90 Minuten von abranka ================================================================================ Kapitel 17: XVII. Wenn der Pott kocht ------------------------------------- Knie hat entgegen aller Prognosen, aller Expertenmeinungen und Presseberichten die FC-Mannschaft kein bisschen verändert. Es gehen genau die elf auf den Platz, die am Samstag so kläglich versagt haben. Es ist wie eine Schocktherapie. Getreu dem Motto „Da müsst ihr durch, Jungs!“ Und so ist es auch. Der Signal Iduna Park ist dieses Mal wirklich ein Hexenkessel. Blanker Hohn schlägt ihnen von den schwarzen-gelben Borussia-Fans entgegen, während ihre eigenen Fans sie nur schwach verteidigen. Nach dem letzten Spiel ist das aber auch kein Wunder. Das kann man ihnen noch nicht einmal übel nehmen. Nein, sie müssen zeigen, dass sie auch anders können. Sie müssen den BVB auf seinen Platz verweisen – den hinter ihnen. So einfach ist das. Und das können sie nur durch ein verdammt gutes Spiel. Raphael spürt, wie Motivation und Wille in ihm brennen. Er will spielen – so verdammt gut, wie noch nie zuvor in seinem Leben. Und heute ist er selig, dass er wieder in der Startelf steht und von Anfang an ran darf. Auch wenn er wieder direkt hinter Julian einmarschieren muss. Diesmal spielen sie von Beginn an wie aufgedreht. Sie stürmen nach vorne und überrennen die Borussen regelrecht, die damit überhaupt nicht rechnen. Sie haben mit Zurückhaltung gerechnet, mit Demut und Angst. Aber nichts davon ist der Fall. Stattdessen spielt der FC frech auf. Getreu dem Motto „Wir haben nichts zu verlieren!“. Haben sie auch nicht, wenn sie Knie glauben dürfen. Warum nicht also einfach mal so spielen, wie es Spaß macht? Hemmungslos auf Risiko und sich nach vorne werfen? Der Ball landet bei Raphael, der ihn gedankenschnell zu Julian weiterpasst. Er weiß immer hundertprozentig genau, wo sein Mittelfeldpartner ist. Das ist etwas, was wie automatisch funktioniert, wie einprogrammiert. Ganz besonders bei Julian. Die Kugel landet perfekt in seinem Lauf, aus dem Augenwinkel kann er sehen, wie Julian noch mehr an Tempo zulegte, Dede stehen lässt, dann Kovac. Weltklasse ist es, was er da leistet und Raphael kann nicht anders, als zu lächeln. Dann die Flanke rüber zu Augustin, der köpft und trifft die Latte. Der Ball schmettert schräg zurück und landet wieder bei Julian. Erneute Flanke und diesmal ist Raphael mitten in dem Chaos im Strafraum und hält den Fuß einfach hin. Der Jubel ihrer Fans, der durch das Dortmunder Stadion gellt und die Borussen verstummen lässt, raubt ihm beinahe den Verstand. Der Ball ist drin! Zack, einfach drin! Augustin umarmt ihn, reißt ihn jubelnd im Kreis, während er selbst das alles noch nicht fassen kann. Dann ist Julian da, fällt ihm in schierem Taumel um den Hals, drückt ihn an sich – und die Welt steht still. Er spürt Julians Wärme, den feinen Schweiß an seiner Wange, da, wo ihn Julians berührt, die blonden Haare kitzeln ihn an der Schläfe, die Arme liegen so eng um ihn, als wenn sie ihn nie wieder loslassen wollen würde, der Herzschlag pocht so heftig wie seiner und im gleichen Takt. Er presst Julian an sich, mehr aus Verzweiflung und Sehnsucht als aus Freude über sein Tor. Julian. Julian... Acun springt ihn von hinten an, zwingt ihn nahezu dazu, Julian loszulassen, was er widerwillig tut. Er blickt den Blonden an und glaubt in den grünen Augen wieder etwas zu sehen. Sehnsucht und Schmerz... Aber er kann sich auch täuschen. Vielleicht ist es nur Wunschdenken. Und auf einmal macht Julian kehrt, trabt zu seiner Position zurück – und für Raphael ist es wie eine Ohrfeige. Der FC spielt heute wie ausgewechselt. Die Luft im Stadion brennt. Der Pott kocht. Die Borussen wollen sich diese Schmach des frühen Tors nicht gefallen lassen und gehen mit aller Gewalt in die Zweikämpfe. Die Karos – die heute wieder kariert spielen können, da die Gastgeber in Schwarz-Gelb aufgelaufen sind – stehen ihnen aber in nichts nach, also hagelt es nur so gelbe Karten. Raphael fängt sich auch recht bald eine ein, als sein Tackling gegen Valdez einen Schritt zu spät kommt. Macht aber nichts, da er fast nie Karten sieht – die letzten Samstag war eine Ausnahme – und er entsprechend keine Belastung für ein Viertelfinale hätte. Und das Viertelfinale wollen beide Mannschaften, das merkt man. Es ist ein offener Schlagabtausch, das, was die Kommentatoren im Fernsehen immer ein richtig gutes Fußballspiel nennen. Sie rennen nur so über das Feld, mal auf das Karo-Tor, dann auf das Borussen-Tor. Die Chancen wechseln sich ab, halten sich die Waage – aber der FC hat einen großen Vorteil: das frühe Tor. Nach der Halbzeitpause hat sich an dem Stand nichts geändert und die Partie bekommt noch mehr Feuer. Erst fliegt Buckley für die Borussen vom Platz, dann der Greif von ihnen. Beide mit Gelb-roten Karten, was bei dem ganzen Spiel irgendwie absehbar gewesen war. Ein echtes Derby eben. Das geht nun einmal nicht ohne Platzverweise über die Bühne. In der 66. Minute fällt der Ausgleich. Frei trifft. In der 72. legt der FC wieder nach, diesmal versenkt Augustin den Ball unhaltbar im Tor. Und dann ist diese 80. Minute. Diese Minute, in der Raphael wirklich durchzudrehen droht. Er steht direkt daneben, als Wörns hart in den Zweikampf mit Julian geht und diesen brutal umhaut. Julians Aufschrei geht Raphael durch und durch. Er stockt mitten im Schritt, wirbelt herum. Eiskalt überläuft es ihn, als er sieht, wie sich der blonde Mann am Boden windet und sich die Wade hält. Blut sickert durch den weißen Strumpf und erinnert Raphael übel an seine eigene Verletzung aus dem Trainingslager. Auf einmal sieht er rot und will Wörns am liebsten eine scheuern. Er ist schon dabei loszustürmen, da schlingen sich starke Arme um ihn und halten ihn unerbittlich fest. Der Killer ist da und lässt ihn nicht auf Wörns losgehen. Er hält ihn zurück. Einfach so. „Lass den Scheiß, Raffe. Wir brauchen dich. Und du kannst ihm damit nicht helfen“, raunt er leise in sein Ohr, doch so wirklich dringen die Worte nicht zu ihm durch. Dariusz muss ihn beiseite zerren, damit der Teamarzt Julian behandeln kann. Nur am Rande bekommt er mit, dass Wörns ebenfalls Gelb-Rot sieht und runterfliegt. „Verdammt!“ Der Killer reißt ihn herum, redet auf ihn ein. „Hör zu, ich würd dem auch am liebsten eine knallen, aber reiß dich zusammen! Er ist runter und fertig! Beruhig dich!“ Raphael nickt langsam und atmet tief durch. Ihm ist noch immer eiskalt und diese brodelnde Wut ist da in seinem Bauch, die ihn beinahe dazu bringt, doch noch hinter Wörns herzustürmen und ihm die Faust ins Gesicht zu rammen. Er ist ja echt kein gewalttätiger Mensch, aber auch ihm können die Sicherungen durchbrennen. Dariusz wartet noch einen Augenblick und drückt seine Stirn gegen Raphaels. „Reiß dich zusammen. Bitte.“ Erneut nickt der Mittelfeldspieler, dann lässt der Killer ihn endgültig los. Julian bleibt draußen. Für ihn wird Alex eingewechselt, der sichtlich darauf brennt, hier im Derby mitzumischen. Der FC ist jetzt in Überzahl und nutzt die Gelegenheit, die Borussen zu überrennen. Ihr Sturmlauf kommt erneut überraschend, wie nach dem Anstoß. Sie kontern die Abwehr aus, die ohne ihren Kopf auf einmal reichlich desorientiert wirkt. Der Ball fliegt zu Augustin, der flankt in die Mitte, doch Daniel, der Amerikaner, erwischt die Kugel nicht richtig – Weidenfeller faustet ihn weg und auf einmal hat Raphael aus zwanzig Meter die Chance zum Nachschuss. Er denkt nicht darüber nach. Er zieht einfach nur ab und hämmert mit aller Gewalt den Ball Richtung Tor. Diesmal bricht der Jubel sofort aus ihm heraus, als das Leder drin ist. Er denkt nicht nach, als er über den Platz rennt, Augustin ihm auf die Schulter schlägt, und zur Bank stürzt. Der Trainer umarmt ihn, der ausgewechselte Acun, ihr Zweitkeeper Antonius, aber er will nur Julian drücken. Der ist auch humpelnd auf den Beinen und umarmt ihn. Und Raphael strahlt. Hier und jetzt ist die Welt perfekt. Sie haben dem BVB dem Todesstoß versetzt und er darf Julian im Arm halten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)