90 Minuten von abranka ================================================================================ Kapitel 30: XXX. Wenn die Zeit zu schweigen vorbei ist ------------------------------------------------------ Irgendwie hat er seit der Aussprache mit Chantal ein komisches Gefühl im Bauch. Es lässt sich nicht richtig beschreiben, nicht in Worte fassen, aber es ist da. Es erstaunt ihn selbst, dass er im Training richtig bei der Sache ist – und dass er wirklich gut drauf ist. Obwohl ihm so vieles im Kopf herumgeht und er geradezu vor Gedanken und Gefühlen überzuquellen scheint. Aber irgendwie ist er in Harmonie mit sich selbst. Und entsprechend zufrieden ist der Trainer und lässt ihn keine Strafrunden rennen. Die anderen haben da weniger Glück. Julian und Reine sind wohl die einzigen, die nur eine Strafrunde abbekommen. „Scheint ja, als wenn der Arztbesuch gut gelaufen ist“, meint Julian, als er schließlich in die Kabine kommt und Raphael sich abtrocknet. „Mhm. Nicht schwanger. War ein Irrtum.“ Er legt das Handtuch beiseite und steigt in Boxershorts und Jeans. „Glück gehabt also.“ Der blonde Mittelfeldspieler lehnt sich gegen den Spind neben Raphaels und mustert diesen. „Lässt du das Durch-die-Gegend-Geschlafe jetzt sein, wo du so einen vor den Bug bekommen hast?“ Irritiert blickt Raphael ihn an und druckst dann herum. Ja sagen kann er nicht so wirklich und Nein sagen auch nicht. „Du änderst dich wohl nie.“ Julian drückt sich von dem Spind ab. „Du wirst dich noch in alle Ewigkeit selbst verleugnen. Ist es das, was du willst?“ „Ach?“ Raphael tritt wütend gegen die Metalltür seines eigenen Spinds und das Krachen wummert richtig durch die leere Kabine. „Soll ich vielleicht in die Welt hinausbrüllen, dass ich schwul bin? Vergisses!“ „Du bist schwul?“ Die kalt gestellte Frage hinter ihm, aus Richtung Kabinentür, lässt es Raphael eisig den Rücken runterlaufen. Sie waren zu sehr in ihr Gespräch vertieft, als dass irgendwer aufgepasst hätte. Noch nicht einmal Julian, der die Tür von seinem Standpunkt aus weitaus besser sehen kann. Auch der Blondschopf wirkt schockiert. Ausgerechnet Reine. Reine, der mehr als deutlich geäußert hat, dass er nichts von Schwulen und ganz besonders nichts von schwulen Fußballern hält. „Und?“ Raphael fährt herum und funkelt den Torwart – der rund zehn Zentimeter größer und mindestens fünfzehn Kilo schwerer ist – an. „Hast du etwa ein Problem damit?“ „Ja.“ Mit zusammengekniffenen Augen und einem Blick, der Raphael wirklich Angst einjagt, marschiert er auf ihn zu. „Hast du dich daran aufgegeilt, hier zu sein? So viele nackte Kerle um dich herum? Gefällt dir doch, was?“ Raphael zieht eine Augenbraue hoch und will etwas sagen, aber dazu kommt er gar nicht mehr. Reines Faust kollidiert mit seiner Wange und sorgt dafür, dass er sich auf die Lippe beißt und Blut ausspuckt – und dass sein Hinterkopf unsanft mit dem Spind hinter ihm kollidiert. Das Dröhnen scheint in seinem Schädel widerzuhallen und er sieht für den Moment Sterne. „Du bist widerlich. So etwas wie du ist widerlich!“ Blanke Abscheu liegt in den sonst so klaren Augen des Torwarts. Er schlägt erneut zu und erwischt diesmal Raphaels Unterkiefer und bringt seine Lippe dazu, aufzuplatzen. Blut rinnt ihm über das Kinn. „Und alles, was dir einfällt, ist, mich zu schlagen? Wie tapfer!“, höhnt der Mittelfeldspieler und blitzt Reine zornig an. Diese intoleranten Arschlöcher, die meinen, sich als Moralapostel über die Welt aufschwingen zu können, die kotzen ihn an. Diesmal trifft ihn der Schlag in die Magengrube und sorgt dafür, dass er sich zusammenkrümmt. Er hört gar nicht, wie die Kabinentür erneut aufgeht, wie die anderen hereinkommen, sieht nicht, wie sie schockiert stehen bleiben und bekommt gar nicht mit, wie Julian heftig auf Alejandro einredet, wie dieser Julian zurückhalten muss, damit der sich nicht auf Reine stürzt. Raphael würgt und spuckt auf den Boden. Erneut tanzen Sterne vor seinen Augen und sein Kopf schlägt vor, dass es doch eine gute Idee wäre, jetzt einfach die Augen zuzumachen. Aber sein Stolz will nicht. Der ist es, der ihn wieder hochreißt, hochaufgerichtet Reine entgegenblicken lässt – und der den Schmerz irgendwie soweit erträglich macht, dass er reden kann und nicht nur dumpfes Stöhnen und Wimmern von sich gibt. „Oh ja, schlag mich weiter. Das ändert nur nichts daran, dass du derjenige von uns beiden ist, der absolut widerlich ist!“ Erneut spuckt er aus, diesmal direkt vor Reine auf den Boden. „Du hasst doch nur Schwule, weil du Schiss hast! Schiss vor dem, was du nicht verstehst! Schiss vor dem, was anders ist als du! Du bist doch nichts anderes als ein engstirniger, verbohrter Idiot.“ Reine holt erneut aus, doch Raphaels Redefluss endet nicht – und er macht auch keinerlei Anstalten, sich zu verteidigen. Obwohl er es könnte. Und irgendwie lässt das den breiten Torhüter innehalten. „Und weißt du was? Schwule ficken so wenig alles, was nicht bei drei auf den Bäumen ist wie du! Oder nimmst du etwa jede, die dir über den Weg läuft?“ Raphael merkt gar nicht, dass er mittlerweile schreit. Schreit, während ihm das Blut noch immer über das Kinn läuft und sich auf seiner bloßen Brust zu einem dunkelroten Rinnsal entwickelt. „Scheiße, du bist so was von nicht mein Typ! Dein Arsch interessiert mich einen Dreck, Reine! Du interessierst mich in der Hinsicht absolut einen Dreck!“ Jetzt fällt sein Blick auf die anderen. Die komplette Mannschaft steht mittlerweile in der Kabine. Scheiße. Jetzt ist es wirklich genug. „Fick dich, Arschloch!“ Damit stößt er den verblüfften Torwart bei Seite und flüchtet aus der Kabine. Denn eine Flucht ist es. Er kann es nicht ertragen, dass sie es nun alle wissen. Alle. Dabei wollte er es doch geheimhalten. Es vor ihnen nicht offenbaren. Scheiße. Das war’s dann wohl mit dem Fußball. Am liebsten würde er jetzt einfach heulen. Hosted by Animexx e.V. 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