90 Minuten von abranka ================================================================================ Kapitel 1: I. Wenn eine hellrote Tür einen Schritt herausfordert ---------------------------------------------------------------- Er hat den Motor längst abgestellt und den Schlüssel abgezogen. Dennoch kann er sich nicht überwinden, auszusteigen. Sein Blick ruht auf dem Gebäude vor ihm. Auf der hellrot gestrichenen Eingangstür, deren Farbe mal wieder abblättert. Irgendwie kann man da immer machen, was man will. Sie ist so schmerzlich vertraut. Der FC. Das Trainingsgelände des FC Dortmund. Das Clubhaus. Raphael presst die Lippen zusammen und kuschelt sich tiefer in seinen schwarzen Mantel. Dort wird Trainer Albert Knieschewski gleich der Mannschaft verkünden, dass er wieder da ist. Von Werder Bremen für die Rückrunde ausgeliehen und für die Saison danach gekauft. Es ist noch Dezember. Ein außerordentliches Treffen während der Winterpause ist einberufen worden, um den Spielern diese Entscheidung zu verkünden. Die ganze Sache ist so geheim abgelaufen, wie es nur ging. Raphael wollte nicht, dass irgendetwas an die große Glocke gehängt wird. Das sicher nicht. Nicht unter diesen Umständen. Auch, wenn sich die ganze Fußballwelt und insbesondere die Presse das Maul zerreißen werden, sobald diese Sache bekannt wird. Im Trainingslager im Januar soll er natürlich dabei sein und er will nicht, dass man die Spieler dann doch so sehr überfährt. Es sind schließlich Menschen darunter, die er als Freunde bezeichnen würde. Den Killer zum Beispiel. Oder... Christian, die eher unauffällige Nummer 13, der aber ein wirklich feiner Kerl ist. Aber auch... Julian. Selbst wenn seit seinem Wechsel zu Werder Bremen im Sommer des letzten Jahres alles anders zwischen ihnen geworden ist. Die Trennung war hart, weil Julian nur eins gesagt hatte: „Damit hast du dich gegen uns entschieden. Gegen mich.“ Und damit war es vorbei gewesen. Einfach so. Und die anderen Spieler... Sie hatten sich verraten gefühlt. Weil er ihr Star gewesen war. Weil er derjenige gewesen war, der sie in die Erste Bundesliga gebracht hatte. Weil er es gewesen war, der dem FC den größten Erfolg in der Vereinsgeschichte ermöglicht hatte – den Saisonabschluss auf einem zehnten Platz der ersten Liga. Dann war er gegangen und nichts hatte mehr funktioniert. Letzte Saison hatten sie mit Ach und Krach den Klassenerhalt geschafft – weil sie ein einziges Tor mehr geschossen und weniger kassiert hatten als der SC Freiburg. Und diese Saison hielten sie schon zu lange die berühmte Rote Laterne in den Händen. Noch den Klassenerhalt zu schaffen, ist schwer, aber machbar. Und deswegen ist er hier. Genau deswegen. In Bremen ist alles anders gewesen als in Dortmund. Die Mannschaft ist nett, keine Frage. Tolle Kollegen, tolles Team. Aber... es ist nicht der Ruhrpott, nicht Dortmund. Es ist nicht das Gleiche, nicht das, was er beim Fußball haben will, was er braucht. Klar, es ist großartig gewesen, im UEFA-Cup gegen große Teams zu spielen wie die Glasgow Rangers oder den FC Liverpool. Es ist großartig gewesen. Genauso, wie es toll gewesen ist, die ersten zwei Spiele im nationalen Trikot zu machen. Aber... er hat abgebaut. Weil ihm das Kameradschaftliche fehlt. Weil ihm das Herz fehlt. Weil... ihm der verdammte FC fehlt. Er hat kein einziges Spiel gegen seinen ehemaligen Club bestritten. Keins. Zweimal ist er wirklich krank beziehungsweise verletzt gewesen, einmal hat er bewusst eine grottige Leistung gebracht, um gerade einmal auf der Bank zu sitzen – und gar nicht Gefahr zu laufen, eingewechselt zu werden. Er brachte es nicht übers Herz. Er konnte einfach nicht gegen diese Menschen spielen. Dafür ist er nicht Profi genug. Überhaupt ist er offenbar nicht Profi genug für dieses verdammte Geschäft. Kurz nach dem Saisonstart letztes Jahr, als er gesehen hat, wie es mit dem FC bergab ging, hat es „Klick“ gemacht. Am nächsten Samstag – Werder hat am Freitag gespielt – hat er sich ins Auto gesetzt und ist von Bremen nach München gefahren, wo der FC gegen 1860 spielte. Hat sich in einem Trikot vom Killer, mit Fanschal und Kappe unter das Publikum gesetzt und seinem ehemaligen Club zugesehen – und niemand hatte ihn erkannt. Wenn er es zeitlich hat einrichten können, ist er zu jedem verdammten Spiel gefahren. Zu jedem. Er hat sich sogar die DFB-Pokal-Niederlage gegen diesen kleinen sächsischen Club in der Provinz angetan. Sein Herz schlägt Weiß-Rot. Tat es die ganze Zeit. Und jetzt sitzt er hier. Er weiß, dass das letzte, was gleich geschehen wird, ein Empfang mit offenen Armen ist. Natürlich werden sie skeptisch sein. Ihn nicht verstehen können. Und gleichzeitig das Gefühl haben, dass er nur zurückkehrt, weil er es eben nicht geschafft hat. Wenn man einen nationalen Verlierer der letzten Saison sucht, den großen Absturz eines hoffnungsvollen Talents, dann fällt sein Name. Und mittlerweile trifft es ihn sogar nicht mehr. Er weiß, dass er es nicht gepackt hat. Er weiß es. Aber er weiß, dass er es beim FC schaffen kann. Dass er hierhin gehört. Hierhin. Dass das hier sein zu Hause ist. Der Pott. Dortmund. Das Trikot in Rot-Weiß. Der gottverdammte FC. Und irgendwie... spielt vielleicht auch Julian eine Rolle. Aber so ganz sicher ist er sich da nicht. Er seufzt tief und öffnet die Wagentür. Langsam steigt er aus und streckt sich, blickt über das Gelände, sieht auf den Trainingsplatz, der direkt neben dem Parkplatz liegt, mittlerweile von einem höheren Zaun umgeben als früher. Zu Hause... Ja, so fühlt es sich doch an. Aber niemand hat gesagt, dass so eine Rückkehr jemals einfach ist. Und so sind seine Schritte nicht so federnd und leicht, wie sie es vielleicht sein könnten, als er auf die hellrote Tür zugeht. Kapitel 2: II. Wenn eine Rückkehr alles andere als leicht ist ------------------------------------------------------------- Trainer Knieschweski und der FC-Manager Schaffhausen fangen ihn vor dem Sitzungssaal ab. Das Team sitzt darin schon bereit, alle sind da, sagt man ihm. Es ist Knie, der Raphael kurz die Hand auf die Schulter legt. „Wird schon“, sagt er und lächelt. Raphael kann gar nichts antworten, da öffnet Schaffhausen auch schon die Tür und sie treten ein. „RAFFE???“ Der Killer bringt mit einem einzigen Wort auf den Punkt, was die fassungslosen Gesichter ausdrücken. Ja, Fassungslosigkeit und Überraschung sind es, die ihm als erstes entgegenblicken. Dann weichen diese Gesichtausdrücke Distanz, Ablehnung und bei ganz wenigen Ausnahmen Neugierde und sogar etwas Freude. Reine ist der einzige, der Raphael wirklich anlächelt. Ausgerechnet Reine. Wenn der wüsste... Der Mittelfeldspieler lässt seinen Blick schweifen und schaut Julian einen Augenblick länger an als die anderen. In den grünen Augen steht nichts anderes als Ablehnung. Ablehnung und Wut, die der ersten Überraschung Platz gemacht haben. In der Mannschaft sind natürlich bekannte Gesichter. Die meisten von denjenigen, mit denen sie damals aufgestiegen sind, ist noch da. Aber es gibt auch neue Spieler. Neue Männer, die ihm vielleicht nicht mit Vorurteilen begegnen werden. Er hofft es jedenfalls. „Wat...?“, setzt der Killer an, wird aber von Schaffhausen unterbrochen. „Genau, das will ich euch jetzt erklären, Dariusz. Immer mit der Ruhe.“ Der Manager lächelt und löst damit ein klein wenig die Spannung in der Mannschaft. Dennoch... Raphael ist nervös und muss an sich halten, um nicht von einem Bein aufs andere zu treten. „Also, Raphael ist mit sofortiger Wirkung von Werder Bremen ausgeliehen. Der Vertrag ist unterschrieben, er spielt also die Rückrunde direkt für uns. Und ab dem Sommer gehört er ganz zu uns und ist gekauft.“ „Mann!“ Alejandro schüttelt den Kopf und starrt Raphael an. Er gehört zu denjenigen, die ihm den Wechsel nie wirklich verziehen haben. Raphael weiß das. Er hat dem Kapitän schließlich seine Lieblingsposition abgenommen, ihm seinen Rang als Spielmacher abgelaufen – und er weiß, dass Alejandro sich irgendwie erhofft hatte, in ihm einen würdigen möglichst dauerhaften Nachfolger für den FC zu finden. „Und warum das alles? Haste in Bremen nicht alles gehabt?“ Das ist die Frage, die sie alle brennend interessiert. Das Warum. „Na, wir wissen doch alle, wie er abgestürzt ist. Gab ja keine Zeitung ohne sein Bild“, kommt es gehässig von Julian. Die Gefühle sind alle aus seinen Augen verschwunden. Nichts ist da mehr, das Raphael darin lesen kann. Gar nichts mehr. Kennt er ihn denn so wenig? „Hey, wir wollen fair bleiben!“, kommt es da von Mürre. Er ist immer noch dabei, auch wenn er gute Angebote von einigen anderen Vereinen hatte. „Lasst ihn erzählen. Schließlich wollen wir seine Sicht wissen.“ Doch trotz seiner offenen Worte sind seine Arme vor der Brust verschränkt. Distanz, Zurückhaltung, Ablehnung. Sie haben alle einmal an ihn geglaubt und er hat sie enttäuscht. Warum sollen sie jetzt auf einmal sofort wieder Vertrauen haben? Raphael kann das mehr als nur gut verstehen. „Viel gibt es da nicht zu erzählen. Ich wollte hierher zurück. Weil Bremen nicht meine Heimat ist. Weil Bremen nicht der FC ist.“ Raphael zuckt mit den Schultern. Er weiß nicht, was er sonst noch sagen soll. Er ist niemand, der groß mit Worten umgehen kann. „Scheiße, Kleiner, glaubste dat reicht?“ Der Killer schüttelt ungläubig den Kopf. „Der will doch nur hier seinen Stammplatz haben!“, kommt es eisig von Julian und zwei, drei Stimmen pflichten ihm bei. „Bei Bremen war’s doch nicht mal mehr die Bank, aus der Nationalmannschaft isser auch geflogen... Jetzt kommt er bettelnd und winselnd zurück.“ Raphael wird schlecht, als er diese Worte hört. Am liebsten würde er sich einfach umdrehen und rausgehen. Einfach sagen, dass der Fußball ihn mal kann, dass ihn dieser Scheißverein mal kann. Aber das geht nicht. Dazu liebt er Fußball zu sehr. Und er weiß, dass er sich diese Worte verdient hat. Durch alles, was er getan hat. Aber... sie von Julian zu hören – ausgerechnet von Julian! – macht es nicht einfacher. Im Gegenteil. Jedes verdammte Wort schneidet sich tief in sein Herz und lässt ihn bluten. Hemmungslos bluten und innerlich aufschreien. „Na, immer langsam, Julian“, sagt Knie da und blickt den jungen Mittelfeldspieler tadelnd an. „Ich war ja auch überrascht, als Raphael mich angerufen hat, aber...“ „Er hat dich angerufen?“ Der Killer kann sich mal wieder nicht zurückhalten. „Echt jetzt, ohne Scheiß?“ „Ja, ohne Scheiß.“ Knie lächelt nachsichtig. „Raphael hat mich angerufen und mich gefragt, ob wir nicht einen Platz für ihn haben. Gehalt, Vertragslaufzeit, das alles hat ihn nicht interessiert. Er...“ „Lass mal, Knie“, sagt Raphael in dem Moment. Er hat gesehen, wie sich die Verblüffung überall Bahn gebrochen hat, hat gesehen, wie da irgendetwas in Julians Augen kurz aufblitzt und wieder verschwindet. „Die haben schon alle Recht, wenn sie kein Wort glauben wollen und wenn Worte nicht genug ist. Wichtig is aufm Platz. Vielleicht kann ich euch da zeigen, warum ich wieder hier bin. Alles andere... spielt doch gar keine Rolle.“ Der Trainer blickt ihn verwirrt an und nickt dann ganz eben. Er hat Raphael immer seinen Willen gelassen, seine Wünsche und Freiheiten. Auch diesmal ist es so. „Es tut mir Leid, wenn ihr meinen Wechsel nach Bremen für Verrat gehalten habt. Mir erschien es damals als die beste Entscheidung. Dass es nur eine von vielen falschen und von einem Haufen beschissener Leistungen war, muss ich kaum sagen, oder? Aber jetzt bin ich wieder hier. Weil...“ Er stockt, bricht ab und sagt doch etwas anderes, als er eigentlich wollte. Er will schließlich nicht als gefühlsdusseliger Idiot dastehen. „Scheiße, wir haben einen Klassenerhalt zu schaffen und nicht über mich zu diskutieren. Es geht um Fußball, um nichts anderes.“ Alejandro nickt langsam, wenn auch deutliche Skepsis in den Augen des Spaniers zu sehen ist. Auch Reine neigt langsam den Kopf, Christian auch, Mürre auch, so geht es weiter, nur einige wenige blicken ihn weiter unbewegt an. Dass Julian unter denen ist, die nicht bereit sind, ihm auch nur einen Millimeter entgegenzukommen, überrascht Raphael nicht. Damit hat er gerechnet. Kapitel 3: III. Wenn Bremen eben nicht Dortmund ist --------------------------------------------------- Trainingslager. Raphael fühlt sich allein bei dem Gedanken daran immer noch unwohl. Aber da muss er durch – er wollte den FC, jetzt ist er beim FC. Und er wusste ja, dass es nicht leicht werden würde. Natürlich nicht. In diesem Verein sind Wechsel eben noch nicht das alltägliche Brot, auch wenn es langsam anders wird. Noch ist man vor allem eine große Familie, ein Freundeskreis, ein Team. Ansonsten wäre Knieschewski nach der letzten Saison auch nicht mehr der Trainer. Man ist einfach noch nicht richtig im knallharten Profigeschäft angekommen und vielleicht wird man es auch nie. Das mag der Grund sein, warum Raphael hierhin zurückwollte. Weil er selbst genauso ist. Nicht im Profigeschäft angekommen. Während der Busfahrt in die nicht allzu ferne Normandie – andere Clubs fliegen auf irgendwelche Inseln, beim FC geht’s per Bus ins Nachbarland – dröhnt er sich mit Musik zu und vermeidet Gespräche. Er weiß, dass sie alle neugierig sind, dass sie ihn ausfragen wollen, aber er will jetzt nicht antworten. Und er will auch nicht nach vorne sehen, wo Julian neben Augustin sitzt und sich angeregt mit diesem unterhält. Immer wieder lacht er auf. Das kann Raphael selbst durch die wummernden Bässe hören, aber vielleicht bildet er sich das auch einfach ein. Er weiß es nicht. Er weiß nur, dass er froh ist, als sie endlich an ihrem Hotel ankommen und aussteigen. Eigentlich ist es Glück, dass er mit dem Killer auf einem Zimmer landet. Es hätte weitaus schlimmer kommen können. Bei den Auswärtsspielen hat Knie ihn und Julian immer zusammengesteckt, weil sie sich so gut verstanden haben, aber nach seiner Rückkehr ist das anders. Das ist Knie natürlich aufgefallen, also hat er sich wohl bewusst für den Killer entschieden, denn so hart dieser auch tut, eigentlich ist er ein lieber Kerl, der mit so ziemlich jedem klarkommt. „Links oder rechts?“, erkundigt sich der Verteidiger und wippt auf den Zehen. „Mir gleich. Such’s dir aus“, erwidert Raphael und schaut zu, wie sich der Killer mit breitem Grinsen die rechte Hälfte des Doppelbettes schnappt. Klassisches Hotelzimmer eben. Keins, das für ein Fußballteam eingerichtet wäre. „Sag mal...“ Sie haben rund fünfzehn Minuten geschwiegen, während sie ihr Zeug irgendwie in dem viel zu kleinen Hotelschrank und der Kommode untergebracht haben. „Erzähls du mir, wat genau passiert is, dassu wieder hergekommen bis?“ Der Killer fährt sich unruhig durch die etwas zu kurzen Haaren, die wie Igelstacheln von seinem Kopf abstehen und ihm den – jedoch wenig genutzten – Spitznamen Kaktus eingebracht haben. „Vielleicht.“ Raphael zuckt mit den Schultern. „Hängt davon ab, wie sehr du mich heute Abend abfüllst.“ Der Killer muss lachen. „Heißt wohl, dassu nich runtergehen willst?“ „Nach Treschkes Auftritt bei meiner Ankunft? Wohl kaum. Sowas muss ich mir nicht gleich am ersten Abend geben.“ Raphael lässt sich auf seine Betthälfte fallen und verschränkt die Arme vor der Brust. „Ich dacht immer, ihr seid Freunde...“ „Offensichtlich nicht mehr.“ Nach dem Abendessen verschwinden Raphael und Dariusz relativ bald auf ihr gemeinsames Zimmer. Raphael sieht es nicht so recht ein, sich und den anderen diese angespannte Atmosphäre länger anzutun als notwendig. Er hat eigentlich damit gerechnet, noch einige, treffende Bemerkungen von Julian zu hören zu bekommen, doch das ist erstaunlicherweise nicht so. Nein, dafür ist Julian auch eigentlich nicht der Typ, scheltet er sich selbst. Er ist direkt und sagt, was er denkt. Sagt es immer. Er ist niemand, der hinterrücks ankommt, noch nicht einmal auf dem Platz. Und das ist auch gut so. „Also... Auf deine Rückkehr!“ Der Killer hebt die Bierflasche und stößt sie klingend mit ihrem Gegenstück in Raphaels Hand zusammen. „Na, ob das einen Trinkspruch wert ist...“ „Klar! Ich bin froh, dass de wieder hier bis.“ Dariusz grinst breit und leert die Flasche direkt bis zur Hälfte. „Und nu erzähl. Oder muss ich dich echt abfüllen?“ „Nee...“ Raphael schüttelt lachend den Kopf. Eigentlich ist ihm noch immer nicht nach reden, aber vielleicht tut’s ihm ja doch gut. Schaden kann es wohl kaum noch. „Weißte... Bremen is halt nich Dortmund“, beginnt er und nimmt einen tiefen Schluck. Alkohol ist vielleicht doch ganz gut, um die Kehle kooperativ zu bekommen, denn das alles sitzt wie ein dicker Kloß darin, der sich nicht so wirklich bewegen will. „...und als ich euer Spiel gesehen hab, da konnt ich nich anders. Ich hab jedes verdammte Spiel gesehen, das ich sehen konnte. Jedes. Bin wie ein Idiot durch die beschissene Republik gefahren, um dabei zu sein. Auffer Tribüne, weils auf dem Feld ja nich ging...“ Raphael dreht das Wodkapinchen in seiner Hand. Es ist sein fünftes und so langsam kommt er wirklich in Fahrt. „Du bis verrückt...“ Der Killer schüttelt den Kopf, aber Anerkennung liegt in seine Augen. „Vielleicht... Verdammt, ich wollt nich gegen euch spielen! Meinste, das war Zufall, dass ich nie aufm Platz stand?“ Jetzt werden seine Augen groß. „Wat?“ „Ja. Dat eine Mal war ich verletzt, dat andere mal zufällig krank, ja, und diese Saison, da hab ich einfach scheiße gespielt, um nich gegen euch ran zu müssen...“ Raphael lacht heiser auf. „Scheiße, wat?“ „Nee... Bekloppt is dat. Aber… warum?” Der Killer blickt nichts. „Dortmund is mein zu Hause... Immer noch. Und...“ Raphael stockt. „Hätts nich ertragen gegen Julian zu spielen...“ „Wieso?“ Jetzt ist die Verwirrung komplett. „Wieso’n das?“ Raphaels Blick ruht lange auf Dariusz, schätzt ihn ab, denn er ist nicht betrunken genug, um jeden Verstand und jede Vorsicht zu verlieren. Aber Dariusz, dem Killer, dem kann er vertrauen. Da ist er sich sicher. „Warnmalzusammen.“ „Wat?“ Der Killer hat kein Wort verstanden. Ein tiefer Seufzer, dann wiederholt Raphael noch einmal deutlicher: „Wir. Waren. Mal. Zusammen. Vorletzte Saison.“ „Scheiße.“ Vollkommen überrascht lässt der Killer sein Glas fallen. Zum Glück ist es leer. „Nee, ne? Ihr... Du... Ihr...“ Er bringt keinen vollständigen Satz mehr über die Lippen und Raphael muss sich dazu zwingen, seine Augen nicht zu verdrehen. „Ja, ich bin schwul. Ja, er steht ja offenbar auch auf Männer. Ja, wir waren wirklich ein Paar. Und ja, das hat keiner mitbekommen.“ „Wow... Das ist... hart... Echt jetz. Voll hart. Krass, Alter.“ Dariusz schüttelt den Kopf und mangels eines Glases nimmt er gleich die Wodkaflasche und trinkt mit großen Zügen daraus. „Ihr... Echt jetz? Ohne Scheiß?“ „Echt.“ Raphael verkneift sich mühsam ein Seufzen. Warum hat er es eigentlich gesagt? „Und die ganzen Frauen? Du... has doch immer...“ Die Kinnlade des Killers ist noch immer unten. „Show.“ Raphael seufzt tief. „Um nich aufzufliegen.“ „Wat ne Scheiße.” Das kommt jetzt hörbar aus dem Herzen, dann legt Dariusz ihm die Hand auf die Schulter und drückt leicht zu. War vielleicht doch kein Fehler, ihm alles zu sagen. Kapitel 4: IV. Wenn das Training die Hölle sein kann ---------------------------------------------------- Sie haben danach nicht mehr viel gesprochen, aber das ist okay. Raphael hat nicht großartig irgendetwas erwartet. Irgendwelche Bemerkungen, nichts. Und er weiß, dass er den Killer nicht auf sein Stillschweigen verpflichten muss. Der sagt von alleine nichts über dieses Thema und das ist auch gut so. Besonders jetzt, wo sie auf den Trainingsplatz traben und sich warmlaufen dürfen. Mit Dariusz zusammen läuft Raphael vorne weg. Er kann die Blicke der anderen deutlich bohrend in seinem Rücken spüren, meint Julians darunter viel brennender als alle anderen ausmachen zu können. Sie haben sich nie ausgesprochen. Nie. Julian ist nicht ans Telefon gegangen, wenn er angerufen hat, hat auf keine SMS, keine E-Mail reagiert, auf keinen Brief. Und er hat aufgegeben. Zu schnell. Viel zu schnell. Denn so, wie sein Herz bei jedem kurzen Blick auf den blonden Mittelfeldspieler reagiert, ist da noch lange nicht alles klar. Raphael senkt den Blick, achtet auf seine Füße, beobachtet, wie sie dahinziehen, den Boden der Laufbahn regelrecht fressen. Dehnen, Strecken, Krafttraining. Dann endlich geht es auf den Platz. Schneller als Raphael denken kann, hat Knie einen Haufen gelbe Leibchen verteilt – und dann spielen sie vier gegen vier. Und zwar nur die Mittelfeldspieler. Der Co-Trainer Rudolf hat sich die anderen geschnappt und kommandiert sie durch die Gegend. Der Torwarttrainer Janusch kümmert sich um die beiden Keeper. „Okay, Jungs, ich will ein paar schöne Bälle von euch sehen.“ Knie verlässt damit auch schon das kleine Fußballeck. Kurz checkt Raphael die Lage ab. Alejandro steht ihm gegenüber, genauso Gabriel, der erste Brasilianer beim FC, der die Nummer 26 trägt. Außerdem noch Christian und – Julian. Eine klare Aufteilung: die bisherigen Stammspieler gegen die, die es werden wollen. Der Ball wird von Alejandro angetippt und fliegt hinüber zu Gabriel. Der dreht sich locker um die eigene Achse und geht dann nach vorne. Raphael greift an und kann dann nur die Augen aufreißen. Vor ihm tanzen der Ball und die Füße seines Gegenspieler von links nach rechts und wieder zurück, spielen ihn regelrecht schwindelig. Dann verliert er verwirrt das Gleichgewicht und landet wie ein kleiner Junge im Gras. Und auf einmal kapiert er, dass das hier alles gar nicht so einfach werden wird. Hier wird er nicht offenen Armen auf das Spielfeld und seine Lieblingsposition durchgereicht. Nein, er muss es sich verdienen. So, wie woanders auch – und hier vielleicht noch einmal ganz besonders. Langsam steht er auf und nimmt den nächsten Ball an, den ihm Stefan zuspielt. Nein, er muss die Mannschaft von sich überzeugen. Das Problem liegt nicht unbedingt in den Leistungen der einzelnen Spieler. Er weiß, was sie alles können. Aber es gelingt ihnen nicht immer, das auf dem Platz als Team zu zeigen. Sie wirken immer verunsichert und lassen sich beeindrucken. Dabei geht es eigentlich auch anders. Im DFB-Pokal, da haben sie diese Saison ihre Fähigkeiten aufblitzen lassen und als Galashow vorgeführt. Sie stehen immerhin im Achtelfinale, auch wenn sie es auf dem Weg dorthin nur mit Gegnern wie Unterhaching und St. Pauli zu tun gehabt hatten. Dennoch... Auch das ist ein großer Erfolg und etwas, woraus man Motivation für die Ligaspiele ziehen kann. Jedenfalls hofft das Raphael. Aber er denkt zuviel. Und das rächt sich, indem Alejandro ihm den Ball wie einem Anfänger abnimmt und er erneut im Gras landet. „Los, hoch!“, ruft Kopp fordernd. „Nicht ausruhen, Raffe!“ Mit einem leisen Knurren ist dieser wieder auf den Beinen, kriegt den Ball, nimmt ihn elegant an und jagt ihn sofort weiter zu dem Neuen, Alex, der diesen perfekt in dem kleinen Tor versenkt. „Mehr davon!“, fordert Knie und macht damit sehr deutlich, dass er die acht Männer sehr genau beobachtet. Ihn hat Raphael ja beinahe schon vergessen. Er weiß, dass er getestet wird. Er spürt die Beobachtung bei jedem verdammten Schritt, bei jeder Ballannahme, bei jedem Schuss, besonders bei jedem auch noch so winzigen Fehler. Er spürt Alejandros abschätzende Augen, Gabriels prüfende Musterung, Christians abmessenden Blick – und Julians stille Beobachtung. Er hängt sich rein, gibt alles, strengt sich an. Und er weiß, dass er recht gut ist, auch wenn dieses Gefühl von Dauerbeobachtung der Hölle gleichkommt und ihn verunsichert. Es fällt ihm schwer, diese Blicke auszublenden, diese Tatsache beiseite zu schieben – und doch fühlt es sich jedes Mal einfach nur richtig beschissen an, wenn er durchs Gras kugelt, von Gabriel ausgespielt wird oder im Zweikampf gegen Julian oder Christian unterliegt. Aber diesmal nicht. Er ist voll bei der Sache und lässt sich diesmal von Julian nicht austricksen. Eine gehörige Portion Frust ist längst dabei. Er will nicht mehr! Er will gewinnen! Gewinnen und sie alle überzeugen! Sie schenken sich nichts, rangeln, zerren an dem Trikot des anderen und für den Augenblick ist es ihm einfach scheißegal, dass er gerade gegen Julian spielt, dass es Julian ist, dessen heißen Atem er spürt, dessen warme Haut seine berührt. Es ist egal. Es geht nur um den verdammten Ball! Plötzlich kommen sich ihre Füße in die Quere, sie straucheln beide, der Ball fliegt zur Seite und es gibt eine Bruchlandung als menschliches Knäuel. Raphael bleibt einen Augenblick lang benommen liegen und keucht leise. Unter sich spürt er dann auf einmal eine Bewegung, die ihn beinahe auffahren lässt. „Wie wär’s mal mit aufstehen?“, fährt ihn Julian an. Die grünen Augen bohren sich in seine blauen, stechend und funkelnd. Aber irgendetwas ist da noch drin in diesem Blick. Etwas, das ihn trotz dieser deutlichen Aufforderung verharren lässt. Vielleicht... „Verdammt, Grabstagen! Beweg deinen Hintern!“ Julian stößt ihn ungeduldig vor die Brust, versucht seine Unsicherheit zu kaschieren, doch Raphael ist genau dieses Flackern in dem glänzenden Grün nicht entgangen. „Keine Panik, ich tu dir schon nichts“, erwidert er mit einem anzüglichen Grinsen. Er weiß nicht genau, welcher Teufel ihn bei dieser Bemerkung reitet, aber irgendwie tut es gut, Julian auch einmal ein wenig verunsichert zu sehen – ohne diese Selbstgefälligkeit und diese verletzenden Bemerkungen. Damit steht er auf, nicht ohne sich überaus deutlich ihrer körperlichen Nähe bewusst zu sein. Sein ganzer Körper scheint zu prickeln, regelrecht zu brennen, doch er verrät es mit keinem einzigen Wimpernzucken. Er reicht Julian die Hand, doch dieser ignoriert sie und kommt von allein auf die Beine. Der blonde Mittelfeldspieler sagt nichts weiter, doch sein Blick spricht Bände. Keine fünf Minuten später holt er Raphael grob von den Beinen und nimmt bewusst in Kauf, dass dieser fünf Meter weiter durch das Gras rollt. Er hat den Ball gespielt, also war es ein faires Tackling. Dennoch weiß Raphael ganz genau, dass das totale Absicht war. Willkommen in der Hölle. Der Gedanke schießt ironisch durch seinen Kopf, auch wenn er weiß, dass er etwas übertreibt. Aber die Konkurrenz ist erdrückend, die Mannschaft nimmt ihn noch lange nicht an – auch wenn seine drei Mitspieler versucht haben, ihn einzubeziehen, passt da noch lange nicht alles zusammen – und über seinen Ex-Freund will er lieber gar nicht erst nachdenken, ansonsten bekommt er noch einen Schreikrampf. Gut, Hölle trifft es vielleicht doch. Wenigstens einer der äußeren Kreise, wo es noch nicht ganz so schlimm ist. Denn schlimmer, das kann es ja bekanntlich immer noch werden. Kapitel 5: V. Wenn Tischtennis eskaliert ---------------------------------------- Nach dem Abendessen trommelt Alejandro das Team für eine Runde Tischtennis zusammen. Rundlauf, ganz klassisch, wie Raphael es von den ganzen Klassenfahrten seiner Schulzeit kennt. Eigentlich hat er sich lieber verdrücken wollen, doch der Killer hat ihn ganz unsubtil daraufhingewiesen, dass er nicht ewig vor der Mannschaft davonrennen kann und sich dringend dieser Herausforderung stellen sollte. Und das tut er jetzt auch. Steht mitten in der Runde aus Spielern, die ihn durchaus fixieren und mustern. Nur die sieben Neuen nicht, denn die haben ihn vorher nicht gekannt, die haben mit der ganzen Sache nichts zu tun. Mit dem Vertrauensbruch, wie der Killer es ihm erklärt hat. Er muss sich seinen Respekt wirklich wieder verdienen. Nicht nur auf dem Platz, sondern auch vor allem menschlich. Hier sind zu viele Leute, die davon ausgehen, dass er sich hier nur wieder bekrabbeln will, um dann wieder wegzugehen. „Na, wie isses denn so internationale Luft zu schnuppern, Grab?“ Chris wirft damit den ersten Stein und Raphael kapiert, dass dieses Spiel wahrscheinlich Spießrutenlaufen wird. „Prima. Aber ist zu dünne Luft für dich, Chris“, gibt er kalt zurück und schmettert den nächsten Ball so knapp über das Netz, dass Acun keine Chance hat, ihn zu bekommen und raus ist. Der Türke flucht leise, als er zur Seite geht. „Oho... Aber für dich war sie nicht zu dünn, was?“, steigt Stefan ein, der sowieso immer zu Chris hält. Die beiden halten zusammen wie Pech und Schwefel. Taten das schon immer. „Solltest die Klappe nicht zu weit aufzureißen, bist nämlich ganz schön auf die Schnauze geflogen.“ „Und? Ich war dabei. Etwas, was dir niemals passieren wird“, kontert er knapp und wartet auf den nächsten Ball. Paul spielt den knapp und richtig gemein, aber er kriegt ihn noch so eben. Seine blauen Augen fixieren Chris und Stefan eisig. „Wat hat der Kicker noch geschrieben? Der größte Absturz eines Talents, den die Liga je erlebt hat?“, stichelt Chris weiter. Scheiße, gerade von ihm hat Raphael diese verdammte Hartnäckigkeit nicht erwartet. Sie haben sich doch sonst immer so gut verstanden. Er hat ihn immer als Freund betrachtet. Aber wahrscheinlich fürchtet Christian einfach um seinen Stammplatz. Alejandro, Julian und Gabriel stehen außer Diskussion – die sind alle drei einfach top. Er ist der schwächste der vier und muss natürlich angreifen. Klar, irgendwo in seinem Kopf weiß Raphael das. Und er weiß auch, dass da verdammt viele Emotionen im Spiel sind. Das Gefühl von Verrat, von Wut und ein übler Vertrauensverlust, aber... muss sich das denn so äußern? Und vor allem sieht er es nicht ein, sich fertig machen zu lassen. „Fällt dir nichts eigenes ein? Zitierste als nächstes noch die BLÖD?“ Raphael gelingt es, auch den nächsten Ball anzunehmen und haut Augustin raus. „Was willst du hier, Grab?“ Christian hat den Ball und hält ihn fest, macht den nächsten Aufschlag nicht. „Was zum Teufel willst du hier? Dich wieder hocharbeiten und wieder abhauen? Sang- und klanglos, ohne vor deinem Wechsel hier mit irgendwem darüber zu sprechen? Ohne dich zu verabschieden und über deine Entscheidung irgendein Wort zu sagen? Warum zur Hölle sollte dich hier irgendjemand nett aufnehmen?“ Chris bringt auf den Punkt, was wohl die ganzen „Alten“ der Mannschaft denken. Raphael lässt seinen Schläger langsam sinken und tickt mit dessen Kante sachte auf die Platte. „Was willst du hören?“, fragt er ruhig. „Was denn? Du willst mir doch kaum zuhören. Genauso wenig wie irgendein anderer hier.“ Mit einer simplen Handbewegung umfasst er sie alle. „Und es spielt auch keine Rolle. Wenn es mir nicht gelingt, euer Vertrauen zu gewinnen, habe ich hier eh nichts verloren. Gar nichts.“ „Na, das haste wenigstens kapiert.“ Stefan wieder. „Weißte... Du bist echt das Letzte! Die ganze letzte beschissene Saison geht eigentlich auf dein Konto. Der Verein hat mit dir geplant, war sich deiner sicher! Und dann verschwindest du einfach so! Zack, wusch, weg! Was meinst du, wie wir alle geschaut haben? Haste überhaupt ne Ahnung, was das eigentlich für uns bedeutet hat?“ Raphael beißt sich auf die Unterlippe. Er fühlt sich unwohl, will am liebsten einfach abhauen, doch das verbietet er sich. Er weiß den Killer hinter sich, neben sich. Der Verteidiger steht direkt hinter ihm, berührt ihn kaum sichtbar kurz am Arm, zeigt ihm deutlich, dass er bei ihm ist und ihm irgendwie Kraft gibt. Ein echter Freund eben. „Es reicht, Stefan“, sagt Alejandro in dem Augenblick. Ein beinahe schon väterlicher Blick streift Raphael und macht alles noch schlimmer. Jetzt fühlt er sich nicht mehr nur angegriffen, sondern auch gedemütigt. Und bei allem berechtigten Zorn hat er das doch nicht verdient. Das nicht! „Nein, lass ihn reden. Lass ihn sagen, was er denkt. So sind wir doch hier im Pott, oder?“ Ein wütender Blick von ihm rüber zum Kapitän, der die Augen zusammenkneift. „Oh ja, gesteh uns auch noch unsere Gefühle zu“, macht Stefan auch schon weiter. Höhnisch ist sein Tonfall geworden. „Gib’s doch einfach zu – du bist hier, weil dich sonst keiner mehr will. Weil du weißt, dass man hier verzweifelt genug ist, dich mit Kusshand aufzunehmen. Nur hier, sonst nirgends.“ Raphael schiebt die Unterlippe vor. „Ach? Glaubst du das?“ „Klar. Warum sonst sollteste den Trainer anrufen und sagen, dass du zurückwillst? Weshalb denn?“ Jetzt ergreift Chris wieder das Wort. Langsam legt Raphael seine Plecke auf die Platte und tritt beiseite, kommt langsam auf Christian und Stefan zu, die ihre Schläger ebenfalls weglegen. Der Rest macht Platz. Die Spannung in der Luft ist nahezu greifbar. „Warum haste dir eigentlich nicht den Spaß gemacht, gegen uns zu spielen? Dafür warste schon nicht gut genug, was? Das hätte dir doch den echten Kick geben müssen.“ Christian baut sich vor Raphael auf. Er ist gut fünf Zentimeter größer, aber das ist nichts, wovon sich Raphael beeindrucken lässt. „Weißt du, Chris, Stefan kann ich ja noch verstehen. Der ist so sauer, wie ihr alle hier. Und glaub mir, ich wusste ganz genau, worauf ich mich eingelassen hab, als ich zurückgekommen bin. Aber du... Du machst mich doch nur schräg an, weil du Schiss um deinen Stammplatz hast. Weil du ganz genau weißt, dass du der schwächste von euch vier bist – und ich deine Position ganz leicht spielen kann. Du hast Schiss, Morgenstern. Einfach nur Schiss vor der Konkurrenz.“ Raphael spuckt die Worte aus und sieht Christian dabei fest in die Augen. Er sieht, wie sich diese zusammenziehen, wie Wut darin aufflackert. Ihm entgeht dafür, wie sich seine Muskeln anspannen, wie der andere austickt. Der Schlag erwischt ihn unvorbereitet und wirft seinen Kopf schmerzhaft in den Nacken. Er spürt, wie seine Unterlippe aufplatzt und Blut heiß über sein Kinn rinnt. „Scheiße, Chris! Reiß dich verdammt noch mal zusammen!“, brüllt Alejandro auch schon los und Stefan fällt seinem engsten Freund in den Arm. Noch ehe er überhaupt reagieren kann, fühlt Raphael die Hand es Killers auf seiner Schulter. Beruhigend, zurückhaltend. Er fährt sich mit den Fingerspitzen über die blutende Lippe und blickt Chris an. „Weißt du, das ist echt das Letzte, was ich von dir gedacht hätte.“ Damit dreht er sich um und geht. Er lässt sie alle einfach stehen und hat keinen Bock, sich das hier noch mehr anzutun. Als er die Tür hinter sich zufallen hört, ist es aber nicht Chris’ Schlag oder dessen Gesicht, das ihm vor Augen steht, nein, es ist Julians Gesicht. Julian, der blass und angespannt an der Wand steht. Kapitel 6: VI. Wenn alles Reden zwecklos ist -------------------------------------------- Seine Unterlippe ist auch noch drei Tage später geschwollen und tut weh. Christian hat aber auch einen beschissen harten Schlag im Leib. Knie wollte natürlich wissen, was passiert ist, aber Raphael hat sich mit einem Unfall herausgeredet und der Rest der Mannschaft hat geschwiegen. Es gibt hier keine Petzen. Das ist eine Sache unter ihnen, da muss man den Trainer nicht mit reinziehen. Das Training kotzt ihn an. Ständig gerät er mit Christian aneinander. So langsam wird es persönlich. Richtig persönlich und das nervt ihn. Mit Julian ist es kein bisschen besser. Die Zweikämpfe mit ihm sind hart, gehen an die Grenzen und jede verdammte Berührung ist schmerzhafter, als es dieser beschissene Schlag gewesen ist. Er trainiert hart, strengt sich an, geht jeden Tag an seine Grenzen und versucht, noch darüber hinaus zu kommen. Gabriel fordert ihm immer alles ab. Der Brasilianer ist verdammt gut und die absolute Herausforderung im Mittelfeld. Er ist der neue Maßstab, dem Raphael genügen will. Dafür schiebt er dann auch schon mal eine Extraschicht auf dem Platz und übt Freistöße und die kleinen Balltricks, mit denen der schokoladenäugige Brasilianer sie immer wieder fasziniert und wie Anfänger dastehen lässt. Jetzt ist er vollkommen erschöpft und durchgeschwitzt auf dem Weg in sein Zimmer und will nur noch unter die Dusche. Auf dem Flur zu dem Zimmer stockt sein Schritt jedoch. Julian ist da, starrt auf die Tür und wirkt, als wenn er sich nicht sicher ist, ob er klopfen soll. „Willst du zum Killer?“, fragt er unverfänglich, während er näher kommt. Sein Herz schlägt auf einmal viel schneller und sein Magen zieht sich schmerzhaft zusammen, als Julians Kopf herumfliegt und ihn die grünen Augen fassungslos anblicken. Für einen Augenblick glaubt er, in ihnen so etwas wie Sehnsucht zu erkennen. Eine Sehnsucht, die er selbst nur viel zu gut kennt, die ihn innerlich zerfrisst und gegen die er doch nichts tun kann. Dann ist der Ausdruck wieder hart und fest. Diese zornige Glut ist wieder da, die Julians Blicke immer begleitet. „Nein.“ „Was dann?“ Raphael ist jetzt direkt vor ihm und blickt ihn an, dreht den Zimmerschlüssel zwischen den Fingern. Er ist nervös. „Ich wollt mit dir reden.“ „Mit mir?“ Jetzt ist es Unglauben, der sich auf Raphaels Gesicht widerspiegelt. „Du willst seit anderthalb Jahren nicht mit mir reden. Warum solltest du jetzt auf einmal wollen?“ „Weil ich dir kaum aus dem Weg gehen kann.“ Die Antwort ist eine eisige Dusche und macht jedes bisschen Hoffnung zunichte. „Na denn...“ Raphael schließt auf und hält die Tür einladend offen. „Das sollten wir vielleicht nicht unbedingt auf dem Gang tun.“ Julian macht einen selbstsicheren Eindruck, als er an ihm vorbeigeht und doch ist da etwas an ihm, das Raphael verrät, dass dieses Gefühl vermutlich täuscht. Er kennt Julian doch, weiß, wie seine Körperhaltung immer besonders starr und hart wird, wenn er innerlich vollkommen verunsichert ist und sich etwas stellen muss, das ihm nicht gefällt. „Also, worüber willst du reden?“, bohrt er nach, als die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen ist. Er streift sich das durchgeschwitzte T-Shirt vom Körper. Es klebt ganz widerlich an ihm und ist nicht mehr zu ertragen. Da ist es ihm vollkommen egal, wie das jetzt auf Julian wirken muss. Und dessen Blick ist auch einen Augenblick irritiert und verharrt etwas zu lange auf seinem bloßen Oberkörper. Wieder prickelt etwas Hoffnung durch seine Adern. Vielleicht darf er ja doch hoffen, dass noch nicht alles zu spät ist. „Erklär’s mir.“ Julians Ton ist unbestimmt, seine Stimme ein wenig kratzig und belegt. „Was?“ „Warum du gegangen bist. Warum du aus Dortmund verschwunden bist. Warum du von mir weggegangen bist.“ Raphael muss lachen. Hart und rau. Ein Lachen, das nichts mit Belustigung zu tun hat, sondern nur mit Schmerz und Enttäuschung aus anderthalb Jahren Funkstille. Ein schmerzhaftes Lachen, kehlig und düster. „Das fragst du jetzt? Ich wollte es dir damals erklären, aber du hast mich ja nichts sagen lassen. Du hast nie abgehoben. Du hast mich nie reingelassen. Du hast mir jeden beschissenen Brief ungeöffnet zurückgeschickt – und du hast wahrscheinlich auch keine einzige meiner E-Mails oder SMS gelesen. Warum also sollte es dich jetzt auf einmal interessieren?“ Er verschränkt die Arme vor der Brust. Alles in ihm fühlt sich versteinert an. Am liebsten hätte er sich Julian einfach ausgeschüttet, alles erzählt, was in ihm brennt und arbeitet, was an ihm nagt und ihn noch vollkommen aushöhlt. Aber das kann er nicht. Da ist kein Vertrauen mehr, so gerne er es auch noch haben würde. „Das ging einfach nicht. Ich... Kannst du nicht verstehen, dass ich das zu diesem Zeitpunkt nicht hören wollte? Verdammt, du hast mir auf einmal gesagt, dass du nach Bremen verschwindest! Zu einem Zeitpunkt, als du diesen verdammten Vertrag schon unterschrieben hattest! Du hast mir damit gesagt, dass du dich gegen mich entschieden hast!“ „Soweit ich mich erinnere, hast du Schluss gemacht.“ Raphael presst die Worte zwischen den Zähnen hervor. „Du hast mir keine Chance gegeben, mich zu erklären – und du hast uns keine Chance auf eine Fernbeziehung gegeben. Also red mir keine Schuld ein!“ „Du hättest mit mir reden müssen! Oder war ich das nicht wert?“ Julians Stimme ist kurz davor, sich zu überschlagen und auf einmal wird Raphael bewusst, dass er ihn noch nie so verletzlich erlebt hat. Noch nie so betroffen oder schwach. Er ist doch immer so stark nach außen hin, lässt sich von nichts unterkriegen oder fertigmachen. Und das entpuppt sich auf einmal als Fassade. Als eine Fassade, hinter der Schmerz und Schwäche liegen, die Raphael jetzt vollends verwirren. „Das tut mir ehrlich Leid“, lenkt er langsam ein und seine Stimme will ihm jetzt nicht mehr so richtig gehorchen. Er lehnt sich gegen die Kommode, die in dem Raum steht, und hat Mühe, Julian in die Augen zu blicken. Dieses leuchtende Grün droht ihn wieder in seinen Bann zu ziehen und ihn darin versinken zu lassen. Für ihn, für ihn ist da zwischen ihnen immer noch etwas. Das spürt er auf einmal mehr als deutlich in sich brennen. „Ich wollte nicht, dass du mich zurückhältst. Ich wollte keine Zweifel kriegen. Ich habe gedacht, dass ich das Richtige tue.“ „Und? War es das?“ „Nein. Aber es bringt nichts, darüber noch zu reden. Die Vergangenheit ist vergangen und wir können sie kaum noch ändern.“ Raphael drückt sich von der Kommode ab und macht zwei Schritte in Richtung Bad. Er ist auf einmal todmüde. In ihm drin tobt ein Chaos, das er nicht versteht. Hoffnung ist da, Schmerz, das brennende Verlangen, Julian einfach in die Arme zu nehmen, ihn zu küssen und auf dieses verdammte Bett zu werfen. Zurückzukehren. Zu ihm. Wieder zu Hause zu sein. Aber das geht nicht. Und es ist sinnlos, noch über irgendetwas zu reden. Die Zeit um zu Reden, die ist lange vorbei. „Weißt du, die Zeit zum Reden haben wir verpasst. Vor 18 Monaten wollte ich mit dir reden, aber du nicht mit mir. Und jetzt gibt es nichts mehr zu sagen. Gar nichts mehr. Außer, dass wir beide vielleicht besser vergessen sollten.“ Damit betritt er das Bad und zieht die Tür hinter sich zu. Zitternd lehnt er sich dagegen und hört, wie Julian erst nach rund fünf Minuten das Zimmer verlässt. Er fühlt sich absolut beschissen. Kapitel 7: VII. Wenn es auf dem Balkon einfach zu kalt ist ---------------------------------------------------------- „Hey.“ Raphael spricht leise ins Telefon. Der Killer schläft noch und er will ihn eigentlich nicht wecken. Langsam steht er auf und marschiert in seinen Schlafshorts auf den kleinen Balkon. Eigentlich ist es für die dünne Bekleidung zu kalt hier draußen, aber er hat auch keine Lust, sich noch etwas überzuziehen. „Hey“, kommt es zurück. „Wie läuft es so, du Wahnsinniger?“ „Wahnsinnig trifft es wirklich.“ Raphael verdreht leicht die Augen. „Scheiße, wenn ich nicht wüsste, wofür ich mir den Mist hier antue, würde ich einfach alles hinschmeißen. Ich hab keinen Bock mehr, Paolo. Absolut nicht mehr.“ Der Italiener am anderen Ende der Leitung lacht und jedem anderen hätte er das jetzt wirklich übel genommen, nur Paolo nicht. „Du wusstest doch, was auf dich zukommt. Und du wolltest es. Du wolltest den FC und das ist jetzt dein Preis. Was hast du erwartet?“ „Nicht, dass ich verprügelt werde.“ „Was?“ Der Aufschrei ist heftig und lässt für einen Augenblick Raphaels Ohr klingeln. „Na, Chris hat mir vor ein paar Tagen eine verpasst. Die Lippe ist aber nicht mehr dick. Mhm... Und gestern ist es mit Kietz etwas heftiger geworden. Mir tun die Rippen noch weh.“ „Scheiße, wieso das denn?“ „Na, hab Chris gesagt, dass er nur Schiss um seinen Platz hat.“ Wieder Lachen von Paolos Seite her, das deutlich sagt, dass er sich dann über einen Schlag nicht wundern muss. „Und Kietz hab ich gesagt, dass er seinen Arsch schon bewegen muss, wenn er die rote Laterne noch mal abgeben will.“ Das Lachen wird lauter. „Scheiße, die Prügel haste dir dann aber auch verdient!“ „Danke, ich dachte eigentlich, dass du mein Freund bist, Fischchen.“ „Bin ich auch, Raffe, bin ich auch. Aber das hast du dir echt selbst zuzuschreiben. Und wenn es nur so weit geht, ist das doch nur halb so schlimm. Übler wär’s, wenn du Alejandro so weit gereizt hättest, dass er dir eine knallt.“ „Nee... Der steht über all dem und behandelt mich so gönnerisch und herablassend, dass ich ihm noch mal an die Gurgel gehe.“ „Dann kannste das mit ihm aber gleich vergessen. Reiß dich zusammen und beweis dich ihm auf dem Platz – und dadurch, dass du dich nicht provozieren lässt. Du weißt doch, wie er tickt.“ „Ja, ja...“ Raphael stützt sich auf das kalte Geländer und tritt von einem Fuß auf den anderen. Wenigstens Schuhe hätte er sich anziehen sollen. Die Fliesen sind eisig unter seinen bloßen Fußsohlen. „Wie ist es mit Julian?“ „Wie schon? So richtig schön beschissen.“ „Und wie fühlst du dich dabei?“ „Willst du mich verarschen? Scheiße natürlich. Es tut weh. Und irgendwie will da ein Teil von mir noch Hoffnung haben, aber es gibt nichts, worauf man noch hoffen kann. Der Zug ist abgefahren und je eher das in meinen Kopf kommt, desto besser. Er ist ein Mannschaftskamerad, nicht mehr.“ „Wenn du das sagst.“ Der Italiener klingt skeptisch. „Sagt das nicht so. Das ist so. Ich kann’s doch nicht ändern.“ „Nicht, wenn du nicht willst.“ „Ach, hör auf.“ Raphael schüttelt den Kopf und starrt hinunter auf den Sportplatz. Er liegt leer in dem Dämmerlicht. Die ersten Sonnenstrahlen kraxeln gerade über den Horizont. Es ist zwar nicht mehr allzu früh, aber der Trainer lässt sie lange genug schlafen, weil er findet, dass man bei Dunkelheit ja auch nicht unbedingt auf den Platz laufen muss. Sie verbringen so schon genug Zeit da draußen. „Das bringt nichts. Absolut nichts.“ Nebel steigt aus den umliegenden Wiesen auf und etwas Raureif überzieht das Gras. Kein Wunder, dass ihm schweinekalt ist. „Wenn du das sagst.“ „Verdammt, was erwartest du denn?“ „Dass du dich endlich mit ihm aussprichst. Dass du ihm alles auf den Tisch legst, dass du’s ihm erklärst. Er hatte alles Recht dazu, sauer zu sein. Ich hätte an seiner Stelle nicht anders reagiert. Was hättest du denn gesagt, wenn er auf einmal gewechselt hätte und hunderte Kilometer weggezogen wäre?“ „Ich hätte ihn nicht einfach so aufgegeben!“ Raphael schreit beinahe ins Telefon. „Nicht, nachdem ich ihm gesagt hätte, dass ich ihn liebe!“ „Du hast es ihm nie gesagt.“ Ein Vorwurf schwingt in Paolos Stimme mit und Raphael weiß sehr genau, was der kleine Italiener gerade für ein Gesicht zieht. Eine Miene, die sehr deutlich macht, dass er davon überhaupt nichts hält. „Nein...“ „Das hätte vielleicht alles geändert. Aber so... Warum hätte er das denn alles eingehen sollen? Für ne Affäre? Für jemanden, bei dem er die ganze Zeit damit leben muss, dass da ständig irgendwelche Frauen in seinem Bett landen?“ „Hör auf! Du weißt, warum ich das tue!“ „Ja, ja...“ Er kann Paolo regelrecht abwinken hören. Er weiß sehr genau, was dieser von seinem Verhalten für eine Meinung hat. Dahingehend stehen sich Julian und er in nichts nach. In gar nichts. Und doch ist es das, was Raphael für richtig hält. Wie sonst soll er denn nach außen hin zeigen, dass er nicht schwul ist? Wie soll er denn sonst den Schein waren? Er hat nun einmal keine beste Freundin, die mit ihm schauspielert. Und er fühlt sich dabei widerlich und schäbig und ekelt sich vor sich selbst. Das hat sich nicht geändert, auch wenn er merkt, dass er abstumpft. Mehr und mehr abstumpft. Die Kälte kriecht durch seine Knochen und er zieht fröstelnd die Schultern hoch. „Wat machste denn hier draußen, Raffe? Willste festfrieren?“ Der Killer reißt ihn aus seinen Gedanken. Er wirft einen Blick über die Schulter und lächelt den verpennten Polen an. Dessen kurze Haare stehen jetzt noch abenteuerlicher vom Kopf ab als sonst immer. Wahrscheinlich ist das auch der Grund für den krassen Kurzhaarschnitt. Je kürzer die Haare sind, desto weniger können sie sich querlegen. „Ich muss Schluss machen. Rufe dich bald wieder an, Feuerfisch. Mach’s gut.“ „Mach du’s besser, Raffe“, kommt die neckend-liebevolle Antwort, dann ist die Verbindung weg. „Ach, Paolo?“ Der Killer grinst und verschränkt die Arme vor seiner Brust. Ihm ist sichtlich kalt. „Ja.“ Raphael lächelt minimal. Dariusz fasst ihn am Arm. „Komm wieder mit rein. Deine Lippen sind ja schon ganz blau.“ Gehorsam folgt der Mittelfeldspieler und lässt sich auch einfach mit zum Bett ziehen, allerdings nicht, ohne vorher einen Zwischenstopp gemacht zu haben, um die Balkontür wieder zu schließen. „Komm, ich tau dich auf.“ Der Killer grinst und hebt die Bettdecke auffordernd an. „Aber komm mir nicht auf falsche Gedanken.“ Anzüglich hebt Raphael eine Augenbraue und krabbelt darunter. Wohlige Wärme umfängt ihn und sorgt dafür, dass er sich der Kälte seines Körpers umso bewusster wird. „Scheiße, du fühlst dich an wie ein Eisklotz.“ „Du dafür wie eine Heizung.“ Beide müssen sie lachen. Der Killer umfängt ihn einladend mit seinen Armen und erlaubt ihm, sich noch etwas näher zu kuscheln. Einfach so. Etwas, das Raphael niemals erwartet hätte. Weder er noch Dariusz sind sonst solche Kuscheltypen, doch hier und jetzt ist das okay. Mehr als okay. Diese Wärme ist ihm äußerst willkommen. „Sag mal...“ „Mhm?“ Raphael hebt unwillig den Kopf und blickt Dariusz an. Er war gerade dabei, einzudösen. „Wie... wie ist das eigentlich, einen Mann zu küssen?“ Eine helle Röte überzieht die Wangen des sonst so harten Verteidigers und sorgt dafür, dass sich Raphael ein Auflachen verkneifen muss. „Wie schon? Ist einfach ein Kuss.“ „...ist es anders als mit Frauen?“ „Es ist mit jedem Menschen anders.“ „Mhm...“ Dieser Laut sagt mehr als hundert Worte und Raphael muss grinsen. „Willst du’s ausprobieren?“ „Wenn... wenn du das würdest...“ „Warum nicht?“ Jetzt muss er lachen. „Wir sind doch Freunde, da kann man das doch einfach mal ausprobieren. Aber keine Sorge, ich verguck mich auch nicht sofort in dich.“ „Na, da bin ich ja beruhigt. Meinen Hintern kriegste nämlich nicht!“, kontert der Killer sofort, woraufhin Raphael mit der einen Hand provozierend in eben dieses Hinterteil hineinkneift. „Schade drum.“ Sie müssen beide lachen, doch als sie aufhören, ist das eine nervöse Spannung zwischen ihnen. „Darf... darf ich wirklich?“ „Ja.“ Raphael sieht zu, wie der Killer langsam das bisschen Abstand zwischen ihnen überbrückt. Dann legen sich warme Lippen auf seine. Ganz eben, ganz vorsichtig und zurückhaltend, richtig schüchtern. Er muss unwillkürlich lächeln. Niedlich. Einfach nur niedlich. Seine Zunge streicht sachte über die fremden Lippen und zögernd kommt ihm Dariusz entgegen. Die dunklen Augen blicken ihn noch einen kurzen Moment an, dann flattern die Lider zu und Raphael spürt, wie Unsicherheit Neugierde weicht, wie Dariusz sich mehr auf den Kuss einlässt, mit der Zungenspitze sachte über seine Unterlippe fährt, gegen seine eigene Zunge stupst. Der Kuss wird langsam intensiver. Ganz langsam. Aber sie haben ja alle Zeit der Welt. Als sie sich schließlich von einander lösen, ringen sie beide etwas nach Atem. „Mhm... Nicht schlecht“, bricht der Killer schließlich die Stille. „Na, das will ich doch hoffen. Bisher hat mich noch niemand einen schlechten Küsser genannt.“ Raphael grinst breit. „Aber ich glaub, ich bleib bei meinem Ufer.“ „Kein Problem. Und falls du’s dir noch mal überlegst, kannste ja immer noch zu mir kommen“, antwortet Raphael lachend und lehnt seinen Kopf gegen Dariusz’ Schulter. Müde schließt er die Augen. Wenigstens ist ihm nicht mehr kalt. Kapitel 8: VIII. Wenn man für Fußball Teamgeist, Vertrauen und Spaß braucht --------------------------------------------------------------------------- Knie hat beschlossen, dass sie ihren Teamgeist verbessern müssen. Und das heißt, dass sie nicht nur allein in kleinen Gruppen Fußball zusammenspielen, um diesen zu fördern und ihr Zusammenspiel zu verbessern, nein, das heißt auch, dass er ihnen alles Mögliche an anderen Teamsportarten serviert. Sie spielen Volleyball und Basketball. Er hat sogar den alten Schulsport Völkerball ausgegraben, was die meisten von ihnen in den ersten Jahren der weiterführenden Schule das letzte Mal gespielt haben. Zur Krönung gibt es dann sogar noch Handball und Wasserball. Kurzum: Alles, wo ein Ball mit im Spiel ist und sie als Mannschaft zusammenspielen müssen. Nur Football und Rugby lassen sie aus, wahrscheinlich, weil er Angst hat, dass sie sich sonst ernsthaft verletzen. Doch damit nicht genug. Nein, er will auch ihr Vertrauen fördern und macht dafür entsprechende Spielchen. Einer von ihnen muss auf zwei Turnkisten klettern und sich von dort aus rückwärts in die Arme von sechs Mitspielern fallen lassen. Eigentlich eine ganz leichte Sache. Raphael gehört zu der ersten Siebenergruppe, die sich dieser Aufgabe stellt, während die anderen weiterkicken. Julian lässt sich fallen – kein Problem. Alejandro lässt sich fallen – kein Problem. Christian lässt sich fallen – kein Problem. Bei so was sind alle Schwierigkeiten zwischen ihnen doch vergessen. Genauso bei Kietz. Auch bei Stefan ist das kein Thema. Noch weniger bei dem Killer. Und jetzt muss er selbst auf diese Kisten klettern und schaut zu den anderen runter. Auf einmal wird ihm flau im Magen. Scheiße. Wenn der Killer da nicht stehen würde, dann würde er das jetzt nicht machen. Bei dem ist er sich wenigstens wirklich sicher, dass er ihn auffangen wird, auffangen will. Aber bei den anderen... Wenn sie nicht müssten... Was wäre dann? Er dreht sich langsam um und spürt, wie sein Herz in der Brust rast. Das ist unlogisch. Natürlich werden sie ihn nicht auf den Boden knallen lassen. Knie würde ihnen was erzählen. Aber... Sein Vertrauen in diese Menschen ist weg. Einfach so. Und das erschreckt ihn. Er kreuzt die Arme auf der Brust und lässt sich mit zusammengebissenen Zähnen fallen. Wenn er noch länger zögert, dann fällt es auf und das will er nicht. Nein, er muss sich fallen lassen. Das geht doch gar nicht anders. Also tut er es. Das Gefühl der starken Arme, die ihn auffangen, ihn halten, ist im ersten Moment einfach unbeschreiblich. Ihm entweicht ein leises Aufkeuchen und er öffnet die Augen, die er unwillkürlich geschlossen hat. Mehr oder weniger sachte wird er auf den Boden gestellt und er hält sich erst einmal an der Schulter des Killers fest, weil ihn seine Beine nicht so recht tragen wollen. Er hätte nie gedacht, dass sich ein solches Kinderspiel so anfühlen kann. Die Blicke, die ihm Knie und Alejandro zuwerfen, die machen mehr als deutlich, dass sie verstanden haben, was in ihm vorgeht. Dass sie ihn durchschaut haben. Dass er nach den Querelen in den letzten Tagen das Vertrauen verloren hat. Ihn trifft diese Tatsache sehr, doch gleichzeitig ist er sich auch ziemlich sicher, dass es einigen der anderen genauso gehen wird. Knie hat sich diese Übung ja nicht nur speziell für ihn ausgedacht. An Vertrauen fehlt es ihnen allen wohl im Moment. Weiter geht es zur nächsten Runde Fußball. Raphael hat den Kopf gesenkt und schaut auf seine Füße, während die nächste Siebenergruppe an ihnen vorbeigeht und sich der Vertrauensfrage stellt. „Ich habe Vertrauen in dich.“ Julian ist schneller an ihm vorbei, als er die leisen Worte wirklich begriffen hat. Doch dann macht es „Klick“ und er schaut dem blonden Mittelfeldspieler verblüfft nach. Er... hat Vertrauen in ihn? Nach allem, was passiert ist? Gerade von Julian hätte er anderes erwartet. Besonders nach ihrem letzten Gespräch, aber... er hat Vertrauen. Einfach so. Er beißt sich auf die Unterlippe, um ein breites, äußerst dämliches Grinsen zu verhindern. Julian hat Vertrauen in ihn. Wow. Knie schaut sich das Training schon eine Weile an und schüttelt den Kopf. Sie strengen sich an, sie geben ihr Bestes, aber er vermisst etwas. „Okay, Jungs, habt einfach mal ein bisschen Spaß mit dem Ball.“ „Wat?“ Der Killer bringt mal wieder auf den Punkt, was sie alle denken. Verwirrt sehen sie ihren Trainer an. „Was ist daran so schwer zu verstehen? Ihr liebt Fußball, also geht auf den Platz und habt ein bisschen Spaß mit dem Ball. Spielt gegeneinander, miteinander. Erinnert euch daran, dass Fußball auch Spaß macht und nicht nur eine Pflicht ist, die ihr zu erfüllen habt, weil ihr so einen dusseligen Vertrag besitzt. Spielt! Habt verdammt noch mal Spaß!“ Damit scheucht er sie mit heftigen Handbewegungen davon. Sein Co-Trainer Rudolf grinst breit. Er amüsiert sich sichtlich über ihre Verwirrung. „Was zur Hölle will er?“ Raphael schüttelt den Kopf und kapiert gar nichts mehr. Sie haben doch Spaß, oder nicht? „Du und ich? Spielen?“ Gabriel ist neben ihn und spricht ihn in seinem gebrochenen Deutsch an. „Okay.“ Er lächelt und nickt leicht. Warum nicht? Kann er wenigstens noch ein bisschen mehr von dem Brasilianer lernen. Lässig kicken sie sich den Ball zu. Hin und her, hin und her. Dann beginnt Gabriel zu tricksen, nimmt den Ball hoch an, lässt ihn gezielt aufticken und springt zur Seite, wie um einem unsichtbaren Gegner auszuweichen, und spielt ihn dann ganz locker zu Raphael zurück. „Mach das noch mal“, bitte dieser und der Brasilianer tut das mit einem breiten Grinsen, sodass die perlweißen Zähne blitzen. Fasziniert beobachtet Raphael diese Bewegung und meint dann: „Ich versuch’s auch mal!“ Doch der Ball tickt zu weit weg und sorgt dafür, dass er ihm nachrennen muss. So geht es weiter. Jedes Mal, bis Gabriel schließlich lachen muss. „Relax. Kein Wettkampf, nur Spaß. Ball spüren, mit Herz spielen, nicht mit Kopf“, erklärt er grinsend und schüttelt den Kopf. Raphael zieht eine Schnute. „Leichter gesagt, als getan.“ „Schau.“ Gabriel beginnt, den Ball mit den Füßen, den Beinen, der Brust hochzuhalten. Einfach so, nur zum Spaß. Das ist es doch, was sie früher immer gemacht haben. Zum Spaß. Nicht, weil es viel bringt, sondern weil es Spaß macht. Dann kickt Gabriel den Ball zu Raphael hinüber und dieser nimmt ihn mit dem Knie an, schubst ihn hoch in die Luft, macht einen Kopfball zu dem Brasilianer zurück und muss lachen. „Genau.“ Gabriel grinst breit und nickt, als wenn Raphael gerade etwas sehr Wichtiges getan hätte. Sie spielen sich den Ball weiter zu, tricksen ein wenig, machen schnelle Doppelpässe und vollkommen schräge Versuche, den Ball mal anders zu dem Mitspieler zu befördern. Und auf einmal ist es nicht mehr frustrierend, wenn Raphael im Gras landet, sondern er lacht darüber. Er lacht darüber, wenn er auf den Ball tritt oder bei einem komischen Trickversuch das Gleichgewicht verliert. Was macht das schon? Fußball macht doch Spaß! ...genau. Ganz genau, das ist es. Spielspaß. Spaß am Sport, an der Bewegung, am Ball. Er weiß gar nicht mehr, wann er das das letzte Mal so überdeutlich empfunden hat. Da waren vor allem Ehrgeiz, Stress, Frust, Verbissenheit, Wut im Bauch. All das, aber kein Spaß mehr. Es ist, als wenn sich der Knoten in seinem Bauch löst. Als wenn die letzten anderthalb Jahre Frust und Versagen von ihm abfallen und nur das übrig bleibt, worum es wirklich geht: Fußball. Ein Fußball, der wirklich Spaß macht. Kapitel 9: IX. Wenn Blut fließt ------------------------------- Der Zusammenprall ist nicht der erste an diesem Tag. Sie sind hitzig bei der Sache, voller Ehrgeiz und Elan, aber auch voller Spielfreude. Christian und Raphael spielen wieder gegeneinander, es scheint, als wenn der Trainer sie austesten will. Jetzt rasseln sie wieder zusammen, ein simpler Zusammenprall einfach, aber Christians Stollen haben getroffen. Raphael bleibt keuchend auf dem Rücken liegen. „Oh, scheiße!“ Chris’ Ausruf sagt alles. Mehr, als Raphael eigentlich wissen will. Noch tut es nicht weh, aber er spürt, die plötzliche Wärme auf seiner linken Wade, die ihm mehr verrät, als ihm lieb ist. Er atmet schnell, spürt das Heben und Senken seines Brustkorbs und starrt in den Himmel. Grau sind die Wolken. Wahrscheinlich wird es nachher mal wieder regnen... Dann ist Julian da und blickt auf ihn herunter. Sein Gesicht ist ganz bleich, seine grünen Augen sind unnatürlich groß. „Doc! Verdammt, Doc!“, brüllt Julian in dem Augenblick über den Platz, Alejandro stimmt nur einen Wimpernschlag später in den Aufschrei ein. Auch er ist ganz blass, als er auf seinen Teamkameraden herunterblickt. „Verdammt, das wollte ich nicht!“ Chris ist vollkommen aufgelöst und bringt dadurch den noch immer äußerst benommenen Raphael dazu, ihn anzusehen. „Weiß ich...“, murmelt dieser matt und hebt jetzt doch Bein und Kopf, um sich die Bescherung anzusehen. Uh... Das hätte er vielleicht doch besser nicht getan. Blut sprudelt als einer hübsch tiefen Wunde. Die Stollen haben die Haut aufgerissen und sich richtig tief in das Fleisch gebohrt. Scheiße. Und jetzt kommt auch der Schmerz. Raphael stöhnt leise auf und beißt die Zähne ganz fest zusammen, ansonsten brüllt er jetzt den ganzen verdammten Sportplatz zusammen. Was für ein Mist! Chris’ Hand streicht ihm fahrig über die Schulter. Er spürt es überdeutlich, sieht ungewohnt klar die Regungen auf Julians Gesicht. Dann fängt sich auf einmal alles an zu drehen. Oh nein... Er kippt doch jetzt nicht um! Verdammt, wer hat das seinem Kreislauf eigentlich erlaubt? Das Bild vor seinen Augen wird langsam dunkler, nur noch Schemen kann er erkennen. Schwach hört er noch Doktor Wicharts Stimme, dann umfängt ihn Dunkelheit. Als er wieder wach wird, liegt er am Spielfeldrand auf dem Rücken. Die Wolken sind noch immer grau, haben sich aber ein bisschen bewegt. Wenigstens kommt es ihm so vor. „Er ist wach!“, hört er eine vertraute Stimme, die er im ersten Augenblick nicht zuordnen kann. Jetzt merkt er auch, dass da jemand ist, der seine Knöchel umfasst und seine Beine ein Stück in die Höhe hält. „Einen Augenblick noch.“ Druck liegt über seinem linken Bein und er wendet den Kopf ein wenig, um dorthin sehen zu können. Doktor Wichart steckt gerade den Verband fest. „Schön, dass du wieder bei uns bist.“ Ein erleichtertes Lächeln glänzt matt zu Raphael hinunter. Er erwidert es schwach und blickt zu demjenigen hoch, der seine Fußgelenke hält. Julian. Er ist noch immer blass, schafft es aber auch zu lächeln, selbst wenn dieses Lächeln eher schief ist. „Mann, du machst aber auch Sachen.“ Erleichterung liegt in seiner Stimme. „Hey, das war keine Absicht!“, protestiert Raphael schwach. „Weiß ich doch. Chris hat’s auch nicht mit Absicht gemacht.“ „Mhm... Weiß ich.“ „Sag’s ihm nachher noch mal, ja? Der Trainer hat ihn reingeschickt, weil er vollkommen fertig is.“ „Versprochen.“ Er lächelt zu dem blonden Mittelfeldspieler empor. „Und, Doc, was haben Sie angestellt?“ „Die Wunde genäht. Die nächsten Tage hast du Trainingsverbot. Das muss erst richtig heilen. Du kannst allenfalls ein bisschen Krafttraining für den Oberkörper machen, aber nichts, was die Wunde belastet. Das ist sicherer. Und du willst ja nicht gleich für das erste Rückrundenspiel ausfallen, oder?“ „Nee, das sicher nicht.“ Raphael richtet seinen Oberkörper vorsichtig auf und gibt Julian damit zu verstehen, dass dieser loslassen kann. Tut er auch und hockt sich neben den schwarzhaarigen Spieler ins Gras. „Ist nur ne schöne Scheiße.“ „Das kommt vor.“ Wichart lächelt ihn an. „Ich sag Knie Bescheid. Und wenn du dich so weit fühlst, geh auch rüber und zieh dich um. Wenn du Hilfe brauchst, nimm Julian mit... Nein, das ist eh besser, wenn er mitgeht. Falls es dich noch mal umhaut.“ „Geht klar, Doc.“ Raphael salutiert scherzhaft und sieht ihrem Teamarzt nach, wie er über das Spielfeld zu Knie stapft, der schon herübersieht, und sofort von einigen Mitspielern umringt wird. Der Killer, Alejandro, Gabriel und Stefan sind sofort dabei. Er lächelt schwach. Wenigstens gibt es hier doch Leute, die sich Sorgen um ihn machen. „Sollen wir gehen?“, fragt Julian leise. „Mhm.“ Raphael steht langsam auf und nimmt die ausgestreckte Hand dankbar an. Zwar muss Wichart ihm das Bein betäubt haben, aber dieses Mittel lässt so langsam nach. Schmerz pulsiert von der Wade durch seinen Körper und lässt ihn leise aufstöhnen. Am besten belastet er das Bein gar nicht erst. Muss er halt hüpfen, das geht schon irgendwie. Ganz selbstverständlich umfasst Julian ihn an der Taille. „Los, leg den Arm um meine Schulter, sonst sind wir morgen noch hier.“ Leicht spottend ist sein Tonfall, aber auch warm und beinahe schon liebevoll. „Danke.“ „Ist doch klar.“ Kurz drückt der Blondschopf seine Stirn gegen Raphaels Schläfe, so kurz, dass das auch ein simpler Zufall gewesen sein kann, aber so wirklich glaubt das Raphael nicht. Trotz der Schmerzen muss er einen Augenblick lang lächeln. Wenn er sich nicht so beschissen gefühlt hätte, dann hätte er diesen Moment der Nähe wahrscheinlich einfach genossen. Ohne ihn zu hinterfragen und irgendwelche Erwartungen zu haben. Kapitel 10: X. Wenn man etwas alleine nicht schafft --------------------------------------------------- Sobald Raphael auf seinem Zimmer ist, verschwindet Julian und taucht nur Minuten später mit Chris auf, der sich ungefähr hundert Mal entschuldigt – bis Raphael ihm schließlich sagt, dass er ernsthaft sauer wird, wenn sich dieser das noch ein einziges Mal tut. Daraufhin bricht Julian in Gelächter aus und sie flachsen herum, bis es Zeit für das Mittagessen wird. Jetzt ist der Schmerz in seiner Wade einem dumpfen Pochen gewichen, das sich gut ertragen lässt. Nur humpeln tut Raphael noch, weil die normale Belastung des Beins sofort zu richtigen Schmerzattacken führt – und die will er natürlich vermeiden. Außerdem hat Wichart ihm gesagt, dass er sich später eine Krücke abholen soll. Sicherheitshalber. Er ist wirklich nicht sauer auf Chris, hat dessen Entschuldigung nicht nur so akzeptiert – aber er ist frustriert. Er will Fußball spielen, bei diesem Team dabei sein und sich seinen Platz erarbeiten, sich den Respekt und das Vertrauen der Mannschaft wieder verdienen. Aber wie soll er das machen, wenn er jetzt nicht mit ihr trainieren kann? Das macht ihn noch wahnsinnig und sorgt dafür, dass sein Frust nur noch ansteigt. Scheiße. Verdammte Scheiße. Missmutig und mit hochgezogenen Schultern humpelt er durch die Hotellobby. Hier gibt es wenigstens eine kleine Bar, die leckere alkoholfreie Cocktails anbietet – für Alkohol ist es eindeutig zu früh am Tag, auch wenn er nicht übel Lust hätte, sich volllaufen zu lassen. Knie würde ihm dafür nur garantiert was erzählen. „Raffe, kommste mit in den Kraftraum?“ Der Killer schlägt ihm kumpelhaft auf die Schulter. „Wir brauchen nen unparteiischen Schiri. Mürre, Reine und ich ham gewettet, wer die meisten Gewichte stemmen kann.“ Dafür würde sich garantiert auch jemand anderes finden lassen, dessen ist sich Raphael sicher, aber er nickt dennoch. Warum nicht? Dann sitzt er wenigstens nicht nur blöd in der Gegend herum und hängt trüben Gedanken nach, sondern er kann doch ein bisschen was tun. „Super!“ Dariusz drückt ihn an sich. „Wirsses nich bereuen!“ „Ach?“ Raphael muss lachen. Die Wette gewinnt Reine haushoch. Er stemmt die Kilos aber auch nur so, dass Mürre und dem Killer die Augen fast rausfallen. „Gib’s zu, du trainierst zu Hause wie ein Irrer!“ Theodor Mürmann, einer der ältesten Spieler im Team, kann es gar nicht richtig fassen. Raphael muss lachen. „Vor zwei Jahren war Reine schon so hart“, sagt er augenzwinkernd. „Haste wohl nicht mitgekriegt, was?“ Dirk Reinolfs ist aber auch ein echter Bär von Mann, 1,95 groß, entsprechend schwer und ein reines Muskelpaket. Um das zu erkennen, muss man noch nicht einmal genau hinschauen. Daher weiß Raphael auch nicht so genau, wie der zwar recht kräftige Killer und der äußerst hagere Mürre auf diese bescheuerte Wette gekommen sind. „Worum habt ihr eigentlich gewettet?“ Die Frage hat er noch gar nicht gestellt, aber jetzt drängt sie sich natürlich auf. Den Grund für die Wette, den will er lieber nicht wissen. „Äh...“ Die beiden Verlierer werden sichtlich verlegen und drucksen herum. „Reine?“ Der grinst wiederum äußerst breit. „Die beiden kommen morgen in Unterhosen auf den Platz!“ Der Torwart lacht lauthals los. Raphael muss nahezu sofort einstimmen. Auf die Reaktion von Knie und den anderen freut er sich jetzt schon. Eigentlich könnte er ja jetzt aus dem Kraftraum verschwinden, aber er bleibt. Witzelt mit Stefan, Acun und Thijs herum, während diese auf den Ergometern strampeln, motiviert Puck und den Greif, als diese am liebsten eine der Trainingsmaschinen auseinander nehmen würden, holt Wasser und Handtücher, wenn sie gebracht werden, ist einfach da. Als Teamkollege, als Freund und unterstützt alle, wo er nur kann. Für Julian bleibt er sogar länger bei der Gewichtbank stehen und passt auf, für den Fall, dass etwas passiert. Und er kann es sogar mit einem freundlichen Lächeln tun, das nicht aufgesetzt ist – und ohne dieses schmerzhafte Ziehen im Bauch. Stattdessen ist da vielmehr ein ganz leises Kribbeln... „Danke!“ Alejandros Lächeln und dieses simple Wort sagen eigentlich alles. Raphael fühlt sich auf einmal gut und nicht mehr so unglaublich deprimiert. Eine Mannschaft ist doch mehr als elf Leute, die auf dem Platz Fußball spielen. Deutlich mehr. Auch solche Kleinigkeiten gehören dazu und sorgen dafür, dass jeder seinen Platz besitzt und sie ein echtes Team sind. Denn wenn man etwas alleine nicht schafft, dann sollte jemand anderes da sein und helfen. Natürlich ist am nächsten Morgen das Gelächter groß, als der Killer und Mürre nur in Boxershorts, Socken und Fußballschuhen auf den Platz traben. Natürlich als letzte, damit auch ja alles was zu lachen haben. Sogar Knie muss nach einem ersten fassungslosen Moment losprusten. „Wie ihr wollt, Jungs, dann trainiert ihr eben in Unterhosen“, sagt er schließlich trocken und ist nicht so gnädig, die beiden Verteidiger zum Umziehen wieder reinzuschicken. Die beiden sehen recht bedröppelt aus, doch dann straffen sie ihre Schultern. Ein echter Dortmunder kennt eben weder Schmerz noch Schande. „Die beiden Deppen werden sich noch erkälten“, murmelt Knie, während die Mannschaft sich warmläuft. Raphael steht neben ihm und stützt sich auf eine Krücke, um sein verletztes Bein etwas zu entlasten. „Nun, wir könnten so nett sein, ihnen wenigstens T-Shirts und Jacken zu holen“, erwidert er grinsend. „Wäre doch dumm, wenn sie noch ausfallen, oder?“ „Wie wahr.“ Knie seufzt und nickt Rudolf zu, der sich auch schon auf den Weg ins Hotel hinüber macht. Das Training über läuft Raphael immer wieder über den Platz, bleibt hier und dort stehen und schaut seinen Mitspielern zu. Er studiert ihre Laufwege, ihre Arten der Ballabgabe und -annahme. Er schätzt sie ab, nimmt sich Zeit, sie zu beobachten und mehr über sie zu lernen. Letztlich lässt er sich neben einem der kleinen Testspiele ins Gras fallen. Acun, Augustin, Julian und der Killer spielen gegen die beiden neuen Stürmer Max Klaus und Daniel Day sowie Alex und René. Seine Augen fixieren den Ball, verfolgen die Bewegungen der Spieler, beobachten ihre Beine, ihre Füße. „Kopf runter!“ Reflexartig duckt er sich und ein Ball saust scharf an ihm vorbei. „Sorry.“ Alejandro trabt heran. „Ist mir irgendwie versprungen. “ „Wenn du die Warnung immer mitlieferst, kein Problem.“ Raphael grinst. „Ich kann nur grad nicht so gut durch die Gegend hüpfen.“ „Mhm.“ Der Kapitän bleibt neben ihm stehen und blickt ihn unschlüssig an. „Was machste?“ „Zusehen, Laufwege studieren, Bewegungen beobachten.“ Die neue und alte Nummer zwölf hebt die Schultern. „Jetzt hab ich ja die Zeit dazu. Sonst geht das im Training immer etwas unter.“ „Mhm.“ Alejandro zieht die Stirn kraus und sieht zu den acht Teamkollegen hinüber, bei denen Max und Daniel gerade einen Doppelpass versuchen, der kläglich scheitert. „Siehst du, Max hat noch nicht kapiert, dass Daniel recht spät startet und er das bei der Ballabgabe berücksichtigen muss. Ansonsten landen seine Bälle immer im Nichts“, formuliert Raphael seine Gedanken und erntet dafür einen erneuten Blick des Kapitäns. „Mhm.“ „Sagst du auch noch was anderes?“ Raphael ist es nun, der die Stirn runzelt und den Kopf ein wenig in den Nacken legt, um zu dem Spanier emporzusehen. „Nö.“ Alejandro muss lachen. „Ich dacht nur grad, dass es vielleicht doch nicht so schlecht ist, dich wieder bei uns zu haben. Ich glaub, wir können dich wirklich gebrauchen.“ Damit wendet er sich ab und läuft zu seiner eigenen Trainingsgruppe wieder zurück. Kapitel 11: XI. Wenn ein kleiner Funke glüht -------------------------------------------- Das erste Rückrundenspiel. Nicht zu Hause in Dortmund, nein, in der Fremde, in Wolfsburg. Dort geht es gegen diese Saison relativ zahnlose Wölfe. Sie sind gutes Mittelmaß, aber nicht mehr. Dieses Mal läuft es bei den Grün-Weißen eben auch nicht rund. Allerdings haben sie gerade den FC unglaublich gut im Griff. Von den rot-weiß-karierten Dortmundern kommt kaum etwas. Es ist deprimierend zuzusehen, wie diese guten Spieler einfach aufgeben. Wie sie nichts versuchen, sich einfach nur der Niederlage hingeben. Raphael presst immer wieder die Hand vor Augen, als wenn er somit das Geschehen aus dem Rasen ausblenden könnte. Am liebsten würde er das auch. Das ist einfach nur grausam. Wenn sie wenigstens so schlecht wären – aber das sind sie nicht! Er hat doch praktisch den direkten Vergleich ziehen können – die Bremer und die Dortmunder im Training. Und wenn er ehrlich ist, dann tun sich die beiden Mannschaften von der Spielqualität sehr wenig. Und die Dortmunder sind abseits des Rasens noch mehr ein Team. Aber warum zur Hölle kriegen die das nicht auf den gottverdammten Rasen übertragen? Warum muss da nur so eine elende Pfeife gehen und auf einmal vergessen sie alles aus dem Training? Warum sind sie gerade noch schlechter als sämtliche Regionalligaclubs, die es gibt? Wo sind Überzeugung, Feuer, Spielfreude, Kreativität und Teamgeist hin? Das, was da auf dem Spielfeld rumgurkt und nur dank unglaublich viel Glück bisher nur 0:2 hinten liegt, das ist doch nicht der FC. Das ist doch nicht sein FC! Raphael verbeißt sich ein schmerzerfülltes Aufstöhnen. Alejandro hat gerade den Ball wie ein Anfänger an den Wolfsburger Marcelhino verloren – und der Brasilianer bestraft so etwas natürlich sofort. Da kann sein Landsmann Gabriel auch noch so sehr mitspurten und da können der Killer, Kietz und ihr neuer türkischer Verteidiger Mustafa noch so sehr mitrennen – keine Chance. „Argh!“ Das ist auch wirklich alles, was man zu diesem Spiel von sich geben kann. Raphael flucht ausgiebig und handelt sich dadurch einige neugierige Seitenblicke seiner Kollegen ein. So ungeduldig, so frustriert und so heftig haben ihn alle lange nicht auf der Bank erlebt. Eigentlich noch nie, denn bisher hat dieser Verein ihm keinen Grund für solche Reaktionen gegeben. Sie alle haben sich mehr oder weniger mit diesem Zustand abgefunden, wirken wie paralysiert, gleichgültig, lethargisch. Als wenn es sie nichts mehr angeht. Nachdem jetzt auch noch der Anstoß in einer Katastrophe endet und sich der Wolfsburger Santana über einen gnadenlosen Fehlpass freuen darf, hält ihn nichts mehr auf der Bank. „Verdammt, Chris, bleib doch mal am Mann!“, flucht er hingebungsvoll los. „Ale, beweg dich mal! Oder haste Wurzeln geschlagen?“ Die anderen, Puck, Tom, Stefan, Alex, Acun und Ersatzkeeper Toni schauen ihn nur an wie blöd. „Himmel, ist euch das so scheißegal, dass wir gerade verlieren?“, faucht er sie an. „Na ja...“ Acun zieht die Schultern hoch. „Ach, du bist Türke, du hast von Ehre keine Ahnung!“ Damit ist Puck auf den Beinen und beginnt, sich ebenfalls die Seele aus dem Leib zu brüllen. Natürlich lässt Acun das nicht auf sich sitzen und ist nur einen Wimpernschlag ebenfalls aufgesprungen und fängt an, ihr Team anzufeuern. Ihr Team. Die sieben Auswechselspieler machen einen Krach, der seinesgleichen sucht. Aber er bewirkt etwas. Er springt auf die Dortmunder Fans über, die ähnlich lethargisch und gelangweilt auf der Tribüne gesessen haben, wie ihre Idole auf dem Rasen spielen. „Raffe, du gehst rein!“ Die Anweisung des Trainers kommt jetzt. Noch vor der Halbzeitpause. Eigentlich hatten sie abgesprochen, dass er erst in der zweiten Hälfte reingeht, aber stattdessen ist es jetzt schon soweit. Die Adleraugen von Knieschewski haben nämlich gesehen, dass sich Gabriel noch totläuft – und er sich außerdem den Fuß vertreten hat. Natürlich würde das neue Juwel der Mannschaft das nie zugeben, aber die Schritte werden schon schwer. Zwei Minuten später steht Raphael auf dem Platz. Es ist ein unglaubliches Gefühl, auf den Rasen zu traben. Die Fans jubeln los, als wenn er der Messias höchstpersönlich wäre. Sie haben ihn nicht vergessen, auch wenn sie ihm alle seinen Wechsel nach Bremen wohl nie verziehen haben. Eine Gänsehaut rast über seinen Rücken und reicht bis in seine Zehenspitzen. Einfach der Wahnsinn! Seinen ersten Ballkontakt hat er, nachdem er Laas den Ball abgenommen hat. Er lässt sich definitiv von niemandem hier ausspielen oder faszinieren. Nicht von einem Fußball, den er besser spielen kann! „Augustin!“ Seine Stimme gellt über den Platz und der Südafrikaner startet, ohne groß darüber nachzudenken. Auf nahezu gleicher Höhe läuft Max mit, lässt sich einfach mitreißen. Zu dritt stürmen sie nach vorne, einfach auf die geballte Wolfsburger Mauer aus immerhin sieben Mann plus Torwart zu. Raphael konzentriert sich ganz auf den Ball, auf das Spiel. Er tanzt einen Wolfsburger aus, einen zweiten, einen dritten. Er hört den Jubel der Fans in seinen Ohren dröhnen genauso die gebrüllten Worte der Wolfsburger Spieler, die überrumpelt werden und ihre Abwehr nicht organisiert bekommen. Sein Pass schießt pfeilschnell in den Nachmittagshimmel empor und senkt sich genau richtig – Augustin ist genau da, wo er sein sollte. Der Kopfball saust auf das gegnerische Tor zu – und zappelt nur einen halben Sekundenbruchteil später im Netz. „Ja!“ Raphael springt in die Luft und reißt die Faust in den Himmel. Beinahe noch ehe er wieder Boden unter den Füßen hat, ist Augustin da, umarmt ihn und hebt ihn lachend hoch. Max, Christian, Alejandro und Julian schließen sich dem Jubel an. Und auch hinten bei den vier Verteidigern und ihrem Torwart bricht die Freude aus ihnen raus. Sie feiern das Tor, als wen sie schon gewonnen hätten. Weil es ein Anfang ist. Ein gottverdammter Anfang, um aus diesem beschissenen Tabellenkeller rauszukommen – und um das Tief des FC endlich zu überwinden. Kapitel 12: XII. Wenn das Feuer zu brennen beginnt -------------------------------------------------- Sie haben das Spiel gegen Wolfsburg nicht mehr drehen können, aber sie haben nur 2:3 verloren. Das ist ein Fortschritt. Ein verdammt großer Fortschritt. Aber das wichtigste ist, dass sich an ihrer Einstellung etwas geändert hat. Wenn man so will, hat das alte Feuer erneut begonnen zu brennen. Das Feuer, sich von niemandem unterkriegen lassen zu wollen. Das Feuer, die Flagge des FC hochzuhalten und den ganzen anderen Profis – denn man fühlt sich immer noch „fremd“ hier in der Ersten Bundesliga – eine lange Nase zu drehen. Wir sind wer! Das ist das Gefühl, das in dem Team brennt und das sie alle dazu bringt, das Training noch mehr zu intensivieren und sich als eine Einheit zu fühlen. Als nächstes spielen sie gegen Leverkusen. Zu Hause. Und Leverkusen ist diese Saison nicht irgendwo unter ferner liefen gelandet, nein, das sind die ernannten Bayern-Jäger, die es dem FCB diese Saison nicht gönnen wollen, erneut den Meistertitel mit nach Hause zu nehmen. Aber um das zu schaffen, müssen sie erst am FC Dortmund vorbei. Die Presse schreibt den Leverkusenern schon vorher drei Punkte zu und auch die Profis der Werkself zeigen sich äußerst siegesgewiss, während man aus dem Dortmunder Lager eigentlich gar nichts hört. Wozu sich mit der Presse befassen? Wichtig ist doch eh nur auf dem Platz. Schon nach fünf Minuten wissen die Leverkusener, dass sie sich verschätzt haben. Die Mannschaft, gegen die sie da gerade spielen, hat nichts mehr mit dem Schlachtvieh der Hinrunde gemein. Da stehen elf hellrot-weiße Dortmunder Spieler vor ihnen, die nichts anderes tun als kämpfen – und sich für einander reinhängen und aufopfern. Jeder Ballkontakt ist gewollt und jedes Mal wird der Ball so verbissen verteidigt, als ob es um das eigene Leben ginge. Raphael sitzt wieder auf der Bank, aber dieses Mal braucht er sich nicht so aufzuregen. Nein, das Team spielt klasse. Wirklich großartig. Sie sind mit Herz dabei und denken richtig. Nur dummerweise fehlen die wichtigen Impulse aus dem Mittelfeld. Alejandro und Gabriel geben sich zwar wirklich Mühe, aber die beiden sind nicht richtig aufeinander abgestimmt. Sie verstehen das Spiel des anderen noch nicht richtig und entsprechend geht ständig etwas schief. Raphael beißt sich auf die Unterlippe und hibbelt auf seinem Platz herum. Verdammt! Er sieht, was da passiert, er sieht die Fehler, die Schwächen, alles! Warum kann er nicht da draußen sein und... Nach dreißig Minuten reicht es Knie. „Raffe, lauf dich warm!“ Diesmal ist es Christian, der für ihn runtergehen muss. Der hochgewachsene Mittelfeldspieler schleicht ihm mit hochrotem Kopf entgegen. „Viel Erfolg“, murmelte er und will schon an ihm vorbei gehen, doch Raphael drückt ihn an sich. „Es ist nicht persönlich“, sagt er leise. „Wirklich nicht.“ Dann trabt er aufs Feld. Auf einmal steht Leverkusen mit dem Rücken zur Wand. Nur, weil sie mit Adler einen wirklich ausgezeichneten Torwart haben, sind sie noch nicht im Rückstand, doch das ist nur noch eine Frage der Zeit. Ihr Tor steht unter Dauerbeschuss und die Dortmunder erarbeiten sich eine Chance nach der anderen. Schließlich wird Alejandro in Strafraumnähe von Bernd Schneider gefoult, weil alles andere gerade keine Wirkung zeigt. Perfekte Freistoßsituation. „Raffe!“ Der Kapitän brüllt nach ihm und lässt gar keine Zweifel daran, dass er diesen Ball treten soll – und das tut Raphael mit größtem Vergnügen. Er schneidet den Ball an, sodass dieser scharf fliegt, so scharf, dass Adler keine Chance hat – aber dafür knallt das Leder gegen das Lattenkreuz. Mit Urgewalt kommt er zurück – und wird von Daniel, der heute ersatzweise für den angeschlagenen Max spielt, mit voller Wucht ins Netz befördert. Der Jubel der Dortmunder kennt keine Grenzen. Sie sind wieder da! So, als wenn sie niemals weg gewesen wären. Nachdem sie Leverkusen mit 3:0 geschlagen haben, wird in der Kabine ausgiebig gefeiert. Doch das reicht nicht. Die halbe Mannschaft trifft sich danach noch in einem kleinen Szeneclub in der Stadt. Dem Miami. Alle, die was auf sich halten, aber noch nicht total abgehoben sind, gehen dorthin. Raphael hält sich bewusst von Julian fern, auch wenn dieser mitgeht. In der Kabine hat ihn sein blonder Ex-Freund halbnackt umarmt und da musste er wirklich an sich halten, um ihn nicht einfach abzuknutschen. Er lässt diese unglaubliche Sehnsucht nach ihm immer wieder in Raphael auflodern, gibt ihm Anlass zur Hoffnung, aber niemals mehr. Schließlich ist Raphael aus lauter Verzweiflung zum Killer geflüchtet, hat ihm einen kurzen Kuss gegeben und der hat ihn lachend an sich gedrückt hat. Keiner in der Kabine hat einen dummen Spruch gebracht, was der Star des Tages mehr als faszinierend findet. Kam das nur wie normaler Jubel rüber oder hat Julian sie alle wirklich so gut dressiert? Immerhin hat er ja schon dafür gesorgt, dass Begriffe wie Schwuchtel und schwule Sau aus der FC-Kabine verbannt wurden. „Hey, träum nicht!“ Alex und Acun schieben ihn nachdrücklich über die Schwelle und die laute Musik des Clubs umfängt ihn. Ja. Feiern und Party machen. Nicht mehr grübeln. Das ist das Beste, was heute noch getan werden kann. Er hat sie schon seit einer Weile im Auge. Blond und zierlich ist sie und hat bemerkenswerte grüne Augen. Eigentlich hat er bisher alle seine One Night Stands danach ausgesucht, dass sie Julian so unähnlich sehen, wie es nur geht, doch diesmal nicht. Er will wenigstens jemanden haben, der ihm ähnlich sieht, auch wenn das vollkommen bescheuert ist. Wie das alles hier vollkommen bescheuert ist. Und widerlich und erbärmlich sowieso. Raphael schiebt den Unterkiefer leicht vor. „Deine nächste Eroberung ausgemacht?“ Christian lehnt sich neben ihm an die Theke. Scheint, als wenn er seine Auswechselung als notwendig begriffen hat oder aber einfach darauf verzichtet, eine Prügelei anzuzetteln, um die gute Stimmung nicht zu verderben. Raphael verflucht sich selbst für diese boshaften Gedanken, aber er kann gerade nicht anders. Julian zieht ihn runter. Allein der Gedanke an ihn, das Wissen darum, dass er direkt neben ihm steht und er ihn nicht berühren kann, ihn nicht so berühren darf, wie er es gerne würde. „Mhm...“ „Die ist doch viel zu jung. Vielleicht neunzehn.“ Julian zieht eine Augenbraue hoch und beobachtet das blonde Mädchen einen Augenblick lang. „Und? Willst du mir sagen, dass ich mit 23 zu alt für sie bin?“ Raphael stellt sein Glas mit lautem Knall auf der Theke ab. „Nein. Ich wollte nur subtil darauf hinweisen, dass du deinen Lebensstil vielleicht überdenken solltest.“ Grüne Augen bohren sich in blaue. In ihnen steht genau der gleiche Ausdruck wie schon vor zwei Jahren, als Julian ihn mit einem stillen Vorwurf für sein Verhalten bedacht hat. Still, bis er es nicht mehr ausgehalten hat und darüber sprach. Nicht, dass es etwas geändert hätte. „Ach, bist du jetzt meine Gouvernante? Oder meine Mutter?“ Raphael wendet sich mit einem Ruck ab und spürt überdeutlich Julians Blick in seinem Rücken, als er auf die junge Frau zugeht und sie geschmeidig antanzt. Soll der Kerl doch dahin verschwinden, wo der Pfeffer wuchs! Soll er verdammt noch mal endlich aufhören! Aufhören, ihn noch um den Verstand zu bringen und dafür zu sorgen, dass er gar nicht mehr klar denken kann! „Wie heißt du?“, fragt er lächelnd über den Lärm hinweg. „Chantal!“ Sie lacht ihn an. Sogar ihr Lächeln gleicht dem von Julian. Kapitel 13: XIII. Wenn Fußball die Welt regiert ----------------------------------------------- Das Achtelfinale im DFB-Pokal steht vor der Tür. Es geht gegen die Amateure von Werder Bremen. Eigentlich ein leichter Gegner und doch sind sie alle unglaublich nervös. In den Pokalspielen haben sie bisher nur geglänzt. Was, wenn sich das jetzt ändert, wo sie in der Liga auch richtig gut spielen? Was, wenn sich jetzt alles ändert? Die Presse hat die Dortmunder zum Favoriten hochgejubelt, vor allem nach den ersten beiden Rückrundenspielen. Sie gelten schon jetzt als die große Überraschung für die Rückrunde und es wird schon spekuliert, ob das nur ein Strohfeuer ist oder ob sich diese Mannschaft wirklich am Riemen reißen und den Klassenerhalt noch schaffen kann. „Jungs, habt Spaß da draußen. Habt einfach Spaß. Denkt immer daran, der Pokal ist Bonus. Worauf es ankommt, ist der Klassenerhalt in der Liga.“ Knieschewskis Worte haben sie alle überrascht. Der Vorstand sieht das etwas anders, denn durch den Pokal kommen so einige Gelder in die viel zu leeren Kassen. Entsprechend nervös und angespannt sind die elf Mann, die neben den Bremern auf den Platz marschieren. Raphael ist nicht unter ihnen. Er gesellt sich wieder zu der Gruppe auf der Bank. So ganz durchschaut er die Logik und die Absichten des Trainers nicht, aber er fügt sich. Wenn es jemanden gibt, dem er vertraut, dann ist es Knie. Dieser hat ihm noch nie etwas Böses gewollt und von ihm hat er bisher nur Wertschätzung für seine Leistung erfahren. Anders als woanders. Dennoch ist es schwer zuzusehen, wie die elf Dortmunder Aufstellung beziehen. Er will schließlich auch spielen. Nichts mehr als spielen! Die Bremer Amateure kommen gut ins Spiel, machen Druck. Die Dortmunder – heute ganz in Rot, da die Bremer in Weiß aufgelaufen sind – spielen unruhig und nervös. Natürlich nutzt das der Gegner aus und innerhalb der ersten Viertelstunde gibt es gleich drei dicke Chancen für sie. Raphael beißt sich auf die Unterlippe, um nicht aufzuschreien. Verdammt, was ist mit den Jungs nur los? Sie können das doch hundert- – ach, Quatsch – tausendmal besser! Und dennoch leisten sie sich Fehler, die ihnen nicht unterlaufen sollten. Es ist Glück, dass sie noch nicht hinten liegen. Und es ist Glück, dass sie zur Halbzeit erst ein Gegentor kassiert haben. „Genau so ein Spiel wollte ich nicht von euch sehen“, beginnt Knie seine Ansprache in der Halbzeitpause in der Kabine. „Ihr habt so viel Angst, dass ihr gar nicht mehr den Ball trefft.“ Der Satz sitzt – das ist an den Gesichtern der Spieler nur allzu deutlich zu sehen. „Ihr sollt Fußball spielen. Denkt nicht an den Stand und das Ergebnis. Spielt einfach. Das ist doch das, wofür ihr geboren seid. Oder nicht?“ Fasziniert beobachtet Raphael, wie sich in den Gesichtern etwas ändert. Diese wenigen Worte haben etwas bewegt. Alejandro lächelt leicht und nickt. Christian und Julian grinsen sich aufmunternd an und so etwas wie neue Energie, neue Kraft durchzieht die Kabine. Hängende Schultern werden zurückgenommen, gesenkte Köpfe aufrecht getragen. Sie werden Fußball spielen! – Das drückt jeder von ihnen aus. Als sie wieder aus der Kabine kommen, hat Knieschewski zur Überraschung aller kein einziges Mal gewechselt. Und dennoch ist die Mannschaft auf dem Platz wie ausgewechselt. Sie drängen nach vorne, suchen die Ballkontakte und die Zweikämpfe. Die Abwehr steht auf einmal sicherer, weil dort keiner mehr Angst vor einem Fehler hat. Es wird bewusst auf Risiko gespielt und darauf vertraut, dass stets ein anderer daneben ist und bereit ist, sich reinzuhängen. Natürlich geht das doch nicht ohne Fehler und brenzlige Situationen vonstatten, aber das Spielgefühl, das ist ein vollkommen anderes. Die Mannschaft, die da jetzt spielt, ist wieder die Überraschung des diesjährigen DFB-Pokals und der Bundesliga-Rückrunde. Nach 60 Minuten gelingt der Ausgleich. Alejandro ist es, der eines seiner seltenen Tore schießt. Ein Traumschuss – er zieht den Eckball direkt aufs Tor. Sonst geht er diese Risiken nie ein, weil er weiß, dass ihm diese Schüsse selten gelingen. Aber heute, heute traut er sich und wird dafür belohnt. Raphael ist längst dabei, sich gemeinsam mit Acun warmzumachen. Sie jubeln an der Seitenlinie wie verrückt, als der Ball einschlägt. Doch die große Überraschung ist, dass der Kapitän – mit Sturm und halben Mittelfeld im Schlepptau – zu ihnen gerannt kommt und Raphael um den Hals fällt. Der weiß gar nicht so recht, wie ihm geschieht, kann Alejandro nur lachend an sich drücken und ihm seine Glückwünsche ins Ohr schreien. Zehn Minuten später dürfen Acun und er rein. Dafür müssen Augustin und Gabriel vom Platz, die sich beide in den 25 Minuten der zweiten Halbzeit total ausgepowert haben. Nur fünf Minuten später wird Stefan eingewechselt – für Julian, wie Raphael mit einem komischen Gefühl im Bauch sieht. Seit dem Abend im Miami haben sie nicht mehr miteinander gesprochen und das tut Raphael doch leid. Er vermisst es, mit Julian zu reden. Vermisst ihn. Ganz einfach ihn. Und er weiß, dass er sich den Grund für diese Spannungen zu einem großen Teil selbst zuzuschreiben hat – aber kann auch nicht raus aus seiner Haut. Nur auf dem Platz, da kamen sie sich bisher immer noch mal irgendwie nahe, da schienen die Abgründe und Abstände zwischen ihnen nicht mehr zu existieren. So, als wenn der Fußball die einzige verbliebene Brücke zwischen ihnen wäre. Was, wenn diese jetzt auch einbricht? Was dann? Raphael mag gar nicht daran denken. Denn wenn er eins kapiert hat, dann, dass er Julian nicht aus seinem Leben verlieren will. Wenigstens gute Kameraden sollen sie sein, wenn sie schon nie wieder Freunde werden können. Wie paralysiert steht er da, sieht Julian nach, wie er das Spielfeld verlässt, bei Stefan einschlägt, dann bei Knie und der gesamten Ersatzbank. „Nicht träumen, Raffe, spielen.“ Alejandro knufft ihn in die Seite und holt ihn aus seiner Starre. Logisch, was steht er hier auch wie ein Depp und starrt Julian hinterher? Er reißt sich zusammen und konzentriert sich auf das, was gerade wichtiger ist: Fußball. Es ist in der 80. Minute, als Raphael und Acun nur zusehen können, wie Adrian im Bremer Strafraum von den Beinen geholt wird. Die Aufregung ist groß und Raphael muss den türkischen Stürmer festhalten, damit der nicht auf den Bremer Torwart losgeht. Die Entscheidung ist eindeutig: Elfmeter für die Karos, die heute ja gar nicht kariert tragen. Ein kurzer Blickwechsel zwischen Alejandro und Raphael. Sie sind beide für die Standards zuständig. Ale ist der bessere Elfmeterschütze, aber er ist müde. Daher nickt er der Nummer zwölf zu. Raphael muss schlucken. Er soll schießen. Er soll diesen wichtigen Ball schießen. Und während er zu dem weißen Punkt geht, Acun ihm auf die Schulter schlägt, der Killer und Mürre ihm zunicken, da kapiert er auf einmal, dass das Vertrauen da ist. Der Mannschaft in ihn. Der einzelnen Spieler in ihn. Und seines in das Team. Da gibt es keine Zweifel mehr. Er legt sich den Ball zurecht und tritt langsam zurück. Er sieht den Keeper nicht an, lässt den Blick nur kurz über das Tor gleiten, ehe er auf den Ball schaut. Für einen Wimpernschlag schließt er die Augen und atmet tief durch. Dann erklingt der Pfiff und er rennt los. Fünf Schritte sind es nur bis zum Ball. Er zieht ab, hämmert das Leder mit aller Gewalt oben rechts unter dem Lattenkreuz ins Netz. Er hat gar keine Energie, weiterzurennen und zu jubeln, all seine Kraft lag in diesem Schuss. Er bleibt einfach stehen. Dann springt ihn Acun von hinten an, brüllt ihm seinen Jubel ins Ohr. Alejandro und der Killer drücken ihn gleichzeitig, ehe sich auch Adrian, Chris und Stefan der Gruppenumarmung anschließen – kurz: alle Dortmunder, die sich in der Nähe des Strafraums befinden. Es gibt Augenblicke, da bedeutet Fußball einfach die Welt. Kapitel 14: XIV. Wenn die Dinge anders laufen als gedacht --------------------------------------------------------- Der Einzug ins Viertelfinale des DFB-Pokals hat der Mannschaft so viel Selbstvertrauen gegeben, dass sie den VFL Bochum im nächsten Liga-Spiel einfach weghauen. Mit 5:1. Das ist der höchste Bundesliga-Sieg in der Geschichte des FC. Natürlich gibt so etwas auch Energie und Selbstvertrauen für die nächsten Spiele. Wie gegen den HSV. In Hamburg spielen sie gegen eine wirklich starke Elf – den zweiten Bayern-Jäger nach Leverkusen – tapfer mit. Das Spiel endet letztlich 1:1, aber darauf können sie wirklich stolz sein. Als sie den Flughafen Dortmund verlassen, sind sie alle in Hochstimmung, selbst Raphael, der einfach keine Lust hat, sich allein durch Julians Anwesenheit und den noch immer zwischen ihnen herrschenden Mangel an Kontakt herunterziehen zu lassen. Auch wenn es ihm wirklich schwer fällt und ihn diese ganze Situation noch innerlich zu zerreißen droht. Wenn Julian nicht so unglaublich ablehnenden wirken würde, würde er sich ja vielleicht dazu durchringen, auf ihn zuzugehen, aber so... So bringt er es einfach nicht fertig. „Raphael!“ Im ersten Moment reagiert er nicht auf die Stimme, die seinen Namen ruft. Er hört ihn zu oft von irgendwelchen Fans. Doch dann knufft ihn der Killer in die Seite und sorgt dafür, dass er der weiblichen Quelle dieses Ausrufs doch Aufmerksamkeit schenkt. „Chantal?“ Verwirrt zieht er eine Augenbraue hoch. Hat er denn nicht deutlich genug gemacht, dass die Sache einmalig war? Sie lacht, fällt ihm zur Begrüßung um den Hals und küsst ihn einfach vor der gesammelten Mannschaft. Und das äußerst hingebungsvoll. „Du...“ Sachte schiebt Raphael sie von sich fort, nur, damit sie ihn wieder umarmt. Er fühlt sich hilflos, während seine Teamkollegen breit grinsen. Er wirft einen kurzen Blick über die Schulter und sieht, wie Julian zusammen mit Puck und Daniel abzieht. Er hat als einziges nicht gelacht. Raphael zieht sich sein Magen schmerzhaft zusammen, als er Chantal den Arm um die Schulter legt und seine Reisetasche schultert. Der Trainer lässt ihn ziehen. Schließlich sind sie sowieso alle getrennt hier am Flughafen angereist. Chantal ist einfach da. Wenn sie kann beim Training, bei den nächsten beiden Liga-Spielen. Sie fährt sogar nach Bremen hinterher, um bei ihm zu sein. So wirklich begreift Raphael nicht, was da geschieht. Er weiß nur eins: Er mag sie. Er mag sie wirklich und deswegen kann er sich nicht einfach so vor den Kopf stoßen, wie er es vielleicht tun sollte. Er kann ihn ja nicht die Wahrheit sagen. Dazu fehlt ihm jegliches Vertrauen. Sie könnte diese Information nutzen und in die Presse bringen... Und dann wäre er erledigt. Dann hätte er vieles nicht tun müssen, was er getan hat. Also schweigt er und nimmt ihre Nähe hin. Sie ist ihm ja auch nicht vollkommen unangenehm. Sie ähnelt Julian so sehr. Und das ist gleichzeitig Balsam und Salz für seine Wunden. Es lindert den Schmerz und lässt ihn manchmal noch stärker brennen. Der Killer hat einige Male mit ihm gesprochen und ihn gefragt, ob er weiß, was er tut. Er weiß es zu schätzen, dass Dariusz sich Sorgen macht, denn er ist der einzige Freund, den er hier hat, der Bescheid weiß. Der einzige, der seine Situation begreift. Außer Julian. Und der bringt dafür keinerlei Verständnis auf. Natürlich nicht. Denn genauso diese Show, diese Spielchen, dieses Theater hasst er wie die Pest. So ist es doch. Und das wird sich nicht ändern. Niemals. Denn das ist einer der großen Abgründe zwischen ihnen. Und seit Chantal ihn am Flughafen abgeholt hat, spricht er überhaupt nicht mehr mit Raphael. Nur noch das aller Notwendigste im Training. Er geht vollkommen auf Abstand, schafft es sogar, ihm bei den Trainingsspielen aus dem Weg zu gehen, obwohl Raphael die unglaubliche Wut in ihm spüren kann. Aber diese Wut versteht er nicht. Warum ist Julian wütend? Zwischen ihnen ist doch nichts mehr, oder? „Verdammt, Julian, jetzt geh endlich mit Raffe in den Zweikampf!“, brüllt Knie schließlich vollkommen entnervt, als die Nummer elf es wieder schafft, den Kontakt zu vermeiden. „Beweg dich, Treschke!“, faucht auch Alejandro los, der eigentlich nur Nachnamen verwendet, wenn er auf 180 ist. Julian presst die Lippen zusammen und Raphael kann sehen, wie widerwillig er ihm entgegenkommt. Doch sobald sie aufeinander prallen, ist das absolut keine Zurückhaltung mehr. Da steckt so viel Wut in Julians Bewegungen, dass Raphael der Atem zu stocken droht. Aber er lässt sich nicht unterkriegen. Er will keine Schwäche zeigen. Nicht vor den anderen, nicht vor dem Killer, der sie mit Argusaugen beobachtet, und am allerwenigstens vor Julian. Sie wickeln die Beine regelrecht umeinander, zerren am Trikot des Gegenspielers und irgendwann passiert genau das, was passieren muss: Ihre Beine verhaken sich, sie kugeln übereinander und fallen. Raphael keucht leise, als Julian auf ihm landet und ihm die Luft aus den Lungen presst. Benommen bleibt er liegen und schaut den blonden Mittelfeldspieler an. Kurz treffen sich ihre Blicke. Sturmbrodelndes Grün bohrt sich in unruhiges Blau. Irgendetwas ist da in dem Grün. Dessen ist sich Raphael auf einmal sicher. Vielleicht... „Ich...“, setzte Raphael an. „Lass es!“, faucht Julian jedoch augenblicklich zurück und ist mit einem Satz auf den Beinen. Es ist wohl eine absolute Illusion zu glauben, dass Julian ihm überhaupt zuhören würde. Der Trainingstag hat es damit in sich. Nicht nur, dass Julian ihn danach in jedem Zweikampf mit unverminderter Härte angegangen ist, nein, der Killer hat natürlich in der Kabine nachgefragt und seine Sorge zum Ausdruck gebracht – und das ist einfach das letzte, was er jetzt gebrauchen kann. Er will nicht über Julian nachdenken, weil dieser ganze Mist so unglaublich verfahren ist – und ihm so beschissen weh tut. Und jetzt liegt er hier im Bett, Chantal schmiegt sich an ihn und ihre blonden Haare kitzeln seine Wange. Er wünscht, es wären die Haare jemand anderes. Es wäre der Atem jemand anderes, der über seine bloße Haut streicht und ihm eine Gänsehaut beschert. Und er wünscht, es wäre jemand anderes, der seine Nähe so genießt. „Ich liebe dich...“ Ihre Worte sind leise und im Halbschlaf gemurmelt, während sie sich noch etwas enger an ihn schmiegt, doch sie gehen Raphael durch und durch. Sein Herz scheint einen Augenblick lang auszusetzen und in seinem Magen zieht sich ein eisiger Klumpen zusammen. Wie sehr wünscht er sich, dass diese Worte von jemand anderes kommen würde. Und dass er sie nicht gehört hätte. Nicht von ihr. Denn das macht alles noch komplizierter und lässt seine eigene Sehnsucht noch viel, viel heißer brennen. Kapitel 15: XV. Wenn die Tage manchmal einfach schwarz sind ----------------------------------------------------------- Am liebsten würde Raphael heute gar nicht auf den Platz gehen. Vor allem nicht gegen die Dortmunder Borussen. Doch ausgerechnet heute hat Knie ihn in die Anfangsaufstellung aufgenommen. Anstelle von Christian, der einen Muskelfaserriss aus dem Training davongetragen hat und die nächsten zwei Wochen aussetzen muss. Am liebsten würde er einfach zur Bank marschieren und sich drauffallen lassen, zuschauen und fertig. Aber so einfach ist das eben nicht. Und er kann ja auch nicht sagen, dass er heute einfach so ein beschissenes Gefühl im Bauch hat, dass er am liebsten keinen Ball anrühren würde. Alle sehen sie in ihm so eine Art Retter, einen Helden, mit dem die Mannschaft besser ist als zuvor. Dabei ist das Blödsinn. Alles, was er getan hat, ist die anderen an das zu erinnern, was sie können. Etwas, das sie selbst früher oder später begriffen hätten. Dass er niemand Besonderes ist, das hat er in den letzten anderthalb Jahren äußerst deutlich gelernt. Und niemals wieder würde er sich selbst so wahrnehmen wollen. Wie mechanisch und mit steifen Bewegungen geht er hinter Julian auf den Rasen hinaus. Ausgerechnet hinter Julian. Er kann nur allzu deutlich sehen, wie sich die blonden Strähnen in seinem Nacken leicht ringeln, weil sie etwas zu lang sind. Wie sie die zarte Haut berühren und regelrecht danach schreien, dass er sie berührt und liebkost... Er blickt zu Boden und beißt die Zähne zusammen. Scheiße. Das Spiel ist von Anfang an völlig zerfahren. Nicht nur er hat heute einen schlechten Tag, irgendwie geht es allen so. Dabei scheint sogar die Sonne und es ist gar nicht so kalt, hier in dem Dortmunder Signal Iduna Park. Die Kulisse ist der Wahnsinn, die Fans pushen sich gegenseitig – und dennoch ist das Spiel einfach nur Mist. Vor allem vom FC. Sie lassen sich ausspielen, austanzen, stehen lassen. Wie Anfänger, wie Idioten. Das Spiel ist noch nicht einmal hitzig – die Borussen haben es nicht nötig und die Karos sind viel zu lethargisch, um auch mal zu stechen. Sie kriegen das Spiel aber auch einfach nicht auf die Reihe. Raphael läuft, arbeitet, versucht zu kämpfen, aber wenn er den Ball dann mal hat, ist er ihn unglaublich schnell wieder los. Und wenn er eine Flanke schlägt, landet sie irgendwo im Nichts. Es ist zum Haare raufen. Zum Kotzen. Anders kann man das gar nicht sagen. Wieder rutscht er am Ball vorbei und bringt dadurch Julian in höchste Bedrängnis. Der sieht sich nämlich auf einmal einem äußerst gewieften Dede gegenüber. Nur mit Müh und Not kann die Nummer elf ihm den Ball abnehmen und ins Aus schlagen, damit ihre Abwehr sich sortieren kann. „Scheiße. Kannst du nicht wenigstens auf dem Platz vernünftig denken und nicht nur Mist bauen?“, faucht Julian ihn aggressiv an. Und ehe Raphael irgendetwas darauf antworten kann, ist Julian auch schon an ihm vorbeigerauscht. Diese Satz sitzt. Aber so richtig. Macht er denn wirklich alles falsch? Seine Gedanken gleiten zu Chantal, zu der verfahrenen Situation mit Julian und er hat das Gefühl, dass es stimmt. Dass es einfach nur stimmt. „Verdammt, Raffe! Steh da nicht wie angewachsen!“ Mürre brüllt ihn an, als der Ball an ihm vorbeisaust und wegen seiner mangelnden Reaktion im Aus landet. Der gute Versuch, die Borussen wieder zurückzudrängen, geht damit absolut schief. Raphael versucht, sich zusammenzureißen. Er geht mit in die Defensive, versucht Buckley den Ball abzunehmen, scheitert aber kläglich. Wieder rutscht er über den Rasen ins Leere. Er sieht noch, wie Buckley schießt und der Killer sich dazwischen wirft. Doch anstatt, dass dieser den Ball ins Aus lenkt, wird das Leder unhaltbar und schlägt neben Reine ins Netz. Entsetzen auf Seiten der Karos, während die Schwarz-Gelben jubelnd davon stürmen. Der Killer bleibt sitzen und starrt fassungslos in ihr Tor. Eigentor. Das erste in seiner Karriere. Reine tätschelt ihm den Kopf, obwohl er vor Wut beinahe überkocht. Sonst geht gerade keiner zu ihrem Verteidiger. Das ist wirklich symbolisch für ihr schlechtes Spiel. Raphael rappelt sich langsam hoch und geht hinüber, fasst Dariusz am Arm und zieht ihn hoch. Abrupt drückt er ihn an sich und fährt ihm durch die stacheligen Haare. Er sagt nichts weiter, umarmt ihn nur und spürt, wie die Anspannung ein wenig aus dem Körper des anderen weicht. Aber die Stimmung bleibt. Da kann er nichts gegen machen, vielleicht auch, weil er selbst so empfindet. Dieses Eigentor tut so weh, als wenn es ihm selbst passiert wäre. Als wenn er es selbst geschossen hätte. Der Killer lächelt schwach, das kann Raphael an seiner Halsbeuge spüren, wo der Verteidiger sein Gesicht vergraben hat. Dann strafft dieser seine Schultern und tritt zurück. Das Nicken und der lange Blick aus den dunklen Augen sagen mehr, als es tausend Worte in dieser Situation gekonnt hätten. Sie haben Anstoß und selbst jetzt kommt der Ball von Alejandro total eirig daher. Im Endeffekt ist es absolut egal, was Raphael jetzt noch tut. Wenn keiner mitzieht, dann wird das nichts. Dann verhungert er am ausgestreckten Arm und ackert wie blöde für nichts – wie Julian, der sich wirklich reinhängt und kämpft. Raphaels Augen ruhen auf seinem blonden Ex-Freund, verfolgen seine Bewegungen, während er versucht dran zu bleiben, aber seine Beine wollen einfach nicht so, wie er es denn will. Heute geht einfach alles schief. Jetzt läuft ihm Wörns so richtig blöd für die Füße und er kann gar nicht anders, als ihn umzuhauen. Natürlich bekommt er dafür Gelb. Das war klar. Absehbar, total vorhersehbar und unnötig. Und Julians Blick sagt das natürlich mehr als deutlich, dass er diese Aktion total daneben findet, besonders, weil die ihnen einen gute Chance versaut hat, wenigstens endlich einmal einen einzigen ersten Angriff auf die Beine zu bekommen. Raphael senkt den Kopf. Er hat keinen Bock mehr. Er will einfach nicht mehr. Das ist wohl das erste Mal in seinem Leben, dass ihm Fußball überhaupt keinen Spaß macht. Dass er einfach nur hofft, dass dieses Spiel bald vorbei ist und sie nicht vollkommen abgeschossen werden. Gerade im Derby, da wäre das ja noch oberpeinlicher als ohnehin schon. Kapitel 16: XVI. Wenn man einfach mal einen Freund braucht ---------------------------------------------------------- „Was war das denn am Samstag für ein Gegurke?“ Paolo bringt es am Telefon schlichtweg auf den Punkt. „Streu noch Salz in die Wunde, Fischchen“, murrt Raphael und lehnt sich auf seinem Sofa zurück. Der Trainer hat ihnen so viele Extraeinheiten verpasst, dass ihnen Hören und Sehen vergangen ist. Und dabei spielen sie noch diese Woche im DFB-Pokal-Achtelfinale. Aber Knie hat knallhart gesagt, dass ihm der Pokal egal ist und es nur auf die Liga ankommt. Der Pokal ist Kür. Nichts anderes. Allein der Klassenerhalt ist wirklich wichtig. „Hey, Kopf hoch. Ihr macht die am Donnerstag noch nass.“ „Oh ja... Genau. Vor allem, nachdem wir jetzt erst einmal 0:3 in deren Stadion verloren haben. Fünf Tage später spielen wir dann total anders, klar.“ Raphael verdreht die Augen. Sie haben alle schon darüber gemeckert, wie beschissen das ist, nur ein paar Tage später noch mal gegen den gleichen Gegner zu spielen, aber Auslosung ist eben Auslosung. Und da kommen auch mal solche kuriosen Dinge zustande. So ist der Pokal nun einmal. „Du lässt dich ja total hängen.“ Raphael kann das Kopfschütteln des Italieners regelrecht hören. „Ach, du hast keine Ahnung. Das ist alles so beschissen verfahren.“ Der Mittelfeldspieler beugte sich vor und stützt die Stirn in seine freie Hand. Der Fußball, Chantal, Julian... Besonders Julian… „Dann muss ich wohl vorbeikommen und mir ein Bild davon machen.” Lachen klingt durch die Leitung zu ihm zurück. „Echt jetzt?“ Schlagartig springt er auf. „Geht das denn? Du... du musst doch trainieren, oder?“ „Bin suspendiert“, kommt die knappe Antwort. „WAS?“ „Hey, reg dich ab.“ Paolos Lachen klingt herüber. „War nur so eine dumme Sache... Na ja... Ich werde mir für die nächste Saison einen neuen Verein suchen müssen und komme wahrscheinlich nach Deutschland zurück. Köln hat Interesse angemeldet und das ist ja gar nicht so weit von Dortmund weg...“ Raphael weiß nicht, was er antworten soll. Natürlich ist es absoluter Mist, dass es für Paolo so schlecht läuft, aber andererseits freut er sich wie die Hölle, dass er herkommen kann. „Jetzt freu dich wenigstens, sonst komm ich doch nicht.“ „Natürlich freu ich mich!“, erwidert er sofort. „Aber... Es ist scheiße, dass es für dich nicht läuft.“ „Tja...“ Das Achselzucken ist fast hörbar. „Scheint, als wenn Italien doch nicht meine Welt ist. Blöd, aber wahr. Das kann man nicht ändern. Deutschland mag mich offenbar lieber, also gehe ich nach Deutschland. So einfach ist das.“ „Was denn, kein Nationalstolz?“ Raphael muss lachen. „Bei dem Rumgeschiebe hier mit den Punkten und dem Geiere um das ewige Geld? Lass mal stecken. Da bin ich lieber staatenlos als Italiener.“ Paolo macht eine kurze Pause. „Aber wenn du das meiner Mutter sagst, dann muss ich dich umbringen. Das weißt du!“ Raphaels Lachen wird nur lauter. Klar, Paolos Mutter ist Italienerin durch und durch, die würde verrückt werden und ihren erwachsenen Sohn windelweich prügeln, wenn sie wüsste, was er über sein Land sagt. „Ja, ja, lach du nur. Ist besser, als wenn du so depressiv klingst.“ Paolo macht eine kurze Pause und fährt dann fort: „Hör mal, ich werde Donnerstag ankommen und bei dem Spiel dabei sein. Danach können wir dann entweder zusammen feiern oder uns hemmungslos besaufen, weil alles scheiße gelaufen ist, okay?“ „Das klingt einfach nur super.“ Raphael strahlt vor sich hin und spürt richtig, wie die düsteren Gedanken und diese dauernde Verzweiflung von ihm abfallen. „Freut mich. Bis Donnerstag dann. Hey, und denk dran: Du bist Fußballer, also spiel auch so!“ Dann erklingt das Freizeichen und er hat aufgelegt. Raphael lächelt noch immer und legt das Telefon langsam weg. Auf einmal scheint die Sonne doch wieder zu scheinen, obwohl es draußen so trist und bewölkt ist. Gerade war er ja noch müde, aber jetzt... Er zieht sich seine Trainingsklamotten an, schnürt seine Turnschuhe und geht laufen. Einfach mal wieder so, ohne Druck und Trainingsstress, einfach nur um zu laufen. Er wohnt etwas außerhalb und entsprechend dauert es nicht lange, bis er ein kleines Wäldchen erreicht. Seine Schritte führen ihn federnd den Waldweg entlang. Es tut gut, einfach nur den eigenen Körper zu spüren. Wie die Muskeln für jeden Schritt arbeiten. Wie er die Füße aufsetzt, abrollt und hebt, wieder aufsetzt, abrollt und hebt. Wie er atmet, tief Zug um Zug, und sich sein Atem langsam etwas beschleunigt. Wie der leichte Wind in seine schwarzen Haare greift und sie ihm aus dem Gesicht weht. Wie sich diese leichte Kühle auf seinen Lippen anfühlt. Wie der Boden unter seinen Füßen vorbeizieht, wie er mehr und mehr an Tempo gewinnt und sich dabei einfach nur gut fühlt. Wie er irgendwie langsam wieder zu sich selbst findet. Seine Mitte wiederfindet und das Gefühl hat, nicht mehr neben sich zu stehen, sondern wieder ganz bewusst er selbst zu sein. Langsam beginnen die Gedanken zu rollen. Chantal... Er muss mit ihr reden. Ihr die Dinge erklären, ehe er ihr noch mehr weh tut, als es ohnehin der Fall ist. So kann das nicht weitergehen. Er muss ihr ja nicht unbedingt auf die Nase binden, dass er schwul ist und sie nur sein Alibi... Er hat ja schließlich keine feste Beziehung haben wollen – sie ist es doch, die einfach nicht wieder ging... Gut, er weiß, dass er sich jetzt etwas vormacht. Er hat auch Schuld an dem allen. Natürlich hat er die. Genauso wie bei der verfahrenen Situation mit Julian. Julian, der noch immer in seinem Herzen ist, darin brennt. Julian, der ihn noch einmal verrückt macht. Weil er ihn nicht mehr haben kann, ihm nicht mehr nahe sein darf und er sich das doch so sehr wünscht. Aber er hat wahrscheinlich zuviel falsch gemacht. Die falschen Entscheidungen zum genau falschen Zeitpunkt getroffen und ihnen beiden viel zu sehr weh getan. Auch wenn da diese kleine Augenblicke waren, in den er Hoffnung haben durfte. Doch jetzt? Nach dem, was Julian ihm in ihren letzten Wortwechseln alles an den Kopf geknallt hat, danach darf er wirklich nicht mehr hoffen. Und doch gibt es da einen kleinen Teil von ihm, der das immer noch tut. Und der nicht bereit ist, Julian in irgendeiner Art und Weise aufzugeben. Doch daran will er jetzt einfach nicht mehr denken. Er strafft den Rücken, hebt den Kopf und blickt den Weg entlang. Jetzt freut er sich einfach auf Paolos Besuch, auf Paolo! Kapitel 17: XVII. Wenn der Pott kocht ------------------------------------- Knie hat entgegen aller Prognosen, aller Expertenmeinungen und Presseberichten die FC-Mannschaft kein bisschen verändert. Es gehen genau die elf auf den Platz, die am Samstag so kläglich versagt haben. Es ist wie eine Schocktherapie. Getreu dem Motto „Da müsst ihr durch, Jungs!“ Und so ist es auch. Der Signal Iduna Park ist dieses Mal wirklich ein Hexenkessel. Blanker Hohn schlägt ihnen von den schwarzen-gelben Borussia-Fans entgegen, während ihre eigenen Fans sie nur schwach verteidigen. Nach dem letzten Spiel ist das aber auch kein Wunder. Das kann man ihnen noch nicht einmal übel nehmen. Nein, sie müssen zeigen, dass sie auch anders können. Sie müssen den BVB auf seinen Platz verweisen – den hinter ihnen. So einfach ist das. Und das können sie nur durch ein verdammt gutes Spiel. Raphael spürt, wie Motivation und Wille in ihm brennen. Er will spielen – so verdammt gut, wie noch nie zuvor in seinem Leben. Und heute ist er selig, dass er wieder in der Startelf steht und von Anfang an ran darf. Auch wenn er wieder direkt hinter Julian einmarschieren muss. Diesmal spielen sie von Beginn an wie aufgedreht. Sie stürmen nach vorne und überrennen die Borussen regelrecht, die damit überhaupt nicht rechnen. Sie haben mit Zurückhaltung gerechnet, mit Demut und Angst. Aber nichts davon ist der Fall. Stattdessen spielt der FC frech auf. Getreu dem Motto „Wir haben nichts zu verlieren!“. Haben sie auch nicht, wenn sie Knie glauben dürfen. Warum nicht also einfach mal so spielen, wie es Spaß macht? Hemmungslos auf Risiko und sich nach vorne werfen? Der Ball landet bei Raphael, der ihn gedankenschnell zu Julian weiterpasst. Er weiß immer hundertprozentig genau, wo sein Mittelfeldpartner ist. Das ist etwas, was wie automatisch funktioniert, wie einprogrammiert. Ganz besonders bei Julian. Die Kugel landet perfekt in seinem Lauf, aus dem Augenwinkel kann er sehen, wie Julian noch mehr an Tempo zulegte, Dede stehen lässt, dann Kovac. Weltklasse ist es, was er da leistet und Raphael kann nicht anders, als zu lächeln. Dann die Flanke rüber zu Augustin, der köpft und trifft die Latte. Der Ball schmettert schräg zurück und landet wieder bei Julian. Erneute Flanke und diesmal ist Raphael mitten in dem Chaos im Strafraum und hält den Fuß einfach hin. Der Jubel ihrer Fans, der durch das Dortmunder Stadion gellt und die Borussen verstummen lässt, raubt ihm beinahe den Verstand. Der Ball ist drin! Zack, einfach drin! Augustin umarmt ihn, reißt ihn jubelnd im Kreis, während er selbst das alles noch nicht fassen kann. Dann ist Julian da, fällt ihm in schierem Taumel um den Hals, drückt ihn an sich – und die Welt steht still. Er spürt Julians Wärme, den feinen Schweiß an seiner Wange, da, wo ihn Julians berührt, die blonden Haare kitzeln ihn an der Schläfe, die Arme liegen so eng um ihn, als wenn sie ihn nie wieder loslassen wollen würde, der Herzschlag pocht so heftig wie seiner und im gleichen Takt. Er presst Julian an sich, mehr aus Verzweiflung und Sehnsucht als aus Freude über sein Tor. Julian. Julian... Acun springt ihn von hinten an, zwingt ihn nahezu dazu, Julian loszulassen, was er widerwillig tut. Er blickt den Blonden an und glaubt in den grünen Augen wieder etwas zu sehen. Sehnsucht und Schmerz... Aber er kann sich auch täuschen. Vielleicht ist es nur Wunschdenken. Und auf einmal macht Julian kehrt, trabt zu seiner Position zurück – und für Raphael ist es wie eine Ohrfeige. Der FC spielt heute wie ausgewechselt. Die Luft im Stadion brennt. Der Pott kocht. Die Borussen wollen sich diese Schmach des frühen Tors nicht gefallen lassen und gehen mit aller Gewalt in die Zweikämpfe. Die Karos – die heute wieder kariert spielen können, da die Gastgeber in Schwarz-Gelb aufgelaufen sind – stehen ihnen aber in nichts nach, also hagelt es nur so gelbe Karten. Raphael fängt sich auch recht bald eine ein, als sein Tackling gegen Valdez einen Schritt zu spät kommt. Macht aber nichts, da er fast nie Karten sieht – die letzten Samstag war eine Ausnahme – und er entsprechend keine Belastung für ein Viertelfinale hätte. Und das Viertelfinale wollen beide Mannschaften, das merkt man. Es ist ein offener Schlagabtausch, das, was die Kommentatoren im Fernsehen immer ein richtig gutes Fußballspiel nennen. Sie rennen nur so über das Feld, mal auf das Karo-Tor, dann auf das Borussen-Tor. Die Chancen wechseln sich ab, halten sich die Waage – aber der FC hat einen großen Vorteil: das frühe Tor. Nach der Halbzeitpause hat sich an dem Stand nichts geändert und die Partie bekommt noch mehr Feuer. Erst fliegt Buckley für die Borussen vom Platz, dann der Greif von ihnen. Beide mit Gelb-roten Karten, was bei dem ganzen Spiel irgendwie absehbar gewesen war. Ein echtes Derby eben. Das geht nun einmal nicht ohne Platzverweise über die Bühne. In der 66. Minute fällt der Ausgleich. Frei trifft. In der 72. legt der FC wieder nach, diesmal versenkt Augustin den Ball unhaltbar im Tor. Und dann ist diese 80. Minute. Diese Minute, in der Raphael wirklich durchzudrehen droht. Er steht direkt daneben, als Wörns hart in den Zweikampf mit Julian geht und diesen brutal umhaut. Julians Aufschrei geht Raphael durch und durch. Er stockt mitten im Schritt, wirbelt herum. Eiskalt überläuft es ihn, als er sieht, wie sich der blonde Mann am Boden windet und sich die Wade hält. Blut sickert durch den weißen Strumpf und erinnert Raphael übel an seine eigene Verletzung aus dem Trainingslager. Auf einmal sieht er rot und will Wörns am liebsten eine scheuern. Er ist schon dabei loszustürmen, da schlingen sich starke Arme um ihn und halten ihn unerbittlich fest. Der Killer ist da und lässt ihn nicht auf Wörns losgehen. Er hält ihn zurück. Einfach so. „Lass den Scheiß, Raffe. Wir brauchen dich. Und du kannst ihm damit nicht helfen“, raunt er leise in sein Ohr, doch so wirklich dringen die Worte nicht zu ihm durch. Dariusz muss ihn beiseite zerren, damit der Teamarzt Julian behandeln kann. Nur am Rande bekommt er mit, dass Wörns ebenfalls Gelb-Rot sieht und runterfliegt. „Verdammt!“ Der Killer reißt ihn herum, redet auf ihn ein. „Hör zu, ich würd dem auch am liebsten eine knallen, aber reiß dich zusammen! Er ist runter und fertig! Beruhig dich!“ Raphael nickt langsam und atmet tief durch. Ihm ist noch immer eiskalt und diese brodelnde Wut ist da in seinem Bauch, die ihn beinahe dazu bringt, doch noch hinter Wörns herzustürmen und ihm die Faust ins Gesicht zu rammen. Er ist ja echt kein gewalttätiger Mensch, aber auch ihm können die Sicherungen durchbrennen. Dariusz wartet noch einen Augenblick und drückt seine Stirn gegen Raphaels. „Reiß dich zusammen. Bitte.“ Erneut nickt der Mittelfeldspieler, dann lässt der Killer ihn endgültig los. Julian bleibt draußen. Für ihn wird Alex eingewechselt, der sichtlich darauf brennt, hier im Derby mitzumischen. Der FC ist jetzt in Überzahl und nutzt die Gelegenheit, die Borussen zu überrennen. Ihr Sturmlauf kommt erneut überraschend, wie nach dem Anstoß. Sie kontern die Abwehr aus, die ohne ihren Kopf auf einmal reichlich desorientiert wirkt. Der Ball fliegt zu Augustin, der flankt in die Mitte, doch Daniel, der Amerikaner, erwischt die Kugel nicht richtig – Weidenfeller faustet ihn weg und auf einmal hat Raphael aus zwanzig Meter die Chance zum Nachschuss. Er denkt nicht darüber nach. Er zieht einfach nur ab und hämmert mit aller Gewalt den Ball Richtung Tor. Diesmal bricht der Jubel sofort aus ihm heraus, als das Leder drin ist. Er denkt nicht nach, als er über den Platz rennt, Augustin ihm auf die Schulter schlägt, und zur Bank stürzt. Der Trainer umarmt ihn, der ausgewechselte Acun, ihr Zweitkeeper Antonius, aber er will nur Julian drücken. Der ist auch humpelnd auf den Beinen und umarmt ihn. Und Raphael strahlt. Hier und jetzt ist die Welt perfekt. Sie haben dem BVB dem Todesstoß versetzt und er darf Julian im Arm halten. Kapitel 18: XVIII. Wenn man sich einmal zuviel berührt ------------------------------------------------------ „Raphael, wie fühlen Sie sich jetzt?“ Er hasst die Fragen der Reporter, aber natürlich gehört es zur Pflichterfüllung, sich den Interviews nach dem Spiel zu stellen. „Großartig. Wir haben gewonnen.“ Nur die Freude über diesen Sieg sorgt dafür, dass er noch lächelt. „Und wie fühlt man sich so als Held? Ihre Tore waren ja entscheidend.“ „Ich bin kein Held.“ Entschieden schüttelt er den Kopf. Das ist er auch nicht. So fühlt er sich. Wenn es bei ihnen Helden gibt, dann sind das alle Spieler, dann ist es der ganze FC. „In der 80. Minute haben Sie sich ja sehr über das Foul von Wörns an Treschke aufgeregt...“ „Bei den Emotionen ist das nur natürlich. Außerdem sind wir Freunde und ein Team“, wehrt er brüsk ab. Zu dem Thema will er nichts sagen. Zu Julian wird er sich nicht freiwillig vor einer Kamera äußern. „Wie geht es nun weiter in der Liga und dem Pokal?“ „Mit dem Klassenerhalt und dem Pokalsieg – ist doch klar“, gibt er frech mit einem breiten Grinsen in die Kamera zurück – und geht weg. Er weiß, dass das in der Presse so richtig schön breitgetreten werden wird, aber das ist ihm egal. Er glaubt daran, die Mannschaft glaubt daran – und irgendwann muss es ja auch mal einer aussprechen. Warum nicht er und warum nicht jetzt? „Boah, Raffe, du bis bekloppt!“, empfängt ihn der Killer mit einer dicken Umarmung in der Kabine. „Klassenerhalt und Pokalsieg! Scheiße, da wird aba alles hochkochen!“ Raphael grinst. „Na und? Dat wollen wir doch, oder nich?“ „Klar!“, gellt es ihm von dem Rest der Mannschaft entgegen, jedenfalls von denen, die nicht unter der Dusche sind. Julian sitzt mit ausgestrecktem Bein auf der Bank und rubbelt sich die Haare trocken. Er ist blass um die Nase, lächelt aber. Um ihn herum tobt das jubelnde Chaos und er sitzt einfach nur da – und sein Anblick sorgt dafür, dass sich Raphaels Herz zusammenzieht. Langsam kämpft er sich durch die Menge hindurch, wird immer wieder in Umarmungen gezogen, bis er endlich bei Julian ist. „Hey...“ Auf einmal fühlt er sich total verschüchtert und weiß gar nicht so recht, was er sagen soll. „Hey.“ Julian schaut auf und lächelt ihn an. Einfach so. Und dieses Lächeln lässt die ganzen Schmetterlinge in seinem Bauch wieder lostoben. „Klasse Spiel heute.“ „Danke...“, bringt Raphael verlegen hervor. „Was macht das Bein?“ „Tut weh.“ Julian verdreht die Augen und streicht über den Verband. „Kunststück, dass du bei der Sache umgekippt bist. Mir ging’s fast genauso. Obwohl’s nur halb so schlimm ist. Prellung, Bluterguss und ein tiefer Kratzer.“ Er grinst verlegen. „Ein bisschen schonen, das ist alles. Aber scheiße ist’s trotzdem.“ „Und wie.“ Raphael seufzt und nickt gleichzeitig. Er ist versucht, Julian einfach zu umarmen, aber so wie dieser ihn von unten herauf ansieht, mit diesem ganz speziellen Ausdruck in den grünen Augen, bringt er es einfach nicht fertig. Er würde so gerne, aber ihm fehlt der Mut. Wie in so vielem. „Raffe! Der Feuerfisch ist da!“, gellt es in dem Augenblick durch die Kabine und reflexartig wendet sich der Mittelfeldspieler um. Auch Julian späht neugierig an ihm vorbei. Da steht Paolo wirklich in der Kabine und winkt breit lachend mit beiden Armen. Ein Strahlen breitet sich auf Raphaels Gesicht aus. Dann sieht er wieder Julian an und will von diesem eigentlich gar nicht weggehen. „Na, geh mal“, sagt dieser jedoch mit einem schwachen Lächeln. „Der is doch wegen dir hier, also kümmer dich um ihn. Ich komm schon klar. Bin ich doch die ganze Zeit.“ Die Worte sind wie eine kalte Abfuhr und Raphael kann nur perplex nicken, obwohl er am liebsten den Kopf schütteln und Julian anbrüllen würde, warum er denn immer zwischen einer unglaublichen Wärme und dieser eisigen Kälte schwankt und nichts zwischen ihnen in irgendeiner Weise klar ist. Aber wieder fehlt ihm der Mut – außerdem ist das hier weder die Zeit noch der Ort für ein solches Gespräch –, also wendet er sich ab und kämpft sich zu Paolo durch. Sie haben zuviel getrunken. Viel zu viel. Doch immer wieder bestellt irgendeiner von ihnen eine neue Runde für die Mannschaft und die muss natürlich gehorsam geleert werden. Alles andere wäre wohl unhöflich. Julian ist wohl der einzige von ihnen, der noch nüchtern ist. Er darf wegen seiner Medikamente nichts trinken und wirkt so langsam etwas angenervt von seinen überheiterten Teamkameraden. Schließlich verabschiedet er sich und humpelt mit seiner Krücke zur Tür. Raphaels Blick klebt auf ihm, bis er das Lokal verlassen hat und selbst dann kann er seine Augen nur mit Mühe von der geschlossenen Tür abwenden. Ein bisschen so, als wenn er hofft, dass Julian doch zurückkommt, weil er irgendetwas vergessen hat. Ihn zum Beispiel. Aber das passiert natürlich nicht. Paolo erringt schließlich seine Aufmerksamkeit, indem er ihn kräftig in die Seite knufft und die nächste Runde spendiert. Eine Stunde später sind sie wirklich zugedröhnt, als sie aus dem Taxi steigen. Paolo kann seine Reisetasche kaum tragen und so wuchten sie sie gemeinsam die Treppe empor in den dritten Stock, wo Raphaels Wohnung liegt. Er braucht drei Anläufe, um die Tür endlich aufzukommen, dann springt er grinsend beiseite. „Willkommen!“, nuschelt er und Paolo torkelt lachend an ihm vorbei. Der Boden will ihnen beiden nicht mehr so wirklich gehorchen und ihre Schritte in geraden Linien führen. „Noch’n Absacka?“, fragt Raphael und peilt den Schrank im Wohnzimmer an, in dem er die alkoholischen Getränke aufbewahrt. „Aba... nua... ein.“ Die Antwort des Italieners ist kaum zu verstehen, während er Raphael folgt. Die Tasche hat er irgendwo im Korridor stehen gelassen. Braucht er ja erst morgen wieder. Heute würde er da drin eh nichts mehr finden. Er lässt sich auf das Sofa fallen und Raphael sitzt nur einen Augenblick später neben ihm. Ihre Oberschenkel liegen eng aneinander und er legt den Arm um Paolo, als er ihm das Glas mit dem Whisky reicht. „Guttesch Zeusch...“ Er grinst und leert das Glas in einem Schluck. Paolo ist etwas langsamer, stellt dann aber auch sein leeres Glas auf den Wohnzimmertisch. „Boah...“ Er schließt die Augen und lehnt seinen Kopf an Raphaels Schulter. „Dasch Schimmer dreht sisch...“, murmelt er leise. „Quatsch.“ Raphael schüttelt entschieden den Kopf und fährt dem Italiener gedankenverloren durch die schwarzen Haare, krault seinen Nacken. Es tut gut, diese Wärme neben sich zu spüren, jemanden bei sich zu haben. Jemanden, der da ist und ihn mag. Einfach so. Und jemand, der nicht Chantal ist. Auch wenn sie vorhin angerufen hat, um ihm zu gratulieren, hatte er keine Lust, sie einzuladen und hat nur brüsk gesagt, dass sie morgen ja sprechen können. Dieser Abend, der gehört ihm und den will er verbringen, wie er will. Erst mit dem Team und jetzt mit Paolo. So einfach ist das. Er drückt den Italiener fester an sich, der das Gesicht nun mit einem leisen Seufzer in seiner Halsbeuge vergräbt. Federleicht kann er dort dessen Lippen spüren, die seine hitzige Haut berühren und schließt genießerisch die Augen. Eine Gänsehaut läuft über seinen Körper und lässt diese Stelle ganz unglaublich prickeln. Die warmen Lippen des anderen suchen seine und er zögert keinen Augenblick, sich auf diesen Kuss einzulassen. Viel zu gut fühlt er sich an. Viel zu gut fühlt es sich an, nach dieser Ewigkeit wieder einen Mann zu küssen. Seine Hand gräbt sich in Paolos Schopf und zieht ihn enger zu sich. Er spürt seine Hände auf seiner bloßen Haut. Irgendwie haben sie einen Weg unter sein Shirt gefunden und liebkosen ihn erst sachte, dann immer wilder, leidenschaftlicher. Verdammt, er will das hier. Hier und jetzt. Er will Sex. So einfach ist das. Kapitel 19: XIX. Wenn Katastrophen heraufziehen ----------------------------------------------- Als er am nächsten Morgen wach wird, hat er seine Nase in einem schwarzen Haarschopf vergraben und liegt eng geschmiegt an einen schlanken, eindeutig männlichen Körper. Seine Brust ruht an dem Rücken des anderen und seine Arme sind eng um ihn geschlungen. Er fühlt sich wohl. Einfach nur verdammt wohl. Dann klingelt es erneut und erinnert ihn daran, warum er eigentlich wach geworden ist. Verdammt, wer kommt an einem Freitagmorgen auf die Idee, so elend früh zu klingeln? Wahrscheinlich der Postbote. Dunkel erinnert er sich da an eine Bestellung bei Amazon, die gerade angekommen sein könnte. Also steht er ganz vorsichtig auf und bemüht sich, Paolo nicht zu wecken. Er fühlt sich gut. Schon komisch, nach gestern hätte er vielleicht einen Kater haben sollen, aber der hält sich in Grenzen. Sie haben ja auch kein billiges Zeug getrunken, sondern nur erstklassiges. Außerdem... Scheiße, die Nacht war geil. Und trotz zuviel Alkohol im Blut erinnert er sich noch an alle Details. Er lächelt, während er sich den Morgenmantel überstreift und zur Tür stolpert. Sein Zeh kollidiert unangenehm mit Paolos Reisetasche. Fluchend hopst er auf einem Bein weiter und betätigte den Summer, als es gerade erneut klingelt. Wow, normalerweise sind Postboten doch gar nicht so hartnäckig. Der Gedanke rauschte kurz durch seinen Kopf, dann besinnt sich dieser darauf, dass er doch wenigstens ein bisschen weh tun soll und beginnt langsam zu pochen. Er öffnet die Tür und reibt sich noch immer den Zeh. Schritte kommen die Treppe hoch und die klingen nun wirklich nicht nach einem Postboten. Eher nach Absätzen. „Raphael!“ Da fliegt ihm auch schon Chantal entgegen und drückt ihm einen dicken Kuss auf. Auf einmal wird dem Fußballer überdeutlich bewusst, dass er garantiert nicht besonders gut riecht. Verschwitzt sowieso, aber er hat auch das Gefühl, stark nach Sex zu riechen – und nach Paolos Aftershave... „Du, ich muss dir was zeigen!“ Chantal ist hibbelig und aufgeregt und bekommt deswegen offenbar nicht allzu viel mit. Gut für ihn. Aber reinlassen kann er sie ja jetzt kaum. Paolo liegt schließlich in seinem Bett und ahnt nichts. Er weiß ja noch nicht einmal von dieser Sache mit Chantal. Bisher hat er am Telefon nie darüber gesprochen, es einfach nicht fertig gebracht, weil er ganz genau weiß, was der kleine Feuerfisch über diese Sache denken wird. „Du, das ist gerade...“, setzt er an, aber eine Stimme aus dem Hintergrund sorgt dafür, dass er gar nichts weiter sagen muss. „Raffe?“ Paolos Stimme klingt noch etwas verschlafen. Chantals Augen werden riesengroß und irgendwie hat Raphael das Gefühl, dass der Italiener vermutlich gerade nicht allzu viel an hat. „Du... du...?“ Chantal starrt entsetzt an ihm vorbei und sieht ihn dann an. Der Ausdruck in ihren Augen ist so schockiert, so panisch, so verletzt. „Chantal, es...“ „Es ist nicht, wie es aussieht? Da steht nur zufällig ein nackter Mann in deinem Flur und du hast nichts weiter an als einen Morgenmantel? Erzähl mir doch nichts!“ Damit wirbelt sie herum und will davon stürmen, aber dann hält sie noch einmal inne. „Hier. Das wollte ich dir zeigen.“ Damit knallt sie ihm einen kleinen weißen Gegenstand vor die Füße und stürmt die Treppe herunter. „Chantal!“ Raphael will ihr nachrennen, doch schon hört er draußen die Tür ins Schloss schlagen. Das war’s dann. Er seufzt und bückt sich, um das weiße Etwas aufzuheben. „Scheiße.“ Er landet auf seinem Hintern und starrt das Ding in seinen Händen an. „Wasn?“ Paolo kommt langsam näher. Stumm reicht ihm Raphael den Schwangerschaftstest, denn das ist es, was Chantal ihm zeigen wollte. Er ist positiv. „Trink.“ Paolo drückt ihm ein volles Glas Whisky in die Hand, das Raphael auch in einem Zug leert. Ganz egal, wie sehr sein Magen dagegen rebelliert. Hauptsache, er kann langsam wieder denken. Er hat sich ja vollkommen benommen von dem Italiener in die Wohnung und ins Wohnzimmer ziehen lassen und jetzt sitzt ihm Paolo – noch immer reichlich unbekleidet, um nicht zu sagen splitterfasernackt gegenüber – und fordert ihn auf: „Erzähl mir, was hier eigentlich los ist. Ich hab das Gefühl, keinen Schimmer von nichts zu haben.“ Raphael seufzt tief und legt den Kopf in den Nacken. Wo denn anfangen? Was denn sagen? „Hey, Erde an Raffe!“ „Zieh du dir erst mal was an. Du irritierst mich“, weicht der Dortmunder aus und erntet damit schallendes Gelächter von dem Italiener. Dieser greift nach einem Kissen und platziert es demonstrativ auf seinem Schoß. „Das muss reichen, denn ansonsten weichst du mir noch aus!“ Recht hat er, das muss Raphael innerlich eingestehen. Am liebsten würde er auch ausweichen. Aber so bleibt ihm ja gar keine andere Wahl, als die Dinge in Worte zu fassen und anzufangen zu erzählen. Von der Sache mit Julian, seinen Hoffnungen, seinen Enttäuschungen, von dem komischen Kribbeln, das da zwischen ihnen ist, von den eiskalten Duschen, von Chantal und ihrem Kennenlernen, von dem Stress mit Julian, von Chantal, die er eigentlich mag. „Boah, weißt du eigentlich, wie sehr das alles nach Seifenoper klingt?“ Paolo stützt die Ellenbogen auf das Kissen und das Kinn in die Hände. Sonnengebräunt hebt sich seine bloße Haut von dem beigen Stoff ab. Schön sieht er aus, stellt Raphael beiläufig fest. Schön, aber nicht so schön, dass er Schmetterlinge im Bauch hat. „Danke. Is ja nur mein Leben.“ „Na, sorry, aber den Mist hier haste dir selbst eingebrockt.“ Paolo schüttelt den Kopf. „Aber da kannst du nur eins machen: Dir sie schnappen und mit ihr reden. Über dich und das, was in dir vorgeht – und du musst dich entschuldigen. Und dann schleppst du sie zu nem Arzt damit du weißt, ob dieses Testding da auch die Wahrheit sagt.“ „Wie kannst du das so kühl sagen?“ Raphael schüttelt den Kopf. Ihm sitzt dieser Schock wirklich in den Knochen. Vater werden – ausgerechnet er? Das kann doch gar nichts werden. Dieser Berg, der sich da vor ihm auftut, der ist so gewaltig, dass er ihn gar nicht überschauen kann und nichts anderes dabei verspürt als nackte Panik. „Weil mich das grad nicht so direkt trifft.“ Paolo seufzt leise und steht auf. Er hockt sich neben Raphael und zieht den Freund an sich. „Da kann man immer leicht reden. Hey, aber ich bin da für dich, okay?“ „Danke...“, murmelt Raphael leise und vergräbt den Kopf an der Schulter des Stürmers. Er schmiegt die Wange gegen die weiche Haut und schließt die Augen. So kann er sich glatt einen Augenblick lang geborgen fühlen. Und der Geruch, der ihm in die Nase steigt, dieser Geruch einfach nach Paolo, der erinnert ihn mehr als deutlich daran, dass da noch etwas anderes ist, das ungeklärt im Raum steht. Scheiße aber auch. Kapitel 20: XX. Wenn die Wolken tief hängen ------------------------------------------- So richtig weiß er nicht, wie er heute das Training durchstehen soll. Gestern zuviel getrunken, heute die böse Überraschung mit Chantal, die ungeklärte Sache mit Paolo – zu viele Fronten, zu viele Gedanken und jetzt soll er Fußball spielen? Das kann ja nur auf eine Katastrophe hinaus laufen. Paolo ist mitgekommen und steht bei Knie und Rudolf, hat offenbar Spaß an allem, aber Raphael weiß ganz genau, dass der beobachtende Blick aus den braunen Augen auf ihm ruht. Dass Paolo ihn sehr genau im Auge behält. Ob das die ganze Sache gerade noch besser macht, ist so eine Frage. Wohl eher nicht. Vor allem, wo ihn langsam die Panik einholt, was Chantal mit ihrem Wissen anfängt. Nur ein Anruf von ihr bei der BLÖD, dass sie einen nackten Kerl in seiner Wohnung gesehen hat und er ist erledigt. Panik breitet sich in ihm aus, die nur noch umfassender und übelkeitserregender wird, wenn er daran denkt, dass Chantal wirklich schwanger sein könnte... Der Ball landet vor seinen Füßen, aber er bemerkt ihn gar nicht, erst als Stefan ihn mit einem sauberen Tackling unsanft von den Beinen holt. Raphael sitzt im Gras und braucht wirklich einen Augenblick, um zu begreifen, was hier gerade eigentlich passiert. Dass die Welt nicht nur aus seinen düsteren Gedanken besteht, sondern dass er gerade auf dem Trainingsplatz steht und eigentlich ein vernünftiges Trainingsspiel abliefern sollte. Eigentlich. „Mann, wo bist du denn heut mit deinem Kopf, ey?“ Alejandro streckt die Hand aus und zieht ihn auf die Beine. „So viel getrunken gestern?“ „Mhm.“ Raphael hebt die Schultern, nickt erst und schüttelt dann den Kopf. „Boah, du bist ja voll daneben.“ Der Spanier legt ihm den Arm um die Schulter und drückt ihn liebevoll an sich. „Willste drüber reden?“ „Danke, aber eher nicht“, wehrt er ab und lehnt die Stirn für einen Augenblick gegen Alejandros Schläfe. Er ist so müde. Am liebsten würde er sich einfach verkriechen und abwarten, was diese beschissene Welt am Ende austüftelt, wie es mit ihm weitergehen soll. „Hey, du kannst mit allem zu mir kommen, okay?“ Das Schulterklopfen des Kapitäns ist freundschaftlich und am liebsten würde Raphael sein Angebot ja einfach annehmen. Dann könnte er so nebenbei vielleicht auch das Problem klären, dass es mit Paolo gibt. Denn irgendwie ist nach dieser Nacht gar nichts mehr so wirklich klar. Vor allem, weil das Trösten am heutigen Morgen auch noch mal in eine Runde Sex ausgeartet ist. Er weiß gar nicht mehr, was er denken soll. Was er fühlen soll. Oh, doch, das weiß er schon. Dass ihm schlecht vor Angst und Panik ist. Und dass er es nicht fertig bringt, einen längeren Blick in Julians Richtung zu schicken. Dass er dann so ein komisches Gefühl im Bauch hat, das eine komische Mischung aus herumtobenden Schmetterlingen, Sehnsucht und Schuld ist. Und gerade die Schuldgefühle kann er sich nicht so recht erklären. Klar, die hatte er ja eh schon, aber nicht so extrem. Und die können doch eigentlich weder an Paolo noch dem Chantal-Desaster liegen – oder doch? Er weiß es nicht. Er weiß gar nichts mehr. „Okay, denkst du, dass du es schaffst, dich für diesen Freistoß auf Fußball zu konzentrieren?“ Alejandro ist es erneut, der ihn aus den Gedanken reißt. Automatisch nickt er. „Gut, dann hau ihn rein. Um die Mauer, direkt ins Tor. Du kannst das.“ „Was?“ Verwirrt sieht Raphael dem Kapitän nach, wie er weggeht, dann blickt er zu der Mauer aus Julian – der sich einfach nicht schonen will und dem der Arzt schließlich grünes Licht gegeben hat –, dem Killer, dem Greif, Mürre, Stefan und Kopp. Alejandro gesellt sich dazu. Lässig, es soll ja ein direkter Schuss werden. Den Ball reinhauen? Die Mauer steht erstklassig und Reine ist bekanntlich auch kein schlechter Keeper... Aber gut, er ist auch kein schlechter Schütze. Und vielleicht kann er damit ja doch wieder ein wenig zu dem Sport zurückfinden und sich von seinen Gedanken befreien. Wenigstens für eine Weile. Er tritt zurück und nimmt Maß. Seine Augen schätzen die Entfernung zum Tor ab, zur Mauer. Er weiß, dass er es im Gefühl hat, den Ball richtig anzuschneiden, dass er sich genau richtig senken wird. Er weiß, dass er das kann. Er weiß es. Mit dem Gedanken läuft er los, blickt auf die Mauer – und sieht in Julians grüne Augen. Der Blick geht ihm durch und durch. Er trifft den Ball, aber in genau dem gleichen Augenblick weiß er auch, dass er den Schuss total verzogen hat. Er gerät in Rücklage und verliert das Gleichgewicht. Unsanft landet er auf dem Rasen und schlägt sich frustriert die Hände vors Gesicht. Er hat die Schnauze voll. Für heute hat er die Schnauze wirklich absolut und total gestrichen vor. Langsam fährt er sich durch die Haare. Er sieht Alejandro auf sich zukommen und hat auf einmal keinen Bock mehr auf irgendeine Art von Gespräch. Schnell steht er auf und winkt ab. Seine Geste ist eindeutig. Er will nicht reden, über nichts. Selbst wenn der Kapitän das anders sehen sollte. Mit einem Ruck wendet er sich ab und lässt die Mannschaft hinter sich. Einfach so. Alejandro akzeptiert das, die anderen auch, selbst wenn Knie die Stirn runzelt. Nur einer. Einer tut das nicht. „Was zur Hölle ist los mit dir?“ Julian reißt ihn unsanft an der Schulter herum und funkelt ihn mit diesen herrlichen grünen Augen an. „Weil dein italienischer Liebling zusieht? Oder hast du dir zuviel hinter die Binde gekippt? Was ist los?“ Fassungslos sieht Raphael ihn an. Er versteht diesen Ausbruch nicht. Er kann Julian doch egal sein. Der blonde Mittelfeldspieler hat doch oft genug mehr als deutlich gemacht, dass er ihm egal ist, dass da Distanz zwischen ihnen herrscht, und so weiter, und so fort. Und jetzt fährt er ihn auf einmal so an? Was soll das denn? Und dann erkennt er da etwas in diesen grünen Augen, dass er dort niemals – wieder? – zu sehen erwartet hätte. Nie. „Wenn du eifersüchtig bist, dann wenigstens auf meine Freundin“ – das Wort betont er so, dass es einen rein höhnischen Beiklang bekommt – „denn die ist möglicherweise schwanger. Danke. Darf ich mich jetzt meinen Katastrophen alleine herumschlagen?“ Seine Worte sind eisig und genauso kalt wendet er sich ab. Das war’s dann mit Julian. Jetzt kann er ihn sich garantiert vollkommen abschreiben. Scheiße. Dabei ist da ein Teil von ihm, der sich über diese Eifersucht mehr als nur freut, der jubelt und tanzt und wieder Hoffnung hegt. Der Teil von ihm, der diesen Kerl wie verrückt liebt. Die Wolken hängen tief heute. Es sieht nach Gewitter aus. Kapitel 21: XXI. Wenn es zu spät ist, sich zu entschuldigen ----------------------------------------------------------- Gegen Stuttgart am Wochenende ist er aus dem Kader geflogen. Knie hat sich seine schwachen Leistungen im Training angeschaut und nur gesagt, dass er sich wieder fangen müsse. Und so sitzt er jetzt auf der Tribüne und starrt auf den Rasen hinunter. Er will auch dort sein. Dort! Bei den anderen und spielen. Er sehnt sich so sehr danach, dass es ihn innerlich fast zerreißt. Dass er kaum noch stillsitzen kann und die ganze Zeit unglaublich auf seinem Platz herumhibbelt. Da hilft auch Paolos Arm nicht, der in seinem Rücken ruht und ihm Ruhe zu geben versucht. Scheiße, er vermisst den Fußball doch jetzt schon. Wie soll er sich denn dann ein Leben ohne Fußball jemals vorstellen können? Wie denn? Fußball, das ist doch gleichbedeutend mit seinem Leben! Aber falls seine größte Angst wirklich wahr wird und Chantal zur Presse geht, dann kann er das vergessen. Dann wird er wohl nie wieder auf einem Platz stehen können. Denn diesen Druck auszuhalten, das wird er nicht schaffen. Das letzte Jahr mit der ganzen negativen Presse, das war doch schon mehr Hölle für ihn, als er jemals offen zugeben würde. Er ist kein Supermann, kein Held. Nur ein junger Mittelfeldspieler, der für seinen Verein alles gibt. Mit Herz und Seele. Und so entfährt ihm auch ein dumpfes Aufstöhnen, als Gomez den Ball für die Stuttgarter zum 1:0 versenkt. Es scheint, als wenn da unten gerade nicht so wirklich alles rund läuft. Tut es auch nicht. Er kann selbst von hier aus sehen, dass Julian einen schlechten Tag hat. Er spielt sichtlich mit Wut im Bauch, aber das hilft auch nicht viel. Er holt sich so zwar seine fünfte gelbe Karte ab und wird damit das nächste Spiel fehlen, aber er kriegt keine vernünftigen Schüsse hin. Seine Pässe sind schlecht platziert und seine Flanken zu ungenau. Knie wird ihn nicht nur wegen seiner Verletzung zur Pause rausnehmen. Unwillkürlich fragt sich Raphael, ob das an ihm liegt. An ihrem Gespräch nach dem Training. An dem, was er Julian an den Kopf geknallt hat. Aber um das herauszufinden, müsste er mit ihm reden, und das kann er nicht. Außerdem ist es eh Blödsinn. Klar, ein Teil von ihm hofft und hegt diese Hoffnung weiter, doch der Rest gibt sich keinen Illusionen mehr hin. Er hat es ja noch nicht einmal fertiggebracht, mit Paolo zu sprechen. Diesen zu fragen, was eigentlich Sache ist und was das zwischen ihnen ist oder von seiner Warte aus sein soll. Er hat Angst vor der Antwort. Und er hat eine unglaubliche Angst, seinen besten Freund zu verlieren. Genau dann, wenn er ihm am meisten von allen Menschen auf dieser Welt braucht. Aber ein Gespräch, das er fertig bringen kann, das ist das mit Chantal. Das muss sein. Da hat er doch gar keine Wahl. „Argh!“, entweicht es ihm, als Gomez eine wirklich tolle Flanke von Hitzlsperger verwandelt. 2:0 für Stuttgart. Scheint, als wenn sich die Krise von dem letzten Liga-Spiel gegen Dortmund noch weiterzieht. Oder als wenn er den Jungs da unten auf dem Platz wirklich fehlt. Irgendwie hofft er es ja. Jetzt steht er hier vor dieser Tür und zögert noch immer, auf die Klingel zu drücken. Wahrscheinlich wird ihm Chantal einfach die Tür vor der Nase zuschlagen. Er würde es nur zu gut verstehen, wenn sie es täte. Er hat sie in den letzten Tagen schließlich nicht angerufen und taucht jetzt auf einmal hier auf. Ohne Ankündigung oder irgendetwas. Und sie wird ihm ansehen, dass er sich nicht wohl fühlt. Dass er nervös ist und irgendwie auch Angst hat. Angst vor ihr, weil sie ihn in der Hand haben kann... Mühsam gibt er sich einen Ruck und drückt den Finger auf die Klingel. Er kann ja nicht ewig weglaufen. „Oh.“ Chantals Begrüßung ist recht frostig. „Hi... Lässt du mich rein... Ich... Auch wenn du nicht mit mir reden willst, hör mir einfach zu, okay? Wenigstens das...“ Nur mühsam bekommt Raphael die bittenden Worte über die Lippen. Der Ausdruck in ihren grünen Augen, die Kälte, der Schmerz und die zusammengepressten Lippen, die ein Zittern zu verbergen suchen, machen es ihm nicht leicht. Es tut ihm so unendlich Leid. Das alles. Sie zögert, aber dann nickt sie knapp und lässt ihn eintreten. Schweigend geht er in das vertraute Wohnzimmer und lässt sich dort auf dem Sofa nieder. Nervös knetet er seine Hände, während sie sich ihm gegenüber hinsetzt. Er kann sehen, wie sie zittert, und möchte gerade nichts lieber, als sie in den Arm nehmen und ihr zu sagen, dass alles gut wird – aber das wird es nicht. Zwischen ihnen wahrscheinlich nie wieder. „Ich... Es ist... Ich weiß, dass du das wahrscheinlich gar nicht hören willst, aber es tut mir Leid. Unglaublich Leid. Ich mag dich, Chantal, ich hab dich wirklich sehr gern. Aber...“ „Du stehst auf Männer“, vollendete Chantal mit brüchiger Stimme. „Und kannst mich gar nicht lieben.“ Nur ganz schwach bringt er das Nicken zustande, das sein Schicksal besiegelt. „Aber... warum dann? Warum hast du mich dann überhaupt angesprochen? Und warum hast du mir nichts gesagt? Verdammt, weißt du eigentlich, wie beschissen das weh tut?“ „Ich... Weißt du, was die Presse und die Fans mit einem schwulen Fußballer machen würden?“ Raphael senkt den Kopf und bringt es nicht mehr fertig, ihr in die Augen zu sehen. Wenn er das jetzt tut, dann kriegt er kein einziges Wort mehr über die Lippen. Seine Kehle ist ja so schon vollkommen ausgedörrt. „Deswegen... habe ich irgendwann angefangen, mit Frauen auszugehen und One Night Stands zu haben. Ein Weiberheld kann doch nicht schwul sein, nicht wahr?“ Er lacht bitter auf und spürt einen dicken Kloß in seiner Kehle. „Ich... ich wollte nicht, dass das so läuft. Aber... ich hab dich gern und du bist ihm so ähnlich... Und...“ „Hör auf, Raphael.“ Chantals Stimme ist ganz leise. „Bitte... Du machst es nicht gerade besser.“ Tränen rinnen ihr über die Wangen. „Du... Warum bist du überhaupt hier? Um mir das zu sagen und mir noch mehr weh zu tun? Um mich noch weiter zu verletzen?“ „Nein!“ Entsetzt blickt er auf und hat das Gefühl, als wenn es ihm das Herz zerreißt. „Nein... Ich will dir nicht weh tun und ich wollte es nie. Und auch wenn es viel zu spät ist, sich zu entschuldigen, tut es mir Leid. Ich... Wenn du schwanger bist, dann will ich für dich und unser Kind da sein. Ich will dich nicht im Stich lassen. Nie!“ Die Worte sind hektisch ausgesprochen, fast panisch. Und in dem Augenblick, wo er sie sagt, da weiß er, dass sie wahr sind. Wenn sie schwanger ist – dann ist es sein Kind. Und sein Kind kann er nicht verlassen. Genauso wenig wie die einzige Frau neben seiner Mutter, die ihm wirklich etwas bedeutet. „Bitte... Geh jetzt.“ Chantal schlägt die Hände vors Gesicht und schluchzt unkontrolliert. „Geh...“ „Ich...“ „Geh!“ Langsam steht er auf und geht zu ihr hinüber. „Wenn... wenn du zu einem Arzt gehst, nimm mich mit, ja? Bitte.“ Behutsam haucht er einen Kuss auf ihr blondes Haar, obwohl sie das dazu bringt, nur noch heftiger zu weinen. Er ist schon fast an der Tür, als sie ihm nachruft: „Du brauchst keine Angst zu haben. Ich verrate dich nicht. Ich liebe dich doch...“ Kapitel 22: XXII. Wenn man sich an die Grenze treibt ---------------------------------------------------- Krafttraining steht heute auf dem Programm. Die ganze Mannschaft turnt in dem Raum herum, stemmt Gewichte, trainiert die Beinmuskeln, sitzt auf den Ergometern, rennt auf dem Laufband oder quält sich auf dem Stepper. Raphael sitzt gerade auf einem der Geräte und drückt Gewichte nach vorne. Wieder und wieder. Seine Arme brennen schon längst wie verrückt, aber er macht wie ferngesteuert weiter. Konzentriert sich allein darauf. Damit er nicht zu Julian hinüber sieht, der auf einem dieser Rückentrainer liegt und den Oberkörper im steten Rhythmus hebt und senkt. Damit er nicht den feinen Schweiß sieht, der das blonde Haar verklebt und dafür sorgt, dass sich das ohnehin schon enge T-Shirt noch enger um den nahezu perfekten Körper schmiegt. Damit er nicht noch vollkommen durchdreht. Seine Schultern schmerzen, als er schließlich aufsteht und eine Etappe weitergeht. Jetzt ist der Stepper dran. Auch hier geht er bis an die Grenze. Bis er spürt, dass seine Oberschenkel brennen und seine Po-Muskeln ihm mitteilen, dass sie von dieser Art der Malträtierung ganz und gar nicht entzückt sind. Als nächstes Rudern. Alejandro verlässt das Gerät gerade, das passt perfekt. Raphael lässt sich auf den harten Sitz fallen und legt los. Die Augen starr geradeaus gerichtet, bis Julian auf dem Laufband direkt gegenüber zu trainieren beginnt. Mit vorsichtigen, aber gleichmäßigen, ausgreifenden Schritten. Schritten, die Raphael so vertraut sind und von denen er genau weiß, wie lang und wie schnell sie sind. Er sieht die Muskeln in seinen Beinen unter der kurzen Hose arbeiten, sieht, wie das T-Shirt etwas nach oben rutscht und einen Blick auf den flachen, durchtrainierten Bauch freigibt... Ruckartig richtet er seinen Blick auf den Boden. Er kann nicht. Er kann ihn nicht ansehen. Es schmerzt ihn zu sehr. Es erinnert ihn zu sehr an all das, was er falsch gemacht hat. Und daran, dass er da einen Trümmerhaufen in seiner Brust hat, wo sein Herz sein sollte. Und daran, dass diese beschissene Sehnsucht noch heißer brennt, als es seine gequälten Muskeln überhaupt können. „Trink was.“ Die Stimme des Killers ist sanft und die Hand, die er auf Raphaels Schulter legt, angenehm kühl. Erst jetzt merkt er, wie klatschnass sein Shirt eigentlich ist. Er hält in der Bewegung inne und nimmt die Flasche dankbar an. „Mann, du bist grad echt ne wandelnde Krise.“ Dariusz schüttelt den Kopf. „Du weißt, dass du zu mir kommen kannst, oder?“ Raphael nickt. Natürlich kann er das. Aber er will auch niemanden als Kummerkastentante missbrauchen. Er ist ja kein Weichei... „Und dass es nicht heißt, dass du auf einmal zur Schwuchtel mutierst.“ Ruckartig fliegt Raphaels Kopf herum und er sieht den Killer das erste Mal richtig an. Dieser lacht. „Fein, ich hab’s vermisst, in deine blauen Augen zu schauen.“ „Idiot!“ Raphael spritzt ihm Wasser aus der Flasche entgegen, ehe er einige tiefe Schlucke nimmt. Seine Kehle brennt und sein Körper sehnt sich nach Wasser. Seine Augen sind genüsslich geschlossen, während er mit tiefen Zügen trinkt. „Scheiße, lass das, ansonsten bespring ich dich noch!“ Dariusz schüttelt den Kopf. Wie kann ein Mensch eigentlich so... sinnlich aussehen, nur, wenn er Wasser trinkt? Ist doch nicht normal. Raphael muss lachen, verschluckt sich und hustet würgend. Liebevoll klopft ihm der Killer auf den Rücken. „Strafe muss sein. Wenn du so ausschaust...“ „Spinner.“ Der Mittelfeldspieler schüttelt den Kopf. „Komm, lass es gut sein für heute. Du machst dich ansonsten kaputt. Und du musst am Wochenende spielen. Wo Julian doch gesperrt ist...“ „Mhm...“ Raphael streckt seine schmerzenden Muskeln langsam und muss die Zähne zusammenbeißen, um nicht aufzustöhnen. Wenn dieses Training mal nicht ein Fehler gewesen ist... Eigentlich sollte er ja jetzt nach Hause fahren. Paolo ist da und wartet auf ihn. Sicher wartet er, auch wenn er das Gegenteil behaupten wird. Aber er hat keinen Nerv, dort jetzt hinzufahren und sich dem nächsten Problem zu stellen. Er kann nicht. Dafür fehlt ihm einfach die Kraft. Und er will nicht schwach werden und wieder einen Fehler machen. Halt suchen und sich fallen lassen – und am Ende feststellen, dass er einen der wichtigsten Menschen in seinem Leben verliert. „Komm, lass uns irgendwo was trinken, Eis essen oder sonst was. Und du erzählst mir, was eigentlich los ist“, entscheidet der Killer. „Dann fahren wir zu dir“, murmelte Raphael nur. „Das will ich echt nirgends erzählen, wo uns jemand hören kann.“ „Immer doch.“ Dariusz grinst. „Da kann ich ja dann über dich herfallen.“ Raphael zieht nur stumm eine Augenbraue hoch. Das Lachen wird dem Killer wahrscheinlich noch vergehen. Und so ist es auch. Nachdem Raphael geendet hat, starrt Dariusz ihn nur aus seinen dunklen Augen an und man sieht nur zu deutlich, dass er wirklich nicht weiß, was er sagen. „Scheiße, kein Wunder, dass du die Tage so daneben warst“, sagt er schließlich. „Warum haste denn nichts gesagt?“ „Biste meine Kummerkastentante, oder was?“ Trotzig verschränkt Raphael die Arme vor der Brust. „Klar. Das sind Freunde auch, wenn’s drauf ankommt.“ Dariusz schiebt den Unterkiefer vor. Er sieht aus wie ein Kind, dem man sein liebstes Spielzeug weggenommen hat. Raphael kann nicht anders. Er beugt sich vor und dem drückt dem Verteidiger einen Kuss auf die Stirn. „Blödmann. Als wenn das alles wieder gutmachen würde... Warum hast du nicht eher mit mir geredet?“ „Ich konnte nicht, okay? Das ist alles so schnell passiert und auf einmal... weiß ich gar nichts mehr. Verdammt, ich hab noch nicht mal mit Paolo darüber reden können, warum er überhaupt suspendiert ist!“ „Dann solltest du das als nächstes tun. Ganz egal, wie schwer das ist. Wenn der dich wirklich mag, dann steht ihr das auch durch. Hey, das ist wie der Kuss von uns. So was muss eine Freundschaft nicht killen.“ „Sorry, aber ein Kuss und Sex sind doch ein Unterschied.“ „Nö. Beides sind Dinge, die eine gewisse Grenze überschreiten. Sex geht nur weiter über diese Linie als ein Kuss“, antwortet der Killer altklug und seltsamerweise muss Raphael ihm recht geben. Kapitel 23: XXIII. Wenn man manche Dinge nicht aufschieben kann --------------------------------------------------------------- Es ist spät, als er nach Hause kommt. Das Licht brennt in seiner Wohnung, das kann er vom Bürgersteig aus sehen. Paolo steht am Fenster und sieht herab zu ihm. Langsam geht Raphael auf die Tür zu, schließt auf und geht nach oben. Schweigend öffnet der Italiener ihm und lässt ihn herein. Auch Raphael schweigt, weiß einfach nicht, was er sagen und wie er anfangen soll. Schließlich bringt er immerhin heraus: „War noch beim Killer. Einfach reden, weißte.“ „Mhm.“ Paolo nickt. „Hab Spaghetti gekocht. Hab ja eigentlich gedacht, dass du eher da bist, aber ich kann’s eben warm machen...“ „Klingt klasse.“ Raphael schenkt ihm ein Lächeln. Er hat auch wirklich Hunger und er weiß, dass Paolo toll kochen kann. Außerdem weiß er diese Geste wirklich zu schätzen. Etwas später essen sie schweigend. Es ist komisch, aber das erste Mal, seit sie sich kennen, ist das Schweigen zwischen ihnen richtig belastend und drückend. „Ich denke... Wir sollten reden“, bricht Raphael schließlich die Stille. Auch das fällt ihm schwer, obwohl er doch bisher mit Paolo über alles reden konnte. Immer und jederzeit. „Okay...“ Der Italiener nickt und lässt sein Besteck sinken. Er hat sichtlich keinen Hunger mehr. Und so wandern sie ins Wohnzimmer, nachdem sie noch schnell das Geschirr weggeräumt haben. Ordnung muss sein und dahingehend ist Raphael doch recht pingelig. „Fangen wir vorne an, ja?“, sagt Raphael schließlich, der auf einmal die ganze Initiative trägt. Er hat sich auf dem Sofa zurückgelehnt und die Knie angezogen. „Warum bist du überhaupt suspendiert worden? Du hast es mir nicht gesagt und ich wollte bisher nicht fragen.“ Paolo seufzt leise. Er kauert in dem Sessel ihm gegenüber – der Tisch steht beinahe wie eine Barriere zwischen ihnen. Eine Grenze, die sie nicht mehr überschreiten werden, bis alles geklärt ist. „Weil ich mich hab erwischen lassen, wie ich in nem Club nen Kerl geküsst hab. So einfach ist das. Der Trainer hat’s zufällig gesehen und ist richtig abgedreht. Und damit ist die italienische Liga für mich gestorben. Der hat solche Panik, dass das rauskommt, das ist echt nicht mehr normal. Tja, und direkt danach bin ich aus dem Kader geflogen – wegen unüberbrückbarer Differenzen. Die trauen sich nur nicht den Vertrag aufzulösen, weil ich ja was sagen und das dann wiederum auf den Club zurückfallen könnte. Bescheuert, oder?“ Paolo schüttelt energisch den Kopf. „Warum... hast du mir das nicht gesagt?“ Verwirrt zieht Raphael die Stirn kraus. „Weil es so unglaublich doof ist.“ Der Stürmer seufzt und stützt das Kinn in die Hände. „Und weil... weil... ich jetzt das, was da zwischen uns ist, nicht kaputt machen will. Ich weiß nicht, was du willst und erwartest. Und ich weiß nicht, was ich erwarte und...“ Er bricht ab und lächelt verlegen. „Klingt kitschig und dämlich.“ „Nein, gar nicht, Feuerfisch“, sagt Raphael sachte, benutzt ganz bewusst den vertrauten Kosenamen und lächelt leicht. „Gar nicht. Weißt du... darüber müssen wir reden. Und... ich hab Schiss davor. Unglaublichen Schiss. Mehr als vor Chantal und der Sache mit dem Vielleicht-Baby. Viel mehr...“ Er sieht Paolo an, aber schafft es nicht lange, ihm in die Augen zu blicken, und senkt den Kopf wieder. Er starrt auf die dunkelbraune Tischplatte und fixiert die Kratzer darin, als wenn sie ihm helfen würden, die richtigen Worte zu finden. „Ich... ich hab einfach Angst dich zu verlieren. Durch alles, was gerade passiert. Und das will ich nicht. Du bist einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben und sollst genau da bleiben. Bei mir.“ „Hey, das werde ich. Als wenn du mich jemals wieder loswerden würdest!“, empört sich Paolo künstlich und auf einmal löst sich die Spannung in einem befreienden Lachen – bei beiden. Trotzdem ist da immer noch der Tisch als Barriere zwischen ihnen. „Weißt du, ich... ich weiß gar nicht, ob das mit uns funktionieren würde. Scheiße, ich lieb dich wie doof, aber als meinen besten Freund. Der Sex ist toll, aber... es fehlt das bisschen, was mich verrückt werden lässt“, redet der Italiener weiter. Raphael lächelt leicht. „Das ist genau das, was ich auch denke...“ Er streckt die Hand aus und Paolo ergreift sie sofort. „Da ist Julian. Überall in mir, in meinem Kopf, in meinen Gedanken, in meinem Herzen, wahrscheinlich sogar in meiner Seele. Ich krieg ihn da nicht raus.“ „Du bist verrückt nach ihm.“ Sachte streicht Paolo mit dem Daumen über Raphaels Hand und beschert diesem einen angenehmen Schauder. Diese Berührung ist so liebevoll und zärtlich und sagt viel mehr als tausend Worte es jemals könnten. „Und wie.“ „Vielleicht solltest du doch mal mit ihm reden...“ „Ich glaub nicht, dass das etwas bringt.“ Raphael schüttelt den Kopf und blickt auf ihre verschlungenen Hände. Sie sehen so aus, als wenn sie genauso gehören würden. Als wenn das das Natürlichste von der Welt wäre. Als wenn sie für immer so sein sollten. „Und ich glaube, dass du dich irrst...“ „So oder so – das ist jetzt kein guter Zeitpunkt.“ Raphael schüttelt den Kopf und denkt an Chantal, die vielleicht sein Kind... „Klar. Aber warte nicht ewig. Wenn du ihn wiederhaben willst, musst du auch irgendwann einmal etwas tun und dir nicht nur wünschen, dass er wieder da ist. Du musst ihn dir zurückholen. Und du musst dir überlegen, was für dich wirklich wichtig ist. Darum geht es doch.“ Raphael nickt schwach. Dann sieht er still zu, wie Paolo aufsteht und zu ihm kommt. Da ist keine Barriere mehr zwischen ihnen. Da wird nie wieder eine sein. Der Stürmer setzt sich neben ihn, hält seine Hand noch immer fest und schmiegt sich lächelnd an ihn. „Was hältst du von einem Bad?“ „Mhm... Gib’s zu, du willst mich nur nackt sehen.“ Raphael muss lachen. „Nö, das kenn ich doch schon. Du siehst nur so fertig aus und hast dich beim Training garantiert so verausgabt, dass du das wirklich gebrauchen kannst.“ Kapitel 24: XXIV. Wenn der Frust so nahe ist -------------------------------------------- Irgendwie hat er sein sportliches Gleichgewicht wiedergefunden. Das nächste DFB-Pokalspiel steht vor der Tür und die letzten zwei Bundesligaspiele gegen Cottbus und Wolfsburg sind ordentlich gewesen. Und so langsam geht es auch darum, wieder einen Stammplatz in der Mannschaft zu haben. Bisher spielt er nur von Beginn an, wenn einer der Stammspieler im Mittelfeld verletzt oder gesperrt ist, besonders Christian. Klar, es fällt ihm schwer, gegen Chris um den Platz zu kämpfen, aber er will spielen. Dafür ist er doch hier. Und er will eben kein Joker sein. Er ist kein geborener Joker, der ein Spiel rumreißt, wenn er eingewechselt wird, sondern er ist jemand, der ein Spiel von Beginn an aufbauen will und muss. Entsprechend gibt er im Training alles. Er hängt sich rein und kämpft wie er nur kann. Paolo wohnt noch immer bei ihm. Auch, wenn er jetzt schon seit fast einem Monat nicht mehr in Italien war. Knie hat kein Problem damit, dass der Italiener bei ihnen mittrainiert, und Schaffhausen hat auch schon angedeutet, dass er nichts dagegen hätte, wenn der bei den Fans äußerst beliebte Feuerfisch in sein altes Team zurückkehrt. Noch ziert sich dieser jedoch und Raphael weiß, dass dieser auf das Angebot aus Köln hofft. Paolo mag den FC zwar und weiß, was er diesem zu verdanken hat, aber das hier reicht ihm nicht. Vielleicht irgendwann, um die Karriere ausklingen zu lassen, aber jetzt sucht er die Herausforderung. Und das kann Raphael auch verstehen. Ihm selbst ging es ja nicht anders, aber er weiß jetzt, was ihm wichtiger ist. Viel, viel wichtiger. Die anderen haben Paolo mit Begeisterung in ihrer Runde willkommen geheißen. Alejandro, Augustin und er haben sich als nahezu unzertrennlich erwiesen und Raphael kann nicht anders, als den dreien mit Spaß zuzusehen. Ja, schön wäre es, wenn Paolo hier spielen würde... „Träumst du?“ Julian steht auf einmal neben ihm und seine Augen folgen Raphaels Blick. „Wieso?“ Er wendet den Kopf und sieht den blonden Mittelfeldspieler an. Seine Haare sind noch länger geworden und haben sich teilweise aus dem Stirnband gelöst, das er immer zum Training trägt. Am liebsten würde er ihm einfach durch die Haare fahren, doch stattdessen spielt er nur mit dem Saum seines Shirts. „Weil du die ganze Zeit hinüber siehst. Du magst ihn, was?“ Raphaels Augenbraue wandert nach oben. „Er ist einer meiner engsten Freunde. Natürlich mag ich ihn. Es wäre seltsam, wenn das nicht so wäre, oder?“ „Vermutlich.“ Julian hebt die Schultern. Eine Weile schweigt er und gemeinsam sehen sie dem Trio zu, wie es sich die Bälle zuspielt und das Ganze in wildes Herumgealber ausartet, bei dem selbst Alejandro mit vollem Einsatz dabei ist. Raphael muss leise lachen, als er das sieht. Er hört erst auf, als ihm Julians Blick bewusst wird. „Was ist mit deiner... Freundin?“ Raphael hebt die Schultern. „Hat die Tage einen Arzttermin und da bin ich dabei. Mal sehen, was das gibt.“ Sein Blick wandert ins Leere, hat Julian doch den wunden Punkt getroffen, der ihm noch immer kräftig zu schaffen macht. „Mhm...“ Langsam wendet Raphael den Kopf und ringt sich ein schwaches Lächeln ab. „Weißt du, manchmal müssen offenbar Dinge passieren, die einen so richtig aus der Bahn werfen, ehe man kapiert, was man eigentlich alles wirklich falsch gemacht hat.“ „Hey, ihr sollt nicht quatschten, sondern trainieren!“, brüllt Rudolf sie in dem Moment an und kickt demonstrativ einen Ball zu ihnen hinüber. So hat Raphael keine Chance, irgendeine Reaktion von Julian zu bekommen und vielleicht zu sehen, ob dieser verstanden hat, was er ihm zu sagen versuchte. Es ist das Spiel des Abschlusstrainings vor dem DFB-Pokal-Viertelfinale gegen Bayer Leverkusen. Es geht dabei für das Team um viel. Um sehr viel. Knie will sicher sein, die beste Mannschaft auf dem Platz zu haben, die sie im Moment besitzen. Das ist klar. Alle liefern sie sich einen verbissenen Kampf, allerdings vergessen sie dabei auch nie, dass sie ein Team sind. Das haben sie noch nie. Chris spielt Raphael gegenüber in der Stammelf auf genau der Position, die die Nummer zwölf sonst einnehmen würde. Es ist klar, wenn er um einen Platz kämpft, dann gegen Chris. Gabriel wird er nicht das Wasser reichen können, denn sobald dieser die Sache mit Kondition und dosiertem Ehrgeiz raushat, dann wird der Brasilianer ein toller Motor im Mittelfeld sein. Das ist Raphael klar. Julian spielt anders als er, offensiver und mehr darauf ausgelegt, die Bälle nach vorne zu bringen, und nicht, die Fäden alle zusammenzuhalten, sowohl nach vorne als auch nach hinten zu organisieren. Alejandro könnte er angreifen, aber der Kapitän, der ist unantastbar. Das weiß er sehr genau. Also muss er sich mit Chris messen – und das heißt, dass er heute ein gutes Trainingsspiel gegen Gabriel hinlegen muss, der die linke Seite besetzt. Raphael als rechter Spieler steht ihm gegenüber. Das Brasilianer grinst ihm fröhlich zu und erinnert ihn damit daran, dass er trotz allem nie vergessen sollte, auch Spaß am Spiel zu haben. In den letzten Bundesligaspielen hat er sich für die Stammelf empfohlen, doch nichtsdestotrotz gibt Knie Chris immer noch den Vorzug. So ganz weiß er nicht warum, wird er doch in der Regel nach 60 Minuten für Chris eingewechselt – manchmal auch für Gabriel – und dennoch... Anpfiff und das Testspiel geht los. Sie kennen sich alle und entsprechend ist das Spiel eben nicht einfach. Klar, sie wissen, wie sich ihre Gegner bewegen und welche Tricks sie drauf haben, aber diese wissen wiederum genau alle Details über sie. Und das macht das Spiel wirklich schwierig. Und mit Gabriel hat Raphael einen Gegenspieler, der ihm das Leben schwer macht. Der Brasilianer spielt den Ball nicht, sondern tanzt mit ihm – und auch mit Raphael. Er will gar nicht wissen, wie oft er sich in den Zweikämpfen wie ein totaler Idiot vorkommt oder sich einfach auf dem Rasen wiederfindet, weil seine Beine diese schnellen Spielbewegungen gar nicht mitmachen können. Aber er gibt nicht auf. Das kann er gar nicht. Und immerhin gelingt es ihm, Gabriel einige Male vom Flanken abzuhalten und ihm den Ball abzujagen. Und darauf kann er schon stolz sein, treibt der junge Brasilianer doch regelmäßig die Gegenspieler des FC zur Verzweiflung. Vor allem, wo er jetzt langsam lernt, dass es auf das Team ankommt und er rechtzeitig abspielt und seine Kraft nicht in Einzelaktionen verballert. Der junge Kerl lernt und das schnell. Wirklich frustrierend wird es jedoch, als Knie ihn nach 45 Minuten vom Platz holt und stattdessen Kopp auf den Platz schickt. Kopp, der diese Saison wohl seine Karriere beenden wird, weil er dauerverletzt ist und sein Kreuzband wohl nie wieder richtig heilen wird. Müde lässt sich Raphael ins Gras fallen und sieht zu, wie Kopp gleich im ersten Zweikampf von Gabriel stehen gelassen wird. Es ist frustrierend. Daniel, der Amerikaner, spielt schließlich auch für Adrian. Kietz kann nicht, der ist mit seiner Knöchelverletzung immer noch zugange und steht auf seine Krücken gestützt neben Rudolf. An sich geht es dem Team bisher gut. Sie haben letztlich nur zwei Verletzte. Dass Kopp nicht spielen wird, steht letztlich außer Frage. Der Trainer kann aus dem Vollen schöpfen und das ist gut so. Auch wenn sich Raphael wünschen würde, zu der ersten Wahl zu gehören. Aber das kann sich ja noch ändern. Er wird jedenfalls nicht so einfach aufgeben. Kapitel 25: XXV. Wenn es nur um Fußball geht -------------------------------------------- DFB-Pokal-Viertelfinale gegen Bayer Leverkusen. Das Stadion des FC ist ausverkauft. Eine Höllenkulisse in Rot und Weiß, spielen doch auch die Gäste in diesen Farben. Aufgrund des Heimrechts kann der FC gewohnt kariert spielen, während die Leverkusener ganz in Weiß auflaufen. Raphael hibbelt auf der Bank herum. Er will auch auf den Platz! So unbedingt, dass er seine Füße gar nicht mehr stillhalten kann. Knie sieht das natürlich und Raphael kommt sich wie ein dummer Junge vor, aber das ist egal. Er ist eben so und fertig. Trotzig schiebt er das Kinn vor und sieht der Mannschaft zu, wie sie sich auf dem Rasen verteilt und die Spieler ihre Positionen einnehmen. Sein Blick klebt an Julian, verfolgt dessen Bewegungen, wie er auf den Anstoß wartet, ungeduldig, irgendwie ohne stillzustehen, wie er dann den Ball annimmt, den Gabriel ihm zupasst und der Spielaufbau über seine Seite beginnt. Das Spiel ist spannend. Verdammt spannend. Die Kulisse hält sich, die Fans pushen sich die ganze Zeit gegenseitig, fordern sich heraus, jede Gruppe will ihre Mannschaft noch mehr anfeuern. Und die Mannschaften schenken sich nichts. Das Spiel rast gerade zu von links nach rechts und wieder zurück. Beide Seiten machen sie schnelle und geschickte Aktionen nach vorne, Fehler in der Defensive und im Aufbau. Es hält sich perfekt die Waage und so ist der Stand von 2:2 zur Halbzeit nur berechtigt. Als es in die Kabine geht, hat Raphael schon das Gefühl, dass das ein langer Fußballabend werden wird. Das hier, das schreit geradezu nach einer Verlängerung, denn die Teams sind sich so gleichwertig, dass eine Entscheidung in den üblichen 90 Minuten wirklich unwahrscheinlich ist. Es ist schrecklich, auch nach der Halbzeit wieder nicht auf den Rasen zu dürfen, sondern nur daneben herumrennen zu können, um sich warmzumachen. Es ist frustrierend, auch wenn mit Acun nette Gesellschaft hat. Verdammt, er will in die Startelf! Er will, er will, er will! Auch wenn er weiß, dass das nicht allein deswegen passieren wird. Langsam nähern sie sich der 70. Spielminute. Bernd Schneider dreht ein geniales Solo über den Platz, wo auch den Dortmundern nur die Spucke wegbleiben kann. Dann kommt der Abschluss, Simon Rolfes macht den ersten Versuch, Reine kann den Ball aber noch wegfausten, der Greif versucht ihn wegzuschießen, trifft aber dann doch nur Stefan Kießling und der versenkt das Leder im Netz. Und damit liegen sie hinten. Mist aber auch! Frustriert stampft Raphael auf. Das ist aber auch blöd gelaufen! Bisher haben die Leverkusener immer ihren Vorsprung aufholen müssen und nun rennen die Dortmunder einem Rückstand hinterher. Mist. Das ist etwas, was immer noch Hektik auf kommen lässt und nicht gerade dafür sorgt, dass ihr Spiel sicherer wird. Raphael beißt sich auf die Unterlippe. Das ist gar nicht gut. Sein Blick wandert zu Knie, der gelassen wirkt. Klar, der Pokal ist für ihn nur Beigabe. Für sie alle ist es die Chance, einen Titel zu holen. Etwas zu tun, womit sie alle überraschen. Zu beweisen, dass sie mehr sind, als ein komischer Outsider in der Ersten Bundesliga und ein potenzieller Abstiegskandidat. Die Dortmunder sind geschockt – und das schenkt Leverkusen das nächste Tor. Und jetzt wird es richtig, richtig, richtig eng. Endlich. Endlich schickt Knie ihn rein. Raphael reißt sich ja beinahe schon die lange Hose vom Leib, damit er endlich auf den Platz kann. Er klatscht Chris knapp ab, der durch einen blöden Fehler das 4:2 verursacht hat und stürmt auf den Rasen. Er ist da, er will das Team zusammenhalten. Er will spielen! Und irgendetwas ist da, das spürt er. Als wenn er der ganzen Mannschaft neue Energie gibt und sie sich gegen den drohenden Untergang aufbäumt. Wie sie die Niederlage nicht geschehen lassen will. Die Dortmunder stürmen mit neuer Kraft und neuen Ideen voran. Die Leverkusener versuchen zu mauern und sich zurückzuziehen, aber dafür sind sie einfach nicht richtig aufgestellt. Und die falsche Mannschaft. Sie gehören zu denen, die immer offensiv spielen und somit muss das einfach in die Hose gehen. Der Killer geht mit nach vorne, Mürre auch. Raphael gibt den Pass aus dem Mittelfeld über zu Gabriel, der zwei, drei Leverkusener austanzt und dann den Ball rüberlegt auf Julian. Der flankt ohne groß darüber nachzudenken. Vier Dortmunder sind im Leverkusener Strafraum. Nicht nur der eingewechselte Acun und Augustin, sondern auch Mürre und der Killer. Und der Killer ist es, der den Ball mit unglaublicher Wucht in das Tor befördert. Er jubelt schon, als er auf seinem Hintern landet, dann fallen die anderen drei über ihn her und drücken ihn, als wenn er schon für die Entscheidung gesorgt hatte. Hat er nicht, aber er hat ihnen wieder mehr Hoffnung gegeben. Sie können das hier schaffen. Das Spiel in die Verlängerung retten und dann auch gewinnen. Ja, das können sie wirklich. Der Killer kämpft sich aus dem Menschenknäuel frei und stürmt auf Raphael zu, herzt diesen überschwänglich und drückt ihm einen Kuss auf die Stirn. „Los, wir schaffen das!“ Er strahlt Euphorie und Überzeugung aus. Raphael muss lachen. „Klar, wir holen den Pokal, schon vergessen?“ Der Killer wirft den Kopf in den Nacken und lacht, als wenn es nichts anderes mehr gäbe als den Pokalsieg in greifbarer Nähe zu haben. Kapitel 26: XXVI. Wenn ein Spiel alles verlangt ----------------------------------------------- Das Tor ist in der 90. Minute gefallen. Verlängerung. Die Dortmunder können es noch immer kaum glauben und jubeln weiterhin überschwänglich mit Acun, der diese Saison noch nicht übermäßig oft getroffen hat und sich umso mehr über dieses so wichtige Tor freut. Mit Euphorie gehen sie in die kurze Pause vor der Verlängerung, teilen Wasserflaschen und holen sich Instruktionen von Knie. Dessen Anweisung ist einfach: „Spielt. Spielt, so gut ihr könnt.“ Und genau das wollen sie auch tun. Das und nichts anderes. Egal, wie sehr ihnen die 90 Minuten Rennen und Kämpfen in den Knochen stecken. Egal, wie wenig Chancen ihnen irgendjemand ausrechnen mag. Sie können das hier schaffen. Und sie wissen das. Sie wissen das so verdammt genau. Sie müssen nur zusammenhalten und als Team funktionieren. Mit einem Regisseur in der Mitte, der die Fäden zieht, die Angriffe und auch die Abwehr organisiert. Stillschweigend rückt Raphael weiter ins zentrale Mittelfeld, direkt neben Alejandro, der sich wiederum nach hinten fallen lässt. Der junge Mittefeldspieler soll es richten. Sie wissen, dass er es kann. Alejandro weiß es, denn sonst würde der Kapitän niemals seine Stammposition so einfach aufgeben. Aber auf Eitelkeiten und Sturheit kommt es hier nicht an, sondern einfach nur auf das Spiel. Nur der Fußball zählt, nichts sonst. Den und dieses Spiel, das stellen sie jetzt über alles. Es ist ein einziger Kampf. Leverkusen lässt nicht nach und die Dortmunder auch nicht. Sie rennen sich noch tot, so fühlt es sich an. Auch wenn die Partie jetzt deutlich an Tempo verliert. Selbst Kießling und der heute wie aufgedreht spielende Schneider auf der Bayer-Seite werden deutlich langsamer. Julian ist es schließlich, der als erster mit Krämpfen liegen bleibt und dem Gabriel das Bein dehnen muss. Auch Raphael tun die Beine weh. Bei ihm dauert es wahrscheinlich auch nicht mehr lange, bis ihn ein Krampf erwischt, aber nichtsdestotrotz macht er weiter. Zwingt sich dazu, so wie das ganze Team. Das Spiel verliert deutlich an Tempo, wird langsamer, viel müder. Die Fehler auf beiden Seiten häufen sich und keiner bringt mehr eine wirklich gute Aktion zustande. Die Feuer im Strafraum, die die ganzen regulären 90 Minuten und die erste Hälfte der Verlängerung über gelodert haben, sind erloschen. Doch dann passiert es: Fehlpass im Dortmunder Mittelfeld, Schneider gibt einen unglaublich langen Ball nach vorne, Kießling schafft es irgendwie, noch genug Kraft zu mobilisieren, um die FC-Abwehr zu überrennen – und dann ist der Ball im Tor. Wie sollen sie das bloß noch schaffen? Wie denn? Sie haben noch zwei Minuten. Zwei winzige Minuten, um auszugleichen. Raphael sieht ihre Chancen schwinden. Das war’s dann wohl. „Wir gehen nach vorne“, sagt Alejandro neben ihm. „Alle. Ob wir mit einem oder zwei Toren verlieren, ist scheißegal. Sturmlauf.“ Raphael nickt. Ihr Kapitän weigert sich, jetzt aufzugeben, und ist bereit, alle verbliebenen Kräfte zu mobilisieren und in die Waagschale zu werfen. Er ist ihre Galionsfigur, ihr Anführer. Und er macht Raphael Mut – und ihm kommt eine Idee. Leise flüstert er dem Kapitän seinen Plan ins Ohr, wie sie nach dem Anstoß das wichtige Tor machen können. Anstoß. Raphael passt rüber zu Julian. Die Abwehrspieler und sogar Reine kommen nach vorne. Jetzt ist eh alles egal. Julian gibt den Ball zu Alejandro weiter, der zum Killer und der wieder zu Raphael. Jetzt sind sie alle vorne am Bayer-Strafraum und das recht junge Team scheint verwirrt. Allein der alte Hase Schneider scheint den Braten zu riechen, aber einer allein kann natürlich nichts verhindern, auch wenn er lautstark Anweisungen brüllt. Raphael passt zu Gabriel. Jetzt kommt es darauf an, dass der Brasilianer noch genug Energie für ein Solo hat – und irgendwie kratzt er die zusammen. Dann die Flanke. Reine, ihr Torwart, der natürlich auch mit nach vorne gegangen ist, kommt als erster an den Ball, doch Castro wirft sich dazwischen. Acun schießt – und trifft die Latte. Der Ball kommt erneut zurück, ein Leverkusener schlägt ihn raus und schießt Raphael an. Der denkt nicht lange noch, sondern hält einfach aufs Tor drauf. Mürre hat noch den Fuß dazwischen und so landet das Leder vollkommen unhaltbar für Adler im Netz. Raphael reißt die Arme hoch und schreit sich die Erleichterung von der Seele. Das Team ist sofort bei ihm. Reine reißt ihn hoch, hebt ihn wie eine Trophäe in die Luft, während die anderen sie beide umarmen. Der Schiedsrichter pfeift angesichts der Zeit nicht noch einmal an. Und das heißt Elfmeterschießen. Die Dortmunder sitzen nahezu vollkommen erledigt auf dem Rasen. Elfmeterschießen also. Und sie können es immer noch schaffen. Knie geht rum und sucht die Schützen zusammen. Acun hat er schon und den Killer. Außerdem Alejandro und Julian. „Raffe?“ Raphael nickt nur. Eigentlich will er nicht und fühlt sich zu angespannt dafür, doch sie haben vor dem Spiel natürlich über ein Elfmeterschießen gesprochen. Und sie fünf sind einfach die sichersten Schützen. „Als letzter“, fügt Raphael noch hinzu und steht langsam auf. Mit bedächtigen Schritten geht er rüber zu den anderen Dortmunder Schützen. Jetzt ist es also an ihnen und an Reine. Reine, der zwar ein wirklich guter Keeper ist, aber absolut kein Elfmeterkiller. Adler wird als erstes ins Tor gehen und damit muss Alejandro als erster schießen. Raphael beobachtet ihren Kapitän, als er auf den Punkt zugeht und sieht dann Adler an. So viel Aufmerksamkeit hat er dem jungen Leverkusener Torwart und der Nummer zwei im Tor der Nationalmannschaft – nach Timo Hildebrand – noch nie geschenkt. Angespannt sieht er aus, aber konzentriert. Und in Sachen Elfmeterschießen gilt er auch schon als zweiter Jens Lehmann. Die Anspannung ist kaum noch zu ertragen, als Alejandro anläuft und schießt. Und der Ball ist drin! Torwartwechsel, während Schneider zum Elfmeterpunkt marschiert. Der Leverkusener Kapitän sieht müde aus. Vielleicht heißt das ja, dass Reine eine Chance hat. Schneider läuft an, schießt, Reine saust in die linke Ecke – und der Ball springt knapp am rechten Pfosten vorbei ins Aus. Schneider hat verschossen. Jetzt heißt es Acun gegen Adler. Der junge Türke ist unglaublich nervös und als Raphael ihm die Hand auf die Schulter legt, um ihm etwas Mut zu spenden, spürt er, wie sehr dieser zittert. Verdammt, das kann so nichts werden. Wird es auch nicht. Adler hat den Ball. Jetzt ist Rolfes dran, sein persönliches Duell gegen Dirk Reinolfs anzutreten. Der Dortmunder Keeper befeuchtet sich nervös die Lippen, als sich der Jungnationalspieler den Ball zurechtlegt. Die Dortmunder Fans drehen nur wenige Sekunden später fast durch, denn Reine hat den Ball irgendwie noch mit den Fingerspitzen erwischt und über die Latte gelenkt. Ganz knapp, aber das ist egal. Julian tritt jetzt nach vorne und Raphael ist noch aufgeregter, wie wenn er selbst schießen würde. Er krallt seine Hand so fest in die Schulter des Killers, dass dieser einen leisen Laut der Empörung von sich gibt. Mehr sagt Dariusz jedoch nicht, als er Raphaels bleiches Gesicht sieht, sondern legt ihm nur aufmunternd den Arm um die Schultern. Julian läuft an – so leicht und kraftvoll, dass es Raphael beinahe das Herz zerreißt. Er schießt – und der Ball segelt so eben an Adlers Fingerspitzen vorbei ins Netz. Raphael atmet tief durch und hat das Gefühl, als wenn eine gigantische Last von seinen Schultern fällt. Julian trabt lächelnd zurück, während auf der Leverkusener Seite Kießling zum Punkt geht. Der junge Nationalstürmer hat es nicht nur faustdick hinter den Ohren, sondern auch einen genialen Torriecher, den er heute ja schon mehrfach unter Beweis gestellt hat. Er läuft nur kurz an und schlinzt den Ball dennoch vollkommen unhaltbar ins Tor. Damit sind die Leverkusener wieder dran. Und jetzt ist der Killer an der Reihe. Dariusz geht mit festen Schritten hinüber und legt sich den Ball zurecht. Einen Augenblick bleibt er stehen und blickt auf das Tor, ehe er einige Schritte zurücktritt. Erneut bleibt er stehen und läuft dann an. Beim letzten Schritt rutscht er weg, er trifft den Ball zwar noch, semmelt diesen jedoch weit hinauf in den Dortmunder Nachthimmel. Jetzt wittern die Leverkusener Morgenluft. Wenn Manuel Friedrich trifft, dann ist bei den letzten Bällen wieder alles offen. Der junge Abwehrspieler marschiert forsch zu dem Ball, doch seine Augen verraten die Aufregung und Nervosität. Er läuft an, will erst verzögern, macht es dann doch nicht und zielt vollkommen vorhersehbar nach rechts unten. Reine faustet den Ball sicher weg. Jubel brandet im Stadion auf „Reine!“-Sprechchöre gellen durch die Runde. Doch noch ist nichts sicher. Erst, wenn auch Raphael getroffen hat. Mist. Er hat gehofft, dass die anderen vier so sicher sind, dass er nicht mehr ranmuss und jetzt ruht die Verantwortung wieder auf seinen Schultern. Er wollte sie doch nie, aber irgendwie trägt er sie am Ende doch immer. Ihm ist vor Aufregung und Anspannung fast schlecht, als er in den Strafraum geht. Oh, verdammt. Kann er nicht einfach abhauen? Aber nein, das geht nicht. Er rennt nicht mehr weg. Nie wieder. Langsam legt er sich den Ball zurecht. Für das Team, für Julian, für den Killer, für Alejandro, für Knie, für sie alle – wird er jetzt treffen. Er strafft die Schultern und tritt zurück. Adler fixiert ihn aufmerksam, doch er ignoriert den Leverkusener Torwart. Er schließt die Augen und öffnet sie einen Augenblick später, als der Pfiff erklingt und rennt los. Ohne noch einmal auf das Tor zu schauen, schießt er. Adler fliegt in die linke Ecke, während der Ball sauber direkt in der Mitte unter der Latte einschlägt. Raphael bleibt gar nicht erst stehen, sondern rennt auf Reine zu, dem sie diesen Halbfinaleinzug noch mehr zu verdanken haben als ihm. Seine Ohren klingeln von dem Lärm, den die Dortmunder Fans veranstalten – und Fußball, Fußball ist in dem Moment wirklich alles, was zählt. Kapitel 27: XXVII. Wenn Träume zerschmettert werden --------------------------------------------------- Der Einzug in das Pokalhalbfinale hat der Mannschaft neue Kraft für die Liga gegeben. Die nächsten beiden Spiele sind relativ einfach – es geht gegen andere Abstiegskandidaten wie den 1. FC Nürnberg und Hannover 96. Gegen beide holen sie souverän drei Punkte und krabbeln somit langsam nach oben. Noch sind die Abstiegsränge nicht verlassen, aber langsam schnuppern die Dortmunder Morgenluft. Es gibt noch eine Chance. Es gibt sie. Als nächstes ist das Spiel gegen Schalke. Alejandro hat sich beim Training den Knöchel vertreten und muss in der Bundesliga aussetzen. Das tut er auch, wenn auch zähneknirschend. Keiner von ihnen will in dieser wichtigen Phase der Saison noch fehlen. Dafür wird er wohl am Mittwoch bei dem DFB-Pokalhalbfinale dabei sein. Dort geht es gegen den VfB Stuttgart. Aber jetzt heißt der Gegner erst einmal Schalke. Und das ist heute die Chance, die rote Laterne weiterzureichen an Energie Cottbus. Und das wollen die Dortmunder unbedingt. „Raphael!“ Immer, wenn Knieschweski ihn mit seinem vollen Vornamen anspricht, ist irgendetwas im Busch. Das hat Raphael recht schnell gemerkt und somit ist er jetzt auch besonders aufmerksam. Er zieht seine Socken über den Schienbeinschonern zurecht und steht auf. „Ja?“ „Hier.“ Knie drückt ihm die Kapitänsbinde in die Hand. Vollkommen entgeistert starrt der junge Mittelfeldspieler darauf. Normalerweise trägt der Killer sie immer, wenn Alejandro nicht spielen kann. Warum...? „Was...?“ Verwirrt sieht er den Trainer an. „Alejandro will es so. Und ich denke, er vertritt damit die Meinung der Mannschaft.“ Knie zwinkert ihm zu und geht an ihm vorbei, als wenn er gerade etwas absolut Normales getan hätte. „Kopf hoch.“ Dariusz bleibt stehen und klopft Raphael auf die Schulter. „Du wirst mit der Verantwortung schon klar kommen.“ „Depp!“ Zum Dank verpasst Raphael diesem eine Kopfnuss, erntet dafür aber nur ein Lachen. „Hasses verdient, Raffe. Dat sagen alle. Du bis eh der Boss aufm Platz, also kannste dat Dingen auch tragen.“ Der Killer zwinkert ihm ebenfalls zu und marschiert dann voraus. Raphael kann diesen Vertrauensbeweis noch immer nicht glauben, als er der Mannschaft voran ins Stadion marschiert. Das ist unglaublich. Er hat es nie angestrebt, Kapitän zu sein und jetzt ist er es auf einmal, wenn auch nur aushilfsweise. Das ist nie sein Ziel gewesen. Aber so laufen die Dinge manchmal eben. Man bekommt das, was man eigentlich gar nicht will. In diesem Fall ist es ein frühes Tor. Kuranyi stellt innerhalb von zwei Minuten unter Beweis, dass er zurecht in der Nationalmannschaft spielt und liefert ein erstklassiges Solo ab, das er mit einem echten Traumtor krönt, bei dem Reine wirklich keine Chance hat. Das nennt man wohl einen miesen Start. Der Schock sitzt. Und das so richtig. Die letzten Spiele haben sie immer von Beginn an dominiert und auf einmal sieht das hier vollkommen anders aus. Schalke spielt locker und befreit auf, während sich die Karos schwer tun. Nach der Halbzeitpause wird das Spiel besser. Sicherer und druckvoller von den Dortmundern. Jetzt sind sie es, die das Spiel in der Hand haben und regelrecht Sturm laufen. Raphael ist fasziniert davon, wie gut die Pässe auf einmal sitzen, wie sehr alles Hand in Hand geht. Wie sehr die Laufbereitschaft da ist und wie sich alle reinhängen. Die Abwehr, die bei dem 1:0 durch Kuranyi einfach nur schlecht aussah, steht bombensicher und lässt sich auch durch die gewieftesten Tricks nicht erschüttern. Nichts geht da hinten. Aber dummerweise geht der Ball auch nicht in das Schalker Tor. Noch mehr stürmen können die Dortmunder bald nicht mehr. Alle zwei, drei Minuten brennt der Schalker Strafraum wirklich lichterloh – und das Leder geht einfach nicht ins Netz. Was seine Teamkameraden heute nicht zustande bringen, leistet der junge Manuel Neuer im Tor mindestens dreimal. Ständig holt er den Ball irgendwie aus der Luft, wirft sich auf den Boden, fängt scharfe Flanken ab oder, oder, oder. Es ist langsam einfach nur noch frustrierend. Acun und Augustin mühen sich da vorne ab. Mittlerweile sind auch Mürre und der Killer ständig vorne, genauso Julian und Gabriel. Aber nichts geht. Und dann kommt der Schlusspfiff. Scheiße. Diese Niederlage tut weh. Wirklich weh. Nicht nur, weil sie so unverdient ist und sie einfach die bessere Mannschaft waren und Schalke hätten schlagen können, ja, sogar schlagen müssen! Nein, sie tut auch weh, weil sie weiterhin auf dem letzten Tabellenplatz stehen. Klar, sie spielen gut, aber sie brauchen noch einige Dreier, damit sie den Klassenerhalt wirklich schaffen. Keiner von ihnen will das auf den letzten Drücker schaffen, aber wenn es so weitergeht, schaut es so aus. Ihr einziges Glück ist, dass die letzten fünf Mannschaften der Tabelle eng beieinander stehen. Cottbus, Hannover, Nürnberg und Rostock sowie sie selbst haben alle ein ähnlich schlechtes Punktekonto. Und davor die Frankfurter Eintracht sowie 1860 und der 1. FC Köln sind auch noch nicht aus der Abstiegszone raus. Es gibt noch eine Chance. Nur haben sie die mit dem Spiel heute nicht gerade vergrößert. Ein bisschen fühlt es sich an, als wenn Träume geplatzt sind. Er weiß nicht genau, warum er jetzt hier ist und den Wagen in der Straße weit außerhalb Dortmunds vor dem kleinen Haus anhält. Julians Haus. Raphael bleibt wie eingefroren hinter dem Steuer sitzen, starrt die dunklen Fenster an. Julian ist offenbar nicht da. Noch nicht. Sie sind nach dem Spiel alle schweigend auseinander gegangen und brauchten jeder für sich einfach Zeit, um das erst einmal zu verarbeiten. Zu verarbeiten, dass ihre ganze Mühe keine Früchte getragen hat. Raphael blickt stur auf das Haus, auf die dunklen Fenster und wartet. Irgendwie auf Julian, obwohl er sich gar nicht sicher ist, ob er dann aussteigen und mit ihm reden wird. Er weiß ja noch nicht einmal worüber er dann mit ihm reden will. Einfach küssen und ein „Ich will dich zurück“ reicht ja wohl kaum aus. Dann sieht er die Lichter eines Wagens im Rückspiegel und kauert sich unwillkürlich im Sitz zusammen. Wenn er nicht aussteigt, dann ist es wohl besser, wenn Julian ihn gar nicht erst sieht... Er kann sein Hiersein ja nicht so wirklich erklären. Und sowieso kommt es ihm jetzt wie eine absolute Schnapsidee vor. Noch mehr, als er sieht, dass Julian nicht alleine ist. Dass da noch jemand bei ihm ist, den er im Licht der Straßenlaterne hier auf offener – wenn auch leerer – Straße einfach küsst. Und zwar derart hungrig und leidenschaftlich, dass es da nichts zu interpretieren gibt. Wie versteinert sitzt er da und spürt, wie in ihm etwas zerbricht. In Scherben bricht und leise rieselnd zu Boden fällt. Kapitel 28: XXVIII. Wenn es um Schmerz und Stolz geht ----------------------------------------------------- Im Training hat Raphael jeglichen Blickkontakt und jeglichen Wortwechsel mit Julian vermieden. Er erträgt es nicht, ihn anzusehen. Er erträgt es einfach nicht. Es tut zu weh und er ist zu stolz, um sich das ansehen zu lassen. Er weiß, dass Dariusz merkt, dass etwas mit ihm los ist. Dass es Alejandro wahrscheinlich auch merkt. Chris vielleicht auch. Es gibt hier genügend Menschen, die ihn gut genug kennen. Doch nur mit Paolo hat er darüber gesprochen. Kurz und mit knappen, abgehackten Worten, ehe er sich ins Bett verkrochen hat, um sich wortwörtlich die Bettdecke über den Kopf zu ziehen. Und jetzt ist das DFB-Pokalhalbfinale gegen Stuttgart. Stuttgart hat das Heimrecht und so müssen die Karos in ihren roten Ausweichtrikots auflaufen, während der VfB in Weiß spielt. Die Niederlage gegen Schalke sitzt den Dortmundern noch immer in den Knochen. Sie haben erneut den Beweis bekommen, dass im Fußball nun einmal nicht immer zwingend der Bessere gewinnt. Es sollte vielleicht so sein, aber es ist nicht so. Und jetzt sind sie angespannt. Alle. Raphael steht in der Startelf. Seit dem Spiel gegen Leverkusen gibt es darüber keine Diskussion mehr. Er hat seinen Stammplatz bekommen, er hat ihn sich erkämpft und sogar Chris, den er verdrängt hat, trägt das mit Fassung. Klar, die Spannung zwischen ihnen ist da und vielleicht sollten sie einmal darüber reden. Nach dem Spiel. Nicht jetzt. Jetzt ist es Zeit, einzumarschieren und aufzulaufen. Auf dem Spielfeld kann er Julian nicht mehr ignorieren. Das geht einfach nicht. Immerhin spielen sie zusammen. Und dennoch fällt es Raphael schwer, so unendlich schwer. Dieser Kerl, er sitzt so tief unter seiner Haut. So unendlich tief. Er kommt mit dem allen nicht mehr klar. Nicht mehr. Auch nicht damit, dass er am nächsten Tag mit Chantal zum Arzt geht, so wie er es versprochen hat. Alles wird ihm zu viel. Viel zu viel. Warum können die Dinge nicht einfach sein und warum kann er nicht ungestört Fußball spielen? Genau das will er doch nur. Sein Kopf ist viel zu voll, viel zu durcheinander – und deswegen spielt er schlecht. Zum Glück sind die Stuttgarter heute nicht besonders gut drauf. Ihnen macht der Tanz auf drei Hochzeiten – Liga, DFB-Pokal und UEFA-Cup – wohl doch langsam zu schaffen. „Verdammt, Raffe, was ist denn los mit dir?“ Alejandro bringt in der Kabine auf den Punkt, was sie wohl alle denken. Raphael presst die Lippen zusammen und zieht sich das grasfleckige Trikot über den Kopf. Natürlich gibt es in der Pause frische Klamotten. Sein Blick gleitet kurz zu Julian, der diesen mit einem Ausdruck von Verwirrung erwidert. „Nichts.“ „Dat kannste deiner Omma erzählen! du bist mit deinen Gedanken sonstwo, aber ganz sicher nich aufm Platz!“, fährt der Kapitän ihn an. „Sorry, dass ich mal private Probleme hab!“, blafft Raphael zurück. Er hat keinen Bock sich anbrüllen zu lassen. Er fühlt sich so ja schon beschissen genug, da braucht er niemanden, der ich anschnauzt und ihm noch mehr Schuldgefühle verpasst, als er ohnehin schon besitzt. Denn er weiß nur zu genau, dass er die Mannschaft gerade im Stich lässt. Dass er sie alle hängen lässt, obwohl sie auf ihn vertrauen. „Scheiße, Raffe, aber wir brauchen dich!“ Das ist jetzt Acun und er bringt exakt das auf den Punkt, was Raphael weiß. Dieser erwidert den Blick des Türken ungerührt, unbewegt. „Sorry. Knie, wechselst, du mich aus?“ Die Worte sind an den Trainer gerichtet, aber er blickt ihn nicht an. Die ganze Kabine hält schockiert die Luft an. Das kann doch nicht sein Ernst sein, oder? „Vergisses, Raphael“, erwidert der Trainer und sein Gesicht sieht aus, als wenn er in eine Zitrone gebissen hat. „Es ist so, als wenn hier nicht jeder von uns nachvollziehen könnte, wie sich private Probleme anfühlen und wie sehr sie das Spiel beeinflussen. Unter anderen Umständen würde ich dich sofort runternehmen und vom Training freistellen, aber wir brauchen dich. Es gibt gerade niemanden, der dich ersetzen kann. Genau deswegen hast du diesen Stammplatz bekommen.“ Raphael hat bei seinen Worten den Kopf gesenkt. Was hat er denn für eine Wahl? Er kann nicht zurück und er kann nicht weglaufen. Also wird er kämpfen. Erneut kämpfen. „Solange ihr keine Wunder erwartet“, murmelt er leise, streift das neue Trikot über und marschiert aus der Kabine. Er weiß, dass er sich gerade anmaßend und wie die letzte Diva verhält. Der Mannschaft zuliebe würde er am liebsten nicht weiter spielen, aber gerade für sie muss er es. Was für ein Dilemma! Seine Schritte sind langsam, als er den leeren Korridor entlang auf den Ausgang zum Platz hin zugeht. „Hey, sagst du mir, was mit dir los ist?“ Raphael muss sich gar nicht erst umdrehen, um zu wissen, dass Julian hinter ihm steht und ihn sicher mit diesem unglaublich verletzlich-besorgten Ausdruck in den grünen Augen ansieht. Er bleibt stehen. „Nein. Denn so wenig, wie es mich noch angeht, was du tust, so wenig geht es dich an, wie es in mir aussieht.“ Die Antwort wählt er bewusst kalt und ganz bewusst dreht er sich nicht um. Wenn er es täte, würde er vielleicht etwas Dummes tun. Julian Vorwürfe machen, die keinerlei Daseinsberechtigung haben. Sie sind nicht mehr zusammen. Sie sind noch nicht einmal mehr so etwas wie Freunde. Und er ist viel zu stolz, um Julian seinen Schmerz und seine brennende Eifersucht zu zeigen. Somit lässt er Julian auf dem Gang stehen und tritt heraus aus den Katakomben. Er ist als erster wieder auf dem Platz und steht dort unbewegt mitten auf dem Rasen in dem einsetzenden Regen. Dieses Foto wird es sein, das am nächsten Morgen die Spielbereichte zieren wird. Der junge Mittelfeldstar des FC Dortmund, der Rückkehrer, der Gescheiterte, der seine Konzentration sucht, um nach einer grottenschlechten ersten Halbzeit das so wichtige Spiel gegen den VfB Stuttgart zu entscheiden. Irgendwie gelingt es. Raphael weiß nicht genau, wie er es letztlich schafft, seine Gedanken vollkommen auf das Spiel zu fokussieren und alles andere auszublenden. Aber es klappt. Er spielt wie ausgewechselt und auf einmal können die Dortmunder unter Beweis stellen, dass sie äußerst berechtigt in diesem Halbfinale stehen. Und sie unterstreichen, wie brennend sie in das Finale wollen. Wie sehr sie nach Berlin wollen. Dann kommt der entscheidende Pass aus dem Mittelfeld. Raphael gibt den Ball zu Gabriel, der sieht Julian freistehen, der setzt den finalen Pass zu Acun – und der Türke verwandelt den Ball mit spielerischer Sicherheit. Raphael steht an der Seitenlinie und lächelt zufrieden. Geht doch. Und dann sieht er mit Verblüffung Acun und seine anderen Teamkameraden auf ihn zustürmen. „Berlin, Berlin! Wir fahren nach Berlin!“, skandieren die Dortmunder Fans, während Raphael in einer Traube jubelnder Karos hilflos lachend zu Boden geht. Ja, verdammt! Sie fahren nach Berlin! Kapitel 29: XXIX. Wenn es einen mitten ins Herz trifft ------------------------------------------------------ Der Arzttermin mit Chantal steht vor der Tür. Raphael ist unruhig und angespannt. Er weiß nicht genau, was er erwarten soll, worauf er hoffen soll. Noch immer ist ihm bei der Vorstellung schlecht, vielleicht in neun Monaten Vater zu sein. Chantal geht es wohl nicht anders, denn sie sitzt still neben ihm in dem Wartezimmer und blättert noch nicht einmal durch die üblichen Zeitschriften. Er selbst schweigt ebenfalls. Zum Glück ist es ruhig hier und nicht besonders voll. Die prüfenden Blicke reichen ihm auch so. Es ist, als wenn die anwesenden Frauen abschätzen würden, ob er einen guten Vater abgeben würde oder nicht. Und das ist ein grauenhaftes Gefühl. Ganz abgesehen davon will er gar nicht wissen, wie viele von ihnen ihn erkannt haben und diesen Besuch morgen der Presse stecken. Sein Privatleben will er eigentlich nicht unbedingt in Deutschlands größtem Boulevardblatt nachlesen können. Endlich sind sie dran und betreten das Untersuchungszimmer. Raphael fühlt sich auch wieder fehl am Platz, als er sich auf den einsamen Hocker setzt und versucht, nicht im Weg zu sein. Das Gespräch zwischen Chantal und dem Arzt rauscht an ihm vorbei und nur Bruchstücke bleiben hängen. „...positiver Test...“ „...Absicherung...“ „...will sicher sein...“ „...untersuchen.“ Raphael blickt erst auf, als der Arzt mit einem leise klatschenden Geräusch die Handschuhe auszieht. „Frau Schmitt, zur absoluten Sicherheit möchte ich noch einen Bluttest durchführen, aber was die bisherige Untersuchung gezeigt hat, ist, dass Sie nicht schwanger sind.“ „...was?“ Chantal schaut den Mann entgeistert an. Man sieht nur allzu deutlich, dass sie es nicht versteht. Ohne weiter nachzudenken, ist Raphael bei ihr und legt ihr die Hand auf den Arm. „Wie kann das sein? Wenn der Test doch positiv war?“, fragt er verwirrt nach. „Das ist recht einfach. Es kann sein, dass der Test schon älter war oder dass der Test nicht bei Raumtemperatur stattgefunden hat. Genauso gut ist es möglich, dass es zwar eine befruchtete Eizelle gegeben hat, aber sich diese jedoch nicht so in der Gebärmutter einnisten konnte, wie das vorgesehen ist und die Schwangerschaft dadurch auf natürlichem Wege abgebrochen wurde... Ein anderer Grund können Tumorzellen sein – und schon allein deswegen möchte ich diesen Bluttest machen.“ Raphael nickt nur schwach. Chantal wirkt vollkommen paralysiert, fassungslos. „Und... und warum...“ „Warum Sie keine Monatsblutung bekommen haben?“ Der Arzt lächelt Chantal verständnisvoll an und nimmt es ihr ab, den Satz zu Ende zu führen. „Das hängt vermutlich mit einer simplen Hormonschwankung zusammen. Auch da wird uns die Blutanalyse Aufschluss geben.“ Er steht auf, als er sieht, dass die junge Frau eine relative Fluchtbewegung zur Tür hin macht. „Aber deswegen können Sie morgen erneut bei uns vorbeikommen. Ruhen Sie sich aus.“ Und der Blick, den er Raphael zuwirft, sagt mehr als deutlich, dass dieser sich doch bitte um sie kümmern möge. Wird er auch. Ist doch Ehrensache. Jetzt sitzen sie in einem kleinen Café in einem beinahe noch kleineren Ort außerhalb Dortmunds. Chantal hält sich an ihrem Cappuccino fest und ist noch immer blass. Raphael sieht, dass sie die Tränen weiter mühsam unterdrückt. Sie weigert sich zu weinen und will sich diese Blöße nicht geben. Er nippt langsam an seinem Kaffee und weiß nicht, was er sagen soll. Auch wenn er schließlich doch etwas sagt. „Es tut mir Leid.“ Leise sind seine Worte, vielleicht abgedroschen, aber dafür kommen sie aus dem Herzen. Chantal blickt auf und sieht ihn das erste Mal wirklich an, seitdem sie hier sind. Ihre grünen Augen glänzen verdächtig und ihr Lidschatten ist verschmiert. Ihr schmerzerfüllter Blick gleicht so sehr Julians, dass es nun Raphael ist, der dem Blick kaum standhalten kann. Doch er zwingt sich dazu, denn er ist es ihr schuldig, dass er ihr in die Augen blickt – und dass er dabei nicht an Julian denkt, sondern an sie. „Wirklich.“ Er lächelt schwach und spürt auf einmal nur zu deutlich, wie sehr er das meint und wie sehr es ihn schmerzt, Chantal so zu sehen. Er mag ihre fröhliche, offene und direkte Art. Das ist sie. Nicht diese traurigen Augen und dieser verzweifelte Gesichtsausdruck. Zitternd lässt sie die Tasse los und schlägt die Hände vor das Gesicht. Jetzt kommen die Tränen mit unaufhaltsamer Gewalt. Raphael steht auf, kommt zur ihr und nimmt sie in den Arm. Alles, was er tun kann, ist, sie in seinen Armen weinen zu lassen. Und die Verzweiflung mit der sie sich an ihn klammert, lässt ihn auf einmal begreifen, dass sie nicht nur darum weint, dass es kein Kind geben wird. Nein, sie weint auch darum, dass sie ihn endgültig verloren hat. Weil sie gehofft hatte, ihn mit dem Baby zu halten. Still kauert er neben ihr, hält sie fest, lässt sie weinen, ist einfach da. Und streichelt ihr hilflos über das blonde Haar. Irgendwann hat sie aufgehört zu weinen und sich hinter ihrem – mittlerweile kalten – Cappuccino versteckt. Die Bedienung ist taktvollerweise nicht mehr aufgetaucht und Raphael ist froh darum. Es wird Zeit, sich auszusprechen. Die Karten auf den Tisch zu legen und da kann er wirklich niemanden in der Nähe gebrauchen, der vielleicht mithört. „Chantal“, sagt er sanft und ergreift ihre Hand. „Wenn du... Wenn du es willst, dann können wir immer Freunde sein. Dann werde ich nie aus deinem Leben verschwinden. Du bist die einzige Frau, die mir jemals etwas bedeutet hat. Abgesehen von meiner Mutter versteht sich.“ Sie schluckt schwer und blinzelt erneut gegen die Tränen an, ehe sie traurig lächelt. „Das wäre eine wunderschöne Liebeserklärung, wenn...“ „Wenn ich nicht auf Männer stehen würde...“ Er lässt ihre Hand los, doch sie ergreift seine Finger und hält sie fest. „Wenn. Aber das Leben findet halt nicht im Konjunktiv statt. Du bist so, wie du bist. Und so bist du genau richtig.“ Raphael muss lächeln. „Auch wenn es dir weh tut.“ Sie nickt. „Aber in diesen Menschen habe ich mich verliebt, also muss der einfach richtig sein, oder?“ Sie streichelt seine Finger und drückt sie sachte, ehe sie sie wieder freigibt. Sie schweigen, bis Chantal schließlich leise das Wort ergreift. „Erzähl mir von ihm. Erzähl mir von diesem Mann, der dir so sehr den Kopf verdreht hat und den du so sehr liebst. Und dem ich ähnlich sehe.“ Raphael zieht eine Augenbraue hoch und seufzt leise. „Ist es so offensichtlich?“ „Du hast genug angedeutet, dass das auf der Hand liegt.“ Sie lächelt. „Bitte.“ Er nickt und beginnt zu erzählen. Von ihrer Begegnung im Training, von der Harmonie im Zusammenspiel, von den Umarmungen bei den Erfolgen, von den Umarmungen bei den Niederlagen, von diesen unglaublichen grünen Augen, von den blonden Haaren, von diesem unglaublichen Lächeln, das leicht dreckig klingt, von der Nähe und Geborgenheit, von seiner Angst, vor der Furcht, entdeckt zu werden. Von seiner Flucht nach Bremen. Von dem Schmerz und der Trennung, die er ausgelöst hat. Von dem endgültigen Bruch. Von seiner Niederlage und seinem Absturz, von der schwersten Zeit seines Lebens, von seiner Rückkehr nach Dortmund und schließlich von dem Problem, Julian gegenüberzutreten, mit diesem brennenden Herzen, dem Wissen, dass zwischen ihnen zuviel kaputt gegangen ist, und der Hoffnung, irgendwie doch noch die Kurve zu kriegen und den Menschen zurückzubekommen, den er am meisten auf dieser Welt liebt. Den er so beschissen liebt, dass es ihm noch irgendwann einmal das Herz endgültig zerreißt. Und während er spricht, begreift er immer mehr, was eigentlich passiert ist. Und wie sehr er immer Angst hatte. Angst, entdeckt zu werden. Angst, den Fußball zu verlieren, weil ein schwuler Fußballer in Deutschland noch längst keine Chance hat, sich zu behaupten. Doch was er dabei übersehen hat, ist, dass es viel schwerer ist, ohne diesen einen besonderen Menschen zu leben. Klar, ohne Fußball würde ihm etwas fehlen, aber man würde ihm nicht die Füße amputieren. Aber ohne Julian, ohne Julian, da kann man ihm gleich das Herz herausschneiden. Kapitel 30: XXX. Wenn die Zeit zu schweigen vorbei ist ------------------------------------------------------ Irgendwie hat er seit der Aussprache mit Chantal ein komisches Gefühl im Bauch. Es lässt sich nicht richtig beschreiben, nicht in Worte fassen, aber es ist da. Es erstaunt ihn selbst, dass er im Training richtig bei der Sache ist – und dass er wirklich gut drauf ist. Obwohl ihm so vieles im Kopf herumgeht und er geradezu vor Gedanken und Gefühlen überzuquellen scheint. Aber irgendwie ist er in Harmonie mit sich selbst. Und entsprechend zufrieden ist der Trainer und lässt ihn keine Strafrunden rennen. Die anderen haben da weniger Glück. Julian und Reine sind wohl die einzigen, die nur eine Strafrunde abbekommen. „Scheint ja, als wenn der Arztbesuch gut gelaufen ist“, meint Julian, als er schließlich in die Kabine kommt und Raphael sich abtrocknet. „Mhm. Nicht schwanger. War ein Irrtum.“ Er legt das Handtuch beiseite und steigt in Boxershorts und Jeans. „Glück gehabt also.“ Der blonde Mittelfeldspieler lehnt sich gegen den Spind neben Raphaels und mustert diesen. „Lässt du das Durch-die-Gegend-Geschlafe jetzt sein, wo du so einen vor den Bug bekommen hast?“ Irritiert blickt Raphael ihn an und druckst dann herum. Ja sagen kann er nicht so wirklich und Nein sagen auch nicht. „Du änderst dich wohl nie.“ Julian drückt sich von dem Spind ab. „Du wirst dich noch in alle Ewigkeit selbst verleugnen. Ist es das, was du willst?“ „Ach?“ Raphael tritt wütend gegen die Metalltür seines eigenen Spinds und das Krachen wummert richtig durch die leere Kabine. „Soll ich vielleicht in die Welt hinausbrüllen, dass ich schwul bin? Vergisses!“ „Du bist schwul?“ Die kalt gestellte Frage hinter ihm, aus Richtung Kabinentür, lässt es Raphael eisig den Rücken runterlaufen. Sie waren zu sehr in ihr Gespräch vertieft, als dass irgendwer aufgepasst hätte. Noch nicht einmal Julian, der die Tür von seinem Standpunkt aus weitaus besser sehen kann. Auch der Blondschopf wirkt schockiert. Ausgerechnet Reine. Reine, der mehr als deutlich geäußert hat, dass er nichts von Schwulen und ganz besonders nichts von schwulen Fußballern hält. „Und?“ Raphael fährt herum und funkelt den Torwart – der rund zehn Zentimeter größer und mindestens fünfzehn Kilo schwerer ist – an. „Hast du etwa ein Problem damit?“ „Ja.“ Mit zusammengekniffenen Augen und einem Blick, der Raphael wirklich Angst einjagt, marschiert er auf ihn zu. „Hast du dich daran aufgegeilt, hier zu sein? So viele nackte Kerle um dich herum? Gefällt dir doch, was?“ Raphael zieht eine Augenbraue hoch und will etwas sagen, aber dazu kommt er gar nicht mehr. Reines Faust kollidiert mit seiner Wange und sorgt dafür, dass er sich auf die Lippe beißt und Blut ausspuckt – und dass sein Hinterkopf unsanft mit dem Spind hinter ihm kollidiert. Das Dröhnen scheint in seinem Schädel widerzuhallen und er sieht für den Moment Sterne. „Du bist widerlich. So etwas wie du ist widerlich!“ Blanke Abscheu liegt in den sonst so klaren Augen des Torwarts. Er schlägt erneut zu und erwischt diesmal Raphaels Unterkiefer und bringt seine Lippe dazu, aufzuplatzen. Blut rinnt ihm über das Kinn. „Und alles, was dir einfällt, ist, mich zu schlagen? Wie tapfer!“, höhnt der Mittelfeldspieler und blitzt Reine zornig an. Diese intoleranten Arschlöcher, die meinen, sich als Moralapostel über die Welt aufschwingen zu können, die kotzen ihn an. Diesmal trifft ihn der Schlag in die Magengrube und sorgt dafür, dass er sich zusammenkrümmt. Er hört gar nicht, wie die Kabinentür erneut aufgeht, wie die anderen hereinkommen, sieht nicht, wie sie schockiert stehen bleiben und bekommt gar nicht mit, wie Julian heftig auf Alejandro einredet, wie dieser Julian zurückhalten muss, damit der sich nicht auf Reine stürzt. Raphael würgt und spuckt auf den Boden. Erneut tanzen Sterne vor seinen Augen und sein Kopf schlägt vor, dass es doch eine gute Idee wäre, jetzt einfach die Augen zuzumachen. Aber sein Stolz will nicht. Der ist es, der ihn wieder hochreißt, hochaufgerichtet Reine entgegenblicken lässt – und der den Schmerz irgendwie soweit erträglich macht, dass er reden kann und nicht nur dumpfes Stöhnen und Wimmern von sich gibt. „Oh ja, schlag mich weiter. Das ändert nur nichts daran, dass du derjenige von uns beiden ist, der absolut widerlich ist!“ Erneut spuckt er aus, diesmal direkt vor Reine auf den Boden. „Du hasst doch nur Schwule, weil du Schiss hast! Schiss vor dem, was du nicht verstehst! Schiss vor dem, was anders ist als du! Du bist doch nichts anderes als ein engstirniger, verbohrter Idiot.“ Reine holt erneut aus, doch Raphaels Redefluss endet nicht – und er macht auch keinerlei Anstalten, sich zu verteidigen. Obwohl er es könnte. Und irgendwie lässt das den breiten Torhüter innehalten. „Und weißt du was? Schwule ficken so wenig alles, was nicht bei drei auf den Bäumen ist wie du! Oder nimmst du etwa jede, die dir über den Weg läuft?“ Raphael merkt gar nicht, dass er mittlerweile schreit. Schreit, während ihm das Blut noch immer über das Kinn läuft und sich auf seiner bloßen Brust zu einem dunkelroten Rinnsal entwickelt. „Scheiße, du bist so was von nicht mein Typ! Dein Arsch interessiert mich einen Dreck, Reine! Du interessierst mich in der Hinsicht absolut einen Dreck!“ Jetzt fällt sein Blick auf die anderen. Die komplette Mannschaft steht mittlerweile in der Kabine. Scheiße. Jetzt ist es wirklich genug. „Fick dich, Arschloch!“ Damit stößt er den verblüfften Torwart bei Seite und flüchtet aus der Kabine. Denn eine Flucht ist es. Er kann es nicht ertragen, dass sie es nun alle wissen. Alle. Dabei wollte er es doch geheimhalten. Es vor ihnen nicht offenbaren. Scheiße. Das war’s dann wohl mit dem Fußball. Am liebsten würde er jetzt einfach heulen. Kapitel 31: XXXI. Wenn die Welt nur noch rabenschwarz und rot ist ----------------------------------------------------------------- Weit weg geht er gar nicht. Nur auf den Parkplatz raus, denn seine Klamotten sind noch immer in der Kabine. Seine Autoschlüssel auch, denn sonst wäre er schon längst weg. Aber so hat er ja keine richtige Wahl. Er geht so weit, bis er schließlich die Ecke mit den zwei Linden erreicht, unter denen eine Bank steht. Müde lässt er sich darauf fallen. Denn müde ist er jetzt. So richtig müde. Ihm schmerzen Körperstellen, bei denen sich das wirklich übel anfühlt. Sein Bauch fühlt sich an, als wenn er als Sandsack missbraucht worden ist – und dabei war das nur ein Schlag – und in seinem Kiefer explodiert der Schmerz, sobald er ihn auch nur ein bisschen vorschiebt. Außerdem klebt das Blut eklig auf seiner Haut. Scheiße. „Raphael?“ Doppelte Scheiße. Warum ausgerechnet Julian? Warum zur Hölle muss ihm ausgerechnet Julian nachkommen? Warum nicht der Killer oder sonst wer? Von ihm aus auch gerne Reine, dann kann der ihn gleich totprügeln und damit seine Probleme ganz schnell und sauber lösen. „Mann, hier bist du.“ Julian hat ihn nun erspäht und kommt zu ihm herüber. „Das...“ „Danke für deine wirklich umfassende Hilfe“, fährt Raphael ihn an und seine blauen Augen blitzen zornig auf. „Ich habe mit keinem Wort gehört, wie du Reine auch nur angebrüllt hast, aufzuhören. Wirklich tapfer.“ „Mann... Das ging alles viel zu schnell!“ Julian schüttelt den Kopf, als er sich auf einmal so in der Defensive wiederfindet. „Klar.“ Raphael verschränkt die Arme vor der Brust. „Wie du unschwer erkennen kannst, geht es mir gut, also kannst du gerne wieder verschwinden. Wenigstens den Gefallen kannst du mir tun.“ „Nee... Kann ich nich.“ Julian lässt sich unaufgefordert neben ihm auf die Bank fallen. „Ach? Und warum nicht? Behaupte bloß nicht auf einmal, dass du dir Sorgen um mich machst!“ Blanker Spott liegt in Raphaels Stimme, als er zur Seite blickt und sieht, wie Julian ihn anschaut. Eine blonde Strähne hängt quer über seinem Gesicht und versperrt ihm den Blick, also wischt er sie mit einer einzigen Handbewegungen bei Seite. Allein diese einzige Geste löst ein Kribbeln in Raphaels Magengrube aus, das beinahe diese unbändige Wut in seinem Inneren abflauen lässt. Scheiße. Warum muss er diesen Kerl eigentlich derart lieben? „Doch, das tue ich.“ Raphaels Herz macht bei diesen Worten einen schmerzhaften Satz. „So?“ „Ja, verdammt. Ich... Du bist mir nicht egal, okay? Absolut nicht. Und... Ale hat mich rausgeschickt. Keine Ahnung. Ich schätze, er glaubt immer noch immer, dass wir... Freunde... sind...“ Julians Stimme ist leiser geworden bei den letzten Worten und verstummt schließlich ganz. Raphael schweigt. So lange, bis das Schweigen drückend wird und Julian seinem Blick ausweicht und zu Boden schaut. „Freunde...“ Er spuckt das Wort aus. „Mach dir doch nichts vor. Wir sind nichts mehr. Gar nichts mehr.“ Bitterkeit begleitet seine Sätze. Weil er genau weiß, dass er alles falsch gemacht hat. Weil er den dicksten Fehler seines Lebens gemacht hat – und ihn bitter bereut. Julian fährt sich durch die Haare, sieht ihn an und blickte dann wieder auf das niedergetrampelte Gras vor der Bank. „Vermutlich...“, murmelt er leise. „Auch, wenn...“ Raphael hasst sich selbst für diesen überschäumenden Anflug von Hoffnung. Scheiße. Da gibt es nichts mehr, worauf zu hoffen wäre. Julian hat da irgendjemandem, mit dem er mitten in der Provinz auf der Straße knutschen kann. Schön für Julian, schlecht für ihn. So einfach ist das. „Lass es“, sagt er leise und in scharfem Ton. „Der Zug ist für uns längst abgefahren. Ich seh noch nich mal mehr die Rücklichter von dem. Außerdem bist du doch eh glücklich, oder nich?“ „Was?“ Julian runzelt verwirrt die Stirn und fixiert ihn. „Wieso...?“ „Raffe!“ Dariusz’ Stimme lässt Raphael durchatmen. Das heißt, dass dieses unsägliche Gespräch beendet ist. Zum Glück. Er wüsste nicht, was er Julian noch sagen sollte. Alles, was da wäre, wäre ein „Ich liebe dich trotz allem noch und werd niemals einen anderen so lieben wie dich.“ Aber das geht nicht. Wird nicht mehr gehen. Niemals mehr. Schließlich hat er doch alles versaut. „Oh...“ Der Killer bleibt stehen, als er sie beide sieht. „Stör ich?“ „Nein. Es ist alles gesagt.“ Raphael winkt ab und Julian steht abrupt auf. „Du machst es dir immer leicht. Und du sagst nie genug, um wirklich einmal alles zu sagen! Aber andererseits... sagt das eigentlich alles!“ Der blonde Mittelfeldspieler marschiert davon und lässt Raphael mit einem bitteren Lächeln auf den Lippen zurück. Ist es so? Sagt er nie genug, sondern verhindert es, dass endlich einmal alles auf den Tisch kommt? Vielleicht. Aber er will nicht, dass es noch mehr weh tut. Weder ihm noch Julian. Besonders nicht Julian, wenn der doch jetzt die Chance hat, mit jemandem glücklich zu werden... „Wow... Wat war dat denn?“ Der Killer starrt Raphael verblüfft an, nachdem er Julian noch einen Augenblick lang nachgesehen hat. „Keine Ahnung.“ Raphael hebt die Schultern. „So ist er eben.“ „Mhm...“ Der Verteidiger bleibt unschlüssig vor der Bank stehen und wippt auf den Fersen. „Ale... hat gerade die ganze Mannschaft zusammengeschissen...“ „Ich will’s nich hören, okay?“ Raphael drückt sich ab und steht auf. „Ich will’s echt nich hören.“ „Scheiße, hör mir doch mal zu!“ Dariusz fasst ihn am Arm, doch Raphael reagiert darauf nicht. „Sind sie noch drin?“ „Nein... Gerade gegangen... Deswegen bin ich ja auch...“ „Gut. Ich geh mich anziehen.“ Damit macht sich Raphael aus seinem Griff frei und geht in die Kabine. „Raffe! Verdammt, Ale hat die Mannschaft zum Schweigen verdonnert! Für dich!“ Der Killer ist wieder bei ihm und hält ihn auf. „Und? Dann wird das eben nicht an die große Glocke gehängt, aber das verhindert nicht, dass sich alles ändern wird. Alles. Oder glaubst du etwa, dass irgendeiner von denen noch normal mit mir umgehen kann? Dass die alle so sind wie du? Denk an Reine!“, fährt Raphael ihn ungehalten an. So ist es doch. Jemanden wie Dariusz findet man in einer Fußballmannschaft einmal, aber nicht mehr. Kapitel 32: XXXII. Wenn man auch gleich auf ein totes Pferd setzen kann ----------------------------------------------------------------------- Er kommt direkt in Trainingsklamotten zum Training. Wenn es einen Ort gibt, den er jetzt ganz sicher nicht aufsuchen wird, dann ist es diese verdammte Kabine. Diese beschissene Kabine, wo er den Blicken, den Musterungen, allem ausgesehen ist. Wo alles genauer beobachtet und unter die Lupe genommen wird. Wo jeder Blick auf ihn prüfend sein wird, abschätzend, vielleicht auch herabwertend. Und das will er nicht. Absolut nicht. Er hat das Gefühl, als wenn er auch gleich auf ein totes Pferd setzen kann. Das hier, das mit dem Fußball und ihm, mit dem FC und ihm, das ist durch. Geht doch gar nicht mehr anders. Er parkt den Wagen vor dem Gelände, steigt aus und marschiert auf den Platz. Er ist der erste der Spieler, nur Knie und Rudolf sind schon da. Nach und nach tauchen die Mannschaftskollegen auf, lachend und schwatzend wie immer. Alejandro schlägt Augustin auf die Schulter, Stefan und Christian diskutieren hitzig, Reine, Mürre und der Greif fuchteln wild mit den Händen in der Luft herum, während Acun Mustafa und René über den Platz jagt. Es sieht aus wie immer. Wie immer. Und es ist doch absolut anders. Alles ist jetzt anders und wird nie wieder sein wie zuvor. Raphael versteift sich unwillkürlich, als die Gruppe den Trainer und ihn erreicht, sich um sie schließt. Dariusz legt ihm mit einem Lächeln die Hand auf die Schulter, doch es gelingt ihm nicht, die Anspannung zu vertreiben. Sie ist weiter da, wie ein eisiger Knoten in seinem Magen und lähmt ihn. Knieschewski lässt sie wieder in kleinen Gruppen spielen, vier gegen vier. Raphael findet sich mit Christian, Paul, und Alex in einem Team wieder. Eine ungewöhnliche Kombination, aber der Trainer will, dass sie sich alle verstehen und gut zusammenspielen. Sie treten an gegen René, Thijs, Daniel und Puck. Und irgendwie klappt gar nichts. Raphael weiß, dass es an ihm liegt. Weil er auf einmal Hemmung hat, weil er auf einmal unsicher geworden ist und nicht weiß, wie er mit der aktuellen Situation umgehen soll. Weil er keine Anzeichen von der Mannschaft bekommen hat, kein Signal, wie dort die Stimmung ist, wie sie auf ihn reagieren, wie er sich verhalten soll. „Verdammt, Raffe! Hör auf die Träumen!“ Der Ball semmelt dicht an ihm vorbei und sorgt dafür, dass sich Knie langsam ernsthaft aufregt. „Sorry.“ Raphael versucht, sich zusammenzureißen und sich auf das Spiel zu konzentrieren, aber es klappt nur bedingt. Immerhin wird es jedoch so viel besser, dass Knie sich schließlich den anderen Gruppen widmet. Doch als er Julian und Reine heftig neben dem Tor diskutieren sieht, wo vier Kameraden gerade Freistöße üben, ist es vorbei. Er tritt über den Ball, setzt sich auf den Hintern und springt fluchend wieder auf. Und dann marschiert er einfach vom Feld. Er hat genug. Endgültig genug. Am besten reicht er gleich seinen Rücktritt vom aktiven Sport ein und zieht sich auf einen Bauernhof oder in eine einsame Waldhütte zurück. Er tritt gegen den Rasen und stapft weiter. Und dann hält ihn eine Hand an seinem Arm zurück. „Scheiße, was machst du denn für einen Unsinn?“ Christian schüttelt den Kopf und zerrt ihn regelrecht herum. „Kann dir doch egal sein. Sieh’s doch positiv: Du kriegst deinen Stammplatz zurück, wenn ich alles hinschmeiße“, faucht Raphael diesen an, ohne auch nur einen winzigen Augenblick lang nachzudenken. „Was?“ Chris sieht ihn vollkommen entgeistert an. „Hey, ich bin voll und ganz erledigt! Raus aus dem Spiel! Weg vom Fenster!“ „Du spinnst.“ Chris schüttelt fassungslos den Kopf. „Scheiße, Ale hat gestern noch eine flammende Rede für dich gehalten und die ganze Mannschaft steht hinter ihr! Oder hast du irgendeinen Spruch gehört, irgendein komisches Verhalten gesehen oder so was? Nichts! Gar nix! Scheiße, wir stehen hinter dir!“ „Oh ja, klar.“ Höhnisch lacht Raphael auf. „Hat das auch Reine gesagt? Oder darf ich damit rechnen, dass er mir demnächst noch mal eine verpasst? Vergiss es, Chris! Ich hab mir die Gedanken hier schon oft genug gemacht und mir oft genug vorgestellt, wie so etwas läuft. Und so eine glatte Lösung gibt es nicht!“ Er schüttelt den Kopf und macht sich rigoros aus Chris’ Griff frei. „Weißte, ich würd ja gern dran glauben, dass so was möglich is, aber das geht nich. Ich hab mit genügend Menschen zutun gehabt und ehrlich: Vergisses. Es gibt immer Menschen, die mit Schwulen nicht umgehen können. Und davon haben wir einen extra-homophoben als Torwart.“ Und damit wendet sich Raphael ab und geht davon. So ist es doch. So und nicht anders. Daran ändert auch das nette Gerede nichts, dass das Team hinter ihm stehen würde. Letzten Endes tun sie es doch nicht. Sobald er in seinem Wagen sitzt, zieht er sein Handy heraus. „Addazio.“ „Paolo, scheiße, ich brauch dich. Ich... geh vollkommen unter.“ Und während er die Worte ausspricht, weiß er, dass sie wahr sind. Jetzt kann er nicht mehr verhindern, dass ihm die Tränen in die Augen steigen. Er lehnt sich vor und drückt die Stirn gegen das mit Kunstleder bezogene Lenkrad. Scheiße. Eigentlich hatte er doch alles so gut im Griff und hat bisher vor allem Wut im Bauch gehabt, weniger den Schmerz und die Enttäuschung – und das Gefühl heulen zu müssen. „Was ist denn los?“ Raphael verflucht mehr noch als gestern, dass Paolo gerade zum Probetraining in Köln ist. „Ist rausgekommen, dass ich schwul bin. Reine hat mich verprügelt, Ale die Mannschaft zusammengeschissen, Julian versucht mit mir zu reden und irgendwie... ist alles total... scheiße.“ Schweigen am anderen Ende der Leitung, dann die Worte, auf die er so gehofft hat: „Ich komme, so schnell ich kann. Ich bin spätestens heute Abend da.“ „Danke.“ „Nicht dafür.“ Er kann Paolos Lächeln und Besorgnis regelrecht hören. „Wir sind Freunde und ich weiß, wie du dich fühlst.“ Damit ist die Verbindung getrennt und Raphael schließt müde die Augen. Die Tränen brennen unter den Lidern noch mehr und er kann nicht verhindern, dass ihm die ersten über die Wangen rinnen. Scheiße. Das war’s dann mit dem Fußball. Das einzige, was seinem Leben noch eine Bedeutung gibt, verschwindet auch daraus. Wenn wenigstens Julian hier wäre. Bei ihm wäre. Aber das ist er nicht und wird er auch nie mehr sein. Weil er ihn selbst von sich gestoßen hat. Erst, weil er Angst davor hatte, mit ihm gemeinsam aufzufliegen und deswegen den Fußball aufgeben zu müssen, in dem er immer sein Leben gesehen hat. Und dann, weil er diesen Schritt nicht mehr auf ihn zumachen und ihm erklären konnte, wie es wirklich in ihm aussieht. Das, was er noch immer nicht kann. Obwohl Julian genau das verdienen würde. Scheiße. So langsam fühlt er sich, als wenn er das tote Pferd ist, auf das fälschlicherweise gesetzt wurde. Kapitel 33: XXXIII. Wenn man zusammen gegen die Welt steht ---------------------------------------------------------- Nachdem er nahezu die ganze Nacht mit Paolo geredet hat, muss sich Raphael am nächsten Morgen wirklich dazu zwingen, aufzustehen, sich von dem warmen Körper neben ihm zu lösen und zum Training zu fahren. Wenn Paolo ihn die Nacht über nicht festgehalten hätte, hätte er wahrscheinlich gar nicht schlafen können. Am Wochenende steht das Spiel gegen Köln vor der Tür. Ein Spiel, bei dem er wohl längst nicht mehr auf dem Rasen stehen wird. So sieht’s doch aus. Und entsprechend schwer fällt es ihm, aus dem Wagen auszusteigen, als er das Trainingsgelände erreicht hat. Dariusz steht da und krallt ihn sich regelrecht, als er auf den Platz zugeht. „Teambesprechung!“ Der gebürtige Pole grinst breit, als wenn das alles sagen würde. „Wieso denn?“ Raphael ist verwirrt. „Um teaminterne Probleme aus der Welt zu schaffen.“ Raphael versteift sich, will sich aus Dariusz’ Griff befreien, doch so etwas funktioniert bei dem Killer genau einmal und dann nicht wieder. Eisern zieht er ihn mit. „Du bist ein verstockter und verbohrter Idiot, wenn du da nicht reingehst. Und du wirst es bereuen, wenn du es nicht tust“, sagt er und zerrt Raphael weiter mit sich – und dieser hört tatsächlich auf, sich zu wehren. Es gefällt ihm jedoch absolut nicht, dass sie schließlich den Besprechungsraum erreichen und dort wirklich die ganze Mannschaft sitzt sowie der Trainer, der Co-Trainer, der Manager und sogar der Mannschaftsarzt. Scheiße. Am liebsten würde Raphael jetzt direkt wieder kehrt machen, aber das verbietet ihm dann doch sein Stolz. Er kann schließlich doch nicht einfach so mit eingekniffenem Schwanz davonschleichen. „Setz dich.“ Alejandro grinst ihn an und irgendwie sorgt dieses Grinsen dafür, dass er sich etwas besser fühlt. Dennoch bedenkt er die Anwesenden mit einem skeptischen Blick, ehe er sich vorne neben Knie auf den einzigen noch freien Stuhl fallen lässt. Sich mitten in das Team zu setzen ist eher der Job von dem Killer – und exakt das tut er auch gerade. „Schön, da wir jetzt alle komplett sind, fangen wir also an“, beginnt der Kapitän. „Wir ihr alle wisst, ist es vorgestern zu einem äußerst hässlichen Zwischenfall in der Kabine gekommen.“ Der Blick des Spaniers richtet sich demonstrativ auf den Torwart Dirk Reinolfs, der die Arme vor der Brust verschränkt hat. Sein Blick wiederum ist starr auf Alejandro gerichtet. „Es hat sich herausgestellt, dass Raphael...“ „Himmel, was soll das hier eigentlich alles?“ Raphael hat keine Lust, sich das hier auch noch eine einzige Minute länger anzuhören. „Wenn ihr wollt, dass ich aus dem Team verschwinde, dann sag das sofort und ich bin weg! Schluss, aus, Ende!“ Er ist aufgesprungen und Knies sachte Berührung an seinem Arm macht ihn erst darauf aufmerksam. Langsam lässt er sich wieder zurücksinken. „Genau das wollen wir ja nicht!“ Alejandro sieht ihn an und lächelt. Scheiße. Er lächelt einfach. So, als wenn das das Selbstverständlichste von der Welt wäre. „Ach?“ Raphael zieht eine Augenbraue hoch. „Falls du es vergessen hast: Ich bin schwul und damit für den einen oder anderen in dem Haufen hier nichts anderes als Abschaum. Und nebenbei ein gefundenes Fressen für die Presse.“ Er lächelt gezwungen, während seine Stimme vor Ironie und Bitterkeit nur so trieft. „Das ist uns bekannt.“ Alejandro seufzt leise. „Und wir haben uns als Mannschaft entschieden, dass wir voll und ganz hinter dir stehen. Wir wollen dich als Teammitglied, als Teil von uns nicht verlieren, Raphael. Du gehörst zu uns. Und da ist es vollkommen scheißegal, ob du auf Männer oder Frauen stehst.“ „Schön, dass du das so siehst. Aber was ist mit jemandem wie ihm?“ Raphael blitzt Reine wütend an. Er hat den Zwischenfall gestern noch lange nicht vergessen. Und das wird er auch nicht. „Es wird nichts mehr passieren. Keiner aus der Mannschaft wird dich anfeinden oder...“ „Ach, hör doch auf!“ Raphael steht wieder und lässt sich diesmal auch von Knie nicht zurückhalten. „Hört mir doch mit diesem verdammten Scheiß auf!“ „Verdammt, dat is kein Scheiß, du Idiot!“ Dariusz springt auf und funkelt ihn an. „Du benimms dich, als wennu wills, dassu jetzt von uns verdammt und fortgejagt wirs!“ „Genau!“ Acun steht jetzt neben ihm. „Und wir wollen dich behalten, du Depp!“ Nach und nach fallen immer mehr Worte in dieser Richtung. Sogar der stille Mürre springt auf, genauso Antonio und Klaus, mit denen Raphael sonst so verdammt wenig zu tun hat. Man merkt, dass es einigen nicht ganz so leicht fällt. Dass sie zwar Skepsis haben, aber das sie auch bereit sind, sich damit auseinanderzusetzen. Augustin zum Beispiel. Er ist erzkatholisch und hat natürlich gewisse Schwierigkeiten mit dieser Lebensweise, aber auch er steht auf und brüllt, dass Raphael gefälligst bleiben soll. Und schließlich ist auch Reine auf den Beinen und sieht den Mittelfeldspieler an, der da vorne auf einmal alleine steht, denn Trainerstab, Arzt und Manager haben sich zur Mannschaft gesellt. Diese Kerle haben es echt geschafft, Raphael eine verdammte Gänsehaut über den Rücken zu jagen. „Es ist die Entscheidung der Mannschaft, dass du bleibst. Unsere gemeinsame Entscheidung. Ich kann mit deiner Lebensweise nichts anfangen und für mich sind Schwule nicht begreiflich, aber... du bist ein guter Spieler und ein guter Kumpel. Und solange ich in der Kabine nicht damit leben muss, dass du von deinen Kerlen redest oder mich anbaggerst, hab ich kein Problem mit dir.“ Reine stockt einen Augenblick und fügt dann hinzu: „Hast du ein Problem mit mir?“ „Wenn du mich nich wieder verprügelst, sicher nich.“ Raphael reibt sich demonstrativ über den Kiefer. „Mir tut noch immer alles weh, Mann.“ „Sorry.“ Reine grinst verlegen und Raphael erwidert das Grinsen vorsichtig. Fühlt sich doch gar nicht so schlecht an. Aber so wirklich kann er das alles hier nicht glauben. Das Team steht hinter ihm. Der Verein steht hinter ihm. Oh, verdammt. Er hätte sich so etwas gewünscht, aber niemals hätte er das hier zu träumen gewagt. Klar, garantiert hat das etwas damit zu tun, dass die Mannschaft viel besser spielt, seit er hier ist. Aber wenn das Vertrauen nicht da wäre, dann würde man das hier nicht machen. Denn wenn sie doch alle in den letzten Wochen eins kapiert haben, dann, dass Vertrauen und Zusammenhalt für ein Team alles sind. Verdammt und sie halten jetzt zusammen und haben Vertrauen in ihn. Und er will ja hier bleiben. So ist es ja nicht. „Wir gegen den Rest der Welt?“, fragt er zaghaft und bekommt ein derart laut gebrülltes „Ja!“ zur Antwort, dass Manager Schaffhausen sich lachend die Ohren zuhält. „Und kein Wort zur Presse, sonst werdet ihr verklagt!“, fügt der Kopf des FC drohend hinzu und erntet dafür ein nicht weniger lautes „Aye, Sir!“. Kapitel 34: XXXIV. Wenn man ins Licht läuft ------------------------------------------- Jetzt steht das Liga-Spiel gegen den 1. FC Köln an. Raphael kann es noch immer nicht so recht glauben, dass er jetzt in der Startformation steht und genauso wie die anderen Dortmunder in einem knallroten Trikot in ihr Stadion einläuft. Nie im Leben hätte er geglaubt, dass das nach seinem Outing möglich sein würde. Niemals. Und besonders nicht, dass das ganze Team den Schulterschluss schafft und sie komplett zusammenstehen. Sie alle. Exakt diesen Zusammenhalt wollen sie heute nach außen demonstrieren. Es geht um wichtige Punkte im Klassenerhalt. Klar, das sowieso. Aber es geht auch um mehr. Es geht um das Team. Es geht um den FC. Und darum, Vertrauen zu bestärken und zu bekräftigen. Es ist keine Ablehnung von Seiten seiner Mitspieler zu spüren. Er wird nicht nur in das Spiel eingebunden, nein, Alejandro hat jetzt ganz offiziell seinen Platz in der Mitte aufgegeben und ist auf die Außen gegangen, damit Raphael Raum hat, das Spiel aufzubauen. Und das ist es, was dafür sorgt, dass er die ersten Minuten wirklich mit Gänsehaut spielt und sich ganz zittrig fühlt. Sein erster Pass ist daher etwas unsicher, aber dennoch kommt er problemlos bei Gabriel an, der sofort nach vorne stürmt. Der Brasilianer ist heiß auf das Spiel. So heiß wie sie alle. Sie wollen schließlich in der Ersten Bundesliga bleiben. Gabriel tanzt die Kölner richtig aus, Raphael brüllt Anweisungen, sieht, wie Julian mit nach vorne sprintet, wie der Killer mitkommt, wie auch Puck die Mittellinie überschreitet, was dieser eigentlich nur äußerst selten tut. Noch einmal der Rückpass zu dem Spielmacher, Raphael legt den Ball Puck auf und der setzt eine wunderschöne Flanke auf Augustin. Der trifft zwar nicht, aber der Ball ist nach dem Rettungsschlag von Mohamad noch heiß. Alejandro kriegt die Kugel und schickt sie zu Raphael hinüber. Diesmal macht der Mittelfeldspieler die Flanke selbst. Wie gemalt und perfekt inszeniert senkt sich das Leder auf den Kopf von Adrian. Und der legt den Ball wunderschön ins Netz. Raphael strahlt. Solch einen Auftakt wollten sie doch! Im nächsten Augenblick wird ihm die Luft aus den Lungen gepresst, weil Augustin und Adrian ihn gleichzeitig unglaublich heftig drücken. Verdammt, diese Kerle meinen das echt ernst! Keine Berührungsängste, nichts. Er kann nicht anders, wuschelt den beiden durch die Haare und liebkost die anderen Gratulanten, die ihn als den Urheber des Tors und dieses Auftaktes ausmachen. Er kann es noch gar nicht wirklich glauben. Schwul sein und Fußball spielen – das geht eben doch. Wenn man in solch einer genialen Mannschaft spielt. Danach platzt der Knoten bei den Dortmundern endgültig. Sie spielen so, als wenn es keinen Halten gibt. Es steht unglaublich schnell 2:0 und 3:0. Auch nach der Halbzeitpause ändert sich an ihrem Spiel nichts. Die Kölner leisten praktisch keine Gegenwehr mehr und somit geht der Dortmunder Torreigen weiter. Da am Ende praktisch jedes Tor den Unterschied zwischen Abstieg und Verbleib in der Liga ausmachen kann, nehmen sie diese Chancen gerne wahr. Raphael hält die Fäden weiter zusammen und genießt es, das Spiel so perfekt aufziehen zu können, wie es sonst bei den Gegenspielern nie möglich ist. Er schickt Julian, Gabriel, Adrian und den eingewechselten Max ständig nach vorne. Und sie machen die Tore. Am Ende steht es 7:0 für die Dortmunder. Der höchste Erfolg in der Vereinsgeschichte und der höchste Erfolg in der Ersten Bundesliga. Einfach Wahnsinn! Entsprechend feiern sie. Kräftig und ausgiebig, diesmal jedoch etwas zurückhaltender mit dem Alkohol, weil Knie nach dem Einzug ins Halbfinale wenig angetan von seinen müden und verkaterten Spielern gewesen war. Irgendwann verzieht sich Raphael aus dem Lokal und tritt auf den Balkon, um dort etwas frische Luft zu schnappen. „Hey...“ Alejandro folgt ihm und lehnt sich schließlich neben ihm an das Geländer. „Hey.“ Raphael lächelt den Kapitän an. „Gutes Spiel, was?“ „Gut?“ Der Spanier lacht. „Das war genial.“ „Und wie...“ Raphael grinst, aber wird dann ernst. „Aber deswegen bist du nicht rausgekommen, oder?“ „Nein... Deswegen nicht.“ Alejandro fährt sich durch die Haare und blickt hinunter auf den Biergarten, der heute an diesem lauen Abend gut besucht ist. Musik schallt von unten empor. „Ich wollte dir etwas erzählen... Weißt du, mich hat der Zwischenfall mit Reine nicht besonders überrascht und ich denke, ich sollte dir das erklären.“ „Da bin ich ja mal gespannt.“ Raphael dreht sich jetzt etwas mehr zur Seite, um den Dortmunder Kapitän besser ansehen zu können. „Weißt du... Als Julian zu uns gekommen ist, da war da was zwischen euch. Euer Zusammenspiel ist von Beginn an einfach fantastisch gewesen. So wie bei Poldi und Schweini bei der WM 2006. Ihr ward genauso. Ganz genauso. Nur mit dem Unterschied, dass zwischen euch die Funken nur so flogen.“ Ein leises Lachen kommt über Alejandros Lippen und er nimmt einen Zug aus seinem mitgebrachten Bierglas. „Echt, ihr hättet den Platz manchmal in Flammen setzen können. Umso erstaunlicher ist, dass das sonst wohl keiner bemerkt hat. Na ja... Aber mein Sohn... Er ist jetzt 15 und hat festgestellt, dass er schwul ist... Deswegen fiel es mir auf. Man sieht die Dinge einfach anders.“ Raphael staunt nicht schlecht. Damit hat er wirklich nicht gerechnet. Alejendro hat es wirklich bemerkt? Es mitbekommen? „Na ja... und irgendwann waren bei euch nicht nur Funken, sondern da hab ich sehen können, dass da weitaus mehr war.“ Der Kapitän lächelt leicht. „Ehrlich, ihr ward richtig süß.“ „Na danke.“ Raphael schüttelt den Kopf. Er staunt noch immer. „Dein Wechsel hat uns alle aus heiterem Himmel erwischt. So richtig, richtig übel. Eine eiskalte Dusche wäre angenehmer gewesen, das kannst du mir glauben. Wir waren alle schockiert, aber mit Julian, da war noch etwas anderes. Ich hätte gedacht, dass ihr das irgendwie hinbekommt, so viel Liebe wie immer in euren Blicken war, aber ich hab mich wohl getäuscht... Julian hatte eine beschissene Zeit. Eine richtig beschissene Zeit. Ich hab ihn so oft abends irgendwo eingesammelt und dafür gesorgt, dass er nicht noch auf einer Parkbank pennt. Ich glaub, seither rührt er Alkohol nur noch sehr dosiert an. Aber er hat das Ganze wohl nicht anders verkraften können. Auf dem Platz war er wie ausgewechselt und es hat Monate gedauert, bis er endlich wieder derselbe war. Und dann bist du zurückgekommen...“ Raphael schweigt. Er weiß nicht, was er zu diesen Eröffnungen sagen soll. Er hatte keine Ahnung. Die Dortmunder haben die letzte Saison alle nicht besonders gut gespielt, daher ist es ihm nicht aufgefallen. Aber vielleicht hat er es auch einfach nicht sehen wollen. „Ich hab im Moment keine Ahnung, wie es in ihm aussieht, aber so wie ich das sehe, ist es für euch beide nicht gerade leicht. Und du liebst ihn noch.“ Der letzte Satz ist eine solch simple Feststellung, die dazu führt, dass Raphael einfach gedankenlos nickt. Alejandros Lächeln wird noch wärmer. „Ich hoffe, dass ihr das wieder hinbekommt. Wirklich.“ Ein tiefer Seufzer entweicht Raphael. „Das ist deutlich einfacher gesagt als getan.“ „Weißt du... Wenn mich mein Gefühl nicht vollkommen trügt, dann stehen deine Chancen gar nicht so schlecht.“ Der Spanier tippt sich an die Nasenspitze und zwinkert Raphael zu. So, wie er es tut, wenn er bei einem Freistoß eine geniale Idee hat und auf Risiko setzt. Kapitel 35: XXXV. Wenn Fußballwunder möglich scheinen ----------------------------------------------------- So langsam wird es in der Liga eng. Nur noch vier Spiele sind es da. Und das DFB-Pokalfinale. In der Bundesliga müssen die Dortmunder alles geben, um noch weiter im Rennen um den Verbleib in der Liga mitzumischen. Und das wollen sie auch. Das wollen sie so verdammt! Gegen die Frankfurter Eintracht holen sie wichtige drei Punkte, aber gegen die Münchener Löwen gelingt ihnen nur ein mageres 1:1. Nur ein Punkt. Diese Woche Dienstag geht es im DFB-Pokalfinale gegen Werder Bremen. Die Bremer Amateure haben sie ja schon geschlagen, aber jetzt warten die Profis auf sie. Und nicht nur die Profis, sondern auch Raphaels altes Team. Und das ist jedes Mal ein seltsames Gefühl, auch wenn es ihn nicht so mitnimmt wie der Gedanke gegen den FC zu spielen. Im Rückspiel ging es ja. Er ist eingewechselt worden, hat gut gespielt und ist nett begrüßt worden. Die Jungs dort sind ja auch klasse. Aber sie sind eben keine Dortmunder. Das Berliner Olympiastadion fühlt sich an diesem Abend vollkommen anders an als bei den Spielen gegen die Hertha. Etwas Magisches, etwas Umwerfendes, Überwältigendes liegt in der Luft, das einem beinahe den Atem raubt. Die Kulisse ist großartig – die Fans hauen sie nahezu mit ihren jubelnden Rufen um. Und Raphael ist froh, dass er auf dem Gang freundlich von seinen ehemaligen Kameraden begrüßt wird. „Schön zu sehen, dass es dir gut geht“, sagt Per grinsend. Der lange Abwehrrecke ist einer der wenigen gewesen, die Raphael in der Zeit in Bremen an sich herangelassen hat – und die kapiert haben, dass es ihm nicht gut geht. „Bin halt zu Hause.“ Er lächelt und drückt den Bremer kurz an sich. Gleich, auf dem Platz werden sie Gegner sein. Ja, aber abseits des Platzes könnte sich da doch eine Freundschaft anbahnen. Mal abwarten. Jetzt zählt nur noch dieses Spiel. Das Finale des DFB-Pokals. Die Bremer machen bereits in den ersten Minuten deutlich, dass auch sie zurecht in diesem Finale angekommen sind. Immerhin haben sie im Halbfinale den amtierenden Meister Bayern München geschlagen – den Verein, der auch dieses Jahr wieder das Maß aller Dinge ist, auch wenn die Meisterschaft noch relativ offen ist. Je nachdem, wie die nächsten zwei Spieltage ausgehen, kann Leverkusen immer noch Meister werden. Die Bayern stehen aber dafür im Finale der Champions League. Der erste Sturmlauf der Bremer kann erst im Dortmunder Strafraum gestoppt werden. Gut, aber das heißt, dass sie alle wach sind. Dass sie alle so aufmerksam sind, wie noch nie zuvor. Verdammt, sie stehen im Finale! Und sie können das Ding hier gewinnen! Sie können das totale Fußballwunder schaffen. Alles ist möglich! Und dieser Gedanke sorgt dafür, dass die Dortmunder mit Elan und Ehrgeiz in diese Partie gehen. Doch darüber lassen sie nicht die Spielfreude in Vergessenheit geraten, ist es doch diese, die sie in dieser Rückrunde immer wieder auf die Beine gebracht und im Spiel gehalten hat. Endlich ist es so weit. Die erste richtig gute Chance für die Dortmunder nach einem tollen Solo von Gabriel im Mittelfeld und einer nahezu perfekten Flanke von Julian. Leider semmelt Augustin den Ball jedoch nur an die Latte, doch damit sind auch die Bremer wach und der offene Schlagabtausch beginnt. Es ist wie bei dem Spiel gegen Leverkusen. Extrem hohes Tempo und ein Spiel auf beide Tore. So ein Spiel, wie es sich jeder Fußballfan wünscht. Ein gutes Spiel. Eines von den richtig, richtig guten. Aber auch eins von diesen Spielen, die für die Spieler unheimlich an die Substanz gehen und ihnen alles abfordern. Raphael weiß das und doch wünscht er sich gerade einfach nichts weiter als dieses verdammte Tor. Dieses eine Tor, das ihnen Oberwasser geben und dafür sorgen kann, dass sie nicht mehr wie blöde nach vorne stürmen müssen, sondern die Sache etwas gelassener angehen können. Denn die Saison war hart und anstrengend und sie werden dieses hohe Tempo auf Dauer nicht gehen können. Bremen wahrscheinlich auch nicht, aber vielleicht hat Werder genügend Reserven, um den Druck genau das Quäntchen länger aufrecht zu erhalten, sodass der FC auf einmal hinten liegt. Und das will Raphael nicht. Der Ball landet bei ihm und er geht nach vorne. Von ihrer Strafraumgrenze an. Er weiß eigentlich gar nicht so genau, was er sich dabei denkt. Eigentlich gar nichts, wenn er ehrlich zu sich selbst ist. Er hat einfach den Ball und geht nach vorne. Weil er eine Vorstellung davon hat, wie dieser Spielzug jetzt aussehen soll. Er läuft einfach. Den Ball am Fuß und lässt seine Bremer Gegenspieler stehen. Er spielt auf einmal wie losgelöst. Als wenn er noch nie etwas anderes getan hätte. Der Flow hat ihn einfach. Das, was Motorradfahrer so begeistert, dieses Gefühl, eins mit der Maschine zu sein. Er ist eins mit dem Ball. Er liefert gerade das Spiel ab, für das ihn Werder ursprünglich gekauft hat. Er zeigt auf einmal das, was er wirklich kann. Sein Solo findet nicht den Abschluss in dem Torschuss, den alle irgendwie erwartet haben. Nein, er legt den Ball quer, überrascht damit sämtliche seiner Gegenspiel und Gabriel, der tapfer mitgelaufen ist, jagt die Kugel unhaltbar ins Netz. 1:0! Doch die Bremer geben nicht auf. Sie haben tolle Spieler und die zeigen heute auch ihre ganze Klasse. Es ist so, als wenn sie alle einen dieser wenigen Tage erwischt haben, wo man alles Können abrufen kann. Die Partie läuft auf höchstem Niveau und Bundestrainer Jogi Löw sowie die ganze Fußballprominenz können sich über eine großartige Darbietung freuen. Zwar steht es zur Halbzeitpause immer noch unverändert, aber Werder brennt auf ein Tor. Das ist nicht zu übersehen. Deswegen fühlen sich die Dortmunder auch nicht in Sicherheit, als sie wieder auf den Platz kommen. Sie wissen ganz genau, dass die Sache hier noch nicht durch ist. Längst noch nicht. Und so ist es auch. Es sind gerade einmal fünf Minuten in Halbzeit zwei gespielt, da kickt Diego den Ball ins Tor. Mit Respekt für den Gegner muss man einfach sagen, dass das ein Traumtor ist. Ein absolut genial verlängerter Freistoß von Frings. Und damit ist die Partie wieder offen. Der Schlagabtausch geht weiter. Mit offenem Visier. Kapitel 36: XXXVI. Wenn man diese Zeit niemals vergessen wird ------------------------------------------------------------- Gegen Ende der zweiten Halbzeit steht es immer noch 1:1. Man merkt, dass das hohe Tempo so nicht ewig weitergehen kann. Seit dem Leverkusen-Spiel wissen das auch die Dortmunder. Und sie haben jetzt eigentlich nur noch folgende Wahl: Entweder setzen sie alles auf eine Karte und werfen ihre ganze Kraft in die Waage oder aber sie halten sich zurück und setzen auf die Verlängerung. Wenn er ehrlich ist, dann will Raphael keine Verlängerung. Er will die Entscheidung jetzt. Er will nicht länger warten. Er will diesen verdammten Pokal in der Hand halten und dem FC den Höhepunkt seiner Geschichte ermöglich. Er will es für den FC Dortmund. Für diesen Verein, dem er zuviel zugemutet hat. Für diesen Verein, der ihm beinahe alles bedeutet und dem er etwas zurückgeben will, für das was er wiederum ihm gegeben hat. Wenn es nicht klappt, dann wird er diese Aktion hier bereuen. Richtig bereuen. Sein Blick sucht Julian. Wenn jemand bereit ist, mitzumachen und dieses Risiko einzugehen, dann er. Gabriel würde es sonst tun, aber der ist mittlerweile ausgewechselt und Chris ist für solche Spontanaktionen nicht gemacht. Nein, er braucht Julian. Leise pfeift er durch die Zähne und hat sofort die Aufmerksamkeit seines Mittelfeldpartners. Er muss nur leicht mit dem Kinn Richtung Bremer Tor deuten und Julian versteht sofort. Gemeinsam laufen sie los. Den Ball bekommt Raphael vom Killer zugespielt, als er diesen lautstark dazu auffordert. Sie spielen Doppelpässe. Gedankenschnell, traumwandlerisch sicher. Das Dreamteam aus der vorletzten Saison ist wieder da. Das Dreamteam, das Alejandro neulich erst so hochgelobt hat. Gemeinsam spielen sie ihre Gegenspieler aus. Sie lassen sich das hier nicht nehmen. Raphael hätte bereits jetzt jubeln können. Ganz egal, ob ein Tor hierbei rausspringt oder nicht – dieser Moment ist einfach perfekt. Julian und er in perfekter Harmonie auf dem Platz mit dem Ball. Einfach perfekte Harmonie. Ein Glücksgefühl durchströmt ihn, das er schon so lange nicht mehr gespürt hat. Er ist konzentriert – und doch muss er lächeln. Erneut kommt der Ball zu ihm und er schickt ihn nur zwei Schritte später wieder zurück und lässt Per somit ins Leere rutschen. Jetzt sind sie an der Strafraumgrenze und die Bremer machen dicht. Aber nicht dicht genug. Raphael legt den Ball quer, Julian gibt ihn sofort zurück, die Bremer Aufmerksamkeit ruht noch auf Julian und Raphael nutzt die Chance. Fritz ist aber dazwischen. Raphael kann den Ball zwar wieder zurückerobern, aber dafür bedrängen ihn jetzt drei Werder-Spieler. Keine Chance für ihn. Doch irgendwie bringt er den Ball noch zu Julian. Und der hat auf einmal freie Schussbahn. Wiese ist ohne Chance. Das Leder knallt regelrecht unter die Latte. Einfach Wahnsinn! Julian kommt sofort auf ihn zugestürmt. Lachend. Mit diesem verdammten, breiten Lachen. Diesem Lachen, das so ein klein wenig dreckig klingt. Die blonden Haare fliegen, die grünen Augen strahlen und Raphael möchte diesen Augenblick einfach nur auf ewig festhalten. Ihn einbrennen in seine Erinnerung, damit er ihn niemals vergisst. Er hat das Gefühl überzuschäumen vor Glück, vor Euphorie, vor... Liebe. Dann ist Julian bei ihm und er fasst ihn an der Taille, wirbelt ihn herum. Und Julian brüllt laut seine Freude heraus, den Kopf in den Nacken gelegt, den Hals vollkommen überstreckt und entblößt. Und er ist so schön, dass es Raphael den Atem zu rauben droht. So schön, so perfekt. Einfach perfekt. Die anderen kommen herbeigerannt. Ihr kleiner, gemeinsamer Augenblick ist vorbei. Sachte setzt er Julian an, hält ihn einen Augenblick lang fest, dann berühren seine Lippen fast sein Ohr und die blonden Haare kitzeln seine Nasenspitze. „Ich liebe dich...“, flüstert er heiser. Und rau wiederholt er es noch einmal: „Ich liebe dich.“ Dann stürmt Augustin heran, springt auf sie beide, drängt sie auseinander und mit einem leichten Lächeln auf den Lippen blickt Raphael Julian an, der in dem Jubelknäuel aus Dortmundern nahezu untergeht. Grüne Augen hängen an ihm, ein seltsamer Ausdruck steht in ihnen. Einer, den er nicht deuten kann. Er hat nicht die leiseste Ahnung, wie es weitergehen soll. Aber er hat das Gefühl, dass das der genau richtige Moment gewesen ist. Dieser Augenblick. Der Höhepunkt ihrer Harmonie auf dem Platz. Wenn es einen Weg zurück gibt, dann doch nur über den Fußball. Als der Schlusspfiff fällt, bricht bei den Dortmundern grenzenloser Jubel aus. Sie haben es geschafft! Sie haben es verdammt noch mal geschafft und es ihnen allen gezeigt! Ganz radikal und einfach so! Indem sie gespielt haben, als wenn sie noch nie etwas anderes getan hätten. Irgendwo in dieser feiernden Traube von Spielern ist Julian. Raphael weiß es und er fragt sich unwillkürlich, was diesem gerade durch den Kopf geht. Er fragt sich, ob ihm seine Worte irgendetwas bedeutet haben. Für ihn bedeuten sie noch immer die Welt. Mehr, als es Fußball jemals kann. „Hey, lach mal!“ Ale schlägt ihm auf die Schulter und nur einen Wimpernschlag später ist der Killer auch da. „Jau, lach ma!“ Der Pole grinst breit. „Oder haste nach dem Schaulauf keine Kraft mehr?“ Raphael grinst nur. „Hab nur nachgedacht.“ „Ach, machste jetz auf Kaiser, oder wat?“ Der Killer grinst und wuschelt ihm gnadenlos durch die Haare. „Nee... Hab nur an...“ „Oha.“ Das Grinsen des Killers wird breiter und er vergisst ganz, dass Alejandro ja noch neben ihnen steht. „Haste endlich mit ihm geredet?“ „Mhm... Nicht wirklich. Hab’s ihm nur gesagt... Endlich.“ Raphael lächelt schwach und findet sich nur einen Sekundenbruchteil später in Dariusz’ inniger Umarmung wieder. „Verdammt, ich wünsch dir dat Glück der Welt!“, brüllt er laut heraus. Alejandro muss lachen und auf einmal wird dem Killer bewusst, dass der Kapitän die ganze Zeit dabei war. „Sorry, Raffe, ich...“ „Schon okay. Er weiß eh alles.“ Raphael seufzt, fährt sich durch die schwarzen Strähnen und lehnt sich gegen den Spanier. „Schaun mer mal, ob du Recht hast.“ Alejandro tippt sich nur an die Nasenspitze und zwinkert ihm zu. Und dann sind Acun, Mustafa und René da und verpassen ihnen eine Bierdusche, die sich gewaschen hat. Kapitel 37: XXXVII. Wenn alles so zerbrechlich ist -------------------------------------------------- Die Party ist so ausgelassen, wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Sie haben einen Berliner Szeneclub erobert und lassen es so richtig krachen. Das Gewimmel ist groß und der Jubel auch. Gut, erobert trifft es nicht ganz. Schaffhausen hat den Club reservieren lassen, denn eine Feier haben sie sich so oder so verdient. Denn mit dem DFB-Pokalfinale hat doch niemand gerechnet. Fast niemand. Nur die Mannschaft, denn die hat an sich geglaubt. Raphael schafft es nicht einmal, mehr als zwei Sekunden Blickkontakt mit Julian zu halten. Immer kommt irgendwer oder irgendetwas dazwischen. Jetzt ist es Paolo, der sich natürlich dieses Spektakel nicht hat entgehen lassen und ganz selbstverständlich mit nach Berlin gefahren ist. Irgendwie gehört er ja doch noch dazu. Und gerade dieser Paolo ist es, der Raphael am Arm packt und mit auf die Tanzfläche zerrt. Mitten in das Dortmunder Chaos hinein. Raphael muss lachen. Es geht gar nicht anders. Und dann ergreift Paolo seine Hände. „Weißte noch beim Aufstieg?“, fragt der Italiener mit funkelnden Augen und Raphael kann gar nicht anders als nicken. Klar weiß er das noch. Ihr heftiger Tanz in der Kabine, der alle mitgerissen und unterhalten hat. Und der ihm ein solch heftiges Herzklopfen beschert hat, das nur Julian hinterher übertreffen konnte. „Na, dann los!“ Und damit spürt er Paolos Hand auf seinem Rücken und auffordernd wird er vorwärts gedrückt. Na, warum auch nicht? Und lachend gibt er sich dem Tanz hin, auch wenn der nach kurzer Zeit in verrücktes Rumgehopse ausartet. Die Hitze in dem Raum, die ständige Bewegung, der Krach – all das benebelt ihn und lässt seine Sinne durcheinander gehen. Es dreht sich alles, aber dennoch ist das ein gutes Gefühl. Ein angenehmer Schwindel, keiner, bei dem einem schlecht wird. Er lacht. Irgendwie die ganze Zeit über, auch wenn seine Wangen langsam weh tun. Er presst sich an Paolo, genießt dessen Nähe und Hitze, lässt sich treiben, lässt sich fallen. Auch, damit dieses Gefühl in seinem Bauch verschwindet. Damit er für einen Augenblick diese schreckliche Hoffnung vergisst. Weil er weiß, dass auch die Tatsache, dass er diese drei Worte endlich ausgesprochen hat, vielleicht nichts ändern wird. Weil auch sie die Vergangenheit und all die Dinge, die zwischen Julian und ihm vorgefallen sind, nicht ausradieren und wegwischen können. Weil sie unbedeutend sein können, wenn Julian längst jemand anderes hat. Weil sie einfach nur flüchtig sein können. So leicht und schnell vergangen wie ein Windhauch. Aber jetzt sind die Gedanken doch da und irgendwie verliert er die Leichtigkeit. Sachte macht er sich aus Paolos Griff frei und kämpft sich durch zur Bar. Einen Doppelten später fühlt er sich kein bisschen besser. Im Gegenteil. Sein Kopf dreht sich noch mehr und das fühlt sich jetzt nicht mehr gut an. „Alles klar?“ Paolo sieht ihn besorgt an. „Mhm... Klar. Wir haben den Pokal gewonnen, natürlich ist alles klar!“ Raphael zwingt sich zum Lächeln, doch das Lachen erreicht seine Augen nicht. „Lüg mich nicht an.“ Der Italiener runzelt ärgerlich die Stirn. „Was ist los?“ „Ich... hab nur drüber nachgedacht, dass manchmal solche Worte wie... ichliebedich keine Bedeutung mehr haben, weil man sie zu spät sagt.“ Raphael hält sich an dem Bier fest, das ihm der Barkeeper unaufgefordert hingestellt hat. „Wie kommst du denn auf einmal darauf?“ Jetzt ist Paolo verwirrt. „Weil ich’s Julian beim Spiel gesagt hab. Nach seinem Tor.“ „Wow.“ Paolo bringt sonst kein Wort mehr raus. Er ist einfach sprachlos. Absolut sprachlos. „Du hast es ihm echt gesagt? Jetzt, ohne Scheiß? Das ist...“ „Ja, ja, schon klar.“ Raphael verdreht die Augen. „Ist nur die Frage, ob das irgendetwas ändert.“ Paolo seufzt leise und drückt den Dortmunder dann an sich. „Komm, wir feiern. Den Sieg, dass ihr international spielt und dass du diese Worte endlich mal gesagt hast. Denn ganz egal, was er sagt – du bist über deinen Schatten gesprungen und das ist eine Feier wert. Also beweg dich.“ Raphael kann nur noch einen tiefen Schluck von seinem Bier nehmen, dann wird er von Paolo auch schon wieder auf die Tanzfläche gezogen. Und diesmal folgt er ihm entspannter, viel relaxter. Warum nicht? Warum nicht feiern? Denn irgendwie hat Paolo doch Recht. Doch irgendwann geht auch diese Feier vorbei und ein müder Haufen Dortmunder Spieler schleppt sich in den Mannschaftsbus, um ins Hotel zu fahren. Schaffhausen und Knie haben entschieden, dass das Beste ist. Klar, sie hätten in Dortmund feiern können, aber es sind doch eh sämtliche Spieler mitgefahren, weil es keiner von ihnen ertragen hätte, dieses Spiel zu Hause am Fernseher sehen zu müssen. Selbst die Verletzten wie Kopp und all die anderen, die nicht im Kader standen, sind hier. Und entsprechend voll ist der Mannschaftsbus, der sie jetzt ins Hotel karrt. Raphael hat gar nicht richtig mitbekommen, dass er praktisch neben Julian sitzt. Nur der Gang ist zwischen ihnen. Doch jetzt sieht er ihn. Er schenkt dem Mittelfeldspieler einen langen Seitenblick. Die blonden Strähnen hängen ihm wirr ins Gesicht und er sieht müde aus. Müde, aber auch ein wenig aufgekratzt. Dann dreht er den Kopf zur Seite und blickt ihn an. Blickt ihn einfach nur aus diesen unglaublich grünen Augen mit den goldenen Punkten an und raubt ihm damit den Atem. Er kann nicht anders, ist vollkommen von diesem Blick gefangen und bekommt nichts anderes mehr mit. Dann spürt er sachte eine Berührung an seinen Fingerspitzen. An der Hand, die er einfach so über die Armlehne hat baumeln lassen, Richtung Gang. Und sein Herzschlag setzt für einen Augenblick aus. Nur, um einen Sekundenbruchteil später loszugaloppieren wie ein durchgehendes Pferd. Zögernd schließt er seine Hand um Julians, verflechtet ihre Finger miteinander. Julian sieht ihn noch immer ruhig an, dann schließt er einfach die Augen. Er sagt nichts. Gar nichts. Aber das muss er auch nicht. Diese zaghafte Geste, dieses stille Händchenhalten, hier, mitten im Bus, quer über den Gang, das ist schon viel mehr, als sich Raphael überhaupt erhofft hatte. Er verspürt sogar ein kleines bisschen Glück. Ja, es ist tatsächlich ein Glücksgefühl da. Fein und ganz zerbrechlich. Aber es ist da. Kapitel 38: XXXVIII. Wenn der Wind alles ändert ----------------------------------------------- Die letzten beiden Bundesligaspiele sind beides Endspiele und nichts anderes. In Sachen Abstieg ist noch nichts klar und in Sachen Meisterschaft auch nicht. An diesem Samstag ist die Hertha zu Gast in Dortmund. Die Berliner spielen keine besonders berauschende Saison. Sie sind Mittelfeld, nichts anderes. Das macht sie nicht zufrieden, aber sie zugleich auch für einen akzeptablen Gegner der Dortmunder. Die Spiele gegen die Duellanten der Meisterschaft – Bayer Leverkusen und Bayern München – oder gegen die Abstiegskandidaten, die um ihre nackte Existenz kämpfen, wie Hansa Rostock, Energie Cottbus, der 1. FC Nürnberg und der 1. FC Köln, die haben eine ganz andere Brisanz, weil es da noch um etwas geht. Die müssen alle kämpfen und noch etwas leisten, während sich die anderen beinahe schon zurücklehnen können. Die Dortmunder sind vor Einlauf ins Stadion nervös. Es ist ihr Abschlussspiel hier zu Hause. Das letzte Saisonspiel werden sie in München haben – gegen die Bayern. Aber das ist noch weit weg. Jetzt geht es gegen die Hertha – und jetzt müssen sie gewinnen. So einfach ist das. Raphael marschiert wieder einmal direkt hinter Julian ein, den Blick auf seine blonden Haare gerichtet, die dieser mittlerweile ein wenig hat kürzen lassen. Nichtsdestotrotz sind sie noch immer relativ lang und schreien geradezu, dass Finger hindurchstreichen sollen. Sie haben kein Wort über das gesprochen, was er beim DFB-Pokalfinale gesagt hat. Kein einziges Wort. Aber die Stimmung zwischen ihnen hat sich geändert. Sie ist sanfter geworden, friedlicher, harmonischer. Wie ein langsamer Sonnenaufgang an einem Frühlingstag, an dem man weiß, dass es der erste richtig warme Tag des Jahres sein wird. Er weiß nicht genau, was er tun soll. Ob er Julian weiter entgegenkommen soll oder ob es richtiger wäre, auf einen Schritt von ihm zu warten. Er weiß es einfach nicht. Und er hat unglaubliche Angst, dieses kleine Etwas zwischen ihnen zu zerstören. Aber daran darf er jetzt nicht denken. Wenn er sich in den Gedanken daran verliert, dann wird dieses Spiel nichts. Und auf dieses Spiel kommt es an. Sie sollten gewinnen, denn das würde ihnen das letzte Spiel gegen die Bayern unglaublich erleichtern. Sollten sie verlieren oder unentschieden spielen, wird kein Weg an einem Sieg gegen die Bayern vorbeiführen. Und die Bayern in München, die hat diese Saison nur Schalke geschlagen, sonst keiner. Doch daran darf er auch nicht denken. Der Druck ist so schon groß genug. Knie hat es so treffend formuliert: „Spielt einfach, als wenn es kein Morgen mehr gibt. Spielt. Und denkt nicht.“ Das ist wohl das beste, was sie tun können. Raphael nimmt die Schultern zurück und folgt Julian auf dem Spielfeld zu seinem Platz in der Nähe des Mittelkreises. Berlin hat Anstoß. Es herrscht Gewitterstimmung über Dortmund. Die Wolken sind pechschwarz und ziehen sich drohend immer dichter zusammen. Am Horizont zeigt sich erstes Wetterleuchten und leises Grummeln ist bereits zu hören. Mit etwas Glück wird es aber nur einen dicken Regenguss geben. Doch genauso, wie das Wetter dunkler wird, wird das Spiel der Dortmunder düsterer, schlechter. Klar, sie wissen alle, worum es geht, aber irgendwie ist bei der Abwehr der Hertha kein Durchkommen. Ihre eigene Abwehr um Mürre, den Killer, den Greif und René steht zwar sicher, aber wenn sie keine Tore machen, hilft das auch nichts. Sie brauchen diese verdammten drei Punkte. Etwas anderes geht gar nicht. Irgendwie schafft es Gabriel, Friedrich den Ball abzuluchsen und wirbelt nach vorne. Zwei, drei Dortmunder gehen mit, die anderen sichern nach hinten ab, ist die Angst vor einem Gegentor doch viel zu groß. Verdammt, das ist es! Der Gedanke durchzischt Raphael wie ein Geistesblitz, während er neben Acun nach vorne sprintet. Angst vor dem Gegentor. Wenn die anderen die nicht ablegen, wird das mit einem Sieg hier nichts. Offensives Spiel ist nun einmal so nicht möglich. Das geht schlichtweg nicht. Zu viert versuchen sie, den Angriff auf die Beine zu bekommen. Aber das Problem ist, dass sie zu wenige gegen den Haufen Berliner sind. Der Ball verschwindet irgendwann in der Hertha-Abwehrmauer und saust ihnen dann entgegen. Und die Berliner können im Gegensatz zu ihnen vernünftig umschalten. „Scheiße“, flucht Raphael und hetzt Friedrich hinterher. Seit wann ist der denn bitte so verdammt schnell? Er stürzt zurück in ihre Hälfte, Julian auch, doch er weiß, dass sie zu spät sind. Die Berliner spielen schnell und eiskalt. Er kann das Desaster kommen sehen. Er weiß, dass dieser Angriff ein böses Ende nehmen wird. Und so ist es auch. Der Ball schlägt ins Netz, Reine ist chancenlos. Pantelics Schuss ist einfach genial gewesen. Eiskalt ist er vor dem Tor geblieben, hat Mürre und den Greif genarrt und die Kugel dann geschickt versenkt. Zum Kotzen. Denn jetzt ist genau das passiert, was nicht hätte passieren dürfen. Sie haben dieses verdammte Tor kassiert und müssen damit jetzt irgendwie klar kommen. Im ersten Moment glaubt Raphael noch, dass dadurch ihr Spiel besser werden wird, doch dann wird er eines besseren belehrt. Da geht nichts mehr. Gar nichts. Er ist nur froh, als endlich Halbzeit ist und sie auch nur dieses eine Tor bis dahin kassiert haben. Das hätte anders aussehen können. „Verdammt, reißt euch am Riemen!“ Alejandro ist es, der das Team in der Kabine zusammenfaltet. Knie braucht gar nichts zu sagen. „Es geht gegen den verdammten Abstieg. Wir liegen zurück – und? Wir können das schaffen! Wir müssen nur so spielen, wie wir es können! Verdammt, wir gehören in diese Liga! Wir haben den verdammten DFB-Pokal geholt! Also bewegt euch auf dem Rasen! Bietet euch an! Ihr seid der FC – lasst ihn nicht hängen!“ Die Mannschaft, die danach auf den Platz zurückkommt, ist wie ausgewechselt. Als wenn man sie alle komplett ausgetauscht hätte. Auf einmal sind Biss und Feuer wieder da. Verdammt, sie werden in diesen letzten Tagen nicht auf einmal alles verspielen, wofür sie so hart gearbeitet haben! Sie gehören hierhin. Hierhin, in die verdammte Erste Bundesliga! Sturmwind peitscht über den Rasen und sorgt dafür, dass der Ball nicht so fliegt, wie sie es gewohnt sind. Regen klatscht vom Himmel und bewirkt, dass ihre Trikots innerhalb von Sekunden eng an ihren Körpern kleben. Aber das Gewitter bricht noch nicht los. Die Dortmunder spielen nach vorne. Hart, energisch. Und sie werden belohnt. In der 52. Minute hämmert Alejandro einen tollen Weitschuss in das Berliner Netz. Damit ist wieder alles offen! Aber die Hertha schläft nicht. Absolut nicht. Hin und her geht das Spiel, bis schließlich Friedrich, Grahn und Lima eine Weltklassekombination abliefern, die mit dem unvermeidlichen Tor enden. Und wieder rennen sie dem Rückstand hinterher. Wieder. Aber der FC gibt nicht auf. Durch Regen und Wind stürmen sie auf das Berliner Tor. Wieder und wieder. Und tatsächlich gelingt es Gabriel, sie wieder ins Spiel zu bringen. Der Brasilianer freut sich unglaublich über das Tor. Weil es solch ein unglaublich wichtiges Tor für die Karos ist. Doch noch ist das Spiel nicht vorbei. Und die Hertha kommt erneut. So, als wenn es ein Endspiel wäre. Selbst, wenn es bei den Berlinern nur um die Beschönigung der Saison geht. Um nichts anderes. Und das, was nicht passieren darf, passiert. Lustenberger, der junge Schweizer Mittelfeldspieler, macht das Tor. 3:2. In der 93. Minute, in der Nachspielzeit. Der Schiedsrichtiger pfeift noch nicht einmal wieder an. Und damit haben sie am nächsten Samstag gegen die Bayern ein echtes Endspiel vor sich. Kapitel 39: XXXIX. Wenn es um alles geht ---------------------------------------- Das große Saisonfinale gegen Bayern München, bei dem es wirklich um alles geht. Nicht nur für den FC, der einen Sieg zum Klassenerhalt braucht, sondern auch für die Bayern, die einen Sieg für die Meisterschaft brauchen. Mehr Brisanz kann ein Fußballspiel gar nicht bekommen. Nicht in der Schlussphase der Fußballbundesliga-Saison. Dafür kann jeder von ihnen gerade alles andere ausblenden. Auch Raphael schafft es, die Tatsache bei Seite zu schieben, dass zwischen Julian und ihm noch immer nichts klar ist. Dass sie über nichts haben reden können. Nicht über sein Geständnis, nicht über diesen unglaublichen intimen und doch zugleich unschuldigen Augenblick im Mannschaftsbus. Über gar nichts. Aber das muss hinten anstehen. Denn jetzt es für den FC um alles oder nichts. Und für den FC, für den würden sie alles tun. Jeder einzelne. Die Bayern haben ihre beste Elf auf dem Platz und bei den Dortmundern sieht es nicht anders aus. Sobald der Anpfiff erklungen ist, geht es zur Sache. Und zwar richtig. Das macht schon das erste Foul von van Bommel deutlich, bei dem Gabriel von den Beinen geholt wird. Derby-Stimmung in München, obwohl das hier gar kein Derby ist. Aber das Feuer brennt und zwar so heiß, dass schon jetzt klar ist, dass sich der eine oder andere wirklich böse verbrennen wird. Und diesmal sind die Bayern nicht so gnädig und behandeln die Dortmunder mit Herablassung. Dafür hat Trainer Klinsmann offenbar gesorgt. Es wäre schließlich durchaus peinlich, die Meisterschaft gegen einen Abstiegskandidaten zu verspielen. Schweinsteiger und Ribéry drehen so richtig auf und vorne lauert ein Dreisturm aus Podolski, Toni und Klose. Eine Mannschaft, von der andere Vereine träumen würden. Der FC nicht. Weil man hier weiß, was man an ihren bodenständigen Kerlen hat. An den Jungs, die jetzt keine Hemmungen haben, einen Luca Toni so richtig übel auflaufen und ins Abseits rennen zu lassen. Die auch einen Klose, einen Ribéry oder einen van Bommel von den Beinen holen und dabei kein bisschen so etwas wie Majestätsbeleidigung verspüren. Aber dennoch macht der FC Bayern seine Klasse deutlich. In der 23. Minute spielen sie eine Kombination, die keiner der Dortmunder so hätte erahnen können. Ribéry, Schweinsteiger, dann van Bommel, erneut Schweinsteiger, Flanke auf Podolski, der die Saison seines Lebens spielt, und der Ball ist im Tor. Reine flucht lautstark und tritt den Ball zornig auf die Tribüne. Das ändert nur nichts. Wieder rennen sie einem Rückstand hinterher, während die Münchener Spieler und Fans jubeln. Raphael presst die Lippen zusammen und spürt einen Augenblick später Julians Hand sachte auf seiner Schulter. „Wir packen das.“ Die grünen Augen strahlen ihn an und in dem Moment wäre er bereit, alles auf der Welt zu glauben. Er lächelt und nickt. Versucht selbst wieder zuversichtlich zu sein. Sie haben ein Spiel zu gewinnen! Und genauso spielen die Dortmunder weiter. Frech und leicht nach vorne, als wenn das Gegentor nicht passiert wäre. Und das verblüfft die Bayern sichtlich. Sie haben eher mit Ehrfurcht und Rückzug oder Resignation gerechnet. Nicht damit. Und so kommt es, wie es kommen muss. Rensing wird nervös und offenbart damit die größte Schwachstelle der Münchener. Sie haben eben keinen überragenden Kahn mehr im Tor, sondern einen jungen Keeper, der noch immer viel zu lernen hat, obwohl er großes Talent besitzt. Und Augustin beweist mal wieder, dass er wirklich ein toller Torjäger ist. Eiskalt lässt er Rensing auflaufen und haut den Ball ins Tor. Sein Jubelschrei ist weniger erleichtert, sondern gleicht vielmehr einem Kampfschrei. Das hier, das ist ein offener Schlagabtausch zweier Mannschaften, die beide viel zu gewinnen haben, aber bei einer Niederlage nahezu ins Bodenlose fallen. Auch wenn bei den Bayern die vielen Millionen einen solchen Sturz wohl angenehm abfedern würden. Bei dem FC mit der ewig leeren Kasse gibt es so etwas jedoch nicht. Wenigstens für zehn Minuten sind die Bayern konsterniert. Doch fünf Minuten vor der Halbzeitpause drehen sie wieder auf. Aber so richtig. Auf einmal stehen die Dortmunder nur noch in der Defensive, schlagen Bälle weg und versuchen, ihr Tor zu verteidigen. Bei diesem Dauersturmlauf ist es kein Wunder, dass es irgendwann doch klingelt. Erneut Podolski, der nach einer Vorlage von Toni das Leder knapp am Innenpfosten vorbei hinter die Linie befördert. Wieder ein Rückstand zur Halbzeit. So langsam könnte man ja fast glauben, dass sie sich daran gewöhnt hätten. In der zweiten Halbzeit geht es genauso energiegeladen weiter. Und es kommt, was kommen muss: Die Bayern setzen zum K.O.-Schlag an. Diesmal ist es Schweinsteiger, der das Tor macht. In der 54. Minute. 3:1 für die Bayern. Raphael weiß nicht, ob er noch daran glauben soll, dass sie das hier noch schaffen. Vor allem, als er auf der großen Anzeigetafel die Zwischenstände der anderen Spiele sieht. Ohne Sieg steigen sie ab. Wenn sie hier verlieren oder unentschieden spielen, ist das der Todesstoß. Und das darf nicht sein. Der FC darf nicht absteigen! Die Bayern ziehen sich jetzt zurück, fühlen sich sicher. Und genau das müssen sie jetzt ausnutzen. Das ist ihre Chance, denn jetzt blitzt sie wieder auf, die gewohnte Bayern-Arroganz. Drei Tore brauchen sie noch. Drei. In München. In dem Stadion, wo die Bayern dieses Jahr genau ein einziges Mal besiegt worden sind. Raphael beißt die Zähne zusammen und sieht, wie es die anderen ähnlich tun. Sie alle wollen gewinnen. Also wird es Zeit, es den Münchenern so richtig zu zeigen! Sie kämpfen sich durch, bemühen sich, ziehen richtig gute Angriffe auf. Und endlich, endlich gelingt Daniel der so wichtige Anschlusstreffer in der 70. Minute. Damit haben sie noch zwanzig Minuten für den Rest... Knie wechselt. Er bringt Chris für Gabriel, der total ausgepowert ist, und Tom für Mürre, dem es nicht anders geht. Außerdem kommt Adrian für Augustin rein, der ebenfalls am Ende ist. Drei Wechsel. Und wäre einer von denen nicht passiert, hätten sie in der 76. Minute ein Problem weniger gehabt. Van Bommel grätscht Julian um, dieser kommt wieder auf die Beine und keucht entsetzt auf. Das Knie will nicht mehr. Raphael hört nur den schwachen Schmerzschrei, kickt den Ball ins Aus und gibt dem Schiedsrichter sofort ein Zeichen. Genauso der Bank. Scheiße. Nicht Julian. Nicht jetzt. Sie brauchen ihn doch! Verdammt, nicht Julian! „Das Knie...“, murmelt der blonde Spieler, als er bei Raphael bei ihm ankommt und ihm die Hand auf die Schulter legt. „Geht nicht mehr.“ „Scheiße.“ Raphael sagt das Wort voller Inbrunst. „Hey, versprich mir eins...“ Die Sanitäter sind schon im Ansturm und Julian spricht schnell, beinahe hektisch. „Alles, was du willst.“ „Gewinn dieses verdammte Spiel. Gewinn für mich. Für dich. Für uns. Für den FC. Der FC darf nicht absteigen.“ Und dann sind die Sanis schon heran und bugsieren die Nummer elf auf die Trage. Raphael ballt die Hände zu Fäusten. Und wie er dieses verdammte Spiel für Julian gewinnen wird! Kapitel 40: XL. Wenn es nur für den FC ist ------------------------------------------ Vierzehn Minuten haben sie noch, um dieses Spiel zu drehen. Vierzehn verdammte, erbärmliche, winzige Minuten. Es gibt Einwurf für die Bayern, da Raphael den Ball zuvor ins Aus gespielt hatte, und sie spielen das Leder direkt zurück. Fairness eben. Doch jetzt geht es weiter. Weiter um alles. Und alles, was sie an Assen in der Hand halten, ist die Tatsache, dass die Bayern ihre so typische Überheblichkeit an den Tag legen, auch wenn sie nur mit einem Tor Vorsprung führen. Sie glauben, dass ihnen hier zu Hause nichts passieren wird – und ihnen niemand mehr die Meisterschaft nehmen kann. Raphael strafft die Schultern. Er hat es Julian versprochen. Und er ist es diesem Verein schuldig, sein Bestes zu geben. Alles zu geben. Nur für den FC. Weil der FC Dortmund einfach nicht in die Zweite Bundesliga gehört. Weil er erstklassig ist. Er kickt den Ball rüber zu Chris und macht nur eine simple Geste mit der Hand. Sie spielen zwar nicht oft zusammen und doch begreift sein Stammplatzkonkurrent sofort – und er zweifelt seine Autorität kein bisschen an. Auf dem Platz ist Raphael der zweite Leitwolf neben Alejandro geworden. Da gibt es keine Fragen mehr. Und jetzt treibt Raphael sein Rudel voran. Es geht darum, es den Bayern zu zeigen. Chris passt zurück zu ihm und sie lassen den Ball in ihren Reihen locker zirkeln, während sie langsam tastend nach vorne gehen. Raphael späht nach der Lücke. Er ist gut gedeckt. Schweinsteiger und van Bommel lassen ihn kaum aus den Augen, halten aber noch Abstand. Dann sieht er Adrian freistehen. Weit weg, aber... Er pfeift einmal zwischen den Zähnen hindurch und sofort fliegt der Ball von Alejandro zu ihm. Ohne nur einen Augenblick nachzudenken, schickt er die Kugel volley in einen Zwanzig-Meter-Pass zu Adrian. Und der startet sofort. Die sonst so perfekte Bayern-Abwehr ist überrumpelt. Lucio und Demichelis sehen in dem Augenblick nicht gut aus, als Adrian zwischen ihnen hindurchflitzt und dann Rensings Nerven zu seinen Gunsten ausnutzt. Der Torhüter geht zu früh auf den Boden und Adrian lupft den Ball lässig ins Tor. Ausgleich! Und sie haben jetzt noch knappe zwölf Minuten für das entscheidende Siegtor. Aber dafür haben sie es jetzt mit Bayern zu tun, die Sturm laufen. Sturm laufen müssen. Die gar keine Wahl haben, wenn sie noch Meister werden wollen. Und das bedeutet, dass das Spiel noch eine ganz andere Brisanz bekommt. Aber auch eine neue Offenheit, denn wenn die Bayern angreifen, gibt es für den FC gute Kontermöglichkeiten. Und die müssen sie nutzen. Raphael versucht, den Überblick zu behalten und zu sehen, wer sich wo befindet, wie die Laufwege sind und wo sich Lücken im Spiel der Bayern auftun. Er vermisst es jetzt, Julian neben sich zu haben, denn der weiß immer ganz genau, was er vorhat und ist entsprechend da. Ohne ihn fühlt er sich jetzt so allein und dieser Aufgabe kaum gewachsen. Scheiße. Aber hat Julian versprochen, dass sie das Spiel hier gewinnen und genau das will er auch. Er zwingt sich dazu, nicht zur Bank zu sehen. Seine Konzentration muss dem Spiel gelten, wenn sie das hier wirklich noch schaffen sollen. Die Bayern kommen über Ribéry, der gibt ab an Schweinsteiger auf der linken Seite. Toni und Klose lauern in der Mitte, ganz rechts Podolski. Raphaels Blick flackert rüber zu dem Killer, der Podolski deckt. Er ist sich sicher, dass die Flanke auf Podolski kommen wird. Das signalisiert er ihrem Verteidiger knapp. Und er hat Recht. Der Ball saust von links bis auf die rechte Seite – doch da ist der Killer und schlägt den Ball eben nicht blind weg. Irgendwie bringt er die Kugel zu Tom und der gibt sie weiter zu Raphael. Dieser startet durch. Adrian und Chris gehen mit, kratzen ihre Kräfte für diesen mörderischen Angriff zusammen. Denn es muss wirklich rasend schnell gehen, wenn sie die Bayern tatsächlich überrumpeln wollen. Die sind nämlich auch schon in der Rückwärtsbewegung. Schnell gibt Raphael den zu Chris ab, der diesen so lange hält, bis er droht, den Anschluss zu verlieren. Er gibt das Leder weiter zu Adrian, der beinahe schon am Strafraum ist. Raphael sprintet rechts neben ihm. Ohne nur eine Sekunde zu zögern legt dieser quer auf Raphael, spielt damit Demichelis und Jansen aus und Raphael muss nur noch den Fuß hinhalten. Er rutscht, fällt hintenüber. Er sieht den Ball schon über das Tor segeln und hat den Frustschrei bereits auf den Lippen, doch dann erblickt er, wie Rensing in die Knie geht, verblüfft noch aufspringen will, aber das Leder nicht mehr zu fassen bekommt. Der Ball knallt von unten an die Latte und mit Schwung ins Tor. Ohne diesen Rutscher hätte Rensing den Ball ganz sicher gehabt. Raphael muss lachen. Einfach nur lachen. Dann wirft sich Adrian mit Wucht auf ihn drauf und wenig später auch Chris und Alejandro. Sie führen tatsächlich gegen die übermächtigen Bayern in der Münchener Allianz-Arena! Das hätte wohl niemand erwartet. Und die Bayern am allerwenigstens von allen. Aber jetzt sind es noch fünf Minuten zu spielen. Fünf Minuten, die sie diese Führung halten müssen. Fünf Minuten bis zum Klassenerhalt. Fünf Minuten bis zur Ewigkeit. Die Dortmunder stellen jetzt mehr oder weniger auf Verteidigung um und lassen die Bayern kommen. Doch das heißt nicht, dass sie nur hinten drinstehen, nein, sie versuchen den Ball zu halten und nutzen ihre Konterchancen, denn wenn sie eins gelernt haben, dann, dass man Fußballspiele äußerst schnell verlieren kann. Bis zum Abpfiff ist immer höchste Konzentration gefragt und sie darf gar nicht vorher nachlassen. Und die Bayern sind wahnsinnig gefährlich. Toni, Klose und Podolski vergeben beinahe im Sekundentakt Großchancen oder scheitern an der Dortmunder Verteidigung und an Reine, der ein großes Spiel macht. Adrenalin jagt durch Adern, Schweiß fließt, Erdbrocken fliegen von Stollen aufgewirbelt durch die Luft und Flüche erschallen. Dann die Chance. Der Greif erwischt den Abpraller von Tonis Lattenschuss, gibt den Ball nach vorne und Raphael sieht Daniel und Alejandro, der sich ein wenig nach vorne aus dem Gewimmel zurückgezogen hat, um dort den Überblick zu behalten, vollkommen freistehen. Er schickt sie beide los, indem er das Leder weit zu ihnen nach vorne spielt. Dann setzt er selbst nach. Die Bayern sind fast alle in der Dortmunder Hälfte und können gar nicht so schnell umschalten. Demichelis, die einzige Absicherung, ist chancenlos. Er sprintet zwar mit, doch die beiden tricksen ihn und Rensing aus. 5:3 für den FC. Und auf einmal sind nur noch die knappen 2.000 Dortmunder Fans im gesamten Stadionrund zu hören. Den Bayern hat es die Sprache verschlagen. Der kleine Außenseiter aus dem Ruhrpott bringt den deutschen Fußballgiganten nicht nur ins Stolpern, sondern tatsächlich zu Fall. Denn zwei Minuten später ist Schluss. Der FC Dortmund bleibt erstklassig und hat nebenbei Bayer Leverkusen Schützenhilfe für die Meisterschaft geleistet. Kapitel 41: XLI. Wenn der Himmel zum Greifen nahe ist ----------------------------------------------------- Der Jubel der Dortmunder ist grenzenlos, während die meisten Bayern-Spieler geschlagen zu Boden sinken. Alejandro ist Raphael bei Abpfiff am nächsten und drückt ihren Mittelfeldregisseur an sich. Raphael erwidert die Umarmung lächelnd und blickt dann über Ales Schulter. Was er sieht, lässt seine Gesichtszüge entgleisen. Sämtliche Dortmunder Spieler sowie die komplette Bank stürmen auf sie zu. Auf ihn. Unfassbar. Das ist das letzte, was er am Tag seiner Rückkehr im Dezember des letzten Jahres erwartet hatte. Das allerletzte. Fassungslos und zu Tränen gerührt herzt und umarmt er in dieser Menschentraube diejenigen, die aller Zweifel zum Trotz irgendwann begonnen haben, an ihn zu glauben und auf ihn zu vertrauen. Irgendwann fließen die Tränen doch, die er zu unterdrücken versucht, und der Killer und Julian – der auf Krücken angehumpelt gekommen ist – wischen sie ihm gleichzeitig weg. Er lächelt die beiden an und findet sich nur einen Wimpernschlag später in einer innigen Umarmung wieder. Sein Gesicht ist in Julians Haaren vergraben, seine Arme liegen um Julian und Dariusz, ihrer beider Hände umfassen seinen Rücken und einer streicht durch sein Haar. Wärme und das Gefühl von Geborgenheit überfluten ihn. Er fühlt sich zu Hause. Als wenn er endlich zu Hause angekommen ist. Ein verlorener Sohn und Freund, der den Weg wieder zurückgefunden hat. Eine klebrig-kalte Dusche guten Dortmunder Biers beendet die innige Umarmung. Prustend fahren sie auseinander. Puck, der Greif und Augustin können sich vor Lachen kaum noch halten, während Acun mit einer leeren Riesenbierflasche – extra gesponsort von der lokalen Dortmunder Brauerei – davonsprintet. „Boah, den krall ich mir!“ Damit jagt der Killer ihrem türkischen Stürmer hinterher. Raphael streicht sich die biernassen Haare aus dem Gesicht und schüttelt den Kopf. Wie bekloppt! Julian grinst. „Ich will nicht in Acuns Haut stecken, wenn der Killer ihn erwischt...“ „Ich auch nicht!“ Raphael bricht in schallendes Gelächter aus. Julian stimmt ein und legt ihm den Arm um die Schultern, als wenn es nie irgendeinen Abstand zwischen ihnen gegeben hätte. Ihre Blicke treffen sich und das, was Raphael in diesen herrlichen grünen Augen sieht, lässt eine wahre Horde von Schmetterlingen in seinem Bauch vollkommen durchdrehen. Dann bemerkt er, wie die ersten Bayern-Spieler langsam vom Platz schleichen. Er macht sich aus Julians Arm frei und deutet kurz an, was er vorhat. Zielstrebig geht er auf den Bayerischen Kapitän van Bommel zu und streckt die Hand aus. „War ein gutes Spiel“, sagt er und lächelt den Holländer an. „Von euch. Von uns nicht unbedingt. Wir hätten treffen müssen.“ Van Bommel verzieht das Gesicht. „Wir hatten Glück.“ Raphael zieht sein Trikot über den Kopf. „Ich hoffe, Biergeruch macht dir nichts.“ Der Bayern-Kapitän muss lachen. „Nee, keine Sorge.“ Er streift sein Trikot ebenfalls ab und sie tauschen. „Ich bin überzeugt, ihr holt am Mittwoch die Champions League.“ Raphael umarmt van Bommel. „Danke.“ Damit trennen sich ihre Wege und in das Bayerntrikot gehüllt, stößt Raphael wieder zu dem Team, das nun die Feier-T-Shirts mit der Aufschrift „Erste Bundesliga 2010/2011“ trägt und den Dortmunder Fans auf der Tribüne zujubelt und mit ihnen gemeinsam feiert. Irgendwann kommen sie auch in der Kabine an und dort geht die Feier munter weiter. „We are the champions“ schallt bierselig und äußerst schief durch die Räumlichkeiten. Halbnackt hopsen sie durcheinander und trinken Bier und Champagner vermischt und feiern. Denn Glück kennt man heutigen Tag keine Grenzen. Sie werden nachher mit dem Bus zum Flughafen fahren und dann nach Dortmund zurückfliegen. Und sie werden dort noch ausgiebig feiern. Das ist jetzt schon klar. Die große Party findet da garantiert schon in ihrem Stadion beim Public Viewing statt, bei dem auch ihre restlichen Spieler dabei waren – und auch Paolo, der Neu-Kölner. In dem Durcheinander in der Kabine sieht Raphael sich wieder Julian gegenüber. Blaue Augen treffen auf grüne und sie strahlen sich gegenseitig an. Dann überbrückt Julian die Entfernung zwischen ihnen und Raphael rechnet mit einer Umarmung, doch stattdessen spürt er Julians Lippen auf seinen. Im ersten Augenblick ist er vollkommen überrascht und kann Julian belustigt gegen seine Lippen lächeln fühlen. Doch dann schlingt er einen Arm um Julians Rücken und vergräbt seine Hand in dem blonden Schopf, um ihn näher an sich zu ziehen und den Kuss verlangend zu erwidern. Das hat er sich doch so sehr gewünscht. Danach hat er sich doch so unglaublich gesehnt. Nach Julian. Die nicht weniger ungestüme und leidenschaftliche Erwiderung lässt sein Herz noch höher schlagen. Nur am Rande bekommt er mit, wie Alejandro durch die Zähne pfeift und die anderen – allen voran der Killer – lautstark johlen. Damit werden sie wohl noch eine ganze Weile aufgezogen werden und Reine wird sicher deutlich machen, dass sie sich bei Training & Co zusammenreißen sollen. Aber das ist ihm jetzt auch scheißegal. Denn Julian küsst ihn. Er küsst ihn wirklich! Und das ist das einzige, was zählt. Im Bus sitzen sie nebeneinander. Raphael an das Fenster gepresst und Julian mit dem Rücken an seine Brust gelehnt. Raphael braucht nur den Kopf etwas zu senken, um mit der Nase durch den blonden Schopf streichen zu können. Julians Wärme überflutet ihn beinahe vollkommen. So fühlt es sich an, vor Glück überzuschäumen. „Bleibst du diesmal bei mir?“, fragt Julian schließlich leise und dreht den Kopf ein wenig, um Raphael von unten heraus anblinzeln zu können. Aus den Boxen dringt „Oh, wie ist das schön“ und die halbe Mannschaft grölt mit. „Um nichts in der Welt will ich jemals wieder weg von dir“, antwortet er und drückt Julian besitzergreifend an sich. „Ohne Fußball kann ich irgendwie leben, auch wenn’s weh tut. Aber niemals ohne dich.“ Und damit ist auch indirekt gesagt, dass es nie wieder irgendwelche Alibifrauen geben wird. Dass er nie wieder Angst haben wird, aufzufliegen. Weil es etwas gibt, was viel wichtiger ist. Seine Worte kommen ihm unglaublich kitschig und dämlich vor, doch Julian lächelt ihn an. Lächelt ein Lächeln, für das die Welt stehen bleiben könnte. „Wichtig is nich aufm Platz?“ „Doch. Aber nur für 90 Minuten und nich für das ganze Leben.“ Kapitel 42: XLII. Wenn man weiß, wohin man gehört ------------------------------------------------- Eine Woche nach dem furiosen Klassenerhalt ist Raphael zum Aktuellen Sportstudio des ZDF eingeladen. Zum ersten Mal und er schämt sich nicht dafür, dass er wirklich höllisch aufgeregt ist. Fast so sehr wie bei einem Elfmeter, auf den es wirklich ankommt und an dem alles hängt. Er kann noch gar nicht richtig glauben, wie perfekt im Moment alles ist. Allein wegen Julian könnte er vor Glück vergehen. Dann ist da aber noch die Akzeptanz der Mannschaft, denn diese ist bereit, sie beide anzunehmen und in gewisser Weise auch zu beschützen und ihr Geheimnis zu wahren. Und dann ist da auch Chantal, mit der er wohl wirklich eine gute Freundschaft pflegen kann, auch wenn Julian ihr noch ein wenig skeptisch gegenübersteht. Alles passt gerade einfach zusammen. Und diese Zufriedenheit strahlt er auch aus, als er das Studio betritt. Der Moderator ist noch neu und jung und erst ganz frisch dabei. Raphael setzt sich ihm gegenüber und nach der Begrüßung beginnt das Interviewspiel. „Raphael, wie sieht es in Dortmund gerade aus? Der Klassenerhalt wurde durch das furiose Spiel gegen den FC Bayern letzte Woche geschafft; wird immer noch gefeiert?“, fragt der Moderator Andreas Mayer. Raphael muss lachen. „So langsam lässt es nach, auch wenn die Stimmung immer noch unglaublich gut ist. Aber irgendwann kann man auch nicht mehr feiern.“ „Sie haben ja schon nach dem Pokalspiel gegen den BVB Klassenerhalt und Pokalsieg als Ziele genannt. Moment, wir haben die Bilder hier...“ Raphael grinst, als er sich selbst beim Interview sieht. „Wissen Sie, wir haben diese Themen vorher nicht angeschnitten. Gerade den Pokalsieg nicht. Und dafür bin ich in der Kabine echt aufgezogen worden. Aber ich hatte Recht!“ „Und wie!“ Mayer lacht. „Den FC Dortmund hatte als Pokalsieger wirklich keiner auf seiner Rechnung. Und dann noch gegen Werder Bremen. Wie war das?“ „Wenn ich jetzt sage, ein Spiel wie jedes andere, glauben Sie mir das vermutlich nicht, oder?“ Raphael nimmt einen Schluck Wasser. „Wissen Sie, in Bremen spielen tolle Leute, richtig liebe Kerle, aber in das Spiel bin ich natürlich als Dortmunder reingegangen, um für den FC zu gewinnen. Auch wenn ich zu dem Zeitpunkt nur von Werder ausgeliehen war.“ „Werder Bremen hat Sie ja recht genau vor zwei Jahren verpflichtet. Sie hatten einige Angebote aus dem In- und Ausland.“ Raphael nickt bei diesen Worten leicht und spielt mit dem Glas. Er weiß, worauf Mayer hinauswill. „Sie hatten da sozusagen Ihren ersten richtigen Höhepunkt, aber in Bremen hat dann ja gar nichts mehr geklappt. Woran lag das?“ Raphael runzelt die Stirn. „Das ist schwer zu sagen. Ich glaube, wenn wir das begriffen hätten, dann hätten wir etwas an der Situation geändert. Werder hat mit Diego und Torsten Frings zwei sehr kreative Spieler, die den Spielaufbau vorantreiben – und da kam ich nun als dritter hinzu. Es hätte klappen können, wenn wir ähnlich denken würden, aber das tun wir nicht. Und natürlich lassen sich die beiden nicht von so einem Jungspund wie mir die Butter vom Brot nehmen. Es hat beim FC ja auch gedauert, bis ich die Position spielen durfte, die ich am liebsten habe. In der Mitte, um die Fäden zu ziehen. Das ist mein Spiel und in Bremen ging das einfach nicht.“ Er schweigt einen Augenblick und gerade als sein Gegenüber zum Reden ansetzen will, spricht er weiter. „Bremen ist nun einmal nicht Dortmund. Das Team ist großartig und bietet wirklich tolle Möglichkeit. Das ist ganz unbestreitbar. Aber Bremen ist eben nicht Dortmund. Und mein Herz ist einfach in Dortmund geblieben, verstehen Sie? Das hatte nichts mit einer rationalen Entscheidung zu tun, als ich mich entschlossen habe, nach Dortmund zurückzugehen. Die Presse hat es so dargestellt, als wenn der FC bei Werder für mich angefragt hätte. Es war aber anders. Ich war es, der Gerd Schaffhausen angerufen und gefragt hat, ob der FC ein Interesse an mir hätte.“ Er blickt auf das Glas in seinen Händen und lässt es zwischen seinen Fingern kreisen, ehe er es mit einem Ruck wieder abstellt. „Ich wusste sehr genau, wofür ich mich damit entschieden habe. Der FC ist anders als die meisten anderen Bundesliga-Clubs. Wechsel sind dort nicht an der Tagesordnung und man hat meinen von damals vor allem als Verrat verstanden.“ Er lächelt schwach. „Und das Vertrauen wieder zurückzugewinnen war nicht so einfach. Es war ein steiniger Weg, aber ich würde ihn jederzeit wieder gehen.“ Er kann Mayer ansehen, wie erstaunt dieser über seine Eröffnung ist. Aber warum es nicht ansprechen? Warum nicht und damit allen Gerüchten entgültig ein Ende machen? „Wow. Das ist doch ungewöhnlich“, sagt Mayer schließlich. Raphael lacht. „Vielleicht. Aber für mich war das genau richtig.“ „Das hat man an Ihrem Spiel gesehen. In der Rückrunde ging Ihre Formkurve beständig nach oben – genauso die des FC Dortmund. Sehen Sie da einen Zusammenhang?“ Raphael hebt die Schultern. „Ich will mir nicht anmaßen, darüber ein Urteil zu fällen, aber mir kommt es so vor, als wenn der FC und ich einander gut gebrauchen konnten.“ „Ich halte das für untertrieben.“ Mayer lächelt. „Wenn man sich die Spiele ansieht, so hat Ihre Einwechselung meistens den Unterschied gemacht.“ Erneut zuckt Raphael mit den Schultern und lässt sich zu keiner Stellungnahme hinreißen. „Und was wäre mit der Nationalmannschaft? Jogi Löw nominiert in der kommenden Woche den endgültigen Kader für die Weltmeisterschaft in Südafrika...“ „Wenn er mich dabei haben möchte, werde ich ganz sicher nicht Nein sagen.“ Raphael muss lachen. „Allzu viele Erfahrungen in der Nationalmannschaft habe ich in der WM-Qualifikation ja nicht sammeln können. Es wäre sicher spannend, aber ich spekuliere nicht, sondern warte einfach ab. Machen kann ich ja eh nichts.“ „Und wie wird es bei Ihnen nun weitergehen? Zurück nach Bremen oder bleiben Sie in Dortmund?“ „Der FC hat mich schon im Dezember von Bremen gekauft. Ich bin seit Saisonende vollwertiger Dortmunder.“ Ein warmes Lächeln gleitet über Raphaels Gesicht, das mehr als deutlich macht, wie zufrieden er damit ist. „Und...?“ „Wie lange der Vertrag läuft?“ Ein spitzbübisches Glitzern tritt in seine Augen. „Acht Jahre mit Option auf Verlängerung.“ „Wow!“ Mayer starrt ihn mit kugelrunden Augen an. Derartige Laufzeiten sind schließlich bei Bundesligavereinen absolute Seltenheit. „Ich werde also vermutlich in Dortmund spielen, bis ich meine Karriere an den Nagel hänge. Aber ich habe noch eine Überraschung für Sie. Der Vertrag mit unserem Trainer Knieschewski wurde um zehn Jahre verlängert...“ „Das heißt...“ Mayer will gerade weiterreden, doch Raphael unterbricht ihn erneut. „Dass er beim FC bleiben wird, bis er nicht mehr weitermachen will. Und glauben Sie mir, bei uns geht man noch wirklich gemeinsam durch alle Höhen und Tiefen.“ Nach diesen Worten weiß Mayer nichts mehr zu fragen, außerdem wird die Zeit langsam drängend. Also geht es zum unvermeidlichen Torwandschießen. Sobald das Team erfahren hatte, dass Raphael heute hier sein würde, haben sie mit ihm gewettet. Bei sechs Treffern gibt es ein 3-Sterne-Abendessen für Julian und ihn, bei weniger zahlt er eine Lokalrunde in ihrem Lieblingsclub. Aber im Moment läuft alles so gut, dass er gar nicht verlieren kann. Und so versenkt er das Leder ganz lässig dreimal unten und dreimal oben. Doch auch wenn gerade alles so perfekt ist wie in einem Märchen, so vergisst er nicht, wie es sich anfühlt, wenn alles schief geht. Das wird er nie vergessen. Er genießt das Glück, aber er weiß auch, dass er damit zurechtkommen wird, wenn wieder schlechte Zeiten kommen werden. Er kann auch sich selbst vertrauen und er hat Freunde. 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