90 Minuten von abranka ================================================================================ Kapitel 16: XVI. Wenn man einfach mal einen Freund braucht ---------------------------------------------------------- „Was war das denn am Samstag für ein Gegurke?“ Paolo bringt es am Telefon schlichtweg auf den Punkt. „Streu noch Salz in die Wunde, Fischchen“, murrt Raphael und lehnt sich auf seinem Sofa zurück. Der Trainer hat ihnen so viele Extraeinheiten verpasst, dass ihnen Hören und Sehen vergangen ist. Und dabei spielen sie noch diese Woche im DFB-Pokal-Achtelfinale. Aber Knie hat knallhart gesagt, dass ihm der Pokal egal ist und es nur auf die Liga ankommt. Der Pokal ist Kür. Nichts anderes. Allein der Klassenerhalt ist wirklich wichtig. „Hey, Kopf hoch. Ihr macht die am Donnerstag noch nass.“ „Oh ja... Genau. Vor allem, nachdem wir jetzt erst einmal 0:3 in deren Stadion verloren haben. Fünf Tage später spielen wir dann total anders, klar.“ Raphael verdreht die Augen. Sie haben alle schon darüber gemeckert, wie beschissen das ist, nur ein paar Tage später noch mal gegen den gleichen Gegner zu spielen, aber Auslosung ist eben Auslosung. Und da kommen auch mal solche kuriosen Dinge zustande. So ist der Pokal nun einmal. „Du lässt dich ja total hängen.“ Raphael kann das Kopfschütteln des Italieners regelrecht hören. „Ach, du hast keine Ahnung. Das ist alles so beschissen verfahren.“ Der Mittelfeldspieler beugte sich vor und stützt die Stirn in seine freie Hand. Der Fußball, Chantal, Julian... Besonders Julian… „Dann muss ich wohl vorbeikommen und mir ein Bild davon machen.” Lachen klingt durch die Leitung zu ihm zurück. „Echt jetzt?“ Schlagartig springt er auf. „Geht das denn? Du... du musst doch trainieren, oder?“ „Bin suspendiert“, kommt die knappe Antwort. „WAS?“ „Hey, reg dich ab.“ Paolos Lachen klingt herüber. „War nur so eine dumme Sache... Na ja... Ich werde mir für die nächste Saison einen neuen Verein suchen müssen und komme wahrscheinlich nach Deutschland zurück. Köln hat Interesse angemeldet und das ist ja gar nicht so weit von Dortmund weg...“ Raphael weiß nicht, was er antworten soll. Natürlich ist es absoluter Mist, dass es für Paolo so schlecht läuft, aber andererseits freut er sich wie die Hölle, dass er herkommen kann. „Jetzt freu dich wenigstens, sonst komm ich doch nicht.“ „Natürlich freu ich mich!“, erwidert er sofort. „Aber... Es ist scheiße, dass es für dich nicht läuft.“ „Tja...“ Das Achselzucken ist fast hörbar. „Scheint, als wenn Italien doch nicht meine Welt ist. Blöd, aber wahr. Das kann man nicht ändern. Deutschland mag mich offenbar lieber, also gehe ich nach Deutschland. So einfach ist das.“ „Was denn, kein Nationalstolz?“ Raphael muss lachen. „Bei dem Rumgeschiebe hier mit den Punkten und dem Geiere um das ewige Geld? Lass mal stecken. Da bin ich lieber staatenlos als Italiener.“ Paolo macht eine kurze Pause. „Aber wenn du das meiner Mutter sagst, dann muss ich dich umbringen. Das weißt du!“ Raphaels Lachen wird nur lauter. Klar, Paolos Mutter ist Italienerin durch und durch, die würde verrückt werden und ihren erwachsenen Sohn windelweich prügeln, wenn sie wüsste, was er über sein Land sagt. „Ja, ja, lach du nur. Ist besser, als wenn du so depressiv klingst.“ Paolo macht eine kurze Pause und fährt dann fort: „Hör mal, ich werde Donnerstag ankommen und bei dem Spiel dabei sein. Danach können wir dann entweder zusammen feiern oder uns hemmungslos besaufen, weil alles scheiße gelaufen ist, okay?“ „Das klingt einfach nur super.“ Raphael strahlt vor sich hin und spürt richtig, wie die düsteren Gedanken und diese dauernde Verzweiflung von ihm abfallen. „Freut mich. Bis Donnerstag dann. Hey, und denk dran: Du bist Fußballer, also spiel auch so!“ Dann erklingt das Freizeichen und er hat aufgelegt. Raphael lächelt noch immer und legt das Telefon langsam weg. Auf einmal scheint die Sonne doch wieder zu scheinen, obwohl es draußen so trist und bewölkt ist. Gerade war er ja noch müde, aber jetzt... Er zieht sich seine Trainingsklamotten an, schnürt seine Turnschuhe und geht laufen. Einfach mal wieder so, ohne Druck und Trainingsstress, einfach nur um zu laufen. Er wohnt etwas außerhalb und entsprechend dauert es nicht lange, bis er ein kleines Wäldchen erreicht. Seine Schritte führen ihn federnd den Waldweg entlang. Es tut gut, einfach nur den eigenen Körper zu spüren. Wie die Muskeln für jeden Schritt arbeiten. Wie er die Füße aufsetzt, abrollt und hebt, wieder aufsetzt, abrollt und hebt. Wie er atmet, tief Zug um Zug, und sich sein Atem langsam etwas beschleunigt. Wie der leichte Wind in seine schwarzen Haare greift und sie ihm aus dem Gesicht weht. Wie sich diese leichte Kühle auf seinen Lippen anfühlt. Wie der Boden unter seinen Füßen vorbeizieht, wie er mehr und mehr an Tempo gewinnt und sich dabei einfach nur gut fühlt. Wie er irgendwie langsam wieder zu sich selbst findet. Seine Mitte wiederfindet und das Gefühl hat, nicht mehr neben sich zu stehen, sondern wieder ganz bewusst er selbst zu sein. Langsam beginnen die Gedanken zu rollen. Chantal... Er muss mit ihr reden. Ihr die Dinge erklären, ehe er ihr noch mehr weh tut, als es ohnehin der Fall ist. So kann das nicht weitergehen. Er muss ihr ja nicht unbedingt auf die Nase binden, dass er schwul ist und sie nur sein Alibi... Er hat ja schließlich keine feste Beziehung haben wollen – sie ist es doch, die einfach nicht wieder ging... Gut, er weiß, dass er sich jetzt etwas vormacht. Er hat auch Schuld an dem allen. Natürlich hat er die. Genauso wie bei der verfahrenen Situation mit Julian. Julian, der noch immer in seinem Herzen ist, darin brennt. Julian, der ihn noch einmal verrückt macht. Weil er ihn nicht mehr haben kann, ihm nicht mehr nahe sein darf und er sich das doch so sehr wünscht. Aber er hat wahrscheinlich zuviel falsch gemacht. Die falschen Entscheidungen zum genau falschen Zeitpunkt getroffen und ihnen beiden viel zu sehr weh getan. Auch wenn da diese kleine Augenblicke waren, in den er Hoffnung haben durfte. Doch jetzt? Nach dem, was Julian ihm in ihren letzten Wortwechseln alles an den Kopf geknallt hat, danach darf er wirklich nicht mehr hoffen. Und doch gibt es da einen kleinen Teil von ihm, der das immer noch tut. Und der nicht bereit ist, Julian in irgendeiner Art und Weise aufzugeben. Doch daran will er jetzt einfach nicht mehr denken. Er strafft den Rücken, hebt den Kopf und blickt den Weg entlang. Jetzt freut er sich einfach auf Paolos Besuch, auf Paolo! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)