90 Minuten von abranka ================================================================================ Kapitel 28: XXVIII. Wenn es um Schmerz und Stolz geht ----------------------------------------------------- Im Training hat Raphael jeglichen Blickkontakt und jeglichen Wortwechsel mit Julian vermieden. Er erträgt es nicht, ihn anzusehen. Er erträgt es einfach nicht. Es tut zu weh und er ist zu stolz, um sich das ansehen zu lassen. Er weiß, dass Dariusz merkt, dass etwas mit ihm los ist. Dass es Alejandro wahrscheinlich auch merkt. Chris vielleicht auch. Es gibt hier genügend Menschen, die ihn gut genug kennen. Doch nur mit Paolo hat er darüber gesprochen. Kurz und mit knappen, abgehackten Worten, ehe er sich ins Bett verkrochen hat, um sich wortwörtlich die Bettdecke über den Kopf zu ziehen. Und jetzt ist das DFB-Pokalhalbfinale gegen Stuttgart. Stuttgart hat das Heimrecht und so müssen die Karos in ihren roten Ausweichtrikots auflaufen, während der VfB in Weiß spielt. Die Niederlage gegen Schalke sitzt den Dortmundern noch immer in den Knochen. Sie haben erneut den Beweis bekommen, dass im Fußball nun einmal nicht immer zwingend der Bessere gewinnt. Es sollte vielleicht so sein, aber es ist nicht so. Und jetzt sind sie angespannt. Alle. Raphael steht in der Startelf. Seit dem Spiel gegen Leverkusen gibt es darüber keine Diskussion mehr. Er hat seinen Stammplatz bekommen, er hat ihn sich erkämpft und sogar Chris, den er verdrängt hat, trägt das mit Fassung. Klar, die Spannung zwischen ihnen ist da und vielleicht sollten sie einmal darüber reden. Nach dem Spiel. Nicht jetzt. Jetzt ist es Zeit, einzumarschieren und aufzulaufen. Auf dem Spielfeld kann er Julian nicht mehr ignorieren. Das geht einfach nicht. Immerhin spielen sie zusammen. Und dennoch fällt es Raphael schwer, so unendlich schwer. Dieser Kerl, er sitzt so tief unter seiner Haut. So unendlich tief. Er kommt mit dem allen nicht mehr klar. Nicht mehr. Auch nicht damit, dass er am nächsten Tag mit Chantal zum Arzt geht, so wie er es versprochen hat. Alles wird ihm zu viel. Viel zu viel. Warum können die Dinge nicht einfach sein und warum kann er nicht ungestört Fußball spielen? Genau das will er doch nur. Sein Kopf ist viel zu voll, viel zu durcheinander – und deswegen spielt er schlecht. Zum Glück sind die Stuttgarter heute nicht besonders gut drauf. Ihnen macht der Tanz auf drei Hochzeiten – Liga, DFB-Pokal und UEFA-Cup – wohl doch langsam zu schaffen. „Verdammt, Raffe, was ist denn los mit dir?“ Alejandro bringt in der Kabine auf den Punkt, was sie wohl alle denken. Raphael presst die Lippen zusammen und zieht sich das grasfleckige Trikot über den Kopf. Natürlich gibt es in der Pause frische Klamotten. Sein Blick gleitet kurz zu Julian, der diesen mit einem Ausdruck von Verwirrung erwidert. „Nichts.“ „Dat kannste deiner Omma erzählen! du bist mit deinen Gedanken sonstwo, aber ganz sicher nich aufm Platz!“, fährt der Kapitän ihn an. „Sorry, dass ich mal private Probleme hab!“, blafft Raphael zurück. Er hat keinen Bock sich anbrüllen zu lassen. Er fühlt sich so ja schon beschissen genug, da braucht er niemanden, der ich anschnauzt und ihm noch mehr Schuldgefühle verpasst, als er ohnehin schon besitzt. Denn er weiß nur zu genau, dass er die Mannschaft gerade im Stich lässt. Dass er sie alle hängen lässt, obwohl sie auf ihn vertrauen. „Scheiße, Raffe, aber wir brauchen dich!“ Das ist jetzt Acun und er bringt exakt das auf den Punkt, was Raphael weiß. Dieser erwidert den Blick des Türken ungerührt, unbewegt. „Sorry. Knie, wechselst, du mich aus?“ Die Worte sind an den Trainer gerichtet, aber er blickt ihn nicht an. Die ganze Kabine hält schockiert die Luft an. Das kann doch nicht sein Ernst sein, oder? „Vergisses, Raphael“, erwidert der Trainer und sein Gesicht sieht aus, als wenn er in eine Zitrone gebissen hat. „Es ist so, als wenn hier nicht jeder von uns nachvollziehen könnte, wie sich private Probleme anfühlen und wie sehr sie das Spiel beeinflussen. Unter anderen Umständen würde ich dich sofort runternehmen und vom Training freistellen, aber wir brauchen dich. Es gibt gerade niemanden, der dich ersetzen kann. Genau deswegen hast du diesen Stammplatz bekommen.“ Raphael hat bei seinen Worten den Kopf gesenkt. Was hat er denn für eine Wahl? Er kann nicht zurück und er kann nicht weglaufen. Also wird er kämpfen. Erneut kämpfen. „Solange ihr keine Wunder erwartet“, murmelt er leise, streift das neue Trikot über und marschiert aus der Kabine. Er weiß, dass er sich gerade anmaßend und wie die letzte Diva verhält. Der Mannschaft zuliebe würde er am liebsten nicht weiter spielen, aber gerade für sie muss er es. Was für ein Dilemma! Seine Schritte sind langsam, als er den leeren Korridor entlang auf den Ausgang zum Platz hin zugeht. „Hey, sagst du mir, was mit dir los ist?“ Raphael muss sich gar nicht erst umdrehen, um zu wissen, dass Julian hinter ihm steht und ihn sicher mit diesem unglaublich verletzlich-besorgten Ausdruck in den grünen Augen ansieht. Er bleibt stehen. „Nein. Denn so wenig, wie es mich noch angeht, was du tust, so wenig geht es dich an, wie es in mir aussieht.“ Die Antwort wählt er bewusst kalt und ganz bewusst dreht er sich nicht um. Wenn er es täte, würde er vielleicht etwas Dummes tun. Julian Vorwürfe machen, die keinerlei Daseinsberechtigung haben. Sie sind nicht mehr zusammen. Sie sind noch nicht einmal mehr so etwas wie Freunde. Und er ist viel zu stolz, um Julian seinen Schmerz und seine brennende Eifersucht zu zeigen. Somit lässt er Julian auf dem Gang stehen und tritt heraus aus den Katakomben. Er ist als erster wieder auf dem Platz und steht dort unbewegt mitten auf dem Rasen in dem einsetzenden Regen. Dieses Foto wird es sein, das am nächsten Morgen die Spielbereichte zieren wird. Der junge Mittelfeldstar des FC Dortmund, der Rückkehrer, der Gescheiterte, der seine Konzentration sucht, um nach einer grottenschlechten ersten Halbzeit das so wichtige Spiel gegen den VfB Stuttgart zu entscheiden. Irgendwie gelingt es. Raphael weiß nicht genau, wie er es letztlich schafft, seine Gedanken vollkommen auf das Spiel zu fokussieren und alles andere auszublenden. Aber es klappt. Er spielt wie ausgewechselt und auf einmal können die Dortmunder unter Beweis stellen, dass sie äußerst berechtigt in diesem Halbfinale stehen. Und sie unterstreichen, wie brennend sie in das Finale wollen. Wie sehr sie nach Berlin wollen. Dann kommt der entscheidende Pass aus dem Mittelfeld. Raphael gibt den Ball zu Gabriel, der sieht Julian freistehen, der setzt den finalen Pass zu Acun – und der Türke verwandelt den Ball mit spielerischer Sicherheit. Raphael steht an der Seitenlinie und lächelt zufrieden. Geht doch. Und dann sieht er mit Verblüffung Acun und seine anderen Teamkameraden auf ihn zustürmen. „Berlin, Berlin! Wir fahren nach Berlin!“, skandieren die Dortmunder Fans, während Raphael in einer Traube jubelnder Karos hilflos lachend zu Boden geht. Ja, verdammt! Sie fahren nach Berlin! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)