90 Minuten von abranka ================================================================================ Kapitel 4: IV. Wenn das Training die Hölle sein kann ---------------------------------------------------- Sie haben danach nicht mehr viel gesprochen, aber das ist okay. Raphael hat nicht großartig irgendetwas erwartet. Irgendwelche Bemerkungen, nichts. Und er weiß, dass er den Killer nicht auf sein Stillschweigen verpflichten muss. Der sagt von alleine nichts über dieses Thema und das ist auch gut so. Besonders jetzt, wo sie auf den Trainingsplatz traben und sich warmlaufen dürfen. Mit Dariusz zusammen läuft Raphael vorne weg. Er kann die Blicke der anderen deutlich bohrend in seinem Rücken spüren, meint Julians darunter viel brennender als alle anderen ausmachen zu können. Sie haben sich nie ausgesprochen. Nie. Julian ist nicht ans Telefon gegangen, wenn er angerufen hat, hat auf keine SMS, keine E-Mail reagiert, auf keinen Brief. Und er hat aufgegeben. Zu schnell. Viel zu schnell. Denn so, wie sein Herz bei jedem kurzen Blick auf den blonden Mittelfeldspieler reagiert, ist da noch lange nicht alles klar. Raphael senkt den Blick, achtet auf seine Füße, beobachtet, wie sie dahinziehen, den Boden der Laufbahn regelrecht fressen. Dehnen, Strecken, Krafttraining. Dann endlich geht es auf den Platz. Schneller als Raphael denken kann, hat Knie einen Haufen gelbe Leibchen verteilt – und dann spielen sie vier gegen vier. Und zwar nur die Mittelfeldspieler. Der Co-Trainer Rudolf hat sich die anderen geschnappt und kommandiert sie durch die Gegend. Der Torwarttrainer Janusch kümmert sich um die beiden Keeper. „Okay, Jungs, ich will ein paar schöne Bälle von euch sehen.“ Knie verlässt damit auch schon das kleine Fußballeck. Kurz checkt Raphael die Lage ab. Alejandro steht ihm gegenüber, genauso Gabriel, der erste Brasilianer beim FC, der die Nummer 26 trägt. Außerdem noch Christian und – Julian. Eine klare Aufteilung: die bisherigen Stammspieler gegen die, die es werden wollen. Der Ball wird von Alejandro angetippt und fliegt hinüber zu Gabriel. Der dreht sich locker um die eigene Achse und geht dann nach vorne. Raphael greift an und kann dann nur die Augen aufreißen. Vor ihm tanzen der Ball und die Füße seines Gegenspieler von links nach rechts und wieder zurück, spielen ihn regelrecht schwindelig. Dann verliert er verwirrt das Gleichgewicht und landet wie ein kleiner Junge im Gras. Und auf einmal kapiert er, dass das hier alles gar nicht so einfach werden wird. Hier wird er nicht offenen Armen auf das Spielfeld und seine Lieblingsposition durchgereicht. Nein, er muss es sich verdienen. So, wie woanders auch – und hier vielleicht noch einmal ganz besonders. Langsam steht er auf und nimmt den nächsten Ball an, den ihm Stefan zuspielt. Nein, er muss die Mannschaft von sich überzeugen. Das Problem liegt nicht unbedingt in den Leistungen der einzelnen Spieler. Er weiß, was sie alles können. Aber es gelingt ihnen nicht immer, das auf dem Platz als Team zu zeigen. Sie wirken immer verunsichert und lassen sich beeindrucken. Dabei geht es eigentlich auch anders. Im DFB-Pokal, da haben sie diese Saison ihre Fähigkeiten aufblitzen lassen und als Galashow vorgeführt. Sie stehen immerhin im Achtelfinale, auch wenn sie es auf dem Weg dorthin nur mit Gegnern wie Unterhaching und St. Pauli zu tun gehabt hatten. Dennoch... Auch das ist ein großer Erfolg und etwas, woraus man Motivation für die Ligaspiele ziehen kann. Jedenfalls hofft das Raphael. Aber er denkt zuviel. Und das rächt sich, indem Alejandro ihm den Ball wie einem Anfänger abnimmt und er erneut im Gras landet. „Los, hoch!“, ruft Kopp fordernd. „Nicht ausruhen, Raffe!“ Mit einem leisen Knurren ist dieser wieder auf den Beinen, kriegt den Ball, nimmt ihn elegant an und jagt ihn sofort weiter zu dem Neuen, Alex, der diesen perfekt in dem kleinen Tor versenkt. „Mehr davon!“, fordert Knie und macht damit sehr deutlich, dass er die acht Männer sehr genau beobachtet. Ihn hat Raphael ja beinahe schon vergessen. Er weiß, dass er getestet wird. Er spürt die Beobachtung bei jedem verdammten Schritt, bei jeder Ballannahme, bei jedem Schuss, besonders bei jedem auch noch so winzigen Fehler. Er spürt Alejandros abschätzende Augen, Gabriels prüfende Musterung, Christians abmessenden Blick – und Julians stille Beobachtung. Er hängt sich rein, gibt alles, strengt sich an. Und er weiß, dass er recht gut ist, auch wenn dieses Gefühl von Dauerbeobachtung der Hölle gleichkommt und ihn verunsichert. Es fällt ihm schwer, diese Blicke auszublenden, diese Tatsache beiseite zu schieben – und doch fühlt es sich jedes Mal einfach nur richtig beschissen an, wenn er durchs Gras kugelt, von Gabriel ausgespielt wird oder im Zweikampf gegen Julian oder Christian unterliegt. Aber diesmal nicht. Er ist voll bei der Sache und lässt sich diesmal von Julian nicht austricksen. Eine gehörige Portion Frust ist längst dabei. Er will nicht mehr! Er will gewinnen! Gewinnen und sie alle überzeugen! Sie schenken sich nichts, rangeln, zerren an dem Trikot des anderen und für den Augenblick ist es ihm einfach scheißegal, dass er gerade gegen Julian spielt, dass es Julian ist, dessen heißen Atem er spürt, dessen warme Haut seine berührt. Es ist egal. Es geht nur um den verdammten Ball! Plötzlich kommen sich ihre Füße in die Quere, sie straucheln beide, der Ball fliegt zur Seite und es gibt eine Bruchlandung als menschliches Knäuel. Raphael bleibt einen Augenblick lang benommen liegen und keucht leise. Unter sich spürt er dann auf einmal eine Bewegung, die ihn beinahe auffahren lässt. „Wie wär’s mal mit aufstehen?“, fährt ihn Julian an. Die grünen Augen bohren sich in seine blauen, stechend und funkelnd. Aber irgendetwas ist da noch drin in diesem Blick. Etwas, das ihn trotz dieser deutlichen Aufforderung verharren lässt. Vielleicht... „Verdammt, Grabstagen! Beweg deinen Hintern!“ Julian stößt ihn ungeduldig vor die Brust, versucht seine Unsicherheit zu kaschieren, doch Raphael ist genau dieses Flackern in dem glänzenden Grün nicht entgangen. „Keine Panik, ich tu dir schon nichts“, erwidert er mit einem anzüglichen Grinsen. Er weiß nicht genau, welcher Teufel ihn bei dieser Bemerkung reitet, aber irgendwie tut es gut, Julian auch einmal ein wenig verunsichert zu sehen – ohne diese Selbstgefälligkeit und diese verletzenden Bemerkungen. Damit steht er auf, nicht ohne sich überaus deutlich ihrer körperlichen Nähe bewusst zu sein. Sein ganzer Körper scheint zu prickeln, regelrecht zu brennen, doch er verrät es mit keinem einzigen Wimpernzucken. Er reicht Julian die Hand, doch dieser ignoriert sie und kommt von allein auf die Beine. Der blonde Mittelfeldspieler sagt nichts weiter, doch sein Blick spricht Bände. Keine fünf Minuten später holt er Raphael grob von den Beinen und nimmt bewusst in Kauf, dass dieser fünf Meter weiter durch das Gras rollt. Er hat den Ball gespielt, also war es ein faires Tackling. Dennoch weiß Raphael ganz genau, dass das totale Absicht war. Willkommen in der Hölle. Der Gedanke schießt ironisch durch seinen Kopf, auch wenn er weiß, dass er etwas übertreibt. Aber die Konkurrenz ist erdrückend, die Mannschaft nimmt ihn noch lange nicht an – auch wenn seine drei Mitspieler versucht haben, ihn einzubeziehen, passt da noch lange nicht alles zusammen – und über seinen Ex-Freund will er lieber gar nicht erst nachdenken, ansonsten bekommt er noch einen Schreikrampf. Gut, Hölle trifft es vielleicht doch. Wenigstens einer der äußeren Kreise, wo es noch nicht ganz so schlimm ist. Denn schlimmer, das kann es ja bekanntlich immer noch werden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)