striemen, leicht rötlich gefärbt. Sie sahen aus wie feine Kratzer. „Was ist denn das da?“, fragte ich. Er wandte mir den Kopf zu und machte: „Hm?“ Ich zeigte auf seinen Hals und er fuhr sich mit den Fingern über die Stelle. „Ach, das…“, sagte er lächelnd, „das ist eine Narbe oder so… keine Ahnung, wo ich die her hab…“ „Das sieht aus, als wäre dein Hals halb aufgerissen…“, sagte ich leicht verängstigt. Er lächelte. Plötzlich streckte er die Hand aus, nahm meine Hand und führte sie zu der Stelle an seinem Hals. Ich merkte wieder, wie ich rot wurde. Ich strich mit den Fingern über die Striemen. Seine Haut fühlte sich warm und glatt an. Ich sah, wie meine Finger die Striemen berührten, doch ich fühlte sie kaum. Es fühlte sich an, als seien sie einfach nur auf seine Haut aufgesprüht worden. Es fühlte sich aber auch nicht wirklich nach einer Narbe an. Eher wie ein Mal, das schon immer dort und ein Teil von ihm gewesen war. Er ließ meine Hand los und ich zog sie rasch zurück. Er lächelte. „Siehst du?“ Ich nickte und lächelte auch wieder. Die Pausenglocke läutete, die Pause war vorbei. Er zwinkerte mir zu und huschte dann auf seinen Platz. Ms. Jones, unsere Deutsch- und Geschichtslehrerin, betrat die Klasse. „Guten Morgen“, sagte sie freundlich. Ms. Jones war eine junge, recht hübsche Frau. Sie hatte langes braunes Haar und immer ein freundliches Lächeln auf den Lippen. Ich mochte sie eigentlich recht gern. Ms. Jones’ Unterricht zu folgen fiel mir irgendwie schwer. Ich konnte mich einfach nicht konzentrieren. Etwas spukte immerzu in meinem Kopf herum. Gedankenverloren zog ich mein Portemonnaie hervor und sah auf die Fotos von Amina und Bengee, als mir plötzlich etwas auffiel. Ich holte Aminas Foto heraus und musterte es. Ihre Augen. Etwas stimmte nicht mit ihren Augen. Ich sah ihr täglich an die tausendmal in die Augen, also wusste ich, dass ihre Augenfarbe grün war. Doch auf diesem Foto waren sie bräunlich-rot. Ich wischte mit dem Ärmel einmal kurz drüber, um sicher zu gehen, dass es kein Fleck oder so was war. Doch die Augenfarbe änderte sich nicht. Das ist schon seltsam…, dachte ich und steckte das Foto wieder weg. Den folgenden Unterricht grübelte ich nur über alles nach. Das Foto, Milo, die Katze, Bengee, einfach alles. In der nächsten Pause ging ich also zu Amina und sagte: „Sieh dir das an!“ Ich klatschte das Foto vor ihrer Nase auf den Tisch. Sie musterte das Foto. „Und?“, machte sie. „Achte auf die Augen!“, sagte ich. Amina besah sich das Foto genau. „Sind die nicht eigentlich grün?“, fragte sie schließlich verwirrt. Ich nickte. „Genau das meine ich!“ Bengee trat zu uns. „Was gibt’s?“, fragte er. Amina gab ihm das Foto und sagte: „Welche Farbe haben meine Augen?“ Er musterte sie. „Grün!“, meinte er bestimmt. Amina seufzte. „Nicht hier, sondern auf dem Foto, du Blitzbirne!“ Er musterte das Foto genau. „Grün!“, sagte er nach einer Weile. „Bitte?!“, riefen Amina und ich, wie aus einem Munde. „Grün…?“, wiederholte er etwas verdutzt. „Wieso sieht er grün…?“, fragte ich zu Amina gewandt. Diese schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung…“, antwortete sie nachdenklich. „Vielleicht weil sie grüne Augen hat?!“, warf Bengee ein. „Ja, aber auf diesem Bild nicht…“, meinte ich etwas abwesend und besah mir das Foto. „Hallo!“, sagte eine Stimme direkt hinter mir. Erschrocken fuhr ich herum und wäre fast wieder gestürzt. Milo Semiliah stand vor mir. „Hi!“, sagte ich etwas piepsig. Milo lächelte matt. Eine peinliche Stille trat ein, doch dann fasste Amina sich ein Herz und brach das Schweigen. „Hi, ich bin Amina. Wir kennen uns noch nicht…“, sagte sie und streckte ihm eine Hand entgegen. Milo nahm ihre Hand und nickte. „Minty hat mir schon von dir erzählt“, meinte er. „Hat sie das, ja?“, fragte Amina und wandte sich mit einem viel sagenden, etwas kalten Blick zu mir. „Ja“, sagte Milo, „ich bin Milo“ Amina nickte. „Ja, ich weiß!“, antwortete Amina bestimmt. „Hehe, ja natürlich weißt du das…“, murmelte Milo lachend und da war er wieder, dieser verlegende Blick. Süß…, dachte ich unwillkürlich und ein Hauch rosa zierte mein Gesicht. Ich spürte Bengees Blick und hob die Hand, als würde ich mir eine Haarsträhne zurecht rücken, damit er mein Gesicht nicht sah. „Ich bin Bengee!“, sagte Bengee aus dem Schweigen heraus, als meine er, das müsse mal gesagt werden und streckte Milo die Hand entgegen. Amina musterte ihn abwertend und sagte: „Ach, dich gibt’s auch noch…?“ Bengee lächelte sarkastisch zu ihr, doch er wusste, dass sie es nicht böse meinte. Milo schüttelte seine Hand. „Milo“, sagte er lachend. Die Pausenglocke läutete. Politik und Wirtschaft mit Mr. Smith stand an. Ich sah noch mal kurz zu Milo, der mir frech zuzwinkerte und ging dann auf meinen Platz. Ich vergrub mich wieder in meinen Gedanken. „…Werbung setzt immer auf bestimmte Zielgruppen, ist das richtig, Minty?!“, drang Mr. Smiths Stimme zu mir durch. Er sprach meinen Namen gezielt aus. Aufgeschreckt von der gezielten Ansprache des Lehrers auf mich, wusste ich nicht mehr so recht, was ich sagte. „Ja! Genau! Spielgruppen! Auf jeden Fall!“, meinte ich verwirrt und blickte natürlich zur Tafel und nicht zu Mr. Smith. Meine Mitschüler lachten und ich spürte die Röte in meinem Gesicht. „Tja, und kannst du denn auch diese SPIELGRUPPEN nennen?“, fragte er und betonte das vorletzte Wort genau, um mich zu ärgern. Ich hatte natürlich keine Ahnung, wovon er redete. „Altersgruppen, Kinder, Jugendliche, Erwachsene, Senioren…“, murmelte Greg, mein Tischnachbar mir zu. „Na ja, Altersgruppen halt. Kinder, Jugendliche, Erwachsene, Senioren…“, zählte ich auf und es klang, als ob ich das tatsächlich hatte sagen wollen. Mr. Smith nickte. „Gut, aber pass das nächste Mal besser auf…“, sagte er. Ich sah in Gregs Richtung, an ihm vorbei an die Wand, murmelte „Danke…“ und lächelte dabei dankbar. Unwillkürlich wanderte mein Blick zu Milo, er saß in der zweiten Reihe. Unsere Blicke begegneten sich und Milo grinste, zwinkerte und sah wieder nach vorne. Kapitel 9: Eine seltsame Vision ------------------------------- Der nächste Donnerstag war ein sehr merkwürdiger Tag. Ich wusste es schon, als ich am Morgen die Augen aufschlug, heute würde etwas passieren. Ich stieg aus dem Bett, ging ins Bad und machte mich fertig. „Hey Leute, merkt ihr das auch?“, fragte ich Amina und Bengee und knuddelte die Beiden zur Begrüßung. Amina sah mich an und schüttelte den Kopf. „Nein, was?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht…“, sagte ich nachdenklich, „die Atmosphäre heute ist irgendwie anders, findet ihr nicht?“ Ich sah sie an. Doch sie schüttelten den Kopf. Ich zuckte wieder mit den Schultern. „Na ja, egal… wird schon nichts sein…“, meinte ich und wir gingen zu meinem Platz. Amina zog sich einen Stuhl heran und setzte sich mir gegenüber, während Bengee sich auf Bengees Platz setzte. Auf einmal grinste Amina. „Übrigens habe ich eine freudige Nachricht zu verkünden!“, sagte sie strahlend. Ich lächelte. „Was denn?“ Amina atmete tief durch. „Also…“, sagte sie und begann, sich Luft zuzuwedeln, als sei sie so aufgewühlt von der Wichtigkeit dieses Moments. Ich sah sie an und sagte: „Jetzt sag schon!“ „Ich und Paul sind seit gestern offiziell zusammen!“, verkündete Amina und strahlte. Ich strahlte ebenfalls und rief: „Wirklich?! Das ist ja wundervoll! Komm her du!“ Ich umarmte sie freudig. Amina lächelte. „Ja, ich kann es auch kaum glauben…“, meinte sie. Ich ließ von ihr ab. „Erzähl!“, befahl ich bestimmt und sah sie mit einem Du-hast-ja-sowieso-keine-andere-Wahl-Blick an. „Also…“, begann sie mit einem verliebten Lächeln auf den Lippen, „du weißt ja, wir hatten vor ein paar Tagen unser erstes Date… also ohne deine Unterstützung“ Ich nickte und erinnerte mich an diesen Tag. Paul hatte ein Picknick für Amina hergerichtet und anschließend hatte sie noch bei ihm übernachtet. Amina hatte mir jede Einzelheit hinterher am Telefon erzählt. „Ja, und gestern waren wir zwei wieder weg!“, fuhr sie fort. Ich nickte wieder. „Und?“, fragte ich gespannt. „Na ja, er hat mir gesagt, dass er sich in mich verliebt hat…“, meinte sie lächelnd und spielte mit einer Haarsträhne, „dann hab ich gesagt, dass ich mich auch in ihn verliebt habe… hach es war so romantisch…“ Sie sah verträumt in die Klasse. Ich lächelte. „Freut mich für dich…“, sagte Bengee. Amina und ich sahen ihn an. Er hatte heute noch kaum ein Wort gesagt. „Ach! Bengee! Bist ja auch noch da!“, sagte ich fröhlich und gab ihm einen kleinen Knuff an die Schulter. Er sah mich mit demselben sarkastischen Blick an, den er letztens Amina zugeworfen hatte. Mr. Pitscher betrat die Klasse. Er war unser Mathelehrer und sah auch dementsprechend aus. Er war etwa 55 Jahre alt und sah ziemlich klein und stämmig aus, was er aber eigentlich gar nicht war. Sein Haar war weiß-grau, er hatte eine Halbglatze. Er hatte einen buschigen Schnurrbart und ebenso buschige Augenbrauen. Er trug fast immer einen gemusterten Polunder und eine besche Hose mit Bügelfalte, auch heute war es nicht anders. „Guten Morgen!“, sagte er mit einer rauen Stimme, ließ den Blick über die Klasse schweifen und wandte sich dann zur Tafel. Er schrieb ein Datum an die Tafel und drehte sich wieder zu der Klasse um. Mit dem Finger zeigte er auf das Geschriebene. „Schreibt’s euch auf!“, dröhnte er, „an diesem Tag schreiben wir unsere Matheklausur!“ „Was?!“, rief Amina entsetzt, „das ist ja schon in zwei Wochen!“ Mr. Pitscher sah zu Amina. „Gibt es ein Problem?“, fragte er. Amina seufzte. „Nein…“ Mr. Pitscher strich sich mit dem Daumen über sein Kinn und nickte. Ich seufzte leise und notierte mir das Datum in einem kleinen Heftchen. Greg meldete sich. „Könnten Sie bitte noch mal an die Tafel schreiben, was genau in der Arbeit drankommt?“, fragte er. Mr. Pitscher tippte sich mit dem Daumen an das Kinn und meinte: „Sollte ich das, ja?“ Greg nickte. „Eigentlich müsstet ihr das alle bereits in euren Notizen unterzeichnet haben!“, meinte Mr. Pitscher vorwurfsvoll. Greg nickte erneut. „Selbstverständlich, Sir, aber könnten Sie es nicht noch einmal anschreiben, damit wir nachsehen können, ob uns noch etwas fehlt? Nicht, dass alle hier das Falsche lernen…“ Ich musste lächeln. Ja, Greg wusste, wie man Leute am Besten überzeugen konnte. Mr. Pitscher lächelte ebenfalls. „Na gut!“, meinte er und begann, all den Stoff, der in der Arbeit dran kam, an die Tafel zu schreiben. Ich war froh, dass Mr. Pitscher nachgegeben hatte, denn, wie die meisten hier, hatte ich mir keine Notizen gemacht. Fein säuberlich schrieb ich mir alles ab. Danach begann Mr. Pitscher mit der Wiederholung des Stoffs. Nach der Doppelstunde Mathe trat ich zu Aminas Platz und ließ mich auf den freien Platz neben ihr fallen. „In zwei Wochen eine Mathearbeit…“, murmelte ich. Ich sah sie an. „Hast du heute vielleicht etwas Zeit?“, fragte ich, „ich will lernen…“ Sie nickte. „Natürlich!“ Bengee kam zu uns. „Hey Bengee! Hast du heute Zeit zum Mathe lernen?“, fragte ich ihn, bevor er etwas sagen konnte. Er nickte. „Sicher, wann denn?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung… heute eben!“, ich lachte kurz. „Direkt nach der Schule?“, warf Amina ein. Bengee nickte. „Von mir aus schon“ Beide sahen nun mich an. Ich schüttelte den Kopf. „Ich muss wenn vorher noch mit Tequila raus…“, meinte ich. „Kein Problem, wir kommen mit“, sagte Amina gleichgültig. Auch Bengee hatte nichts dagegen. „Okay, cool. Und bei wem?“, fragte ich. Amina zuckte mit den Schultern. „Bei mir?“ Bengee und ich stimmten zu. „Aber dann muss ich heute nach der Schule noch meine Mutter anrufen und Bescheid sagen…“, meinte Bengee. Ich winkte ab. „Kein Thema, du kannst mein Handy nehmen“ Bengee nickte. „Okay, danke“ Nach weiteren vier elenden Schulstunden und einer, meiner Meinung nach viel zu kurzen, großen Pause, gingen wir also zu mir. „Ach ja…“, sagte ich und gab Bengee mein Handy, „hier, ruf deine Mom an, aber mach’s bitte kurz… es ist teuer…“ Ich rümpfte die Nase. Bengee nickte und wählte die Nummer. Wir waren mittlerweile bei mir zu Hause angekommen. Ich schloss die Türen auf und Tequila sprang uns freudig mit dem Schwanz wedelnd entgegen. „Hey Süße!“, rief ich und streichelte sie am Kopf. Tequila ließ sich ein paar Sekunden lang von mir streicheln und sprang dann auf Amina zu. Diese begrüßte sie strahlend. Ich zog meine Tasche ab und legte sie auf den Boden. Bengee war fertig mit telefonieren und gab mir mein Handy zurück. Ich steckte es zurück in die Tasche und ging ins Wohnzimmer. Ich blickte auf das Sofa zu meiner Rechten und scharrte zusammen, als ich sah, dass meine Mutter darauf saß. „Mama! Was machst du denn hier?“, fragte ich sie, „ich hab dich gar nicht bemerkt“ Sie richtete sich auf. „Ich hatte früher Schluss…“, sagte sie und rieb sich das linke Auge. Ich bemerkte, dass sie dunkle Augenringe unter den Augen hatte, doch dann wandte ich meinen Blick von ihrem Gesicht. „Ist jemand bei dir?“, fragte meine Mutter. Ich nickte. „Ja, ich habe Amina und Bengee mitgenommen…“, antwortete ich. Wie bestellt traten Amina und Bengee aus dem Flur ins Wohnzimmer. „Hallo, Mrs. Josephs“, sagte Bengee freundlich. „Hallo Bengee“, erwiderte meine Mutter und lächelte. Es war ein trauriges Lächeln. Anders, als früher. Damals hatte sie noch ein fröhliches Lächeln gehabt, doch dieses war traurig und freudlos und wirkte etwas aufgesetzt. Es brach mir das Herz, meine Mutter so zu sehen, denn ich wusste genau, ich war daran Schuld. Amina nickte meiner Mutter freundlich entgegen, zur Begrüßung. Schweigen trat ein. „Ähm, Mom, wir wollten, gleich, nachdem wir mit dem Hund draußen waren, zu Amina und ein bisschen lernen“, erklärte ich dem Bild, das hinter dem Sofa an der Wand hing. Meine Mutter nickte. „Ist okay… wenn ihr wollt, könnt ihr den Hund auch hier lassen… ich gehe nachher mit ihr…“, meinte meine Mutter. Ich lächelte. „Okay, danke, Mama“, meinte ich und gab ihr einen kleinen Kuss auf die Wange. Dann ging ich zur Tür. „Wir sind dann jetzt weg!“, rief ich und öffnete die Tür, „ich hab mein Handy dabei, falls was ist!“ Bringt bei Amina zwar nichts, weil wir da im Funkloch sind, aber egal…, dachte ich und ging mit meinen Freunden zur Tür hinaus. Bei Amina zu Hause angekommen, setzten wir uns ins Wohnzimmer. Bengee und Amina saßen mir gegenüber. Zwischendurch kam Aminas Mutter herein und fragte, ob wir vielleicht etwas brauchten, doch sonst wurden wir nicht weiter gestört. Aminas Mutter war eine große Frau mit langem, blondem Haar und blauen Augen. Sie waren mandelförmig, genau wie Aminas, wie ich feststellte. „Mathe ist langweilig…“, seufzte ich, als sie wieder weg war und sah Amina an. Es rummste. Bengees Mathebuch war runter gefallen. „Mist“, sagte er und bückte sich, um es aufzuheben. Ich ignorierte es. „Ami, erzähl…“, Bengee streifte leicht meinen Arm. In diesem Moment passierte es. Es wurde schwarz um mich. Jetzt nahmen die Formen und Farben um mich herum langsam Gestalt an. Ich befand mich in einem großen Raum, ein Wohnzimmer, wie es schien. In der einen Ecke stand eine große Couch und in der anderen Ecke ein Fernseher. Ich spürte, dass es dasselbe Haus war, in dem ich das kleine Kind in Bengees Vision hatte sterben sehen. Hinter mir hörte ich Stimmen. Ich drehte mich um. Dort stand eine Frau mit schulterlangem, blonden Haaren und blauen Augen. Sie war groß und schlank. Mir fiel auf, dass sie der Mutter des toten Kindes aus Bengees Vision ziemlich ähnlich sah. Ich schätzte, dass es die Schwester der Mutter sein musste. Sie warf einen kurzen Blick in meine Richtung und da fiel es mir auf. Es war Aminas Mutter! Jünger, aber sie war es, eindeutig! Plötzlich fiel mir auf, dass sie weinte. Kleine Tränen kullerten ihre Wangen hinab. Sie wischte sich die Augen und sah wieder zu dem Mann, mit dem sie sich unterhalten hatte. Er war groß, hatte braunes, dichtes Haar und smaragdgrüne Augen, es war dieselbe Farbe, wie die in Aminas Augen. Ich nahm an, dass es Aminas Vater war, den ich nie kennen gelernt hatte. Aber was machten die Beiden eigentlich hier, in dieser Vision? Oder besser gesagt, warum hatte ich überhaupt eine Vision? Doch ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, denn sie begannen zu reden. „Jetzt ist es schon fast zwei Jahre her, dass… es passiert ist…“, meinte der Mann eindringlich, „und du willst das Haus immer noch nicht verkaufen. Meinst du nicht, dass es langsam Zeit wird, die Vergangenheit hinter sich zu lassen?“ „Du verstehst das nicht…“, sagte die Frau leise, „ich habe meine Schwester geliebt! Und Ethan auch, wie einen Bruder!“ Der Mann ging auf die Frau zu und umarmte sie. „Natürlich, das weiß ich, es ist schwer…“, flüsterte der Mann, „aber du musst verstehen… wir brauchen Geld! Wir können es uns einfach nicht mehr leisten, dieses Haus hier mit zu versorgen…“ Die Frau schluchzte. „Ich weiß, aber…“, sie brach ab. Ein Mädchen von etwa vier oder fünf Jahren hatte das Zimmer betreten. Es hatte langes, braunes Haar und grüne, mandelförmige Augen. Sie trug eine grüne Leggins und ein gelbes T-Shirt. Amina! „Mama, warum weinst du denn?“, fragte sie und ging zu ihrer Mutter. Die Frau wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Sie lächelte. „Amina, Häschen, was machst du denn hier?“, fragte die Mutter und sah auf ihre Tochter herab. „Ist es wegen der Sache mit Onkel Bruce und Tante Jem vor zwei Jahren…?“, sie sah ihre Mutter an. Ziemlich klug, für ein so kleines Kind…, dachte ich. Die Mutter schwieg. „…Und mit Cousin Blake natürlich…“, fügte das kleine Kind leise hinzu. Die Mutter fing wieder an zu weinen. Dann wurde es wieder schwarz um mich. Die Frau, der Mann und das Kind verschwammen. Auch das Zimmer verschwand in einem Wirbel aus Farben, Formen und Schatten, bis die vollkommene Schwärze eintrat. Im einen Moment stand ich noch im Zimmer mit den Leuten und im nächsten Moment saß ich wieder in Aminas Wohnzimmer. Mein Blick war gesenkt und starrte auf den Tisch ins Leere. Ich blinzelte. „Minty?“, hörte ich Aminas Stimme, sie klang erwachsen und nicht mehr so kindlich wie eben noch in der Vision. Ich sah auf. Amina sah mich besorgt an. „Was ist los?“ „Wie… wie lange war ich weg…?“, stammelte ich. Amina hob die Augenbrauen. „Weg?“ „Was ist gerade passiert?“, fragte ich und sah zu Bengee. Dieser hatte sein Buch aufgehoben und schon wieder aufgeschlagen. Er sah mich ebenso erstaunt an, wie Amina. Mein Blick wanderte wieder zu Amina. „Na ja… du hast mitten im Satz aufgehört zu reden… du hast den Kopf gesenkt und für ein paar Sekunden auf den Tisch gestarrt… na ja und dann hast du mich angesehen und gefragt, was los war…“, erklärte Amina. Ich sah sie entgeistert an. „Was?! Nur ein paar Sekunden?! Mir kam es, wie eine Ewigkeit vor…“, meinte ich. Ich schwieg. „Minty?“, hörte ich Aminas Stimme, wie aus weiter Ferne, ich antwortete nicht, „Mint, was ist los? Was ist passiert?“ Meine Gedanken waren völlig durcheinander. Es dauerte etwas, bis ich sagte: „Ich… ich hatte gerade eine Vision…“ Amina sah mich erstaunt an. „Was? Eine Vision? Aber du hast doch-“, ich unterbrach sie. „Ich weiß, dass ich niemanden angesehen habe!“, meinte ich, „es ist auch niemand gestorben…“ Ich sah sie an. „Aber… du bist drin vorgekommen…“ Ich sah zu Bengee. „Du Bengee… sag mal, wie hießen deine Eltern… weißt du das noch?“, fragte ich, wobei ich mir irgendwie taktlos vorkam, doch das war mir in diesem Moment egal. Bengee nickte stumm und sah auf den Tisch. „Jem und Bruce…“, sagte er leise, „meine Pflegeeltern haben es mir erzählt…“ Mein Herz begann zu pochen. Ich wandte mich wieder an Amina. „A-Amina… hast du einen verstorbenen Cousin? Beziehungsweise einen Onkel oder eine Tante?“, stotterte ich. Amina dachte kurz nach, dann nickte sie. „Ja, mein Cousin Blake ist glaube ich gestorben, als ich vier war… seine Eltern auch, glaube ich… aber ich weiß nicht mehr, wie sie hießen…“, sie versuchte sich zu erinnern, „und ich weiß auch gar nicht, woran sie gestorben sind…“ Ich zitterte am ganzen Körper. Was hat das alles nur zu bedeuteten...? Leer sah ich zum Fenster raus. Es hatte begonnen zu regnen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)