90 Minuten von abranka ================================================================================ Kapitel 1: I. Wenn eine hellrote Tür einen Schritt herausfordert ---------------------------------------------------------------- Er hat den Motor längst abgestellt und den Schlüssel abgezogen. Dennoch kann er sich nicht überwinden, auszusteigen. Sein Blick ruht auf dem Gebäude vor ihm. Auf der hellrot gestrichenen Eingangstür, deren Farbe mal wieder abblättert. Irgendwie kann man da immer machen, was man will. Sie ist so schmerzlich vertraut. Der FC. Das Trainingsgelände des FC Dortmund. Das Clubhaus. Raphael presst die Lippen zusammen und kuschelt sich tiefer in seinen schwarzen Mantel. Dort wird Trainer Albert Knieschewski gleich der Mannschaft verkünden, dass er wieder da ist. Von Werder Bremen für die Rückrunde ausgeliehen und für die Saison danach gekauft. Es ist noch Dezember. Ein außerordentliches Treffen während der Winterpause ist einberufen worden, um den Spielern diese Entscheidung zu verkünden. Die ganze Sache ist so geheim abgelaufen, wie es nur ging. Raphael wollte nicht, dass irgendetwas an die große Glocke gehängt wird. Das sicher nicht. Nicht unter diesen Umständen. Auch, wenn sich die ganze Fußballwelt und insbesondere die Presse das Maul zerreißen werden, sobald diese Sache bekannt wird. Im Trainingslager im Januar soll er natürlich dabei sein und er will nicht, dass man die Spieler dann doch so sehr überfährt. Es sind schließlich Menschen darunter, die er als Freunde bezeichnen würde. Den Killer zum Beispiel. Oder... Christian, die eher unauffällige Nummer 13, der aber ein wirklich feiner Kerl ist. Aber auch... Julian. Selbst wenn seit seinem Wechsel zu Werder Bremen im Sommer des letzten Jahres alles anders zwischen ihnen geworden ist. Die Trennung war hart, weil Julian nur eins gesagt hatte: „Damit hast du dich gegen uns entschieden. Gegen mich.“ Und damit war es vorbei gewesen. Einfach so. Und die anderen Spieler... Sie hatten sich verraten gefühlt. Weil er ihr Star gewesen war. Weil er derjenige gewesen war, der sie in die Erste Bundesliga gebracht hatte. Weil er es gewesen war, der dem FC den größten Erfolg in der Vereinsgeschichte ermöglicht hatte – den Saisonabschluss auf einem zehnten Platz der ersten Liga. Dann war er gegangen und nichts hatte mehr funktioniert. Letzte Saison hatten sie mit Ach und Krach den Klassenerhalt geschafft – weil sie ein einziges Tor mehr geschossen und weniger kassiert hatten als der SC Freiburg. Und diese Saison hielten sie schon zu lange die berühmte Rote Laterne in den Händen. Noch den Klassenerhalt zu schaffen, ist schwer, aber machbar. Und deswegen ist er hier. Genau deswegen. In Bremen ist alles anders gewesen als in Dortmund. Die Mannschaft ist nett, keine Frage. Tolle Kollegen, tolles Team. Aber... es ist nicht der Ruhrpott, nicht Dortmund. Es ist nicht das Gleiche, nicht das, was er beim Fußball haben will, was er braucht. Klar, es ist großartig gewesen, im UEFA-Cup gegen große Teams zu spielen wie die Glasgow Rangers oder den FC Liverpool. Es ist großartig gewesen. Genauso, wie es toll gewesen ist, die ersten zwei Spiele im nationalen Trikot zu machen. Aber... er hat abgebaut. Weil ihm das Kameradschaftliche fehlt. Weil ihm das Herz fehlt. Weil... ihm der verdammte FC fehlt. Er hat kein einziges Spiel gegen seinen ehemaligen Club bestritten. Keins. Zweimal ist er wirklich krank beziehungsweise verletzt gewesen, einmal hat er bewusst eine grottige Leistung gebracht, um gerade einmal auf der Bank zu sitzen – und gar nicht Gefahr zu laufen, eingewechselt zu werden. Er brachte es nicht übers Herz. Er konnte einfach nicht gegen diese Menschen spielen. Dafür ist er nicht Profi genug. Überhaupt ist er offenbar nicht Profi genug für dieses verdammte Geschäft. Kurz nach dem Saisonstart letztes Jahr, als er gesehen hat, wie es mit dem FC bergab ging, hat es „Klick“ gemacht. Am nächsten Samstag – Werder hat am Freitag gespielt – hat er sich ins Auto gesetzt und ist von Bremen nach München gefahren, wo der FC gegen 1860 spielte. Hat sich in einem Trikot vom Killer, mit Fanschal und Kappe unter das Publikum gesetzt und seinem ehemaligen Club zugesehen – und niemand hatte ihn erkannt. Wenn er es zeitlich hat einrichten können, ist er zu jedem verdammten Spiel gefahren. Zu jedem. Er hat sich sogar die DFB-Pokal-Niederlage gegen diesen kleinen sächsischen Club in der Provinz angetan. Sein Herz schlägt Weiß-Rot. Tat es die ganze Zeit. Und jetzt sitzt er hier. Er weiß, dass das letzte, was gleich geschehen wird, ein Empfang mit offenen Armen ist. Natürlich werden sie skeptisch sein. Ihn nicht verstehen können. Und gleichzeitig das Gefühl haben, dass er nur zurückkehrt, weil er es eben nicht geschafft hat. Wenn man einen nationalen Verlierer der letzten Saison sucht, den großen Absturz eines hoffnungsvollen Talents, dann fällt sein Name. Und mittlerweile trifft es ihn sogar nicht mehr. Er weiß, dass er es nicht gepackt hat. Er weiß es. Aber er weiß, dass er es beim FC schaffen kann. Dass er hierhin gehört. Hierhin. Dass das hier sein zu Hause ist. Der Pott. Dortmund. Das Trikot in Rot-Weiß. Der gottverdammte FC. Und irgendwie... spielt vielleicht auch Julian eine Rolle. Aber so ganz sicher ist er sich da nicht. Er seufzt tief und öffnet die Wagentür. Langsam steigt er aus und streckt sich, blickt über das Gelände, sieht auf den Trainingsplatz, der direkt neben dem Parkplatz liegt, mittlerweile von einem höheren Zaun umgeben als früher. Zu Hause... Ja, so fühlt es sich doch an. Aber niemand hat gesagt, dass so eine Rückkehr jemals einfach ist. Und so sind seine Schritte nicht so federnd und leicht, wie sie es vielleicht sein könnten, als er auf die hellrote Tür zugeht. 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