Scramble von Vanillaspirit ================================================================================ Kapitel 1: Prolog ----------------- Mamori hatte viel erwartet. Ihr ganzer Körper, ihr Denken hatten sich darauf eingestellt, dass sich nach dem Christmas Bowl alles positiv ändern würde. Sie hatte das große Spiel als einen Wendepunkt betrachtet, immerhin war es das einzige Ziel der Deimon Devil Bats gewesen und Mamori wurde davon enttäuscht. Weihnachten ging vorüber, es wurde Frühling und ehe sie sich versah, war sie in der dritten Klasse. Seit langem hatte die ehemalige Managerin des Footballteams das bedrückende Gefühl der Isolation. Die Unterrichtsräume der Abschlussklassen lagen abseits von den unteren Klassenstufen. Es war fast eine andere Welt, ohne Sena oder Monta, die in einem anderen Schulteil ihre Zeit verbrachten. Und auch ohne Yukimitsu, Musashi oder Kurita. Seltsamerweise waren alle drei zusammen mit Hiruma in eine Klasse gekommen, nur Mamori hatte das Nachsehen gehabt. Ihre Klasse war am Ende des Korridors und gespickt mit Schülern, die sie sich als Mitglied des Disziplinarkomitees zu Feinden gemacht hatte. Bei jedem Gedanken an die Kälte, die ihr entgegenschlug, biss sie sich auf die Unterlippe. Hiruma hätte das sicher verhindern können, wenn er gewollt hätte. Hiruma Youichi -sie hatte mehr von ihm erwartet und wenn es nur diese kleine, zugegeben nicht ganz legale, Geste gewesen wäre, der alten Freundschaft wegen. Es war mit Sicherheit zu viel verlangt. Seit Anfang des Schuljahres hatte sie den ehemaligen Quarterback kaum gesehen und wenn, hatte das Mädchen bewusst oder unbewusst einen Fluchtweg gesucht. Zu erklären warum, war fast unmöglich und ihr selbst auch nicht begreiflich. Es war eben eine dieser Situationen, denen ein Ereignis vorausgegangen war, dass sich nicht verarbeiten oder wenigstens vergessen ließ. Grob wurde Mamori angerempelt und hörte nur eine gemurmelte Entschuldigung. Sie hatte geträumt. Ein tödlicher Fehler in einem dichtgedrängten Flur. Der nächste Stoß eines Mitschülers beförderte sie gegen das Fenster. Der Aufprall war kaum der Rede wert und gab Mamori Zeit sich zu sammeln. Ihr Blick fiel auf den Schulhof. Schulschluss für die unteren Klassen und immer mehr grüne Uniformen wanderten Richtung Ausgang. Ihre Augen hefteten sich auf eine Gruppe Jungen, die alberten und sich gegenseitig aufzogen. Es waren ihre alten Freunde, Spieler der Deimon Devil Bats. Wie gern würde sie noch einmal Teil des Teams sein, vielleicht sogar Hirumas verrückte Ideen realisieren, aber es gab kein Zurück. Der Christmas Bowl war der Wendepunkt gewesen und nichts hatte sich so gewandelt, wie Anezaki es erwartet und erhofft hatte. Kapitel 2: fuckin' ol' times ---------------------------- “Verdammter Gartenzwerg!“ Dem lauten Fluch folgte eine Salve von Schüssen, denen sich der Deckenputz des Schulraumes ergab und auf Kuritas massigen Kopf rieselte. Sämtliche Muskeln in Hirumas Körper waren angespannt und er hatte Mühe sich selber davon abzuhalten loszustürmen und einem bestimmten jemand den Körper zu durchsieben. Er durchlöcherte die Decke noch ein paar Mal, die einzige Möglichkeit den aufgestauten Frust abzubauen. Kurita wischte sich den Staub vom Kopf. Er war eingeschüchtert vom Tobsuchtsanfall seines alten Freundes, auch wenn es nichts Außergewöhnliches war. Hiruma Youichi war eben so: laut, beleidigend, direkt. Wut war das Gefühl, was er sofort auslebte, vielleicht war es auch die einzige Emotion, die er öffentlich zeigte. Etwas blitzte in den Augen des ehemaligen Centers auf, das Hiruma sofort argwöhnisch zum Schweigen brachte: Hoffnung. „Was ist los, Fettsack?“ Der Angesprochene blickte ertappt in ein paar stechend dreinblickender Augen, vor denen er ohnehin nichts verheimlichen konnte. „Vielleicht …“ Er zögerte und forderte damit nur die Ungeduld des anderen heraus. „Vielleicht WAS?“, schnauzte der Junge mit den ungewöhnlichen Elfenohren. „Spuck’s aus!“ Verlegen nestelte Kurita mit seinen fleischigen Fingern. Es war eine Gelegenheit, die so schnell nicht noch einmal kommen würde. Er fühlte sich nicht mehr, wie er selbst, nicht vollständig, seitdem das tägliche Training ausblieb. Hiruma hatte ihm verboten sich auch nur in der Nähe des Clubhaus blicken zu lassen. Den tieferen Sinn dahinter, hatte er allerdings nicht erklärt. Die Leute mussten seine Entscheidungen schon immer so roh schlucken, wie er sie ihnen vorsetzte. „Vielleicht sollten wir ihnen beim Training helfen.“ Er hielt die Luft an, während er gespannt auf eine Antwort wartete. Hiruma hatte die Macht, dafür zu sorgen, dass die Schulregeln zu ihren Gunsten gebogen wurden. Der Junge mit dem außergewöhnlichen Aussehen hatte sich in der Vergangenheit nie gescheut seine Macht auch zu nutzen. Warum sollte es diesmal nicht auch so sein? Der Blonde starrte Kurita einen Moment lang ungläubig an. Hoffnung keimte in dem schwergewichtigen Jugendlichen auf, dass sein Wunsch auf fruchtbaren Boden fiel, dann bohrten sich die ersten Geschosse in die eh schon löcherige Decke des Klassenraums. „Verfickt nochmal, NEIN!“ Das Grün in Hirumas Augen funkelte ungnädig. „Der Scheißzwerg hat allein damit fertig zu werden.“ „Vermisst du es nicht?“ Die Frage traf ihn unerwartet und für einen flüchtigen Moment huschte Verwirrung über sein Gesicht. Es ging hierbei nicht darum, ob er etwas vermisste oder nicht, aber das würde der Dicke eh nie verstehen können. Er würde nicht immer da sein und den Pimpfen die Hand halten können, wenn es mal schwierig werden würde. Natürlich hatte er genug Material vom Schuldirektor nahezu alles verlangen zu können, aber der war die falsche Adresse. Er hätte Kurita vermutlich eher Integralrechnung beibringen können, als den Aufbau einer Privatschule. Der Direktor war in dieser Angelegenheit ein kleines Licht und an den Schulbesitzer heranzukommen hatte selbst Hirumas Spionagenetz bisher noch nicht geschafft. Sena musste vorerst allein sehen, wie er mit dieser Krise zurechtkommen würde. „Ich habe nicht vor ewig die Mami für diese Rotzgören zu spielen.“ Es war nicht ganz gelogen. Hiruma hatte wirklich nicht vor ewig für alles, was das Team betraf, verantwortlich zu sein. Er hatte sie in den Christmas Bowl geführt, sie zu einem Team geformt und genug über den Sport und ihre eigenen Begabungen gezeigt, damit sie auf eigenen Beinen stehen konnte. Jedem war klar gewesen, dass er irgendwann nicht mehr da sein würde und nun hatte er Zeit sich neuen Projekten zu widmen; immerhin musste eine Universität mit gutem Footballteam gefunden und Beweise aus dem Privatleben des zukünftigen Dekans gesammelt werden. Er schulterte seine M16A3 . Das Gespräch beendet, was er durch einen kräftigen Tritt, der die Tür öffnete und den dahinter stehenden Pulk aus Schaulustigen in panische Flucht versetzte, unterstrich. „Halt dich vom Team fern, Fetti!“ Hiruma brauchte nicht zurückzuschauen, um zu wissen, dass Kurita kurz vor einer seiner berühmten Heulattacken war. Vermutlich würde der stämmige Jugendliche den Rest des Tages in der Sporthalle im Kasten verbringen. Missmutig pflügte der ehemalige Quarterback sich seinen Weg durch die Schüler im Flur. Eine Leichtigkeit, wo viele schon die Flucht ergriffen, wenn sie nur seine hochgekämmten Haare näher kommen sahen. Er war kein Schläger, hatte sich noch nie an einem anderen Schüler vergriffen oder den Lehrern Streiche gespielt, dennoch war er gefürchtet, nicht nur an der Deimon High School, sondern in ganz Tokyo. Und dennoch wagte es heute jemand ihm einen schiefen Blick zuzuwerfen und hinter einer Ausgabe der Schülerzeitung zu kichern. Nicht die beste Idee, sich gerade jetzt mit dem Dämon der Devil Bat’s anzulegen. Seine Hand verlagerte den Griff auf dem Sturmgewehr, ließ es von seiner Schulter gleiten, einen Halbkreis beschreiben und die Mündung schließlich, über den Rand der Zeitung hinweg, im Gesicht des vorlauten Mitschülers enden. „Ich hoffe der Witz ist gut.“ Hirumas Stimme triefte vor Süffisanz und dem Wissen, dass er die längeren Hebel in seinen langen, schlanken Fingern hielt. Der Adamsapfel seines Gegenübers bewegte sich auffällig, als dieser vergeblich versuchte den Kloß im Hals herunterzuschlagen. Hastig ließ er die Schülerzeitung los, als Hirumas freie Hand danach griff und beobachtete gefasst, wie dieser den Artikel las. Sein Herzschlag begann zu rasen, als er mit ansehen musste, wie das Grün in den Augen des Dämons sich unheilvoll verdunkelte und eine Ader auf der Stirn zu pochen begann. Heute war ein guter Tag zu sterben, dachte sich Inagi Takeru. Seine 17 Jahre waren erfüllt gewesen und heute hatte er sogar eine frische Unterhose an. Es würde also nicht ganz so peinlich werden, wenn Hiruma seinen Lebensfaden zerschießen würde. Er kniff die Augen zusammen und machte sich innerlich bereit für das Unabänderliche, doch nichts geschah. Vorsichtig öffnete er ein Auge und blinzelte verwirrt. Hiruma war weg, er stand allein in eine Bucht, die von eiligen Schülern umspült wurde und wirklich frisch, war seine Unterhose nun auch nicht mehr. Egal, er war am Leben. Beidhändig knüllte Hiruma das Käseblatt zusammen. Seine Augen wanderten die Wände hoch zu den Nummernschildern der Klassenräume. Irgendwo musste es doch sein – 3-2, 3-3, 3-4. Volltreffer! Und wie erwartet tat das Ziel seiner Suche genau das, was er erwartet hatte: sie saß allein an ihrem Fensterplatz und hatte ihre Nase in ein Lehrbuch gesteckt. Er runzelte bei diesem Anblick die Stirn. Es war ungewohnt sie nicht umringt von einem Pulk gackernder Freundinnen und schleimigen Strebern zu sehen. Fräulein Lehrerliebling, immer sittsam, gehorsam, perfekt, zielstrebig und in allem gut. Er gönnte sich ein Grinsen. Allem außer Kunst und moderner Technik. Hiruma holte aus. Erinnerungen brauchten etwas, um die Gedankenwelt einnehmen zu können: ein Wort, einen Geruch, einen Gegenstand. Für Mamori war das Footballfeld ein Auslöser. Stumm stand sie auf der Kuppe des aufgeschütteten Hügels, der bei Heimspielen als Tribüne herhielt und beobachtete die Szenerie. Ihre Finger umklammerten ein Stück mitgenommenes Zeitungsblatt. Sie wusste sofort, wer so dreist gewesen war, es ihr an Kopf zu werfen und dennoch hatte der Inhalt etwas in ihr dermaßen aufgerüttelt, dass sie bereit war sich ihm zu stellen. Ihre Gedanken flogen wild hin und her. Sie verglich das Chaos auf dem Feld, die Versuche Juumonjis seine Line in Zaum zu halten, Senas Schlichtungsversuche unter sich streitenden Neulingen und Monta, der zerstörte Gerätschaften aussortierte, mit den Worten in dem Artikel. Unfähig, wurden die Devil Bat’s darin genannt, überheblich und nicht in der Lage ihren Titel zu verteidigen. Jetzt, wo Hiruma nicht mehr den Lauf einer Beretta in Richtung Schülerredaktion richtete, wurde diese mutig genug, die Leistungen des Teams in Frage zu stellen und in den Dreck zu ziehen. Mamori hörte sich selber mit den Zähnen knirschen. So Unrecht hatten diese Möchtegernjournalisten nicht, wie sie zugeben musste. Sie hatte sich so lange vom Team ferngehalten, dass ihr entgangen war, welche Probleme die Neulinge machten. Vermutlich alles Emporkömmlinge, die keine Ahnung hatten, wie hart man für einen Sieg kämpfen mussten. Sie roch seine Duftmischung aus Haarspray, Bleichmittel und Schießpulver, noch bevor er zu sprechen begann. Irgendwann würde sie ihm sagen, dass er es schon längst nicht mehr schaffte, sich an sie heranzuschleichen. Die ständige Angst davor, heimlich beobachtet und in unmöglichen Situationen fotografiert zu werden, schärften die Sinne. „War mir nicht sicher, ob du es verstehst, Scheißmanager.“ Eine Lüge. Er konnte sich sicher sein, dass sie seine subtilen Hinweise jederzeit verstehen würde. „Warum greifst du nicht ein?“ Neben ihr zerplatzte eine Kaugummiblase. „Kann nicht.“ Welch Überraschung, es gab etwas, was diese Ein-Mann-Spionagezentrale, deren geniale Bösartigkeit selbst Fausts Mephisto wie einen Chorknaben aussehen ließ, nicht konnte. „Und das soll ich glauben?“ Er gab ein unwilliges Schnauben von sich. Anscheinend bestand ihre Beziehung noch immer aus gegenseitigem Verständnis für die einzelnen Schwächen und daraus folgender Provokation. Mamori wagte es ihm einen Blick zuzuwerfen. Sie fragte sich, ob es nur ihre Einbildung war oder er tatsächlich tiefe Augenringe hatte. Seine müde Erscheinung ließen in ihr alte Gefühle auftauchen und gleichzeitig die Erinnerung an böse, verletzende Worte und folgender, monatelanger Stille. „Was willst du von mir?“, fragte sie schließlich mit belegter Stimme. Es war klar, dass er sie nicht hierher manipuliert hatte, um sich zu entschuldigen oder an alte Zeiten zu denken. Argwöhnisch musterte sie ihn, hielt seinem gelangweilten Blick stand und wartete auf eine Antwort. Eine weitere Kaugummiblase zerplatzte. „Kümmer dich um den Zwerg!“ Schweigen. Was sollte man darauf auch sagen? Ein Teil in ihr sträubte sich gegen den Befehlston, der viel größere glotzte jedoch nur dümmlich und überfordert. „Bitte?“ Seine gelangweilte Miene veränderte sich nicht, als er mit dem Lauf seines Sturmgewehrs auf den Trainingsplatz zielte. „Siehst du den verdammten Schönling?“ Hiruma wartete, bis Mamoris Blick auf sein Opfer fiel. Wirklich ein Schönling: groß, schlank und er gab sich alle Mühe so attraktiv wie möglich seine kräftigen Finger durch das halblange Haar fahren zu lassen. Fehlte nur noch sanfter Wind in den schwarzen Strähnen und Mamori hätte sich als Heldin einer Shôjo-Serie gefühlt. „Er sägt an Senas Stuhl“, holte ihr Begleiter sie aus ihren Tagträumen zurück. Nach einer kurzen Zeit des Einfangens eigener Gedanken, fragte die Oberschülerin: „Was genau willst du?“ Es wollte ihr nicht in den Kopf gehen. Das ganze letzte Jahr hatte Deimons Dämon sich mit ihr gestritten, damit sie aufhörte sich um Sena zu kümmern, ihn nicht mehr zu windeln, wie er es so galant ausdrückte und nun sollte sie genau das auf seine Anweisung tun? „Ich will nicht, dass du ihn wieder an deiner Brust nuckeln lässt“, stellte er sofort klar und versuchte den drohenden Wutausbrauch ihrerseits soweit wie möglich zu ignorieren. Zum Glück schleppte sie nicht mehr überall einen Besen mit hin. „Ich will, dass du wieder Manager spielst.“ Nach allem, was geschehen war. Was er gesagt hatte, was sie gesagt hatte, das lange Schweigen, die Verletzungen. „Nein.“ Ihre eigene schrille Stimme erschreckte Mamori. Wieder zerplatzte eine Kaugummiblase. Sie hasste dieses Geräusch. Das Schmatzen, das Aufpusten, das Zerplatzen. Sie hasste alles an dieser Unart und es gab ihr den Mut weiterzusprechen. „Das ist verboten“, stellte sie unumstößlich fest. „Wenn ich das tue, verstoße ich gegen die Schulregeln und das kann zu einem Schulverweis führen. Das mache ich nicht.“ Soviel Ehrlichkeit ließ Hiruma nur die Augen rollen. Mit Sicherheit würde diese Ausgeburt an Tugend vor ihm keinen Schulverweis bekommen, bestenfalls einen Klaps auf den Hintern und ermahnende Worte. Manchmal wünschte er sich sie niederzustrecken und ihre schneeweißen Flügel mit Schmutz zu besudeln. Es war zu bedauern, dass ein derart talentierter Geist dermaßen spießig war. Mamori war bereits auf dem Rückweg zum Schulgebäude - sie wollte weder länger das chaotische Training, noch Hiruma sehen – als er sich dazu herabließ erneut mit ihr zu sprechen. „Und ob du das wirst.“ Der amüsierte Unterton ließ sie aufhorchen. Sie brauchte ihn nicht anzusehen, um zu wissen, dass er dieses gewisse Grinsen hatte, das sein Gesicht zu einer langgezogenen Fratze verzerrte. Dennoch drehte sie kampfbereit herum, stemmte die Arme in die Hüften und wünschte sich ihren Besen herbei. Ein Foto wurde ihr entgegengestreckt, noch bevor sie den Mund öffnen konnte. Sämtliche Farbe floss aus ihrem Gesicht. Dieser Bastard hatte das unselige Bild immer noch und vermutlich hatte er nur auf eine Gelegenheit gewartet es auch benutzen zu können. Sie machte aber auch wirklich nicht die beste Figur in diesem viel zu knappen Cheerleader-Kostüm. Ihre Ohnmacht dauerte nicht lange und sein gackerndes Lachen ließ den Stolz in ihr aufflammen. „Meinetwegen kannst du es überall in Tokyo aushängen, aber ich werde es dennoch nicht machen.“ Woher dieser Mut kam, wusste sie selber nicht. Vielleicht aus dem Unwillen auch jetzt noch nur eine seiner Puppen zu sein, vielleicht auch, weil sein überraschter Blick besser als jedes süße Teilchen war. Ihre innere Stimme wusste jedoch schon jetzt, dass sie es mit Sicherheit bereuen würde. „Oh, du wirst es tun, Scheißmanager.“ Hirumas Stimme war weder wütend, noch gereizt. Im Gegenteil, er betonte nonchalant jede Silbe. Mamori blies die Wangen auf und ihre Wut manifestierte sich in einem purpurroten Gesicht. „Hiruma-kun!“ Doch er war längst verschwunden, so wie er es immer tat, wenn es unangenehm werden konnte. Bis auf das leise Surren von Rollerblades, war es still im Clubhaus des Footballteams. Suzuna bemühte sich redlich optimistisch zu bleiben und zu helfen, wo sie konnte. Kein leichtes Unterfangen angesichts eines Raumes voller Müll und den langen Gesichtern ihrer beiden Freunde. Senas lautes, resigniertes Seufzen blies den letzten Funken Hoffnung in ihr davon und geschlagen ließ sie sich auf einem Stuhl nieder. „So werden wir nie gewinnen“, erklärte sie schließlich. Monta gab ihr nickend Recht, schwieg einen Moment und fuhr sich schließlich mit einem lauten Knurren durch die Haare. „So geht das wirklich nicht weiter.“ Wütend sprang er auf und stemmte beide Hände auf die Tischplatte. Sofort schnellte Suzuna vor und versuchte die umkippenden Miniaturausgaben der alten Devil Bat’s vor dem Umkippen zu bewahren. Sena hatte sie nicht wegwerfen wollen. Sie symbolisierten die wichtigste Zeit in seinem Leben und den Ursprung des glorreichen Teams. Monta schien derartige Sentimentalität nicht zu besitzen. Wie üblich erfüllte er die Klischees über ihn und benahm sich wie ein Dschungelkind, das von Affen aufgezogen wurde. „Es wird Zeit, dass du einschreitest“, fuhr Monta fort und wandte sich diesmal direkt an den neuen Captain des Teams. Dieser brummte nur etwas, was entfernt an ein „Weiß ich“ erinnerte und fuhr sich fahrig durch die schweißnassen Haare. Er war noch immer derjenige der am härtesten trainierte und heute hatte der Ärger nicht einmal lang genug auf sich warten lassen, dass Sena sich hatte umziehen können. Ausgestopft mit den Schutzpolstern, wirkte er seine gebrochene Haltung noch kümmerlicher. Er hatte gewusst, dass es anders werden würde ohne Kuritas sanfte Art, Musashis Gelassenheit und Hirumas Willen, der alle immer wieder antrieb, aber dass es so anders werden würde, überraschte selbst ihn. Allmählich wusste Sena nicht mehr, was er noch tun sollte. Er hatte Angst gegenüber Hiruma irgendwann eingestehen zu müssen, dass er als Captain so dermaßen versagte und nicht in der Lage war, all das, was jahrelang aufgebaut worden war, zusammenzuhalten. Kurz zuckte der Junge zusammen und blickte verwirrt auf, als warme Fingerspitzen über seinen Unterarm strichen. Halb verdeckt durch seine schweren, nassen Ponyfransen erkannte er Suzunas Gesicht. Ganz Cheerleader lächelte sie aufmunternd, wenn es auch ihre Augen nicht erreichte. „Du packst das schon.“ Pausenlos flogen die Finger über die Tastatur des Notebooks, gelegentlich begleitet von einem unheilvollen Kichern. Hiruma war nicht einfach nur gut gelaunt, er war in Höchststimmung und dabei jemandem das Leben schwer zu machen. Immerhin hatte er ein Hobby, das ihm Freude bereitete. Mit aufgerissenen Augen starrte Musashi über die Schulter seines Freundes und stieß ein beeindrucktes Pfeifen aus. Kein Wunder, dass der Blonde derart euphorisch war, das sah nach einer großen und äußerst teuren Gemeinheit aus. „Werbeplakate?“, fragte er fasziniert. Eine direkte Antwort bekam er nicht. Hiruma lachte nur laut auf und vertiefte somit die Falten in Musashis Stirn. Klarheit bekam jener erst, als auf dem Monitor ein Foto Mamoris auftauchte. Der Oberschüler stieß ein nachdenkliches „Oi“ aus, strich sich mit einer Vorahnung über die Bartstoppeln und raufte sich schließlich durch den herausgewachsenen Irokesen. „Das wird sie dir nie verzeihen.“ Hiruma kicherte laut, ließ sich von seinem Werk aber nicht abbringen. „Schnauze, alter Mann!“ Alter Mann – Takekura „Musashi“ Gen hatte sich längst daran gewöhnt, entsprach es in gewisser Weise doch der Wahrheit. Er war der einzige Mittelschüler mit ausgeprägtem Bartwuchs gewesen, den Klassenkameraden schon immer einen Kopf voraus und seine sonnengegerbte Haut ließ ihn mehrere Jahre älter aussehen. Für keinen anderen Oberschüler war es so einfach an Zigaretten zu kommen. Allein der Gedanke an einen Glimmstängel ließ ihn in die Tasche seiner weiten Handwerkerhose greifen und eine zerknautsche Packung hervorholen. „Ich will mich ja nicht einmischen“, erklärte er, während er sich eine Zigarette zwischen die Lippen klemmte, „aber du solltest ihr nicht noch mehr Stress machen.“ Hirumas Finger verharrten einen kurzen Moment über dem Notebook. Ein Zeichen dafür, dass Musashi einen Punkt berührt hatte. „So, Scheißmanager hat also Probleme?“, fragte er desinteressiert, während ein Sturmfeuerzeug klickte. „So what?“ Seine Finger setzen sich wieder in Bewegung. „Sie kann nicht immer everybody’s darling sein. Sie wird’s überleben.“ Langsam blies Musashi den Rauch aus. Das Verhältnis zwischen dem Ex-Quarterback und seiner Managerin war denkbar schlecht. Manchmal hatte er das Gefühl, dass beide nur bestimmte Meinungen vertraten, um gegeneinander kämpfen zu können. Arme Mamori, sie mag zwar Recht haben, aber ihr Feind hatte eindeutig den längeren Atem. „Schon mal dran gedacht, dich einfach zu entschuldigen?“ Mit einem lauten Klacken wurde das Notebook zugeschlagen. Es wurde ein Thema angesprochen, über das Hiruma auf keinen Fall sprechen wollte. „Es wird alles nach Plan verlaufen“, erklärte er, während seine schlanken Finger nach der Zigarette angelten. „Du kannst mit Frauen nicht umgehen.“ Möglicherweise ein wahrer Punkt, aber unerheblich. Es ging nicht darum mit Frauen umzugehen, sondern nur mit einem Mädchen, deren Intelligenz glücklicherweise nicht mit Gerissenheit zu verwechseln war. Hiruma nahm einen tiefen Zug und warf die halbgerauchte Kippe in eine Schubkarre gefüllt mit Sand. „Kommst du zum Spiel?“, versuchte er das Thema zu wechseln. Sein Gesprächspartner warf einen knappen Blick über die Schulter zu dem Rohbau eines Hauses und bohrte nachdenklich mit dem kleinen Finger im Ohr. „Nah, hab zu arbeiten.“ Kapitel 3: shrimp ----------------- Der appetitliche Geruch von mitgebrachten Leckereien hing in der Luft. Überall munteres Geschwätz, Diskussionen über die Spielzüge, Anfeuerungsrufe. Jedes Spiel hatte seine eigene Atmosphäre, die Schauer aus Freude und Stolz über die Haut laufen ließ. Zumindest war es in der Vergangenheit so gewesen. Mamori hatte es sich auf der Tribüne bequem gemacht und eine Bentobox zwischen sich und ihren Begleiter gestellt. Zum Essen kam sie jedoch nicht. „Suzuna-chan wirkt angespannt“, bemerkte Yukimitsu neben ihr. Er hätte es nicht extra erwähnen müssen. Die Tatsache, dass der Cheerleader-Captain kalkweiß auf das Spielfeld starrte und bisher nicht einen Anfeuerungsruf ausgestoßen hatte, konnte man tatsächlich als angespannt bezeichnen. Die Mädchen tanzten dennoch, wedelten mit ihren Plastikfledermausflügeln, bauten Pyramiden und jubelten, wo es nichts mehr zu jubeln gab. Tapfer und unerschütterlich versuchten sie dem Publikum etwas vorzumachen, während das Szenario auf dem Feld ihre Worte als Lügen bloßstellte. Es dauerte etwas, bis Sena seine Orientierung wieder gewann. Etwas unbeholfen tastete er nach seinem Helm. Sein Kopf brummte und die Sicht war verschwommen. Schlimmer als das, war jedoch das drückende Gefühl auf seinem Brustkorb. Erinnerungen an seinen ersten Zusammenstoß mit Shin Seijuuro stoben auf. Man fühlte sich, als würde einem das Leben für einen kurzen Moment herausgepresst werden. Eine Schraubklammer, die sich um den Oberkörper legte und immer enger gedreht wurde. Der erste tiefe Atemzug war schmerzhaft und ließ Tränen in die Augen steigen. „Kannst du spielen?“ Sena registrierte, dass die Frage nicht, wie üblich, von einem Schiedsrichter stammte, sondern von dem Gegner, der ihn eben zu Boden gestreckt hatte. Uemura Naoki, wenn er sich recht erinnerte. Langsam und schwerfällig erhob er sich. Sein Körper schien noch immer zu beben, aber er konnte stehen und somit auch spielen. „Ja, danke“, antwortete er höflich und wäre fast in die Knie gegangen, als Oujos Right End, Uemura, ihm freundschaftlich auf den Rücken klopfte. „Dann solltest du schnell eingreifen, bevor du nicht mehr spielen darfst.“ Sena war verwirrt und folgte einfach nur Uemuras Blick. Wäre er weniger zurückhaltend, hätte er bei dem, was er zu sehen bekam, einen lauten Fluch ausgestoßen, so brachte er seine wackeligen Beine nur dazu ihn so schnell wie möglich vorwärts zu bewegen. „Was hast du dir dabei gedacht?“ Juumonji nahm seinen Helm ab und fuhr sich fahrig über die kurzen Haare. Sein Gegenüber strapazierte seine Geduld. Noch viel mehr, als er einfach mit den Schultern zuckte und „Hab nicht aufgepasst“, antwortete. „Du hast nicht aufgepasst?“, wiederholte der derzeitige Center und versuchte verbissen sich ruhig zu halten. Sein Blut rauschte laut in seinen Ohren und er spürte den Drang einfach zuzuschlagen. „Es ist deine verfickte Aufgabe den Quarterback zu schützen“, presste er zwischen seinen Zähnen hervor. „Du hast Oujo damit direkt in die Hände gespielt.“ Der Schwarzhaarige zuckte erneut mit den Schultern. Seine Augen wanderten gelangweilt über das Spielfeld. War doch nicht seine Schuld, dass der berühmte Eyeshield 21 nicht so schnell war, wie alle glaubten und der Typ, den er blocken sollte nicht zu der Sorte Mensch gehörte, die man länger im Dunstkreis haben wollte. Der Mundgeruch war mörderisch gewesen. Überhaupt, war er als Lineman mehr als überqualifiziert und hatte eine diffizilere Position verdient, aber anscheinend musste man ein Hasenherz, Affe oder König der Idioten sein, um in dieser Mannschaft ernst genommen zu werden. Ein Rempler riss ihn aus seinen Gedanken. Ein weiterer folgte gegen seine Schulter. Kaum neugierig geworden, blickte er den Arm entlang und schaute schließlich in das wutverzerrte Gesicht Kurokis. Dessen ungewöhnlich große Lippen kräuselten sich angewidert und Zorn glomm in den wässrig-braunen Augen. „Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich meinen, dass du für den Gegner arbeitest.“ Yamanaka Masao antwortete nicht. Lediglich mit einem flüchtigen Blick versuchte er fest zu stellen, ob die anderen Neulinge in der Mannschaft sich hinter ihn stellten und eingreifen würden. „Erst die ständigen Shifts im Trainingsspiel und heute weichst du absichtlich dem Gegner aus. Der Zwerg hätte ernsthaft verletzt werden können.“ Kuroki tobte innerlich und würde liebend gerne die Fähigkeiten demonstrieren, wegen derer er als Nichtsnutz und Yankee galt. Sicherheit bekam er, als sich die Devil Bats, mit denen er gekämpft, gesiegt und auch verloren hatte, sich an seine Seite stellten. Von einem Emporkömmling, der gerade sein erstes offizielles Spiel hatte, würden sie sich das Turnier nicht ruinieren lassen. Als Masao eine unüberlegte, überhebliche Äußerung von sich gab, ging alles ganz schnell. Zu schnell für Sena, der glaubte den Schlag in Zeitlupe zu sehen. Es war nicht Kuroki der seine Faust erhoben hatte, sondern Togano. Es war fast zu lächerlich um es zu glauben. Normalerweise hatte der Brillenträger seinen Kopf entweder in einem Manga oder befolgte seine Aufgaben in der Line. Man vergaß fast, dass er einer der berüchtigten Ha-Ha Brüder war. Dennoch löste sein Schlag eine Kettenreaktion aus und Sena musste hilflos zusehen, wie sein eigenes Team sich gegenseitig malträtierte, schlug, trat und lächerlich machte. Er wollte laut seine Wut herausschreien und sie dazu bringen endlich aufzuhören, doch seine Stimme versagte. Er konnte nur voller Entsetzen zu sehen, wie jegliche Kontrolle verloren ging. Etwas in ihm fragte, ob es nicht besser gewesen wäre, niemals mit Football anzufangen. Es hätte ihn vor diesem hier bewahrt, vor dem Eingestehen, dass er ein noch viel größerer Versager war, als man ihn bisher glauben gemacht hatte. „Ich habe mehr von Deimon erwartet.“ Sena schreckte quickend auf. Diese Stimme neben ihm, weckte mehr als Erinnerungen. Sie war ein Teil des roten Fadens, der ihn durch die Welt dieses Sports geführt hatte. Er schluckte den bitteren Geschmack der Niederlage herunter und versuchte zu vergessen, dass er gerade wieder ein rückgratloser, unbedeutender Einzeller war. Flüchtig jagte der Gedanke durch seinen Kopf, ob jemand wie ER, jemand wie Shin Seijuuro, jemals den Glauben an sich und sein Team verlieren könnte. Fast ängstlich schaute er hoch und stellte fest, dass die Differenz zwischen ihnen nicht mehr so groß wie bei ihrem ersten Zusammentreffen war, damals, als der Linebacker von Oujo ihm zeigte, was wirklicher Schmerz ist und was es bedeutet ein Ziel zu jagen. „Ich auch“, gab er schließlich offen zu. Es gab keinen Grund etwas vor Shin zu verbergen. „Wirst du es hinbekommen?“ Sena presste die Lippen aufeinander, blickte vorsichtig zu seinem Team, das sich auf dem Boden raufte und nickte knapp und verlogen. „Ja“, antwortete er, ohne Zittern, Herzflattern oder Unsicherheit. „Irgendwie. Hoffe ich doch.“ Das erste offizielle Spiel der Devil Bats in diesem Jahr. Mamori hatte sich extra eine Auszeit gegönnt. Sie hatte sogar den Mut gehabt Yukimitsu anzurufen und ihn zu bitten sie zum Spiel zu begleiten. Wenn sie ehrlich war, hatte sie den Jungen nur gebeten, weil er keine Fragen stellen würde - warum sie Sena nicht herzlicher begrüßte oder enthusiastischer wirkte. Er würde ihre ruhige Miene hinnehmen, nicht nachfragen, ob sie die alten Zeiten vermisste, sondern einfach nur da sitzen und das Spiel aufgeregt beobachten. Dass es so enden würde, hatte keiner von beiden geahnt. Für Mamori war es ein Schock gewesen zu sehen, wie das Team versuchte sich gegenseitig zu zerfleischen, wie Sena hilflos auf den Schiedsrichter einredete und dieser nur immer wütender und ungehaltener wurde. „Anezaki-san?“ „Hm?“ Yukimitsu Manabus zurückhaltende, höfliche Stimme klang noch zaghafter als sonst, wenn er sie ansprach. Das Spiel oder was davon geblieben war, war bis in sein Mark gedrungen. Er fühlte sich betrogen und um seine, ihm mehr als wichtigen, Erlebnisse als Teil des Teams gebracht. Dennoch wagte er es, wenn auch unbewusst, die Erwartungen seiner Begleiterin zu enttäuschen. „Warum hast du Sena-kun nicht beigestanden?“ Die Frage kam unerwartet und das Mädchen brauchte einen Moment eine glaubwürdige Antwort zu finden. Die Wahrheit war, dass sie sich vor dem Spiel nicht traute. Allein die Erinnerungen waren schmerzhaft und die ersten Risse zu sehen, die entstanden waren, weil Hiruma nicht mehr Teil der Mannschaft war und alles, was sie mühevoll mit aufgebaut hatte, langsam zerbrach, konnte sie nicht über sich bringen. Nach dem Spiel war der Tumult zu groß gewesen. Es war, als würden alle wild durcheinander laufen und ihr immer wieder den Weg versperren. Vielleicht war es auch nur Einbildung und der Anblick ihrer gebrochenen Freunde, die entsetzt, enttäuscht und verwirrt vom Platz schlichen, hatte das bisschen Mut in ihr gänzlich zerbrechen lassen. Sie konnte sich einreden, dass es verboten war in der Mannschaft zu sein und sie Ärger bekommen würde, wenn sie ihnen half, doch die Wahrheit war schlichte Feigheit, gepaart mit etwas, das sie nicht einmal benennen konnte. Die Scham ließ sich kaum noch unterdrücken. „Ich denke, er wird erst einmal allein sein wollen“, antwortete die Oberschülerin schließlich ausweichend. Yukimitsu nahm es mit einem knappen Nicken hin. Es war nicht seine Aufgabe sich in die Beziehung zwischen ihr und Sena einzumischen, auch wenn ihm die Antwort unzureichend erschien. Mamori war stehen geblieben und erlaubte sich einen Blick auf das Flussbett. Ein kühler Frühlingswind fand in ihr, die einzige Erhabenheit auf dem flachen Damm, eine günstige Angriffsfläche. Ihre Hand wanderte zum Gesicht und versuchte die wehenden Haare zurückzuhalten. Schießpulver. Ein stechender Geruch, der sie immer wieder in der Nase kitzelte und diesmal irritiert um die eigene Achse drehen ließ. Ihre blauen Augen suchten hastig die Umgebung ab. Das Wasser hatte fast Höchststand. Es war unmöglich sich am Ufer zu verstecken und auf der Straße, die sich neben dem Damm dahinzog, konnte sie auch niemanden sehen. Vielleicht war es einfach nur ein Wind aus der Vergangenheit. Sie konnte gar nicht mehr zählen, wie oft sie auf dem Fahrrad diesen Weg gefahren war, immer der Mannschaft hinterher. Ein flüchtiges Lächeln huschte über ihr Gesicht. Ihr Begleiter erzählte irgend etwas, das sie nicht mehr wahrnahm. Ihr Verstand glaubte am Horizont rote Punkte auszumachen, die im Gleichschritt joggten. Nachdenklich starrte Sena auf die Delle im Spint. Er ignorierte, dass er nur ein Handtuch um die Hüften geschlungen hatte, dass es kühl in der Kabine war und das unablässig Wasser aus seinen Haaren auf den Boden tropfte. Alles was in seinem Kopf Platz fand, war der Schaden, den ein wütender Juumonji hinterlassen hatte. Benutzte Handtücher lagen verteilt auf dem Fliesenboden und Monta begann sie langsam aufzuheben und zu einem Haufen zusammen zu sammeln. Die Stille in dem Raum war erdrückend und erst jetzt wurde dem Wide Receiver bewusst, dass alles zu zerfallen drohte. Auf die Neulinge konnten sie nicht zählen. Masao hatte seine Leute um sich gescharrt, die einfach gegangen waren, jetzt wo das Team zusammenhalten musste. Die anderen waren entweder aus Wut oder Verlegenheit gefolgt. Das leise Quietschen der Tür ließ ihn herumfahren und verwundert inne halten. Vorsichtig blickte Suzuna herein. „Mein Bruder und Komusubi wollen noch zu Star Burgers, wollt ihr mi-“ Sie hielt inne, als sie Sena erblickte. Röte färbte ihre Wangen und einen flüchtigen Moment war sie gewillt die Tür wieder zuzuziehen, bis sie seine Augen sah. Monta zögerte einen Moment, blickte von dem Mädchen zu seinem Freund und wieder zurück. Wenn er sich anstrengte, wenn er ihn schüttelte und anschrie, würde Sena bestimmt wieder normal werden. Allerdings fehlte ihm die Kraft dazu. Er war müde, ausgezerrt und ihm fehlten die richtigen Worte Sena wirkungsvoll zu erreichen. „Ich komme mit“, erklärte er gekünstelt grinsend und schultere seine Sporttasche. Für Suzuna hatte er nur ein aufmunterndes Schulterklopfen, als er sie passierte und beide allein ließ. Die Rippe schmerzte und seine Erfahrung sagte Sena, dass der Tackle später deutlich als Hämatom zu sehen sein würde. Etwas legte sich über seinen Kopf und riss ihn aus seinen Gedanken. Endlich konnte er den Blick von Juumonjis Anklage an ihn als Teamführer wenden und starrte stattdessen in zwei blaue Augen, die ihn besorgt musterten. Für einen Moment glaubte er wieder der kleine Junge zu sein, der nur vorwärts kam, weil Mamori ihm den Weg zeigte und ihm sagte, was er zu tun und besser zu lassen hatte. Doch es waren nicht Mamoris Augen. Das Blau war intensiver, dunkler, fast ins Schwarz gehend und mit violettem Schimmer um die Iris. Auch war der Ausdruck anders. Diese Augen blickten ihn nicht wie ein kleines Kind an, dem man helfen musste, sondern sahen in ihm einen Mann. Gerader dieser Aspekt erschreckte ihn zutiefst. Sie würde ihm nicht helfen, indem sie ihm seine Tränen trocknete und ihm erklärte, dass er eben etwas machen sollte, was besser zu ihm passen würde. Ihre Hilfe bestand darin, immer da zu sein, wenn er sich den Hürden stellen würde, ihn immer wieder hochzuziehen und anzustiften weiter zu machen, egal wie schwer es sein würde. Suzuna musste sich strecken, um seinen Kopf erreichen zu können. Langsam aber stetig, war Sena gewachsen und sie bemerkte erst jetzt wie groß er wirklich geworden war. „War Hiruma-senpai da?“ Das Mädchen blinzelte verwirrt. Senas Stimme hörte sich müde und verbraucht an. „Nein.“ Sie erwartete Enttäuschung in seinem Gesicht, aber alles was sie dort sehen konnte, war Erschöpfung und Scham. Sofort wand sie ihren Blick ab und rubbelte nur noch nahezu mechanisch seine Haare trocken. Es gab auch nichts mehr zu bereden, keine Worte die ihn hätten trösten können. Sie alle waren müde, erschöpft und enttäuscht von sich selbst. „Ich weiß nicht, wie ich ihm gegenübertreten soll.“ Es war Sena, dessen heiseres Flüstern die Stille unterbrach. Noch vor Kurzem reichte es ihm zu versichern, dass die Neulinge sich erst einleben mussten, dass sich alles legen würde, sobald sie erst einmal an einem richtigen Spiel teilgenommen hatten, um ihn wieder aufzurichten. Diesmal wussten beiden, dass das nur Augenwischerei wäre und alles so unendlich kompliziert war. Sie hätte ihm gern gesagt, dass er Hiruma nicht brauchte, dass er auch allein ein guter Captain war, aber mittlerweile sah sie ein, dass der Junge überfordert war. Sein ganzes Denken war darauf ausgerichtet gewesen die Befehle des Quarterbacks zu befolgen. Er musste sich nicht um Mannschaftsaufstellungen, Spielzüge, Trainingspläne und Besorgungen kümmern, dafür waren Hiruma, Mamori und wenn er nüchtern war, auch Doburoku da gewesen. Suzuna wusste ihm nicht anders zu helfen, als einfach weiter seine Haare zu trocknen und ihm mit einer beiläufigen Geste eine nasse Strähne aus der Stirn zu streichen. Es war nichts romantisches daran, also war es unwichtig, dass er halb nackt war und beide eigentlich vor Scham sterben müssten, dass sie ganz allein waren, sie es gewagt hatte ihn bewusst zu berühren und er es morgen ohnehin vergessen, verdrängen oder erst gar nicht glauben würde. Wichtig war nur dieses Gefühl, dass alles gut werden würde und die Rettung schon unterwegs war, dass er diese schwere Bürde nicht allein tragen musste und er nicht fallen gelassen wurde, obwohl er es vielleicht verdiente. Kapitel 4: fuckin' manager -------------------------- Grauer Stahl, an dem sich Rost unter dem abblätternden Lack zeigte. Kalte Luft strömte durch die Ritze zwischen Treppenabsatz und Tür. Jemand hatte Nachrichten in die oberste Farbschicht geritzt, die dunkelgrau schimmerten. Namen, Fratzen, sogar etwas, das entfernt nach einem Spielzug aussah. Es war unverkennbar, wessen Revier sich hinter dieser Tür befand. Das Dach war kein Ort für brave, sittsame Schüler, sondern ein Rückzugsort für Paare und Personen, welche die Gesellschaft der anderen nicht auf sich nehmen wollten. Mamoris Herz klopfte. Nervös leckte sie sich über die trockenen Lippen, streckte ihre Hand nach dem Griff und verharrte einige Zeit in dieser Position. Sie musste sich über sich selber wundern. Früher hätte sie ohne zu zögern die Tür aufgestoßen und in ihrer Position als Sittenwächter der Schule Verwarnungen und Verweise für unzüchtiges Verhalten und Rauchen verteilt. Diesmal lag die Situation anders. Es kam einem Gang nach Canossa gleich und es demütigte sie zutiefst sich eingestehen zu müssen, dass sie ihm mal wieder auf den Leim gegangen war. Wind und viel zu heller Sonnenschein schlug ihr entgegen, als sie sich endlich dazu durchgerungen hatte die Tür aufzustoßen. Geblendet blinzelte die Oberschülern, hatte aber dennoch eine Ahnung von den fragenden Blicken die auf ihr ruhen mussten. Mit wackeligen, vorsichtigen Schritten trat sie auf das Schuldach. „Anezaki?“ Die Angesprochene lächelte flüchtig. Musashis Stimme zu hören, war ein Trost und sie hätte den Jugendlichen unter anderen Umständen stürmisch umarmt und ihm immer wieder versichert, wie dankbar sie war, dass er sie nicht mit IHM allein ließ. Sie beließ es dabei ihn anzusehen, noch einmal zu lächeln und zu registrieren, dass er einige Schulbücher neben sich liegen und etwas Mayonnaise von seinem Sandwich im Gesicht verschmiert hatte. Anscheinend nutzte er die Möglichkeit in der Schule zu lernen, immerhin hatte man sonst wenig Zeit, wenn man fast seine ganze Freizeit auf einer Baustelle verbrachte. Verhalten grinsend strich sich Mamori mit der Fingerspitze über der Wange. Musashi verstand diesen Wink sofort und wischte sich hastig mit seinen großen, verhornten Fingern über das Gesicht. „Was führt dich her?“, fragte er nuschelnd, während er sich die Mayonnaise vom Finger leckte. Er wusste selber, dass diese Frage überflüssig war. So gern er auch mit dem Mädchen geplaudert hätte, ein besorgter Blick ihrerseits auf den blonden Schopf neben ihm, sagte mehr aus als eine lange Erklärung. Hiruma schien nicht zu reagieren. Mit dem Rücken gegen den hohen Maschendrahtzaun gelehnt, saß er auf dem Betonboden und tippte unablässig auf seinem Notebook. Selbst Musashi, seinem engsten Vertrauten, wäre das belustigte Zucken des Mundwinkels fast entgangen. Bastard, dachte dieser amüsiert und bohrte unbewusst mit einem Finger im Ohr. Selbstverständlich registrierte Hiruma alles, was in seiner Nähe vor sich ging und er wusste auch, dass sie nach der Katastrophe am Wochenende zu ihm kommen würde. Dennoch gönnte er es dem Mädchen nicht auch nur so zu tun, als würde ihre Anwesenheit ihn interessieren. Er blickte sie nicht einmal an, als sie so nah an ihn herangetreten war, dass ihr Schatten über ihn fiel. Mamoris Herz schlug heftig gegen ihre Rippen und sie hoffte, dass niemand außer ihr es hören konnte. Nervös strich sie eine Strähne hinter ihr Ohr, biss sich auf die Unterlippe und zupfte an dem Saum ihres, plötzlich viel zu kurz erscheinenden, Rockes. „Können wir reden? Allein?“ Es klackte leise, als das Notebook zugeklappt wurde. Unbeteiligt lehnte er an der Wand nahe des Fensters, die Arme abwehrend vor der Brust verschränkt und den Blick auf den Sportplatz gerichtet. Außer den Leichtathleten trainierte um diese Zeit niemand. Es war Freitag und die meisten Arbeitsgemeinschaften und Zirkel trafen sich heute nicht nach dem Unterricht. Lediglich ein paar unerschütterliche Schüler, die entweder in Ruhe lernen oder keinen Grund hatten schon zu gehen, befanden sich noch im Schulgebäude. Mamori konnte sich sicher sein, dass sie nicht gestört werden würden und gleichzeitig hoffte sie gerade darauf. Hiruma schien ihr minutenlanges Schweigen hinzunehmen, obwohl sie es war, die dieses Gespräch gesucht hatte. Nun saß sie auf einem der leeren Plätze, möglichst weit weg von ihm und kam sich verloren vor. Der Klassenraum erschien ihr noch größer als sonst und sie begann sich zu fragen, ob Hiruma überhaupt noch Notiz von ihrer Anwesenheit nahm. Unbemerkt für sie, blickte er knapp zu ihr, als Mamori sich laut räusperte. Sie konnte ihn nicht ewig hier festhalten und wollte ihn auch nicht länger als nötig in ihrer Nähe wissen. „Warum greifst du nicht ein?“ Er schnaubte amüsiert über ihre Frage, wandte seinen Blick aber nicht von den Leichtathleten ab. „Ist das alles, was du wissen willst?“ „Natürlich nicht.“ Die Oberschülerin wagte es ihn anzusehen. Erleichtert stellte sie fest, dass seine stechenden Augen nicht auf sie gerichtet waren. „Es gibt vieles, was ich wissen will. Unter anderem, warum du nichts tust. Und erzähl mir nicht, dass du Angst wegen der Schulregeln hast.“ Sie zuckte zusammen, als er begann seine Aufmerksamkeit vollständig auf sie zu richten. Sein Gesicht war ein einziges großes Grinsen. „Stimmt. Vor sowas haben nur Leute wie du eine verfickte Angst, Fräulein Lehrerliebling.“ Er schaffte es immer wieder sie so sehr zu reizen, dass sie ihre Wangen aufplusterte und die Fassung zu verlieren drohte. Lediglich ein Gedankenblitz, verursacht durch ein schnell zu übersehendes Zucken in Hirumas Fingern, hielt sie davon ab einen Streit erst aufkommen zu lassen. Überrascht hob sie beide Brauen und blickte ihn fragend an. „Was hast du vor?“ Mag sein, dass sie leicht zu manipulieren, ihre überfürsorgliche Art nervend und sie teilweise ein riesiges Problem war, aber auf ihrem hübschen Hals steckte noch immer einer der klügsten Köpfe der Schule, der ihn außerdem gut genug kannte, jede Veränderung an ihm sofort zu erkennen und die nötigen Schlüsse zu ziehen. Früher war es von Vorteil gewesen, dass sie als Managerin sofort wusste, was er wollte, ohne dass er ein Wort aussprechen musste, heute war es immerhin noch ein bewundernswertes Kunststück. „Wirst du noch früh genug erfahren“, erklärte der Jugendliche mit einem extrabreiten Grinsen, das dem Mädchen sogar ein Schmunzeln abrang. Wie in alten Zeiten. Er hatte einen Plan und sie hatte dafür zu sorgen, dass es funktionieren würde. Anscheinend würde sie nie ihre Stellung als seine Managerin, Assistentin und rechte Hand verlieren, selbst dann, wenn sie es mehr als alles wollen würde. Ergeben seufzte sie. Nur dieses eine Mal, nahm sie sich vor. Nur dieses eine Mal noch, würde sie nach seiner Pfeife tanzen, brav das erledigen, was er von ihr verlangte und wenn es vorbei war, wieder versuchen sich von diesem verrücktgenialen Manipulator zu lösen. Hiruma stieß sich von der Wand ab und schritt durch einen der Gänge zwischen den paarig angeordneten Sitzplätzen. Seine schmalen Hände steckten in den Hosentaschen und ausnahmsweise war er weder bewaffnet, noch hatte er sein Notebook bei sich. Ein Zugeständnis an seine Gesprächspartnerin. Sie hasste Waffen und er wollte sie diesmal nicht unnötig aufregen oder misstrauisch machen. Gelegentlich war es besser etwas Diplomatie walten zu lassen. Er blieb neben ihr stehen und erschuf eine rosafarbene Kaugummiblase. „Vorerst reicht es, wenn du ihnen als Managerin unter die Arme greifst“, erklärte er, nachdem er die Blase platzen gelassen hatte. Seine durchdringenden Augen richteten sich auf ihr Gesicht. Ein weiteres Zugeständnis, das dem Mädchen zeigte, dass er sie zumindest wahrnahm, während er seine Befehle erteilte. „Du hast mehr Erfahrung darin, als die Zwergin und wärst auch in der Lage diese beschissenen Debütantinnen unter Kontrolle zu halten.“ Fast war Mamori gewillt über soviel Zugeständnis in ihre Fähigkeiten zu lächeln, allerdings klang es auch nach Hohn, nach all seinen Vorwürfen an ihrem letzten Tag als Teil des Teams. Der Streit war tiefgehend und bösartig gewesen. Er hatte ihr Verhalten kritisiert, ihre Frechheit sich in seine Angelegenheiten einzumischen und ihren Charakter. Vielleicht hatte er Recht gehabt, mit Sicherheit hatte er damals Gründe sich aufzuregen, aber seine Worte waren zutiefst verletzend gewesen, so dass Mamori mehr als erschüttert gewesen war. Eskaliert war alles, als sie begonnen hatte sich zu verteidigen, bis ihre Gefühle nicht mehr zu kontrollieren und Tränen geflossen waren. Sie blickte in sein Gesicht, wartete, dass er weitersprach und bemerkte, dass sowohl damals, als auch heute noch immer kein Hass zwischen ihnen herrschte, nur verletzte, bittere und unverarbeitete Gefühle. „Versuch einfach diesen Haufen Idioten auf den Boden der Tatsachen zu bringen“, fuhr Hiruma mit seinen Forderungen fort, „und sorg dafür, dass der Scheißzwerg zu alter Form zurückfindet. Um alles weitere kümmere ich mich.“ „Hiruma-kun?“ Abwartend beobachtete er, wie die Oberschülerin sich auf die Lippe biss. Ihre Finger verkrampften sich um den Saum ihres Rockes. Sie war mehr als angespannt und vermied es diesmal ihn direkt anzusehen. „Ich will, dass du weißt, dass ich es nicht wegen dir tun werde.“ Fragend hob sich eine seiner Brauen. Im Prinzip war es egal, aus welchen Gründen sie es tun würde, das Ergebnis war wichtig. Ohnehin hatte er damit gerechnet, dass die Katastrophe vom letzten Spiel sie eher dazu bewegen würde, nach seinem Willen zu arbeiten, als die Androhung ihr Foto zu veröffentlichen. Nichtsdestotrotz war es gut ein Druckmittel in der Hinterhand zu behalten. Das Mädchen war zu emotional und bei ihren Launen war es wichtig etwas zu besitzen, um sie unter Kontrolle halten zu können - auch wenn er zugeben musste, dass sie effektiver zu benutzen war, wenn sie aus freien Stücken arbeitete. Er zuckte die Schultern und murmelte ein knappes „Scheiß egal“, bevor sein Oberkörper sich etwas näher zu ihr hinunter beugte. „Mach trotzdem, was ich dir sage, Scheißmanager!“ Ruckartig fuhr Kurita auf und rieb sich den Hinterkopf. Nur sein Vater war in der Lage ihm einen derart wohldosierten Schlag zu verpassen, dass er Schmerz verspürte und kein Hilfsmittel, wie ein Schläger oder Eisenrohr zu Bruch gehen musste. „Ryokan! Pass gefälligst auf!“ Drohend stand Kuritas Vater hinter ihm, die Miene finster, die Hände in den weiten Ärmeln der Mönchsrobe versteckt. Der massige Jugendliche seufzte. Seine Füße waren eingeschlafen. Sein Gewicht vertrug sich einfach nicht mit dem Lotus-Sitz und sein Geist nutzte das Zazen – die Meditation – ohnehin immer zum Übergleiten in die Traumwelt. Das Mönchsgewand juckte, das Armband aus dunkeln Holzperlen schnürte ihm das Blut zur Hand ab und die meisten Übungen langweilten einfach nur. Er würde vermutlich niemals ein guter Mönch werden, aber sein Vater gab sich dennoch alle Mühe ihm die Lehren des Zen beizubringen. Der alte Mann hoffte inständig, dass sein einziger Sohn einmal den Tempel übernehmen würde. Kurita fand das Ganze zu schnell und zu übertrieben. Man konnte mit der Kutte schlecht Football spielen und so, wie die Sache aussah, würde seine Vater ohnehin noch sehr lange leben, brüllen und beten, immerhin war er noch nicht so alt und bei bester Gesundheit. „Du träumst ja schon wieder“, bemerkte Ryokans Vater streng. Glücklicherweise musste Buddha den kläglichen Versuchen von Religiosität zugesehen haben und schickte einen jungen Mönch, der eine Art Mädchen für alles im Tempel darstellte, um Ryokan vor einem weiteren Klaps auf den Hinterkopf zu verschonen. Sein Vater stoppte die Hand auf halbem Weg und drehte sich zu dem Ankömmling, der etwas unsicher in der Tür stand. „Was denn?“ Der junge Mönch zuckte zusammen. Die Stimme von Bruder Kurita war einfach nur angsteinflößend. Eingeschüchtert versteckte er sich halb hinter der Schiebetür. „Es ist Besuch für Ryokan-kun gekommen.“ Juumonji stand Kuroki und Togano nahe, sehr nahe sogar, aber auch für ihre Art Beziehung war diesmal zu wenig Distanz gegeben, zu dem kam noch, dass vermutlich gerade eine seiner Rippen gebrochen worden war. „Kurita-senpai“, japste der hochgewachsene Junge, während die Arme Ryokans sich wie Schraubstöcke immer enger um ihn und seine beiden Freunde zogen. Unter normalen Umständen hätten alle drei vermutlich schon längst zugeschlagen und damit innere Blutungen verhindert, aber der große, massige Oberschüler hatte Tränen der Freude in den Augen. Erst, als Togano das Bewusstsein zu verlieren drohte, ließ er die drei Ha-Ha-Brüder los. Nach Luft hechelnd krabbelten sie auf die Sitzkissen zurück und begannen ihre Körper nach Verletzungen abzutasten, während ihr Gastgeber sich aus dem Raum schlich. Kurita war in manchen Fällen wie ein großer Hund, der einen anspring, zu Boden riss und hocherfreut abzulecken begann, während sein Gewicht den Brustkorb des Opfers zu deformieren drohte. Er meinte es nicht böse, aber mit dem Gemüt eines Kindes war soviel Kraft nur schwer zu kontrollieren. Alle drei Jungs zuckten zusammen, als ihr Gastgeber zurückkehrte und ein übergroßes Tablett auf den Tisch knallte. Mit einem großen Lächeln breitete er die Arme aus und schaffte es kaum damit die Fülle an Reisbällchen, Süßigkeiten, eingelegtem Gemüse und panierten Kleinigkeiten zu umfassen. „Bedient euch! Alles Opfergaben und es sind noch jede Menge da.“ Kuroki zögerte nur kurz, bevor er der Einladung folgte und seine Mundhöhle mit Essbarem auszustopfen begann. Er war ein Jugendlicher im Wachstum, noch dazu Lineman, da verbrauchte man viel Energie und zu Hause gab es ohnehin nur Fast Food und Instantnudeln. Die Reaktionen darauf waren unterschiedlich: Togano stimmte mit ein, Kurita lächelte zufrieden und Juumonji hob missbilligend eine Braue. Sie waren nicht hierher gekommen um sich den Bauch zu füllen, auch wenn es ein positiver Nebeneffekt war. Seufzend begann der Junge mit den kurzen, gebleichten Haaren und der signifikanten Narbe auf der Wange sich den Nacken zu reiben. „Kurita-senpai?“ Noch vor Monaten hätte er sich lieber die Zunge abgebissen, als jemanden mit diesem Suffix anzusprechen, aber dieser Berg von Mensch vor ihm, war für Juumonji Kazuki ein Vorbild. Kurita war eine Heulsuse mit einem kindlichen, fast idiotisch naiven Gemüt, allerdings auch der beste Center, den japanisches High School Football zu bieten hatte. Er hatte Fußstapfen hinterlassen, die Kazuki kaum ausfüllen würde können. Davon abgesehen war Kurita stolz darauf von seinen ehemaligen Schützlingen mit –senpai angesprochen zu werden und lächelte jedesmal vergnügt darüber. „Hm?“, murmelte der Angesprochene und schluckte laut ein Stück Kuchen herunter. „Nun ja, wir sind nicht einfach so vorbeigekommen“, gab Juumonji schließlich zu. Kuroki stopfte sich noch einen Reiskuchen in den Mund, bevor er mit vollen Backen nuschelte: „Wir wollten dich bitten uns zu trainieren.“ Stille. Kurita starrte seine Gäste verblüfft an. Seine Augen wurden immer wässriger und schließlich hatte er seine dicken Armen ausgebreitet um die Drei noch einmal zu umarmen. Sofort gingen diese auf Abstand und hoben abwehrend die Hände. „Schon gut, schon gut“, quiekte Togano nahezu panisch und spürte, wie sich kalter Schweiß am inneren Brillenrand sammelte. „Sag erst einmal ja.“ Sofort schlug Kuritas Stimmung um. Betreten schien er in sich zusammenzusinken und vermied krampfhaft jeden Augenkontakt. „Also wisst ihr“- angespannt nestelte an seiner Kleidung, gegen die er das Mönchgewand getauscht hatte - „das ist nämlich so“ - und biss sich auf die Unterlippe – „ich darf das nicht.“ „HAA?“, stießen die drei Jungs unisono aus und verdeutlichten, warum man sie Ha-Ha-Brüder nannte, obwohl sie nicht einmal blutsverwandt waren. „Was soll das heißen?“, fragte Juumonji mit scharfer Stimme und zwang Kurita damit, ihn anzusehen, selbst wenn es nur flüchtig und eingeschüchtert war. „Hiruma hat verboten, dass ich mich der Mannschaft nähere“, wimmerte der ehemalige Center wie ein kleines Kind, das zugeben musste ein Fenster zerbrochen zu haben, „und ihr wisst, wie er sein kann.“ Das wussten sie allerdings und jeder einzelne hing kurz Erinnerungen nach, in denen auf sie geschossen wurde, Nacktbilder von ihnen ausgehängt oder sie von Cerberos gejagt wurden. Hiruma trug seinen Spitznamen „Commander of Hell“ immerhin nicht nur, weil er ein Trickser und genialer Stratege mit dem Äußeren eines Dämons war. „Und?“ Es war Juumonji der das kurzzeitige, betretene Schweigen unterbrach. „Er muss es ja nicht wissen.“ Natürlich wusste Kazuki, dass Hiruma diese Art Privattraining unter keinen Umständen entgehen würde, aber er hoffte inständig, dass er darüber hinweg sehen würde. Er konnte nur darauf vertrauen, dass der ehemalige Captain noch genug Verbindung mit den Devilbats spürte, um Kurita in dessen Freizeit einfach zu ignorieren. Momentan war er die einzige Anlaufstelle für die Line. Sie hatten noch nicht genug gelernt und nach dem Weggang der drei Teamgründer war niemand geblieben, der ihnen wirklich helfen konnte. Doburoku mochte vielleicht das Vertrauen Hirumas und viel Wissen besitzen, aber es fehlte ihm mittlerweile an Kraft, Willen und Nüchternheit um noch effektiv mit ihnen trainieren zu können. Zudem hatte er meist ohnehin damit zu tun Masao und seine Freunde zurechtzuweisen. Man konnte Kurita ansehen, wie er angestrengt darüber nachdachte. Die Aussicht wieder richtig Football spielen und nicht nur eine Mischung aus Sumo und Passwerfen mit Komusubi zu fabrizieren, war verlockend, andererseits gab es da noch das Verbot von Hiruma. Er hielt beide Hände mit den Innenflächen nach oben auf gleicher Höhe und begann mental die Pros und Contras darauf zu verteilen. Die verwirrten Blicke der Ha-Ha-Brüder ignorierend kam er schließlich zu einer Entscheidung, die in ihm gemischte Gefühle auslöste. „K-kein Wort darüber zu Hiruma – okay?“ Kapitel 5: welcome back ----------------------- Es war Montag Nachmittag und lautes Gebrüll erfüllte die Luft um das Footballfeld der Deimon High. Jugendliche in voller Montur stemmten sich gegen einen improvisierten Dummy aus zusammengebundenen Fässern auf geräderten Holzpaletten. Eine von Doburokus unverkennbaren Konstruktionen, die herhalten musste für das eigentliche Gerät, welches nur noch ein Haufen Schrott im Schatten des Clubhauses war. Gegenüber der Line trainierte der neue Kicker. Sena hatte die zweifelhafte Ehre ihm als Holder zu assistieren und konnte gerade noch rechtzeitig seine Finger zurückziehen, als der Ball getroffen und im hohen Bogen auf das Tor zuflog. Hinter dem Kick steckte eine beeindruckende Kraft, jedoch keine Präzision und mit einem lauten „Klong“ prallte der Ball vom linken Torpfosten ab. Von dem Hügel zwischen Schulgebäude und Feld hatte Mamori Übersicht über das gesamte Feld. Nachdenklich beobachtete sie das Passtraining Montas mit einem schlaksigen Jungen, dessen Trikot ein paar Nummern zu weit wirkte. Sie sah zu, wie Juumonji versuchte seine Line anzutreiben, Suzuna immer wieder Getränke verteilte und Taki mit einem anderen Jungen das Leiterlaufen absolvierte. Es wirkte normal und dennoch bekam Mamori ein flaues Gefühl im Magen. Nichts wirkte harmonisch oder zielgerichtet. Doburoku war kurz davor zu resignieren. Er hatte es geschafft eine Bande Straßenkinder und einen Jungen, der an seinen netten Tagen als bösartig gerissen zu bezeichnen war, zu trainieren, aber diesmal schien er an seine Grenzen zu geraten. Er stürzte einen Schluck Sake seine Kehle hinab, bevor er, mit dem Tonkrug in der Hand, neue Anweisungen über den Platz brüllte. Erst als er eine Bewegung in seinen Augenwinkeln sah, hielt er inne und drehe sich grinsend zu dem wohlbekannten Duft aus Vanille und Pfirsich um. Sein Lächeln wurde noch um einiges breiter, als er die rote Trainingshose und das weiße T-Shirt bemerkte. „Ich wusste, dass du kommen wirst“, begrüßte er Mamori ohne Umschweife und hätte am Liebsten laut gelacht, als das Mädchen nur fragend eine Braue hob. „Du kannst ihm eben nichts abschlagen.“ Der alte Trainer fröstelte leicht, als die Aura um Mamori schlagartig kälter wurde. „Ich bin nicht wegen ihm hier“, erklärte sie eindringlich. „Natürlich.“ Doburokus Stimme war voller sanftem Spott. Er setzte den Tonkrug an seine Lippen und nahm einen weiteren Schluck Sake. „Hauptsache, du bist hier.“ Mamori lächelte. Ihr wurde erst jetzt bewusst, wie gern sie solche Worte hören wollte. „Man kann vieles über den Jungen sagen“, fuhr der alte Mann fort und riss die Aufmerksamkeit des Mädchens wieder an sich, „aber die Devilbats würde er nie im Stich lassen.“ Artig nickte Mamori. Sie nickte auch, als ihr Gesprächspartner von Hirumas Lebensziel sprach. Ein bisschen vermessen vielleicht, denn wirklich konnte niemand wissen, was in dem Kopf des Jungen vorging. Erst, als Doburoku ein wundes Thema anschnitt, blickte sie ihn aufmerksam an. „… und du als gute Freundin, tust natürlich alles, um ihm zu helfen.“ Ihre Augen verengten sich zu kleinen Schlitzen. Der alte Mann war wenig beeindruckt. Amüsiert zuckten seine Mundwinkel, während er den Sakekrug wieder zu seinem Mund führte. „Ich bin nicht seine Freundin.“ Wenn man zusah, wie ihre blauen Augen funkelten, die Nasenflügel bebten und die Wangen sich tiefrot färbten, konnte man nachvollziehen, warum Hiruma das Mädchen zu gern aufregte. Beruhigend versuchte er ihr auf die Schulter zu klopfen, was sich als recht schwer erwies, da er um einiges kleiner war. „Wie auch immer“, erklärte er gelassen. „Hauptsache, ihr reißt euch wieder zusammen.“ Mamori rollte mit den Augen. Sie hatte keine Lust weiter über Hiruma zu reden, schon gar nicht, weil es für Doburoku ohnehin nur ein Spaß war. Sie schüttelte den Kopf. Wenn sie noch länger zuließ, den alten Mann darüber reden zu lassen, würde er früher oder später nur auf seine Theorie zurückkommen, dass es zwischen ihr und dem Ex-Quarterback schon lange funkte. Um sich abzulenken ließ sie ihren Blick über das Feld schweifen. Nachdenklich beobachtete sie einen Jungen, der ihr bekannt vorkam. Unbeteiligt saß dieser im Gras, den Helm neben sich gestellt, den Oberkörper zurückgelehnt und auf die Arme gestützt. Er beobachtete die Linemen und gönnte sich immer wieder ein Grinsen, mal gehässig, mal schlicht amüsiert. „Wer ist das?“, fragte Mamori und zeigte mit dem Kinn in die Richtung des Schwarzhaarigen. Doburoku neben ihr strich sich mit nicht deutbarer Miene über den Bart und nickte knapp. „Warum trainiert er nicht?“ Die Runzeln im Gesicht des alten Mannes vertieften sich noch mehr. Es war unübersehbar, dass er nicht all zu viel von dem Jungen hielt. Erstaunlich, wenn man bedachte, was für besondere Charaktere er schon unter seiner Obhut hatte. „Weil er eben Yamanaka Masao ist“, antwortete er einen Hauch zu genervt. „Ich kann froh sein, wenn er nicht schon wieder Ärger macht.“ „Warum ist er dann überhaupt noch im Team?“ Es war mit Sicherheit eine berechtigte Frage, auch wenn Mamori noch nie erlebt hatte, dass irgend jemand aus der Mannschaft geworfen wurde. Bisher hatte Hiruma es immer nur mit sehr viel Überredungskunst geschafft gerade so die erforderliche Zahl für ein Spiel zusammen zu bekommen. „Er ist eben Yamanaka Masao“, erwiderte Doburoku und knirschte mit den Zähnen. Bevor Mamori ihre Meinung zu der kryptischen Aussage kund tun konnte, bemerkte sie, dass sie die Aufmerksamkeit Masaos auf sich gezogen hatte. Ruhig beobachtete sie, wie dieser sie unverhohlen musterte. Langsam erhob er sich, klopfte den Dreck von seiner Hose und schlenderte auf das Mädchen und den Trainer zu. Er hatte diese Aura, die Mamori mittlerweile abstieß: sich seiner Wirkung bewusst und jeden mit seinem Ego erdrückend. „Gut, dass du kommst“, begrüßte der alte Mann neben Mamori den Ankömmling, der keine Notiz davon zu nehmen schien. „Darf ich dir Anezaki Mamori vorstellen?“ Flüchtig wanderte ein Blick voller jugendlicher Überheblichkeit zu Doburoku. Im Gesicht klebte ein Lächeln, dass Masao wohl als charmant empfand. Das Mädchen nutzte die Gelegenheit den Jungen genauer zu mustern. Er war attraktiv und trotz seiner Größe wirkte er nicht schlaksig oder unbeholfen. „Hallo“, raunte er und verblüffte Mamori mit einer sehr tiefen Stimme. Dieser Junge musste der Traum aller Mädchen in der Mittelschule gewesen sein und gab sich nun die Ehre die Deimon High zu besuchen. „Äh, hallo“, entgegnete das Mädchen und versuchte verzweifelt nicht zu kichern. Es fiel ihr schwer, sein offenes Interesse ernst zu nehmen. Bevor er auf die Idee kam sie mit einem weiteren Lächeln zu entzücken, verabschiedete sie sich mit einem „Ich sollte dann mal Suzuna-chan helfen“ und trat einen taktischen Rückzug an. Aufgeregt hüpfte Monta durch das Clubhaus, sprang auf den Tisch in der Raummitte, auf dessen Platte ein kleines Footballfeld geklebt worden war und hängte sich schließlich an die Lampe, um hin und her zu schwingen. Noch gestern hätte er vermutlich einen Berg aus Gerümpel heruntergerissen und den Fußboden endgültig unter Müll verschwinden lassen. Suzuna bemühte sich redlich als Manager, aber die Doppelbelastung als Cheerleader-Captain und der weite Weg von ihrer Schule, machten es ihr schwer sich um alle Belange des Teams kümmern zu können. Sie war ebenso froh darüber gewesen, dass Mamori ihre alte Stellung mehr oder weniger wieder ausfüllte, wie Raimon, dessen Affenzirkus tatkräftige Unterstützung von Taki erhielt. Es war ein bizarrer Anblick. Der große, überdrehte Taki wirkte wie ein deformiertes Showgirl, als er sein Bein über seinen Kopf streckte und nur mit einem Handtuch bekleidet Pirouetten drehte. Begleitet von einem enthusiastischen „A-Ha Ha“ löste sich das Frotteetuch und landete vor den Füßen eines Neulings, der sich angewidert abwendete. „Warum das ganze Theater?“, fragte der Junge mit den rotgefärbten Haaren und der angeekelten Grimasse. An Tagen wie diesen bezweifelte er, dass es eine kluge Entscheidung war als Kicker in das Team eingetreten zu sein, andererseits waren sie die beste Mannschaft Tokyos. Schmerzhaft wurden seine Gedanken unterbrochen, als Montas Klammergriff an der Lampe versagte, der Oberschüler durch die Luft segelte und den Rotschopf zu Boden riss. Gleichzeitig verärgert und überrascht blickte Sawada Jun auf das Bündel Mensch, das auf ihm gelandet war. In Momenten wie diesen konnte er Masaos Abneigung gegen die exzentrischen Mannschaftsmitglieder aus den höheren Klassen verstehen. Sie waren schlicht und ergreifend Idioten, aber liebenswerte Idioten, wie er gedanklich anhängen musste, als sein Captain ihm eine helfende Hand reichte. „Mamo-nee … ich meine Anezaki-san ist zurück“, erklärte Sena, während er sich verlegen den Nacken rieb. „Ah“, machte Jun und nickte. Liebeskrank diagnostizierte er im Stillen als er einen Blick auf einen schwankenden Monta warf. Nachvollziehen konnte er es dennoch nicht. So ein Zirkus wegen eines Mädchens. Vielleicht konnte er es auch nicht begreifen, da ihm die Verbindung innerhalb der Mannschaft entgangen waren. Er wusste nichts von der engen Freundschaft, die im Originalteam geherrscht hatte und konnte sich nur ein wages Bild davon machen, wenn er, so wie heute, einmal nicht an Masaos Seite war. Sie waren eine eingeschworene Gemeinschaft, obwohl sie unterschiedlicher nicht sein konnten. Manchmal fragte er sich, ob Masaos Abneigung gegen die älteren Teammitglieder einfach nur Eifersucht war, weil er, trotz Talent, nie ein Teil dieser Clique werden könnte. Jun zuckte mit den Schultern und ignorierte die fragenden Blicke. Yamanaka war ohnehin ein kleines Kind, das permanent nach Aufmerksamkeit verlangte. Einer wie er musste fast vergehen bei dem Gedanken, dass jemand so unscheinbares und unterdurchschnittliches wie Sena der große Star war. „Bin zurück“, rief Sena unbestimmt in das Haus, während er aus seinen Schuhen schlüpfte. Penibel stellte er das Paar neben die anderen Schuhe in dem Eingang, schnappte sich seine Pantoffel und erklomm die kleine Stufe in den bewohnten Teil des Hauses. Der Holzboden roch nach Zitrone und hier und da schimmerten noch feuchte Stellen. Seine Mutter hatte anscheinend ihren wöchentlichen Putztag gehabt. Automatisch begann er große Schritte zu machen, um so wenig Dreck wie möglich zu verbreiten. Aus der Küche schwebte der Duft von Gewürzen und gekochtem Fleisch. Seine Mutter war wohl schon dabei das Abendessen vorzubereiten. Senas Magen grummelte und auf einen kleinen Leckerbissen hoffend, bog er in die Küche ab, anstatt wie üblich gleich die Treppe hinauf in sein Zimmer zu gehen und die Sporttasche auf sein Bett zu werfen. Wie erwartet stand Senas Mutter mit dem Rücken zur Küchentür und rührte in einem Topf. Alarmiert durch ein Schrammen der Sporttasche am Türrahmen, wandte sie ihren Kopf zu ihrem Sohn. Ein Lächeln zierte ihr Gesicht. „Hallo, mein Schatz“, begrüßte sie den Jugendlichen fröhlich. Dieser nickte knapp und erwiderte das Lächeln eher zaghaft. Als er noch näher kam, legte sie den rötlich-braun verschmierten Kochlöffel beiseite und drehte sich ganz herum. „Ich hoffe, du hast Hunger mitgebracht“, sagte sie heiter, „es gibt Curry.“ Sena zwang sich weiter zu lächeln. Das Curry seiner Mutter war mit zwei Worten treffend zu beschreiben: höllisch und scharf. Sein Magen rumorte wieder. Anscheinend hatte er keine Wahl. Er war hungrig und konnte leider nicht selber kochen – mit viel Reis war allerdings auch dieses Gericht einigermaßen erträglich. „Oh, da fällt mir ein“, sagte Kobayakawa Mihae und wischte ihre Hände an ihrer knielangen, weißen Schürze ab, „heute hat jemand einen Brief für dich abgegeben.“ Fragend blickte Sena zu ihr, während er seine schwere Tasche endlich auf einem der Stühle am Esstisch abstellen konnte. „Wer denn?“ Seine Mutter antwortete nicht und zog nur einen Brief aus ihrer Schürzentasche. Der Junge schaute erst auf den Brief, dann in ihr Gesicht. Ihr Lächeln wirkte auf einmal künstlich und erzwungen. Stirnrunzelnd nahm er den Umschlag entgegen. In sauberer Schrift stand Masaos vollständiger Name darauf. Verwundert drehte er den Brief und musste hart schlucken. Das Wort „Austritt“ machte es unnötig das Schreiben überhaupt noch lesen zu müssen. Für die Länge eines Herzschlages glaubte Sena das Bewusstsein zu verlieren, doch der Moment verging und er stand immer noch auf beiden Beinen, die sich instinktiv in Bewegung setzten. Verwirrt blickte Mihae ihrem Sohn nach, als dieser aus der Küche sprintete. Kräftiger als nötig, drückte Musashi den Zigarettenstummel im Aschenbecher aus. Sein Blick war geradeaus gerichtet. Hiruma schenkte ihm wie üblich keine Beachtung. Die Beine auf dem Tisch, das Notebook im Schoß, saß dieser gegenüber und trank einen Kaffee, so stark, dass der Geruch den gesamten Raum erfüllte. Musashi kippte mit seinem Stuhl zurück und stieß gegen die Wand hinter sich. Mit einem undefinierbaren Geräusch fuhr er sich fahrig durch die Haare. „Das erklärt natürlich einiges“, stieß er schließlich aus. Sein Gegenüber reagierte noch immer nicht. Der Blonde hatte Musashi in seine Wohnung beordert, ihm eine Nachricht offenbart, die nicht so einfach zu begreifen, geschweige denn zu verdauen war und schwieg nun vor sich hin. „Lass mich raten, du wirst es natürlich nicht den anderen sagen.“ Diesmal reagierte Hiruma auf Musashis Worte. Seine Augen drehten sich zu seinem Gast und verengten sich. „Wüsste nicht, was es die verdammten Bälger angeht“, zischte er. Musashi wirkte fast amüsiert, als er schnaubte. Er legte den Kopf in den Nacken und starrte zur niedrigen Küchendecke. Spinnenweben breiteten sich aus und ein dunkler Fleck, der wohl das Überbleibsel eines alten Wasserschadens war. Überhaupt wirkte die kleine Wohnung heruntergekommen, aber das schien ihren Besitzer nicht zu stören. Die Räume waren mit Sicherheit kostenfrei und nur der Teufel wusste, mit was er den Mieter dazu „überredet“ hatte. Hiruma war niemand, der sich großartig um seine Unterkunft kümmerte. Sämtliche Türen im Inneren waren entfernt worden und die wenigen Möbel waren fast leer und von Staub überzogen; lediglich ein kleiner Schreibtisch im Hauptzimmer nebenan, wurde sichtlich benutzt. Unmengen an Handys lagen darauf, teils aufgeschraubt oder nur noch in Einzelteilen vorhanden. Mehr brauchte er nicht, nur einen Platz zum Schlafen und Denken. „Das weißt du sehr wohl“, griff Musashi das Gespräch wieder auf. „Wenigstens eine Erklärung bist du ihnen schuldig.“ Er musterte einen Moment lang seinen Gesprächspartner, der mehr als desinteressiert wirkte und gab schließlich nach. „Dann erzähl es zumindest Kurita!“ „Pah, der verdammte Fettsack“, ereiferte sich der ehemalige Quarterback, „wird nur heulen und es dann doch den dämlichen Gören stecken.“ Trocken lachte Musashi auf, doch bevor er etwas erwidern konnte, ertönte eine piepsige Melodie. Hiruma hob fragend eine Braue, nachdem er sein Handy aus der Hosentasche gezogen hatte und auf das Display schauen konnte. Seine Mimik änderte sich von fragend zu erstaunt und weiter zu verärgert. Mit einer fließenden Fingerbewegung klappte er das Handy auf, fuhr mit dem Daumen über die Tastatur und hielt es an sein Ohr. „Ich hoffe für dich, du hast einen verdammt guten Grund mich zu stören, Zwerg.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)