90 Minuten von abranka ================================================================================ Kapitel 32: XXXII. Wenn man auch gleich auf ein totes Pferd setzen kann ----------------------------------------------------------------------- Er kommt direkt in Trainingsklamotten zum Training. Wenn es einen Ort gibt, den er jetzt ganz sicher nicht aufsuchen wird, dann ist es diese verdammte Kabine. Diese beschissene Kabine, wo er den Blicken, den Musterungen, allem ausgesehen ist. Wo alles genauer beobachtet und unter die Lupe genommen wird. Wo jeder Blick auf ihn prüfend sein wird, abschätzend, vielleicht auch herabwertend. Und das will er nicht. Absolut nicht. Er hat das Gefühl, als wenn er auch gleich auf ein totes Pferd setzen kann. Das hier, das mit dem Fußball und ihm, mit dem FC und ihm, das ist durch. Geht doch gar nicht mehr anders. Er parkt den Wagen vor dem Gelände, steigt aus und marschiert auf den Platz. Er ist der erste der Spieler, nur Knie und Rudolf sind schon da. Nach und nach tauchen die Mannschaftskollegen auf, lachend und schwatzend wie immer. Alejandro schlägt Augustin auf die Schulter, Stefan und Christian diskutieren hitzig, Reine, Mürre und der Greif fuchteln wild mit den Händen in der Luft herum, während Acun Mustafa und René über den Platz jagt. Es sieht aus wie immer. Wie immer. Und es ist doch absolut anders. Alles ist jetzt anders und wird nie wieder sein wie zuvor. Raphael versteift sich unwillkürlich, als die Gruppe den Trainer und ihn erreicht, sich um sie schließt. Dariusz legt ihm mit einem Lächeln die Hand auf die Schulter, doch es gelingt ihm nicht, die Anspannung zu vertreiben. Sie ist weiter da, wie ein eisiger Knoten in seinem Magen und lähmt ihn. Knieschewski lässt sie wieder in kleinen Gruppen spielen, vier gegen vier. Raphael findet sich mit Christian, Paul, und Alex in einem Team wieder. Eine ungewöhnliche Kombination, aber der Trainer will, dass sie sich alle verstehen und gut zusammenspielen. Sie treten an gegen René, Thijs, Daniel und Puck. Und irgendwie klappt gar nichts. Raphael weiß, dass es an ihm liegt. Weil er auf einmal Hemmung hat, weil er auf einmal unsicher geworden ist und nicht weiß, wie er mit der aktuellen Situation umgehen soll. Weil er keine Anzeichen von der Mannschaft bekommen hat, kein Signal, wie dort die Stimmung ist, wie sie auf ihn reagieren, wie er sich verhalten soll. „Verdammt, Raffe! Hör auf die Träumen!“ Der Ball semmelt dicht an ihm vorbei und sorgt dafür, dass sich Knie langsam ernsthaft aufregt. „Sorry.“ Raphael versucht, sich zusammenzureißen und sich auf das Spiel zu konzentrieren, aber es klappt nur bedingt. Immerhin wird es jedoch so viel besser, dass Knie sich schließlich den anderen Gruppen widmet. Doch als er Julian und Reine heftig neben dem Tor diskutieren sieht, wo vier Kameraden gerade Freistöße üben, ist es vorbei. Er tritt über den Ball, setzt sich auf den Hintern und springt fluchend wieder auf. Und dann marschiert er einfach vom Feld. Er hat genug. Endgültig genug. Am besten reicht er gleich seinen Rücktritt vom aktiven Sport ein und zieht sich auf einen Bauernhof oder in eine einsame Waldhütte zurück. Er tritt gegen den Rasen und stapft weiter. Und dann hält ihn eine Hand an seinem Arm zurück. „Scheiße, was machst du denn für einen Unsinn?“ Christian schüttelt den Kopf und zerrt ihn regelrecht herum. „Kann dir doch egal sein. Sieh’s doch positiv: Du kriegst deinen Stammplatz zurück, wenn ich alles hinschmeiße“, faucht Raphael diesen an, ohne auch nur einen winzigen Augenblick lang nachzudenken. „Was?“ Chris sieht ihn vollkommen entgeistert an. „Hey, ich bin voll und ganz erledigt! Raus aus dem Spiel! Weg vom Fenster!“ „Du spinnst.“ Chris schüttelt fassungslos den Kopf. „Scheiße, Ale hat gestern noch eine flammende Rede für dich gehalten und die ganze Mannschaft steht hinter ihr! Oder hast du irgendeinen Spruch gehört, irgendein komisches Verhalten gesehen oder so was? Nichts! Gar nix! Scheiße, wir stehen hinter dir!“ „Oh ja, klar.“ Höhnisch lacht Raphael auf. „Hat das auch Reine gesagt? Oder darf ich damit rechnen, dass er mir demnächst noch mal eine verpasst? Vergiss es, Chris! Ich hab mir die Gedanken hier schon oft genug gemacht und mir oft genug vorgestellt, wie so etwas läuft. Und so eine glatte Lösung gibt es nicht!“ Er schüttelt den Kopf und macht sich rigoros aus Chris’ Griff frei. „Weißte, ich würd ja gern dran glauben, dass so was möglich is, aber das geht nich. Ich hab mit genügend Menschen zutun gehabt und ehrlich: Vergisses. Es gibt immer Menschen, die mit Schwulen nicht umgehen können. Und davon haben wir einen extra-homophoben als Torwart.“ Und damit wendet sich Raphael ab und geht davon. So ist es doch. So und nicht anders. Daran ändert auch das nette Gerede nichts, dass das Team hinter ihm stehen würde. Letzten Endes tun sie es doch nicht. Sobald er in seinem Wagen sitzt, zieht er sein Handy heraus. „Addazio.“ „Paolo, scheiße, ich brauch dich. Ich... geh vollkommen unter.“ Und während er die Worte ausspricht, weiß er, dass sie wahr sind. Jetzt kann er nicht mehr verhindern, dass ihm die Tränen in die Augen steigen. Er lehnt sich vor und drückt die Stirn gegen das mit Kunstleder bezogene Lenkrad. Scheiße. Eigentlich hatte er doch alles so gut im Griff und hat bisher vor allem Wut im Bauch gehabt, weniger den Schmerz und die Enttäuschung – und das Gefühl heulen zu müssen. „Was ist denn los?“ Raphael verflucht mehr noch als gestern, dass Paolo gerade zum Probetraining in Köln ist. „Ist rausgekommen, dass ich schwul bin. Reine hat mich verprügelt, Ale die Mannschaft zusammengeschissen, Julian versucht mit mir zu reden und irgendwie... ist alles total... scheiße.“ Schweigen am anderen Ende der Leitung, dann die Worte, auf die er so gehofft hat: „Ich komme, so schnell ich kann. Ich bin spätestens heute Abend da.“ „Danke.“ „Nicht dafür.“ Er kann Paolos Lächeln und Besorgnis regelrecht hören. „Wir sind Freunde und ich weiß, wie du dich fühlst.“ Damit ist die Verbindung getrennt und Raphael schließt müde die Augen. Die Tränen brennen unter den Lidern noch mehr und er kann nicht verhindern, dass ihm die ersten über die Wangen rinnen. Scheiße. Das war’s dann mit dem Fußball. Das einzige, was seinem Leben noch eine Bedeutung gibt, verschwindet auch daraus. Wenn wenigstens Julian hier wäre. Bei ihm wäre. Aber das ist er nicht und wird er auch nie mehr sein. Weil er ihn selbst von sich gestoßen hat. Erst, weil er Angst davor hatte, mit ihm gemeinsam aufzufliegen und deswegen den Fußball aufgeben zu müssen, in dem er immer sein Leben gesehen hat. Und dann, weil er diesen Schritt nicht mehr auf ihn zumachen und ihm erklären konnte, wie es wirklich in ihm aussieht. Das, was er noch immer nicht kann. Obwohl Julian genau das verdienen würde. Scheiße. So langsam fühlt er sich, als wenn er das tote Pferd ist, auf das fälschlicherweise gesetzt wurde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)