90 Minuten von abranka ================================================================================ Kapitel 29: XXIX. Wenn es einen mitten ins Herz trifft ------------------------------------------------------ Der Arzttermin mit Chantal steht vor der Tür. Raphael ist unruhig und angespannt. Er weiß nicht genau, was er erwarten soll, worauf er hoffen soll. Noch immer ist ihm bei der Vorstellung schlecht, vielleicht in neun Monaten Vater zu sein. Chantal geht es wohl nicht anders, denn sie sitzt still neben ihm in dem Wartezimmer und blättert noch nicht einmal durch die üblichen Zeitschriften. Er selbst schweigt ebenfalls. Zum Glück ist es ruhig hier und nicht besonders voll. Die prüfenden Blicke reichen ihm auch so. Es ist, als wenn die anwesenden Frauen abschätzen würden, ob er einen guten Vater abgeben würde oder nicht. Und das ist ein grauenhaftes Gefühl. Ganz abgesehen davon will er gar nicht wissen, wie viele von ihnen ihn erkannt haben und diesen Besuch morgen der Presse stecken. Sein Privatleben will er eigentlich nicht unbedingt in Deutschlands größtem Boulevardblatt nachlesen können. Endlich sind sie dran und betreten das Untersuchungszimmer. Raphael fühlt sich auch wieder fehl am Platz, als er sich auf den einsamen Hocker setzt und versucht, nicht im Weg zu sein. Das Gespräch zwischen Chantal und dem Arzt rauscht an ihm vorbei und nur Bruchstücke bleiben hängen. „...positiver Test...“ „...Absicherung...“ „...will sicher sein...“ „...untersuchen.“ Raphael blickt erst auf, als der Arzt mit einem leise klatschenden Geräusch die Handschuhe auszieht. „Frau Schmitt, zur absoluten Sicherheit möchte ich noch einen Bluttest durchführen, aber was die bisherige Untersuchung gezeigt hat, ist, dass Sie nicht schwanger sind.“ „...was?“ Chantal schaut den Mann entgeistert an. Man sieht nur allzu deutlich, dass sie es nicht versteht. Ohne weiter nachzudenken, ist Raphael bei ihr und legt ihr die Hand auf den Arm. „Wie kann das sein? Wenn der Test doch positiv war?“, fragt er verwirrt nach. „Das ist recht einfach. Es kann sein, dass der Test schon älter war oder dass der Test nicht bei Raumtemperatur stattgefunden hat. Genauso gut ist es möglich, dass es zwar eine befruchtete Eizelle gegeben hat, aber sich diese jedoch nicht so in der Gebärmutter einnisten konnte, wie das vorgesehen ist und die Schwangerschaft dadurch auf natürlichem Wege abgebrochen wurde... Ein anderer Grund können Tumorzellen sein – und schon allein deswegen möchte ich diesen Bluttest machen.“ Raphael nickt nur schwach. Chantal wirkt vollkommen paralysiert, fassungslos. „Und... und warum...“ „Warum Sie keine Monatsblutung bekommen haben?“ Der Arzt lächelt Chantal verständnisvoll an und nimmt es ihr ab, den Satz zu Ende zu führen. „Das hängt vermutlich mit einer simplen Hormonschwankung zusammen. Auch da wird uns die Blutanalyse Aufschluss geben.“ Er steht auf, als er sieht, dass die junge Frau eine relative Fluchtbewegung zur Tür hin macht. „Aber deswegen können Sie morgen erneut bei uns vorbeikommen. Ruhen Sie sich aus.“ Und der Blick, den er Raphael zuwirft, sagt mehr als deutlich, dass dieser sich doch bitte um sie kümmern möge. Wird er auch. Ist doch Ehrensache. Jetzt sitzen sie in einem kleinen Café in einem beinahe noch kleineren Ort außerhalb Dortmunds. Chantal hält sich an ihrem Cappuccino fest und ist noch immer blass. Raphael sieht, dass sie die Tränen weiter mühsam unterdrückt. Sie weigert sich zu weinen und will sich diese Blöße nicht geben. Er nippt langsam an seinem Kaffee und weiß nicht, was er sagen soll. Auch wenn er schließlich doch etwas sagt. „Es tut mir Leid.“ Leise sind seine Worte, vielleicht abgedroschen, aber dafür kommen sie aus dem Herzen. Chantal blickt auf und sieht ihn das erste Mal wirklich an, seitdem sie hier sind. Ihre grünen Augen glänzen verdächtig und ihr Lidschatten ist verschmiert. Ihr schmerzerfüllter Blick gleicht so sehr Julians, dass es nun Raphael ist, der dem Blick kaum standhalten kann. Doch er zwingt sich dazu, denn er ist es ihr schuldig, dass er ihr in die Augen blickt – und dass er dabei nicht an Julian denkt, sondern an sie. „Wirklich.“ Er lächelt schwach und spürt auf einmal nur zu deutlich, wie sehr er das meint und wie sehr es ihn schmerzt, Chantal so zu sehen. Er mag ihre fröhliche, offene und direkte Art. Das ist sie. Nicht diese traurigen Augen und dieser verzweifelte Gesichtsausdruck. Zitternd lässt sie die Tasse los und schlägt die Hände vor das Gesicht. Jetzt kommen die Tränen mit unaufhaltsamer Gewalt. Raphael steht auf, kommt zur ihr und nimmt sie in den Arm. Alles, was er tun kann, ist, sie in seinen Armen weinen zu lassen. Und die Verzweiflung mit der sie sich an ihn klammert, lässt ihn auf einmal begreifen, dass sie nicht nur darum weint, dass es kein Kind geben wird. Nein, sie weint auch darum, dass sie ihn endgültig verloren hat. Weil sie gehofft hatte, ihn mit dem Baby zu halten. Still kauert er neben ihr, hält sie fest, lässt sie weinen, ist einfach da. Und streichelt ihr hilflos über das blonde Haar. Irgendwann hat sie aufgehört zu weinen und sich hinter ihrem – mittlerweile kalten – Cappuccino versteckt. Die Bedienung ist taktvollerweise nicht mehr aufgetaucht und Raphael ist froh darum. Es wird Zeit, sich auszusprechen. Die Karten auf den Tisch zu legen und da kann er wirklich niemanden in der Nähe gebrauchen, der vielleicht mithört. „Chantal“, sagt er sanft und ergreift ihre Hand. „Wenn du... Wenn du es willst, dann können wir immer Freunde sein. Dann werde ich nie aus deinem Leben verschwinden. Du bist die einzige Frau, die mir jemals etwas bedeutet hat. Abgesehen von meiner Mutter versteht sich.“ Sie schluckt schwer und blinzelt erneut gegen die Tränen an, ehe sie traurig lächelt. „Das wäre eine wunderschöne Liebeserklärung, wenn...“ „Wenn ich nicht auf Männer stehen würde...“ Er lässt ihre Hand los, doch sie ergreift seine Finger und hält sie fest. „Wenn. Aber das Leben findet halt nicht im Konjunktiv statt. Du bist so, wie du bist. Und so bist du genau richtig.“ Raphael muss lächeln. „Auch wenn es dir weh tut.“ Sie nickt. „Aber in diesen Menschen habe ich mich verliebt, also muss der einfach richtig sein, oder?“ Sie streichelt seine Finger und drückt sie sachte, ehe sie sie wieder freigibt. Sie schweigen, bis Chantal schließlich leise das Wort ergreift. „Erzähl mir von ihm. Erzähl mir von diesem Mann, der dir so sehr den Kopf verdreht hat und den du so sehr liebst. Und dem ich ähnlich sehe.“ Raphael zieht eine Augenbraue hoch und seufzt leise. „Ist es so offensichtlich?“ „Du hast genug angedeutet, dass das auf der Hand liegt.“ Sie lächelt. „Bitte.“ Er nickt und beginnt zu erzählen. Von ihrer Begegnung im Training, von der Harmonie im Zusammenspiel, von den Umarmungen bei den Erfolgen, von den Umarmungen bei den Niederlagen, von diesen unglaublichen grünen Augen, von den blonden Haaren, von diesem unglaublichen Lächeln, das leicht dreckig klingt, von der Nähe und Geborgenheit, von seiner Angst, vor der Furcht, entdeckt zu werden. Von seiner Flucht nach Bremen. Von dem Schmerz und der Trennung, die er ausgelöst hat. Von dem endgültigen Bruch. Von seiner Niederlage und seinem Absturz, von der schwersten Zeit seines Lebens, von seiner Rückkehr nach Dortmund und schließlich von dem Problem, Julian gegenüberzutreten, mit diesem brennenden Herzen, dem Wissen, dass zwischen ihnen zuviel kaputt gegangen ist, und der Hoffnung, irgendwie doch noch die Kurve zu kriegen und den Menschen zurückzubekommen, den er am meisten auf dieser Welt liebt. Den er so beschissen liebt, dass es ihm noch irgendwann einmal das Herz endgültig zerreißt. Und während er spricht, begreift er immer mehr, was eigentlich passiert ist. Und wie sehr er immer Angst hatte. Angst, entdeckt zu werden. Angst, den Fußball zu verlieren, weil ein schwuler Fußballer in Deutschland noch längst keine Chance hat, sich zu behaupten. Doch was er dabei übersehen hat, ist, dass es viel schwerer ist, ohne diesen einen besonderen Menschen zu leben. Klar, ohne Fußball würde ihm etwas fehlen, aber man würde ihm nicht die Füße amputieren. Aber ohne Julian, ohne Julian, da kann man ihm gleich das Herz herausschneiden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)