90 Minuten von abranka ================================================================================ Kapitel 27: XXVII. Wenn Träume zerschmettert werden --------------------------------------------------- Der Einzug in das Pokalhalbfinale hat der Mannschaft neue Kraft für die Liga gegeben. Die nächsten beiden Spiele sind relativ einfach – es geht gegen andere Abstiegskandidaten wie den 1. FC Nürnberg und Hannover 96. Gegen beide holen sie souverän drei Punkte und krabbeln somit langsam nach oben. Noch sind die Abstiegsränge nicht verlassen, aber langsam schnuppern die Dortmunder Morgenluft. Es gibt noch eine Chance. Es gibt sie. Als nächstes ist das Spiel gegen Schalke. Alejandro hat sich beim Training den Knöchel vertreten und muss in der Bundesliga aussetzen. Das tut er auch, wenn auch zähneknirschend. Keiner von ihnen will in dieser wichtigen Phase der Saison noch fehlen. Dafür wird er wohl am Mittwoch bei dem DFB-Pokalhalbfinale dabei sein. Dort geht es gegen den VfB Stuttgart. Aber jetzt heißt der Gegner erst einmal Schalke. Und das ist heute die Chance, die rote Laterne weiterzureichen an Energie Cottbus. Und das wollen die Dortmunder unbedingt. „Raphael!“ Immer, wenn Knieschweski ihn mit seinem vollen Vornamen anspricht, ist irgendetwas im Busch. Das hat Raphael recht schnell gemerkt und somit ist er jetzt auch besonders aufmerksam. Er zieht seine Socken über den Schienbeinschonern zurecht und steht auf. „Ja?“ „Hier.“ Knie drückt ihm die Kapitänsbinde in die Hand. Vollkommen entgeistert starrt der junge Mittelfeldspieler darauf. Normalerweise trägt der Killer sie immer, wenn Alejandro nicht spielen kann. Warum...? „Was...?“ Verwirrt sieht er den Trainer an. „Alejandro will es so. Und ich denke, er vertritt damit die Meinung der Mannschaft.“ Knie zwinkert ihm zu und geht an ihm vorbei, als wenn er gerade etwas absolut Normales getan hätte. „Kopf hoch.“ Dariusz bleibt stehen und klopft Raphael auf die Schulter. „Du wirst mit der Verantwortung schon klar kommen.“ „Depp!“ Zum Dank verpasst Raphael diesem eine Kopfnuss, erntet dafür aber nur ein Lachen. „Hasses verdient, Raffe. Dat sagen alle. Du bis eh der Boss aufm Platz, also kannste dat Dingen auch tragen.“ Der Killer zwinkert ihm ebenfalls zu und marschiert dann voraus. Raphael kann diesen Vertrauensbeweis noch immer nicht glauben, als er der Mannschaft voran ins Stadion marschiert. Das ist unglaublich. Er hat es nie angestrebt, Kapitän zu sein und jetzt ist er es auf einmal, wenn auch nur aushilfsweise. Das ist nie sein Ziel gewesen. Aber so laufen die Dinge manchmal eben. Man bekommt das, was man eigentlich gar nicht will. In diesem Fall ist es ein frühes Tor. Kuranyi stellt innerhalb von zwei Minuten unter Beweis, dass er zurecht in der Nationalmannschaft spielt und liefert ein erstklassiges Solo ab, das er mit einem echten Traumtor krönt, bei dem Reine wirklich keine Chance hat. Das nennt man wohl einen miesen Start. Der Schock sitzt. Und das so richtig. Die letzten Spiele haben sie immer von Beginn an dominiert und auf einmal sieht das hier vollkommen anders aus. Schalke spielt locker und befreit auf, während sich die Karos schwer tun. Nach der Halbzeitpause wird das Spiel besser. Sicherer und druckvoller von den Dortmundern. Jetzt sind sie es, die das Spiel in der Hand haben und regelrecht Sturm laufen. Raphael ist fasziniert davon, wie gut die Pässe auf einmal sitzen, wie sehr alles Hand in Hand geht. Wie sehr die Laufbereitschaft da ist und wie sich alle reinhängen. Die Abwehr, die bei dem 1:0 durch Kuranyi einfach nur schlecht aussah, steht bombensicher und lässt sich auch durch die gewieftesten Tricks nicht erschüttern. Nichts geht da hinten. Aber dummerweise geht der Ball auch nicht in das Schalker Tor. Noch mehr stürmen können die Dortmunder bald nicht mehr. Alle zwei, drei Minuten brennt der Schalker Strafraum wirklich lichterloh – und das Leder geht einfach nicht ins Netz. Was seine Teamkameraden heute nicht zustande bringen, leistet der junge Manuel Neuer im Tor mindestens dreimal. Ständig holt er den Ball irgendwie aus der Luft, wirft sich auf den Boden, fängt scharfe Flanken ab oder, oder, oder. Es ist langsam einfach nur noch frustrierend. Acun und Augustin mühen sich da vorne ab. Mittlerweile sind auch Mürre und der Killer ständig vorne, genauso Julian und Gabriel. Aber nichts geht. Und dann kommt der Schlusspfiff. Scheiße. Diese Niederlage tut weh. Wirklich weh. Nicht nur, weil sie so unverdient ist und sie einfach die bessere Mannschaft waren und Schalke hätten schlagen können, ja, sogar schlagen müssen! Nein, sie tut auch weh, weil sie weiterhin auf dem letzten Tabellenplatz stehen. Klar, sie spielen gut, aber sie brauchen noch einige Dreier, damit sie den Klassenerhalt wirklich schaffen. Keiner von ihnen will das auf den letzten Drücker schaffen, aber wenn es so weitergeht, schaut es so aus. Ihr einziges Glück ist, dass die letzten fünf Mannschaften der Tabelle eng beieinander stehen. Cottbus, Hannover, Nürnberg und Rostock sowie sie selbst haben alle ein ähnlich schlechtes Punktekonto. Und davor die Frankfurter Eintracht sowie 1860 und der 1. FC Köln sind auch noch nicht aus der Abstiegszone raus. Es gibt noch eine Chance. Nur haben sie die mit dem Spiel heute nicht gerade vergrößert. Ein bisschen fühlt es sich an, als wenn Träume geplatzt sind. Er weiß nicht genau, warum er jetzt hier ist und den Wagen in der Straße weit außerhalb Dortmunds vor dem kleinen Haus anhält. Julians Haus. Raphael bleibt wie eingefroren hinter dem Steuer sitzen, starrt die dunklen Fenster an. Julian ist offenbar nicht da. Noch nicht. Sie sind nach dem Spiel alle schweigend auseinander gegangen und brauchten jeder für sich einfach Zeit, um das erst einmal zu verarbeiten. Zu verarbeiten, dass ihre ganze Mühe keine Früchte getragen hat. Raphael blickt stur auf das Haus, auf die dunklen Fenster und wartet. Irgendwie auf Julian, obwohl er sich gar nicht sicher ist, ob er dann aussteigen und mit ihm reden wird. Er weiß ja noch nicht einmal worüber er dann mit ihm reden will. Einfach küssen und ein „Ich will dich zurück“ reicht ja wohl kaum aus. Dann sieht er die Lichter eines Wagens im Rückspiegel und kauert sich unwillkürlich im Sitz zusammen. Wenn er nicht aussteigt, dann ist es wohl besser, wenn Julian ihn gar nicht erst sieht... Er kann sein Hiersein ja nicht so wirklich erklären. Und sowieso kommt es ihm jetzt wie eine absolute Schnapsidee vor. Noch mehr, als er sieht, dass Julian nicht alleine ist. Dass da noch jemand bei ihm ist, den er im Licht der Straßenlaterne hier auf offener – wenn auch leerer – Straße einfach küsst. Und zwar derart hungrig und leidenschaftlich, dass es da nichts zu interpretieren gibt. Wie versteinert sitzt er da und spürt, wie in ihm etwas zerbricht. In Scherben bricht und leise rieselnd zu Boden fällt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)