Promise von Ange_de_la_Mort (Xigbar/Demyx) ================================================================================ A Fateful Meeting ----------------- Chapter 1/12 Wer auch immer behauptete, dass Arbeit und Vergnügen sich nicht verbinden ließen, hatte Xigbar noch nicht kennen gelernt. Ob während des langweiligsten Meetings oder auf dem blutigsten Schlachtfeld, Xigbar fand immer etwas, um sich zu amüsieren – selbst wenn es sich nur um Trivialitäten wie die Anzahl seiner gefallenen Widersacher oder die Vermutung, wie oft Xemnas das Wort ‚Dunkelheit’ in einem seiner Monologe unterbringen konnte, handelte. Amüsement, das ihm gleichzeitig Geld und Erholung einbrachte, war ihm jedoch eindeutig das liebste. So war es für seine Kollegen wenig verwunderlich, dass er sich freiwillig meldete, ausgerechnet diese Welt zu zerstören. Schließlich lebten hier Piraten. Und Piraten – das wusste jedes Kind – waren im Besitz von Reichtümern und Schätzen. Zugegeben, sobald sie Xigbar begegneten, waren sie es nicht mehr lange. „Schon wieder vier Asse! Muss wohl mein Glückstag sein“, eröffnete der Schütze breit grinsend, als er seine Karten auf den Tisch legte und einen weiteren Stapel Goldmünzen in den Taschen seines Mantels verschwinden ließ. Der Schlüssel zu erfolgreichem Glücksspiel lag in zwei Dingen: einer gehörigen Portion Glück und dem Talent zu bluffen. Xigbar besaß und benötigte keines von beiden, stattdessen setzte er einfach seine vorhandenen Geschicke zu seinem Vorteil ein. Ob er sich nun schneller bewegte als es dem menschlichen Auge zu folgen möglich war, um seinen Mitspielern in die Karten zu schauen und diese oder jene zu seinem Nutzen auszutauschen, ob er der Schwerkraft einen Streich spielte, um Würfel so landen zu lassen, wie er es gerade brauchte, oder um die kleine, weiße Roulettekugel davon zu ‚überzeugen’, im letzten Moment doch noch einer anderen Farbe den Vorzug zu geben – Xigbar war unschlagbar. Dementsprechend konnte man es wohl kaum als Überraschung bezeichnen, dass er innerhalb dreier Tage von wütenden Piraten aus vier Tavernen geworfen wurde. Natürlich geschah das nicht ohne die obligatorischen Beschimpfungen und Drohungen. Um ehrlich zu sein, fand Xigbar es schlichtweg faszinierend, welch Unaussprechlichkeiten dem primitiven Geiste so alles einfallen konnten, und er nahm sich vor, Vexen zu fragen, ob auch nur ein Bruchteil der Verwünschungen überhaupt anatomisch ausführbar waren. Besonders die Sache mit dem Paddel klang vielversprechend … Nichtsdestotrotz war es wohl an der Zeit, zur nächsten Stadt weiter zu ziehen; und nach einer neuen Übernachtungsmöglichkeit musste er sich auch umsehen, denn Xigbar war davon überzeugt, dass er, sobald er in seine jetzige Unterkunft zurückkehrte, genau wie in der letzten Stadt von einem bis an die Zähne bewaffneten Mob erwartet werden würde. Natürlich gab es immer noch die Möglichkeit, bis zum nächsten Morgen zur World That Never Was zurückzukehren, doch in der Organisation sah man Rückkehr von einer Mission, selbst, wenn es sich um eine temporäre handelte, als Versagen an, und das war auch die Aussicht auf ein Bett, das er sich nicht mit Ungeziefer teilen musste, bei Weitem nicht wert. Die Schultern zuckend beschwor Xigbar ein Schattenportal und betrat durch den violetten Nebel den Raum, den sie ‚Betwixt and Between’ nannten, den Raum zwischen den Welten. Von hier aus konnten sie von Ort zu Ort und von Welt zu Welt reisen, ohne ein interstellares Transportmittel, im Volksgebrauch auch Gumi-Jet genannt, verwenden zu müssen – für dieses besaß Xigbar allerdings wie alle anderen Mitglieder der Organisation eine Fernbedienung, die er für Notfälle bei sich trug. Damit versicherten sie sich, dass sie auch dann noch fliehen konnten, wenn sie zu schwer verletzt waren, um die nötige Kraft und Konzentration für ein rettendes Portal aufzubringen. Auf diese Art schickten sie die Herzlosen und Nobodies dorthin, wo ihre Dienste benötigt wurden. Auch in diesem Moment tummelten sich die verschiedensten Kreaturen an diesem Ort, kommunizierten durch Zirpen und Zischen, Knurren und Laute, die außerhalb der menschlichen Hörweite lagen. Wenn man sich diesem Potpourri der Geräusche, der Disharmonie der Töne zu lange aussetzte, wurde man verrückt, dessen war sich Xigbar gewiss. Schnell verdrängte er diesen unschönen Gedanken und schritt durch das Portal, das sich vor ihm auftat. Ein kühler Windhauch begrüßte ihn auf der anderen Seite, und in der sternklaren Nacht zeigte sich ihm eine Stadt wie jede andere auf dieser Welt, und doch gab es einen grundlegenden Unterschied: Die Schiffe im Hafen gehörten nicht alle nur Zivilisten. Marineschiffe lagen vor Anker, schwer und träge im Vergleich zu den wendigen Kähnen der Piraten. Mit einem schmalen Lächeln auf den Lippen verließ Xigbar die Pier und begab sich in Richtung der Stadt. Dieser Ort wurde überwacht. Hier würde er keine Probleme bekommen, niemand außer ihm würde es wagen, sich gegen das Gesetz aufzulehnen. Wie er es hasste, sich zu irren! Die Musik hatte ihn geradewegs in die nächstbeste Taverne geführt, eine Spelunke, deren Name es nicht wert war, im Gedächtnis behalten zu werden. Hier blätterte die Farbe von den Wänden, in dem Holz der Tische hatten Termiten allem Anschein nach gleich mehrere Königreiche gegründet, die Gläser sahen aus, als würden sie ausschließlich mit Schlamm gespült, und der Rum schmeckte wie Etwas, das vor langer Zeit verendet war. Xigbar interessierte das wenig. Er hatte vom Wirt – einem kleinen Kerl mit Augenklappe, verfilzten Haaren und verrotteten Zähnen – den Namen eines Gasthauses erfahren, in dem er diese Nacht absteigen konnte. Wahrscheinlich war es in keinem besseren Zustand als dieses Loch, aber mit der Zeit gewöhnte man sich an alles. Wie so häufig wurde es gerade in dem Moment spannend, in dem man es am wenigsten erwartete. Gerade als Xigbar sein Glas abstellte und sich zum Gehen wandte, sah er aus dem Augenwinkel, wie sich jemand an den Taschen eines Betrunkenen zu schaffen machte. Dieser Jemand entpuppte sich bei genauerer Betrachtung als Junge, kaum älter als siebzehn, mit dunkelblonden Haaren, der ungefähr Xigbars Größe zu haben schien. In dem Augenblick, in dem der Junge einen klimpernden Beutel vom Gürtel seines Opfers löste, bemerkte er den Blick des Schützen und erwiderte ihn aus aufgeweckten dunkelgrünen Augen. Nach einem kurzen, verschmitzten Grinsen legte er den Zeigefinger an seine Lippen und zwinkerte verschwörerisch. Xigbar nickte nur grinsend. Da jeder Pirat seinesgleichen kennen sollte, geschah es dem Betrunkenen nur Recht, wenn er dumm genug war, sich ausrauben zu lassen. Der Knabe stakste vorsichtig um den schlafenden Trunkenbold und die anderen Tische herum und kam zu Xigbar an die Theke. „Danke“, meinte er nur und deutete eine kleine Verbeugung an. „Dafür, dass ich mich aus Angelegenheiten heraushalte, die mich nichts angehen, oder dafür, dass ich mich nicht mit dem Schicksal anderer Leute befasse?“, fragte der Schütze mit ironisch hochgezogenen Augenbrauen. „Für beides, ja. Und natürlich noch dafür, dass Ihr für Euer Schweigen keine Beteiligung an meinem Gewinn verlangt.“ Das Lächeln verschwand von den Lippen des Jungen und sein Ton wurde kalt, als er fortfuhr: „ Nicht, dass ich geteilt hätte, aber Ihr erspart mir immerhin die Mühe, Euch niederzuschlagen oder zu töten.“ Beide beäugten sich einen kurzen Moment und dann brach Xigbar in Gelächter aus, in das der Junge freudig einstimmte. Sein Gegenüber hatte Schneid, das gefiel dem Schützen, denn damit unterschied sich der Bursche von dem Großteil der Menschen dieser Welt. Die meisten, die er hier getroffen hatte, waren entweder feige oder hinterhältig; sie warteten nur darauf, dass man ihnen den Rücken zukehrte, damit sie ein Messer hineinstoßen konnten, selbst wenn sie keinen wirklichen Grund dazu hatten. Bevor er dem Jungen seine Gedanken mitteilen konnte, fiel ihm auf, wie der Trunkenbold aufwachte, verschlafen blinzelnd seinen Gürtel betastete und bemerkte, dass er ausgeraubt worden war. Alles geschah binnen weniger Sekunden, sodass dem überraschten Scharfschützen keine Gelegenheit blieb, eine Warnung auszusprechen, ehe auch schon auf sie – beziehungsweise auf den Blonden, der den Beutel noch immer in der Hand hielt – gezeigt und ‚Haltet die Diebe!’ geschrieen wurde. Sein Gegenüber blickte kurz entschlossen drein und grinste dann breit. „Das könnte spaßig werden … “ Oh ja, der Bursche war Xigbar definitiv sympathisch! Da kaum jemand der Aufforderung des Piraten gefolgt waren – war scheinbar nicht sehr beliebt, der Trinker –, sahen sich die beiden höchstens mit einem halben Dutzend Gegner konfrontiert. Seine Schnelligkeit verschaffte Xigbar wie immer einen entscheidenden Vorteil, denn so war es ihm einfach, den Angriffen auszuweichen, selbst zuzuschlagen und gleichzeitig noch seinen ‚Gefährten’ nicht aus den Augen zu lassen. Seine Faust traf die Nase eines Riesen, die mit dem unschönen Geräusch aufeinander treffender Knochen brach und den Piraten mit einem Schmerzensschrei zu Boden schickte. Auch der Junge hielt sich tapfer. Mit geschmeidigen und grazilen, beinahe tänzerischen Bewegungen parierte und konterte er; und alles mit funkelnden Augen und einem unverwüstlichen Lächeln auf den Lippen. Er schien ebenfalls zu wissen, wie man sich amüsierte. Es dauerte höchstens ein paar Minuten, nicht länger, dann sahen die sechs Piraten zu, dass sie sich aus dem Staub machten. Der Trunkenbold fluchte und schwor bittere Rache, bevor er ebenfalls verschwand. Der Rest der Gäste spendete Beifall, und auch der Wirt applaudierte. „Ich kann euch nicht zufällig anheuern? Hier gibt es immer wieder besoffene Idioten, die keine Ahnung haben, wie man sich benimmt. Typen wie euch könnt’ ich gut gebrauchen“, fügte er mit einem Grinsen hinzu, das freien Blick auf seine Zahnstümpfe gewährte und Xigbar eine leichte Übelkeit verursachte. „So sehr mich das auch reizt, ich muss leider ablehnen“, log er halbwegs höflich und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich werde sowieso nur ein paar Tage in der Stadt bleiben.“ Der Junge nickte bestätigend. „Dito, ich muss auch bald weiter.“ „Wenn das alles war“, beeilte sich Xigbar zu sagen, ehe der Wirt versuchen konnte, ihnen weitere Angebote zu machen, „dann auf Wiedersehen, die Herren.“ Er nickte den beiden knapp zu und trat aus der Taverne in die kühle Nacht. Eine Hand legte sich auf seinen Arm. „Wo wollt Ihr denn so schnell hin?“ Xigbar seufzte. „Was willst du, Kleiner?“ Der Bursche zog seine Hand so schnell zurück, als hätte er sich verbrannt. „Hey, kein Grund, gleich gemein zu werden!“ Er legte den Kopf schief und setzte ein gewinnendes Lächeln auf. „Ich muss mich jetzt schon zum zweiten Mal bedanken.“ Perplex sah Xigbar sein Gegenüber an und lachte dann. „Mut und Manieren. Ich mag dich, Kleiner.“ Er klopfte dem Jungen auf die Schulter. „Mach dir nichts draus, ja?“ Nach einer kurzen wegwerfenden Geste fuhr er fort: „Und glaub ja nicht, dass ich ein guter Mensch bin, der unbedingt helfen wollte. Es ging schließlich nicht nur um deine Haut.“ „So leicht kommt Ihr mir nicht davon! Aber wie kann ich Euch meine Dankbarkeit zeigen?“ Grübelnd legte der Junge einen Finger an sein Kinn. „Ah, ich hab’s!“ Er nickte, mehr zu sich selbst, scheinbar wirklich stolz auf seinen Einfall. „Dass Ihr nicht von hier seid, sieht ein Blinder.“ Mit diesen Worten zupfte er am schwarzen Leder von Xigbars Mantel. „Deshalb werd’ ich Euch morgen die Stadt zeigen.“ „Aber …“ Ein Zeigefinger wedelte vor Xigbars Gesicht. „Kein ‚aber’. Ihr sagtet, Ihr würdet ein paar Tage bleiben, also kann ich Euch die Orte zeigen, an denen Ihr Euch mit Sicherheit nicht aufhalten wollt, wenn Ihr versteht, was ich meine.“ Das konnte sich sogar als ganz hilfreich erweisen, obwohl Xigbar bezweifelte, dass ein paar dahergelaufene Piraten ihn überwältigen könnten. Jedoch versuchte er, so wenig Aufmerksamkeit wie möglich auf sich zu lenken – die kurze Schlägerei vor wenigen Minuten bewies zwar, dass es beim Ausführen dieses Vorsatzes noch diverse Schwierigkeiten gab, aber es war ja der Wille, der zählte –, denn die Chance bestand, dass diese Nervensäge mit dem Schlüsselschwert und seine beiden Gefährten zufälligerweise auch auf dieser Welt gelandet waren. Und mit denen wollte er sich wirklich nicht schon wieder abgegeben. Er hielt dem Anderen die Hand hin. „Einverstanden, Kurzer. Darf ich auch noch den Namen meines ach so wohlerzogenen Führers erfahren?“ Enthusiastisch wurde Xigbars Hand ergriffen und geschüttelt. „Ich bin Myde. Freut mich, Eure Bekanntschaft zu machen, Sir. Und Ihr seid …?“ „Braig.“ Erstaunlich, wie leicht ihm der Name, mit dem er sich seit über fünf Jahren nicht mehr identifizierte, immer wieder über die Lippen kam, ohne sich in seinen eigenen Ohren falsch anzuhören. Myde nickte. „Und wo kann ich Euch morgen Früh finden?“ Als Xigbar ihm den Namen des Gasthauses nannte, schien der Blonde hocherfreut. „’Der schlafende Seestern?’ Da kann ich Euch den Weg zeigen, das ist nicht weit von hier. Außerdem kenn’ ich die Besitzerin. Sicher gibt sie Euch das beste Zimmer, wenn sie mich in Eurer Begleitung sieht.“ ~~~ Xigbar bezweifelte ehrlich, dass die Gaststube so etwas wie ein ‚bestes Zimmer’ hatte, aber aus Höflichkeit verkniff er sich diesen Kommentar, als Myde und er vor dem kleinen Gebäude ankamen. Allerdings befand es sich in deutlich besserem Zustand als sie Taverne, und das war immerhin ein Fortschritt. Innen wurden sie sofort von einer jungen Frau, wahrscheinlich der Besitzerin, bemerkt. Sie trug ein schlichtes hellbraunes Kleid ohne Ärmel und ihr Haar war zu einem Zopf zusammengebunden. „Na, Myde, wen schleppst du denn da an?“ Ihr Kommentar war kaum übertrieben, Myde hatte tatsächlich einfach nach Xigbars Hand gegriffen und ihn hinter sich hergezogen. Jetzt grinste der Blonde spielerisch von dem Schützen zu seiner Bekannten. „Christine, sprich nicht so über Kunden. Das ist ein Freund von mir und er hätte gerne ein sauberes Zimmer für die Nacht.“ Als Christine ihn kritisch musterte, fragte Xigbar sich unwillkürlich, ob ihn die Bekanntschaft mit Myde gerade ein paar Schritte auf der Sympathieskala nach oben oder unten befördert hatte. Zugegeben, seine ‚fremdländische Kleidung’ machte wahrscheinlich keinen vertrauenerweckenden Anschein, und auch die ausgefranste Narbe, die sich von seiner linken Wange bis kurz unter sein linkes Auge zog, trug wohl auch nicht dazu bei, diesen Eindruck zu mindern. Schließlich nickte die Frau nachdenklich. „Freund oder nicht, ohne Geld kann er von mir aus auf der Straße schlafen. Zwanzig Goldstücke die Nacht, zahlbar im Voraus.“ „Und wie viel mehr, damit ich sichergehen kann, den Morgen in einem Stück zu erleben?“ erkundigte sich Xigbar sarkastisch, noch während er die Summe abzählte und auf die Theke legte. Das entlockte Christine ein Schmunzeln. „Darüber unterhalten wir uns zum angebrachten Zeitpunkt.“ „Also wenn ich aufwache und mir ein Messer an der Kehle sitzt?“ Auf eine Wiederholung dieser Erfahrung würde Xigbar nämlich gerne verzichten. Freilich hatte der letzte Wirt, dem diese glorreiche Idee in den Kopf gekommen war, nur noch ein paar Sekunden gelebt, aber kurz nach dem Aufstehen war Blut wirklich kein sonderlich schöner Anblick. Sie lachte und zwinkerte Myde zu. „Dein Freund ist in Ordnung.“ Dann wendete sie sich wieder dem Schützen zu und gab ihm einen Schlüssel. „Keine Sorge, Sir, hier seid Ihr in guten Händen.“ Er bedankte sich, verabschiedete sich von Myde und begab sich auf sein Zimmer, das überraschenderweise doch besser in Schuss war, als er befürchtet hatte. Immerhin war die Tür abschließbar, das Fenster ließ sich öffnen und die Matratze machte einen weichen Eindruck. Xigbar ließ sich auf selbiger nieder und faltete die Arme hinter dem Kopf. Er hing seinen Gedanken nach. Es war lange her, seit er das letzte Mal einem Jugendlichen begegnet war. Damals waren er und Ansems andere Lehrlinge alle noch Menschen gewesen, damals war Braig als ältester der sechs derjenige, der sich um die anderen kümmerte, sich ihre Probleme anhörte und aufpasste, dass sie bei ihren Projekten für ausreichende Sicherheitsmaßnahmen sorgten. Dieses kurze Treffen mit Myde hatte dafür gesorgt, dass alte Erinnerungen wiederkehrten, die Xigbar schon lange vergessen glaubte. Und … irgendwie war er sich nicht sicher, ob ihm das unangenehm war … ___ tbc ___ Change Of Plans --------------- Chapter 2/? Ein leises Knarren. Schritte. Xigbar war sofort hellwach und griff nach der Kerze auf dem Nachttisch, die er mit einem stummen Zauberspruch entzündete. Der schmale Lichtkegel entblößte eine weiße, menschenähnliche Kreatur, die sich unablässig auf der Stelle hin und her wiegte, obgleich ihre Gliedmaßen zu schmal und gebrechlich wirkten, um das Gewicht von Torso und Kopf zu tragen. Ein Dusk, geschickt als Bote – wie es in der Organisation üblich war –, unschwer zu erkennen an dem Brief mit dem Zeichen der Nobodies, welchen er in seinen Klauen trug. Es war nicht nötig, hineinzusehen. Xigbar wusste auch so, dass Xemnas der Verfasser war. Wahrscheinlich wartete der Superior ungeduldig auf Erfolgsmeldungen. „Gib schon her!“ Zischend entriss der Schütze dem Nobody den Brief. Durch den geschlossenen Reißverschluss schienen die Lippen des Dusks zu einem immerwährenden höhnischen – und durchaus enervierenden – Grinsen verzogen zu sein. Mit einer knappen Handbewegung entließ Xigbar den Boten. Der Tag fing schon wahnsinnig gut an … ~*~ „Du weißt, dass du das nicht tun musst.“ Diese Worte waren an Myde gerichtet, der auf seinem ‚Gefallen’ beharrt und Xigbar vor dem Gasthaus erwartet hatte. Der Schütze war bei Weitem nicht mehr darauf erpicht, Port Royal – der Ort trug diesen Namen übrigens, weil er als Hauptsitz eines Landes namens ‚Britannien’ diente, seit jenes ‚Britannien’ die Stadt im Laufe eines Feldzuges erobert hatte – kennen zu lernen. Schließlich wusste er inzwischen, dass die Zeit drängte, und er wollte sich nur ungern mit Xemnas anlegen. Die Gefahr, in einen Dusk verwandelt zu werden, so wie es als Strafe für Versager und Verräter üblich war, schien einfach zu groß. Und doch war Myde jemand, dem man einfach nichts abschlagen konnte… „Ich hab doch mein Wort gegeben. Außerdem … “ Das Lächeln auf den Lippen des Jungen wich einem nachdenklichen Gesichtsausdruck. „Außerdem kann ich mich so noch einmal gebührend von meiner Heimat verabschieden.“ Xigbar legte den Kopf schief. „Und wohin willst du gehen?“ „Ich weiß nicht“, gab der Blonde ehrlich zu, „wohin auch immer mich das Schiff, auf dem ich angeheuert habe, bringt.“ „Sind deine Eltern damit einverstanden?“ Ein Kopfschütteln. „Keine Eltern. Auch keine Verwandten oder Freunde. Ein paar Bekannte, das ja, aber die führen alle ihr eigenen Leben und werden mich schnell vergessen haben. Niemand würde mich vermissen.“ Sie hatten sehr viel gemeinsam… Xigbar suchte nach passenden Worten, doch ihm wollte nichts einfallen. Er war noch nie gut in solchen Dingen gewesen. Stattdessen fragte er nur, wie Myde vorhatte, sich über Wasser zu halten. „Ich bin Überlebenskünstler. Und ein guter Taschendieb.“ „Wenn dir jemand zur Seite steht…“ „Ich hätte das auch alleine geschafft!“, widersprach der Junge gespielt empört und grinste dann optimistisch. „Wenn alle Stricke reißen sollten, arbeite ich eben als Musiker. Ich spiele nicht umsonst die Sitar.“ In dem Jungen steckt mehr, als es den Anschein hat, dachte Xigbar, als sie ein großes Gebäude passierten, das Myde ihm als Rathaus vorstellte. „Und das da ist der örtliche Schmied. Allerdings verbringt er inzwischen seine ganze Zeit mit Alkohol und Huren – die Arbeit überlässt er dem jungen William Turner. Der ist zwar noch keine dreizehn, stellt aber schon beachtliche Schwerter her. Aus dem wird mal was!“ So ging es weiter, bis Xigbar den Namen und die Geschichte eines jedes Gebäudes und – wie es ihm vorkam – eines jeden Einwohners in Port Royal kannte, zu denen unter anderem auch der Gouverneur und ein gewisser Leutnant Norrington, der sich offenbar als Ziel gesetzt hatte, jeden einzelnen Piraten auszumerzen, zählten. Irgendwann ging die Sonne unter und Myde verabschiedete sich. „Heute Nacht läuft mein Schiff aus und ich muss noch packen.“ Er schüttelte dem Schützen die Hand. „Es war nett, Euch kennen zu lernen.“ „Gleichfalls. Pass auf dich auf, ja?“ Myde lachte nur. „Ich sagte doch, ich bin Überlebenskünstler.“ ~*~ Die ‚Goldene Dublone’ spielte in einer ganz anderen Liga als die Taverne vom Vorabend, stil- und geschmackvoll und dementsprechend gut besucht. Allerdings waren die Sicherheitsvorkehrungen – laut Myde jedenfalls – zu streng, als dass man krumme Dinger hätte drehen können. Xigbar wählte den letzten freien Hocker an der Theke. Vergeblich versuchte er, den Jungen aus seinen Gedanken zu verbannen. Er hätte ihn wenigstens warnen sollen. Obwohl das auch nichts mehr geändert hätte – dem Schicksal konnte man nicht entfliehen, und das Schicksal des Jungen war es nun einmal, mit dieser Welt unterzugehen. Und trotzdem … „Seid Ihr derjenige, der im ‚Rostigen Anker’ die Schlägerei angefangen hat?“, brach sein Nachbar plötzlich das Schweigen. Xigbar nahm sich die Zeit, den anderen zu mustern, bevor er antwortete: schwere, braune Stiefel, darüber eine schwarze Hose mit Bauchbinde, ein ausgefranstes Hemd, das früher einmal weiß gewesen sein mochte, doch inzwischen eine schwer definierbare Farbe angenommen hatte – am nächsten käme wohl der Vergleich mit dem Farbton einer Tapete, die jahrelangen Zigarettenrauch hatte ertragen müssen -, ein rotes Kopftuch lugte unter einem schwarzen Dreispitz hervor. „Wer will das wissen?“ Jetzt hob der Mann den Kopf. Schwarzes, vorsichtig zu dutzenden schmalen Zöpfen geflochtenes Haar und ein gleichsam bearbeiteter Bart kamen zum Vorschein. In beides wurden mit scheinbar größter Sorgfalt Perlen, bunte Steine und kleine Knochen eingeflochten – wahrscheinlich erzählte jedes dieser Andenken eine Geschichte über ferne Länder und bittere Schlachten. Die dunklen Augen des Piraten waren schwarz untermalt, und als er den Mund öffnete, zeigten sich blitzende Goldzähne. „Sparrow. Captain Jack Sparrow.“ „Und was kann ich für Euch tun, Captain?“ Ein Lächeln huschte über Sparrows Lippen. „Das besprechen wir bei einem Drink und einem Spiel, aye?“ ~*~ Keine zwei Partien später richtete Sparrow anklagend einen beringten Zeigefinger auf ihn. „Ihr mogelt, mein Bester. Ich weiß zwar nicht, wie ihr es anstellt, aber ihr mogelt.“ Xigbar hob verwundert eine Augenbraue. „Und was gibt Euch Anlass zu dieser Vermutung?“ Es musste ein Bluff sein – der Pirat konnte ihn unmöglich erwischt haben. „Ah, seht ihr, als Ihr die Karten ausgeteilt habt, lag das Herz-As hier.“ Er tippte vor sich auf den Tisch. „Und doch“, fuhr er fort, während er seine Karten offen auf das blank polierte Holz legte. „habe ich es nicht mehr auf meiner Hand. Stattdessen … “ Zielsicher pflückte er die betreffende Karte aus Xigbars Blatt. Nun war es nicht einfach, den Schützen in Staunen zu versetzen, doch er musste gestehen, dass ihn dieser Schachzug doch ein wenig beeindruckte. Sparrow schien mehr Grips zu haben als man ihm zutrauen würde. „Schaut nicht so verdutzt. Es sind meine Karten – natürlich sind sie markiert!“ Natürlich. Darauf hätte er auch selbst kommen können. Und bei genauerer Betrachtung waren die Markierungen – winzige, kaum sichtbare Variationen des Musters auf der Rückseite einer jeden Spielkarte – auch erkennbar. „Zugegeben, Ihr habt mich ertappt.“ Xigbar grinste anerkennend. „Aber sagt mir nicht, das war der einzige Grund, aus dem Ihr mich sprechen wolltet. Worum geht es wirklich?“ „Ah, jetzt kommen wir zur Sache.“ Sparrow winkte den Wirt herbei und ließ ihre Gläser nachfüllen. „Ich will Euch in meiner Crew.“ „Ich kenne mich mit Schiffen nicht aus.“ „Dafür seid Ihr wortgewandt und wagemutig, gleich zwei brauchbare Talente. Aber lasst mich erst ausreden.“ Er beugte sich verschwörerisch vor. „Ich werde in Tortuga einige alte Bekannte anheuern, um mich auf die Sache nach etwas zu machen, das mir gestohlen wurde. Es handelt sich um die Black Pearl“, fügte er hinzu, als ob das alles erklären würde. Xigbar zuckte nur mit den Schultern. „Eine Perle also. Ist sie wertvoll?“ Sparrow bedachte ihn mit einem ungläubigen Blick. „Die Black Pearl ist doch nicht irgendein Juwel! Sie ist ein Schiff – das schnellste Schiff, das je auf den Meeren gesegelt ist. Und sie gehörte mir“, setzte er bitter hinzu. In der Taverne war es schlagartig still geworden, als Sparrow die Pearl erwähnt hatte, und Xigbar meinte, die Ehrfurcht in den Gesichtern der anderen Gäste zu erkennen. „Jetzt ist sie nur noch Charakter einer Legende. Seit vier Jahren streift sie über die sieben Weltmeere. Rastlos. Ruhelos. Gesteuert von einer Crew, die nicht Mensch, nicht Monster ist.“ Der Schütze spitzte die Ohren. Könnte es sich hierbei um weitere Nobodies handeln, die verzweifelt nach einer Möglichkeit suchten, ihre Herzen und damit ihre Existenzen zurück zu gewinnen? „Sie rauben, brandschatzen und morden. Und doch befriedigt nichts ihre Gier nach Leben. Ihre gier jedoch war es, die sie zu ihrem rastlosen Schicksal verdammt hat. Sie haben sich mit Mächten eingelassen, denen sie nicht gewachsen waren.“ Genau wie sie, Ansems Lehrlinge, es damals getan hatten … „Sie sind gezwungen, auf Erden zu wandeln, bis sie ihre Schuld bei jenen Mächten tilgen, indem sie ihnen das Gold, das sie gestohlen hatten, zurückgeben.“ Xigbar verengte die Augen zu Schlitzen. „Also ist es nichts weiter als eine Geistergeschichte?“ „Sie ist wahr!“, betonte der Pirat mit einer dramatischen Handbewegung. „Natürlich.“ Er gab sich nicht die Mühe, so zu klingen, als ob er nur ein Wort glaubte. „Und was wollt Ihr tun, solltet Ihr auf diese ‚Kreaturen’ treffen?“ In Sparrows Augen blitzte etwas auf. Hass? Enttäuschung? Xigbar konnte es nicht genau deuten. „Zwar habe ich noch eine alte Rechnung zu begleichen, aber ehrlich gesagt, ist mir egal, was mit ihnen passiert.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich will nur mein Schiff zurück.“ Der Pirat schwieg kurz, scheinbar seinen Gedanken nachhängend. Dann sah er den Schützen herausfordernd an. „Seid Ihr Mann genug, mich zu begleiten?“ Xigbar überlegte. Sparrow sagte, er wolle nach Tortuga – das kam ihm sehr gelegen. Bevor er aufgebrochen war, hatte er sich die Aufzeichnungen angesehen, die Zexion über die verschiedenen Welten verfasst hatte. Tortuga, die Lasterhölle, war der geeignete Ort, diese Welt mit Herzlosen und Nobodies zu bevölkern. Sie würden sich aufgrund der vielen Menschen schnell vermehren, neue Herzen für Kingdom Hearts sammeln und schließlich diese Welt zerstören. Es war ein perfekter Plan. „Ich bin dabei.“ Sparrow applaudierte lautlos. „Sehr gut. Dann lasst uns jetzt aufbrechen – im Hafen liegt ein geeignetes Schiff.“ „Eures?“ Der Pirat grinste verschmitzt. „Noch nicht.“ Natürlich. „Da fällt mir ein“, begann Xigbar, als sie sich erhoben, „wie seid Ihr eigentlich auf mich gekommen?“ „Um genau zu sein, war es Mydes Idee.“ Finally Following Orders ------------------------ Chapter 3/? Hielt man sich längere Zeit in der Nähe Jack Sparrows auf, so kam man nicht umhin, einige Dinge zu beobachten. Zuerst wäre da sein Gang. Böse Zungen und oberflächliche Betrachter würden ihn wohl als ‚torkeln’ bezeichnet, doch eigentlich glich er eher dem Gang eines Seefahrers, der sich während eines tobendes Sturmes auf hoher See gegen den Wind und die Wellen über das Deck seines Schiffes kämpfen musste. Diese zugegebenermaßen etwas eigenwillige Art, sich fortzubewegen, passte so gar nicht zu den übervorsichtigen Bewegungen seiner Hände. Man kam sich automatisch vor wie ein wildes Tier, welches Sparrow durch spezielle Gesten zu beruhigen und zu zähmen versuchte. Gepaart mit seiner Angewohnheit, beim Sprechen Silben zu verschlucken, was es manchmal nicht einfach machte, ihn zu verstehen, und dem Drang, jeden Menschen in seiner Umgebung mit ‚Mate’ oder ‚Love’ anzusprechen – eine Erfahrung, auf die Xigbar nun wirklich hätte verzichten können –, wirkte Sparrow fehl am Platze, egal, wo er sich aufhielt. Ein Paradiesvogel unter gewöhnlichen Möwen; schillernd und exotisch, fremd und doch so seltsam vertraut. Xigbar fragte sich, ob gerade darin die vermeintlich magische Anziehungskraft Jack Sparrows bestand. Da es noch früh am Abend war, begegneten ihnen auf dem Hafen zum Hafen einige Leute – und alle schienen sie dem Piraten verfallen. Möglicherweise war es seine Undurchsichtigkeit; man wusste nicht, ob man ihm trauen konnte, oder ob er einen an den Teufel verkaufen würde, um seine eigene Seele zu retten, und dennoch würde man ihm bis ans Ende der Welt folgen. Der Schütze musste zugeben, dass er, wenn er nicht bereits ein eigenes Ziel verfolgte, gerne mehr Zeit damit verbracht hätte, diesen Mann, dieses eigentümliche Exemplar der Spezies Homo Sapiens zu studieren – der Wissenschaftler in ihm wollte eine solche Gelegenheit nur ungerne ungenutzt verstreichen lassen. So jedoch wanderten seine Gedanken schnell wieder zu einem anderen Thema: Konnte es sich wirklich um Zufall handeln, dass er den Jungen wieder treffen würde? Hatte eventuell das Schicksal noch große Pläne mit Myde, die trotz Xigbars Eingreifen nicht zunichte gemacht werden sollten? Falls dem so sein sollte, war der Schütze äußerst gespannt darauf, zu erfahren, was für Pläne das denn sein mochten. ~*~ Sie wurden bereits erwartet. Myde saß im Schneidersitz auf einem Anlegeblock, vor ihm ein kleines Bündel – wohl mit persönlichen Habseligkeiten gefüllt –, das an einer Sitar festgebunden war. Er sprang auf, als er die beiden kommen sah, und nickte Xigbar zu. „Ich hatte gehofft, Euch wieder zu sehen.“ Bevor Xigbar sich nach dem ‚Warum?’ erkundigen konnte, schaltete sich Sparrow ein. „Höflichkeiten könnt ihr auch später noch austauschen. Sollten wir uns nicht zuerst nach einem netten Schiff umsehen?“ Er verschaffte sich einen schnellen Überblick über die Docks und grinste, deutete auf einen Dreimaster mit royalblauen Segeln. „Wie wäre es mit diesem Goldstück?“ Das ‚Goldstück’ trug den Namen ‚Blaue Narzisse’ und schien bei genauerem Hinsehen eindeutig von Wert zu sein. Allein die Galionsfigur – eine wunderschöne Meerjungfrau, geschnitzt aus hellem Holz – musste ein Vermögen gekostet haben. Allerdings hätte der Besitzer statt in die Verzierung besser in die Bewachung seines Schiffes investiert – es war ein Leichtes, die Vertäuung zu lösen und die ‚Narzisse’ aus dem Hafen zu steuern. Kaum war Port Royal außer Sichtweite, stieß Myde einen Freudenschrei aus. "Wir haben’s geschafft!“ „Ja, mein Junge.“ Sparrow klopfte ihm auf die Schulter. „Das Abenteuer geht jetzt los. Aber“, er legte eine dramatische Pause ein, „der wirklich interessante Teil kommt erst noch.“ Der Pirat zeigte zur Treppe, die unter Deck führte. „Am besten legt ihr euch gleich in die Kojen, ihr solltet morgen früh raus. Ein Sonnenaufgang auf hoher See ist etwas, das man auf keinen Fall verpassen darf.“ ~*~ Statt Kojen erwarteten sie Hängematten, doch das machte nichts. Myde kletterte gähnend in eine von ihnen. „Braig?“ „Hmm?“ „Alles in Ordnung? Ihr seid so still.“ „Ich überlege nur gerade, wann ich zum letzten Mal auf einem Schiff war. Wenn ich mich recht erinnere, war ich damals jünger als du es bist.“ Dass er die gesamte Überfahrt damit verbracht hatte, sich würgend über die Reling zu beugen, war eines der Details in Xigbars Leben, die man besser verschweigen sollte. „Moment mal!“ Der Junge setzte sich auf. „Wie seid Ihr überhaupt nach Port Royal gekommen, wenn nicht per Schiff?“ Verdammt. Das war einer der Momente, in denen Xigbar das Bedürfnis hatte, sich selbst in den Hintern zu treten. „Nur, weil du keinen anderen Weg kennst, heißt es nicht, dass es keinen gibt.“ Glücklicherweise gab der Junge sich damit zufrieden. ~*~ Wie sie am nächsten Morgen erfahren sollten, hatte Sparrow nicht übertrieben: Langsam, aber stetig erhob sich die rot leuchtende Kugel aus dem dunklen Meer, vertrieb die Schwärze der Nacht. Wie flüssiges Gold wirkte das Wasser, als die Farben des Morgens an den Himmel gemalt wurden. Die Augen des Jungen leuchteten vor Begeisterung, er schien alles um sich herum vergessen zu haben, und auch Xigbar selbst fiel es nicht leicht, sich von dem Naturschauspiel loszureißen. Dennoch hatte es für ihn einen etwas bitteren Nachgeschmack – ihm kam es beinahe so vor, als versuche diese Welt mit ihrer Schönheit und ihren Vorzügen zu glänzen und so zu signalisieren, welch Verlust es wäre, eine solche Welt auszulöschen. „Hey, Myde“, rief Sparrow vom Bug aus, „willst du mal für ’ne Weile das Steuer übernehmen?“ Der Blonde war sofort Feuer und Flamme, keine Frage. Kurz wurde er von Sparrow instruiert – „Geradeaus schauen, Hände am Steuer lassen, nicht vom Kurs abkommen!“ –, dann nahm der Pirat seinen Dreispitz ab und setzte ihn Myde auf. Sparrow wandte sich an Xigbar. „Ich werd’ mir ’ne Mütze voll Schlaf genehmigen. Schafft Ihr es, auf den Kleinen aufzupassen?“ „Wie schwer kann das schon sein?“ Seine Zuversicht wurde gleich bestraft, als er aus dem Augenwinkel sah, wie Myde das Steuer entglitt. Es wirbelte grob herum, und der Schütze und Sparrow waren gerade noch in der Lage, sich zu ducken, ehe sie das ausschweifende Segel am Kopf treffen konnte. Als der Pirat grinste, reflektierten seine Goldzähne das Sonnenlicht. „Wie ich sehe, habt Ihr alles unter Kontrolle … “ ~*~ Nach kurzer Zeit hatten sie den Kurs wiederhergestellt – wobei Kompasslesen nicht gerade ihrer beider Stärke war – und Xigbar hatte sich neben Myde auf die Reling gesetzt. Die Reise verlief ruhig. Sie hatten sich auf das ‚Du’ geeinigt, ansonsten sprachen sie nur miteinander, wenn es eine mehr oder weniger glorreiche Entdeckung zu verzeichnen gab. Der Delphin, der sie eine halbe Stunde lang begleitet hatte, war zum Beispiel eine Erwähnung wert gewesen. Myde schob sich einmal mehr den viel zu großen Dreispitz aus den Augen. „Sag mal, glaubst du eigentlich das, was Jack erzählt hat?“ Als Xigbar verneinte, warf der Junge ihm einen seltsamen Blick zu. „Was machst du dann, wenn wir in Tortuga sind?“ „Das wird sich dann ergeben“, antwortete der Schütze ausweichend. Sein Gegenüber zögerte, ehe er die nächste Frage stellte. „Und was meinst du soll ich tun?“ „Warum fragst du da ausgerechnet mich?“ „Nun ja.“ Myde wirkte nachdenklich. „Ich hab’ mich erkundigt. Niemand in Port Royal hat dich je gesehen und du sagst selbst, dass du nicht per Schiff gekommen bist. Du bist aus dem Nichts aufgetaucht. Das Erste, was du getan hast, war, mir zu helfen. Und jetzt bist du hier, obwohl du keinen Grund dazu hast.“ Er zuckte mit den Schultern. „Du musst zugeben, dass es schon ein wenig so wirkt, als wärst du … “ Eine kurze Pause. „Ja, als wärst du geschickt worden, mir zur Seite zu stehen.“ „Red keinen Unsinn, Kurzer!“ So wenig es Xigbar auch behagte, er musste zugeben, dass das Sinn ergab. Zwar auf eine verquere, unlogische Art, aber dennoch … Kopfschüttelnd kramte er in seinen Taschen nach einer Zigarette – mit Nikotin im Blut ließ es sich seiner Meinung nach besser denken – und stieß auf etwas, das ihm ein zufriedenes Grinsen entlockte. „Hör mal, Kleiner, du musst mir etwas versprechen“, begann er ernst, „wenn dir etwas passieren sollte oder du angegriffen wirst, benutz das.“ Mit diesen Worten drückte er ihm die Fernbedienung für den Gumi-Jet in die Hand. „Was ist das?“ „Nicht wichtig. Versprich es mir einfach.“ Myde nickte nur und steckte die Apparatur in seine Hosentasche. „Versprochen.“ Xigbar lehnte sich zurück und blickte einem Schwarm vorbei fliegender Möwen nach. Damit hatte er sein Pensum an guten Taten für die nächsten Jahre wohl eindeutig erfüllt. Jetzt lag alles in der Hand des Schicksals. ~*~ Sie erreichten Tortuga, als die Abenddämmerung hereinbrach. Im Gegensatz zu dem prächtigen Sonnenaufgang gab es dieses Mal kein Farbenspiel, stattdessen waren Wolken aufgezogen, die den Himmel verdeckten. Es regnete. Ein Gewitter zog heran. Jene, die die Zeichen richtig zu deuten wussten, erkannten, dass es sich um eine bedeutungsvolle Nacht handeln würde. Sparrow war inzwischen wieder an Deck gekommen und gab ihnen einige Informationen über seinen Plan, eine Crew anzuheuern, und an dem Zeitpunkt, an dem sie sich wieder treffen sollten. Xigbar schenkte ihm keine Beachtung. Er zog die Kapuze tiefer ins Gesicht, um den Regen abzuhalten, und bahnte sich – nachdem sich die drei getrennt hatten – einen Weg durch die dunklen Gassen, suchte nach einem geeigneten Ort, seinen Auftrag auszuführen. Ein Gebäude, aus dem Gelächter und eindeutige Geräusche drangen, erweckte seine Aufmerksamkeit. Der Name nicht nur sexuelle Anspielung, sondern auch furchtbares Klischee, die Gäste wohl nicht gerade besser. Und trotzdem, oder gerade deshalb, prädestiniert für seine Zwecke. Noch ein letzter Blick über seine Schulter, um sicherzugehen, dass ihm weder Sparrow noch der Junge gefolgt waren, dann betrat der Schütze das Bordell. Billige, auf prunkvoll und edel getrimmte Einrichtung, widerliche Kerle, dazwischen leicht bekleidete ‚Damen’, die sich aufreizend bewegten – und für ein paar Groschen mehr auch einiges anderes taten. Eine von ihnen, fast noch ein Mädchen mit grauen Augen und wallendem schwarzen Haar, das im Licht der unzähligen Kerzen leicht grünlich schimmerte, kam auf ihn zu, „Kann ich Euch helfen, Sir?“ Er legte eine Hand unter ihr Kinn. „Das könntest du wirklich“, säuselte er ihr ins Ohr. „Du könntest den Chef dieses Schuppens herholen.“ Sie schaute verwirrt, tat aber wie ihr geheißen, und er sah ihr nach, bis sie hinter einem Vorhang verschwand. Ein hübsches Kind. Eigentlich eine Verschwendung … Nach einiger Zeit erschien sie wieder, im Schlepptau einen kleinen, kahlen Mann. „Das ist besser wichtig“, bellte jener ungeduldig, „meine Zeit ist kostbar!“ „Ich wollte nur etwas ankündigen, von dem ich dachte, es würde Euch interessieren.“ Xigbar wandte sich mit erhobener Stimme und einladend ausgebreiteten Armen an die Gäste. „Ladies and Gentlemen, ich bedaure mitteilen zu müssen, dass dieses Etablissement ab sofort geschlossen ist.“ Allgemeines Gelächter, johlende Pfiffe und gellende Beschimpfungen. „Na, du Spinner“, rief einer, „dann nenn uns mal den Grund dafür!“ „Plötzlicher Tod der Anwesenden.“ Es herrschte eine kurze Stille, dann brach die Hölle los. Einige Piraten sprangen auf, aus einer Ecke wurde ein Messer geworfen. Der Schütze verdrehte theatralisch die Augen. „Dass man nie in Ruhe seinen Job machen kann.“ Problemlos fing er das Messer ab und schloss seine Finger fest um den Griff. Ohne mit der Wimper zu zucken und mit einer schnellen Handbewegung schlitzte er dem Bordellbesitzer die Kehle auf. Der Mann presste beide Hände auf die Wunde, aus der sich ein Blutstrom ergoss, und gab noch einige gurgelnde Geräusche von sich, ehe er zusammenbrach. Im gleichen Moment nahm Xigbar eine Bewegung aus den Augenwinkeln wahr; eine wegrennende Gestalt vor dem Fenster. Mit einem Fingerschnippen materialisierte sich eine handvoll Herzloser, die dem Flüchtenden hinterhergeschickt wurden. Kurz darauf erschienen zwei weitere Dutzend der Wesen, die sich nach einem knappen Nicken des Schützen auf die Anwesenden stürzten. ~*~ Scheiße, scheiße, scheiße! Myde rannte, als wäre der Leibhaftige hinter ihm her. Er verstand einfach nicht, was da gerade passiert war. Okay, es konnte sein, dass Braig durchaus gute Gründe hatte, auf unschuldige … mehr oder weniger unschuldige Leute loszugehen, aber irgendwie hatte er nicht vor, auf ihn zu warten und das herauszufinden. Es war einfach zu viel auf einmal gewesen – die Mordlust in Braigs Augen, das sadistische Lächeln auf seinen Lippen, das Blut; nicht zu vergessen, die seltsamen Kreaturen, die ihn verfolgten. Er wusste nicht, woher sie gekommen waren, er wollte es gar nicht wissen, er wollte nur weg. Um die nächste Ecke, die Narzisse war bereits in Sicht. Seine Lungen brannten. Gleich … In diesem Augenblick tauchte etwas aus dem Boden vor ihm auf. Er versuchte auszuweichen, doch das Wesen attackierte Mydes Bein. Der Junge schrie auf, fiel hart zu Boden. War das der geeignete Moment, noch ein ‚Scheiße’ einfließen zu lassen? Die Kreaturen umzingelten ihn. Was sollte er tun, was -? Ein Geistesblitz. Das Objekt, das Braig ihm gegeben hatte – er zog es aus der Tasche. Die kurzzeitig gewonnene Hoffnung war wie weggeblasen. Das Gerät war vollständig zerstört, wahrscheinlich war es beim Aufprall zerbrochen. Er drückte trotzdem auf den Knopf. Nichts passierte. Myde schleuderte es fluchend von sich, traf eines der Wesen am Kopf. Die anderen stürzten sich auf ihn, und obwohl Myde um sich schlug und vergeblich versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, hatte er keine Chance. Stechender Schmerz. Krallen wurden in seine Brust geschlagen. Das Letzte, was er wahrnahm, bevor er das Bewusstsein verlor, waren leuchtende, bernsteinfarbene Augen, in denen dieselbe Blutgier aufglomm wie in Braigs. Er fühlte sich verraten … verraten und verkauft. ~*~ Zu behaupten, es hätte Spaß an dem, was er tat, wäre gelogen. Er genoss faire Kämpfe, keine Frage, und es war eine Genugtuung, diesen Bordellbesitzer sterben zu sehen – einfach nur, weil Xigbar sich nicht anschreien ließ, ohne Konsequenzen zu ziehen –, aber die Schreie, die Menschen, die um ihr Leben bettelten … Nein, das war wirklich nie ein schöner Anblick. Es waren Momente wie diese, in denen er froh war, kein Mitleid mehr fühlen zu können, sonst würde er wohl vor Schuldgefühl wahnsinnig werden. Das Mädchen um Beispiel, sie hatte ihn angefleht, sie nicht zu töten. Und er hatte versprochen, es nicht zu tun. Damit hatte er sie Wahrheit zwar leicht gedehnt, denn direkt darauf wurde sie von einem Herzlosen attackiert, aber wirklich gelogen hatte er nicht. Einige Zeit war seitdem vergangen, vielleicht eine Stunde, und Xigbar war noch immer in dem Etablissement, eine Zigarette zwischen den Lippen, ein Glas Alkohol in der Hand, dem Treiben der Herzlosen lauschend. Ob der Junge es geschafft hatte? Mit Sicherheit. Der Kleine war intelligent genug, einen Knopf zu drücken. Ein leises Geräusch ließ ihn aufblicken. Ein weiterer Bote – vielleicht sogar der vom Vortag, wer konnte das schon sagen? –, der ungeduldig mit einem Brief vor Xigbars Nase herumwedelte. „Was zum Teufel ist denn jetzt schon wieder?“ Fluchend entriss er dem Nobody das Papier und entfaltete es. ‚Lass alles stehen und liegen, komm sofort zurück!’ Der Schütze fluchte ein weiteres Mal. Das war irgendwie nicht sein Tag. 'What'cha think this is? A video game?!' ---------------------------------------- Chapter 4/12? Zwei Gestalten erwarteten ihn bereits, als er das Hauptquartier betrat. Er begrüßte die beiden mit einem Kopfnicken. „Wurde ja auch Zeit, dass du auftauchst!“ Er zuckte mit den Schultern. „Is’ doch nicht meine Schuld, wenn der Dusk so lange braucht.“ Als Zexion seufzend die Arme vor der Brust verschränkte, schenkte Xigbar ihm nur ein breites Grinsen. Man konnte den Jungen einfach viel zu leicht auf die Palme bringen. Schon damals, als sie noch unter Ansem gearbeitet hatten, war Ienzo derjenige gewesen, der sich selbst und seine Arbeit viel zu ernst nahm, während sogar Even von Zeit zu Zeit so etwas Ähnliches wie Selbstironie besessen hatte. Ienzo jedoch hatte jeden Ausbruch an Sarkasmus, jeden Verbesserungsvorschlag gleich als persönliche Kritik angesehen. Vielleicht hatten sie sich doch gar nicht so sehr verändert … Zexions Stärken lagen noch immer darin, Leute zu manipulieren, damit sie ihm unliebsame Arbeiten ausführten, an seiner Selbstkritik musste er allerdings noch immer arbeiten. „Hätte einer von euch mal die Güte, mir zu erklären, was überhaupt los ist?“ „Wir haben einen passablen Nobody gefunden“, schaltete sich Lexaeus ein. „Toll. Und was hat das mit mir zu tun?“ „Er scheint dich zu kennen“, erklärte Zexion in einem Tonfall, den man einem Vierjährigen gegenüber verwenden würde. „Als Xaldin ihn herbrachte, soll er ‚genau der gleiche Mantel’ gemurmelt haben. Seit da spricht er kein Wort mehr.“ Ehe Xigbar klarstellen konnte, dass sein Mantel mit dem des Dragoons rein gar keine Gemeinsamkeiten aufwies – bis auf Farbe und Material natürlich –, sprach Lexaeus schon weiter und sorgte einmal mehr dafür, dass der Schütze in Gedanken kommentierte, wie sehr die beiden einem alten Ehepaar glichen. „Und da außer dir momentan niemand auf Mission war …“ „… kamt ihr auf die glorreiche Idee zu sagen ‚Hey, ich hab’s! Xigbar muss ihn traumatisiert haben!’“ Er legte verschwörerisch einen Arm um Zexions Schulter und grinste über dessen angewiderten Gesichtsausdruck. Natürlich wusste er, dass er nach Schweiß, Blut und Rauch stank, und er war sich ebenfalls im Klaren darüber, wie auf den sensiblen Geruchssinn ihres Schemers wirken musste – alles, was Xigbar tat, hatte schließlich einen Grund, selbst wenn es nur darum ging, anderen Leuten auf die Nerven zu gehen. „Hört mal, ihr zwei … Es ist äußerst unfair, gleich mir die Schuld in die Schuhe zu schieben.“ „Was auch immer du sagst“, meinte Zexion, während er die Hand des Schützen von seiner Schulter schob, „jedenfalls wünscht Xemnas, dich zu sehen.“ ~*~ Xemnas’ Wünsche erfüllte man besser, wenn man wusste, was gut für einen selbst war. So dauerte es nicht lange, bis Xigbar in dem großen Raum stand, den ihr Anführer als Büro auserkoren hatte. Er war nicht alleine. Außer Xemnas selbst befanden sich Xaldin und Saïx in dem Zimmer, und in einer Ecke saß zusammengekauert ein junger Mann, die Knie eng an den Körper gezogen, das Gesicht in den Händen verborgen. Xemnas winkte ihn näher heran. „Kennst du den Jungen?“ Der Schütze warf dem Mann in der Ecke einen kurzen Blick zu. „Nie gesehen.“ Wie auf ein unsichtbares Zeichen hob der Mann den Kopf, sah Xigbar aus vor Schreck geweiteten, dunkelgrünen Augen an. „Braig?“ Fuck. „Ich sehe das als ‚Ja’ an“, meinte Saïx lakonisch, und Xigbar bedachte mit einem vernichtenden Blick. Sie hatten sich von Anfang an gehasst – soweit das für ihre Verhältnisse überhaupt möglich war –, zwischen ihnen würde nie etwas anderes als Rivalität herrschen. Xemnas unterband sofort jede Möglichkeit der beiden, in einen Streit auszubrechen. „Da ihr euch ja schon kennt, obliegt es dir, unseren Gast mit seiner neuen Umgebung vertraut zu machen.“ Was auch sonst? Xigbar verneigte sich kurz vor ihrem Anführer und ging zu dem Jungen, reichte ihm die Hand, damit er aufstehen konnte. Er schob ihn vor sich her zur Tür. „Auf ein Wort noch, Xigbar.“ Scheinbar ruhig drehte sich der Schütze zu Saïx. In seinem Inneren jedoch tobte es. Jedes Mal, wenn er den Berserker sah, bekam er das spontane Bedürfnis, ihn eigenhändig zu erwürgen. Oder ihm zumindest das heuchlerische Lächeln aus dem Gesicht zu schießen. „Was ist denn noch?“, zischte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Was sollte der falsche Name?“ „Ich hielt es für angebracht, inkognito zu bleiben.“ „Ich verstehe. Für einen Moment befürchtete ich schon, du würdest dein früheres Leben vermissen.“ „Rührend, wie du dich um mich sorgst.“ Xigbar fletschte mehr die Zähne, als dass er lächelte. „Aber du solltest dich eher um dich selbst kümmern – deine Überheblichkeit wird dir eines Tages noch das Genick brechen“, prophezeite der Schütze, ehe er Myde endgültig zur Tür hinausbugsierte. Natürlich hätte er sie beide teleportieren können, doch Xigbar wollte den Jungen nicht gleich erschrecken. Stattdessen erklommen sie die vielen Stufen zum Dach zu Fuß. In der Zwischenzeit sollte Myde erzählen, was passiert war, seit sie sich getrennt hatten. Zwar war es Xigbar bewusst, dass der Junge von Herzlosen angegriffen worden war, doch zu erfahren, dass es ausgerechnet jene Herzlosen waren, die der Schütze selbst auf ihn losgelassen hatte … Das war etwas, das Xigbar erst einmal verdauen musste. Und was Myde danach erlebt hatte, nun ja … ~*~ Was war passiert? Wo war er? Hatten ihn die Monster nicht gefressen? Vorsichtig öffnete Myde die Augen. Keine schwarzen, Menschen fressenden Monster zu sehen. Er setzte sich auf, prüfte, wie schwer seine Verletzungen waren. Nichts! Nicht ein Kratzer! Hatte er das alles nur geträumt? War er noch immer in Port Royal und hatte nur eine gespenstische Phantasie? So muss es sein, dachte er, während er sich umsah. Dieser Ort kam ihm nämlich nicht bekannt vor. Jedenfalls konnte er sich nicht daran erinnern, in Port Royal ein riesiges Herrenhaus gesehen zu haben. Und einen Wald gab es da auch nicht. Schwankend stand er auf, stützte sich an der Mauer, die das Haus umgab. „Na endlich. Ich dachte schon, du wachst nie auf.“ Myde fuhr herum und sah sich einem äußerst großen Mann gegenüber, beinahe einem Riesen. Einem Riesen mit Koteletten und dutzenden akribisch geflochtener Zöpfe, die denen Jack Sparrows durchaus Konkurrenz machen konnten, und mit … „Schon wieder so ein Mantel“, fluchte der Junge leise. „Jetzt ist mir alles klar! Das ist wirklich nur ein Traum.“ Er nickte eifrig. „Genau, ich muss nur aufwachen, und schon bin ich wieder zuhause.“ Sein Gegenüber verdrehte ungeduldig die Augen. „Irgendwie hast du mir besser gefallen, als du noch bewusstlos warst. Also, Junge, wir machen das jetzt auf die ganz einfache Tour.“ Er streckte die Hand aus. „Du kommst mit mir mit, verstanden?“ Abwehrend hob Myde die Hände und wich ein paar Schritte zurück. „Können wir darüber nicht reden?“ Während der Riese noch seufzte, wurde Myde bereits niedergeschlagen. Als er wieder erwachte, war er geblendet von all dem Weiß, das ihn umgab. Schnell schloss er wieder die Augen. Sein Schädel dröhnte, so langsam beschlich ihn der leise Verdacht, dass das doch alles real war. „Kann der auch reden?“, hörte er eine männliche Stimme fragen. „Ja, aber er hört nicht mehr auf.“ Das war der Riese. Myde öffnete die Augen einen spaltbreit. Drei Männer beäugten ihn kritisch. Zwei davon waren ihm unbekannt: Einer hatte stark gebräunte Haut, weiße Haare und … orange Augen? … Der andere sah um einiges gefährlicher aus. Ob das nun an der x-förmigen Narbe in seinem Gesicht lag oder an dem animalischen Glitzern in seinen Augen, wusste Myde nicht genau zu sagen. Vielleicht waren es auch die äußerst spitzen Eckzähne, die der Mann beim Grinsen entblößte. Und alle trugen sie die gleichen Mäntel. Der Junge seufzte. Das Schicksal hatte sich eindeutig gegen ihn verschworen. ~*~ „Man kann sich also vorstellen, wie glücklich ich war, jemanden zu sehen, den ich kenne. Auch, wenn es sich dabei um einen irren Mörder handelt.“ „Von wegen! Also das ‚irre’ verbitt’ ich mir!“ Mydes resignierter Blick entlockte dem Schützen nur ein Lächeln. Er hatte nicht gewollt, dass dem Jungen etwas zustieß, aber das war nun zu spät. Sie konnten nur noch das Beste daraus machen. „Lass mich erstmal erklären, was überhaupt passiert ist, ja? Dann kannst du immer noch voreilige Schlüsse ziehen.“ Er stieß die Tür auf, die zum Dach führte, und trat in die kühle Nacht – oder in den Abend, wer konnte den Unterschied schon so genau feststellen? Hier wurde es sowieso niemals hell. „Was ist das denn?“ Das war Kingdom Hearts – oberflächlich betrachtet nur eine Art Mond, die einzig natürliche Lichtquelle dieser Welt, und gleichzeitig doch so viel mehr. „Eins nach dem anderen, ja? Wir fangen am besten ganz am Anfang an.“ Nun folgte der schwierige Teil. Wie sollte man etwas erklären, dass man selbst nicht hundertprozentig verstand? Xigbar lehnte sich mit dem Rücken gegen die Brüstung. Dann wollen wir mal … „Die Kreaturen, die dich angegriffen haben? Das waren Herzlose. Wenn ein Mensch sein Herz an die Dunkelheit verliert – wie is’ dabei egal –, verwandelt sich dieses Herz in einen Herzlosen.“ „Aber da stimmt doch dann was nicht. Wieso herzlos?“ „Was weiß ich? Vielleicht klang ‚herzvoll’ einfach bescheuert. Weiter im Text … “ Er erklärte es dem Jungen so gut er konnte. Was Kingdom Hearts war und wofür sie es brauchten, wann und weshalb ein Nobody entstand, auch dass ihnen mitsamt dem verlorenen Herzen scheinbar ebenfalls jegliche Emotionen fehlten. Er setzte auch hinzu, dass er daran nicht wirklich glaubte. Xigbar war sich sicher, dass ihnen zumindest die Erinnerung an ihr Herz blieb, denn hätten sie allen Ernstes keine Emotionen mehr, wären sie nichts weiter als leblose Hüllen. Ohne Charakter, ohne eigenen Willen. Und das waren sie nun einmal nicht. Wie sehr sie sich voneinander unterschieden, konnte man einfach nicht abstreiten – sowohl in ihrer Persönlichkeit, als auch in ihren Handlungen und Motiven. Irgendetwas musste da einfach sein. Zugegeben, Xemnas erfüllte das ‚Vorurteil’ des emotionslosen Nobodies perfekt, aber das war eine andere Geschichte … „Warum erzählst du mir das?“, fragte Myde so leise, als fürchtete er die Antwort. „Das weißt du. Du bist jetzt einer von uns.“ „Ist das wirklich nicht nur ein mieser Scherz?“ „Meine Güte, Kurzer, denk doch mal nach! Du wirst von Wesen angegriffen, die du noch nie gesehen hast – aber anstatt zu sterben, wachst du an einem vollkommen unbekannten Ort auf. Dann wirst du entführt und bekommst eine Geschichte aufgetischt, die aus einem schlechten Traum stammen könnte. Warum sollten wir uns so eine Mühe machen, wenn das alles nur ein Witz wäre?!“ Außerdem brauchte der Junge doch nur einmal in einen Spiegel zu schauen. Er hatte sich verändert, wirkte erwachsener – und so, als hätte er in eine Steckdose gelangt, aber das blieb besser unerwähnt. „Willst du sonst noch irgendwas wissen?“ „Warum hast du mich angelogen?“ „Was?“ Er hätte mit so einigen Fragen gerechnet, aber damit …? „Dein Name. Warum hast du gelogen?“ „Es gibt da jemanden, dem ich lieber keine Spuren hinterlassen würde.“ „Und was hattest du überhaupt in meiner Welt verloren?“ Sagte man darauf die Wahrheit? Nun ja, es würde schon nicht schaden. „Um genau zu sein, hatte ich den Auftrag, Herzlose freizusetzen, damit - “ Der Schlag traf ihn unerwartet. Möglicherweise hätte er doch damit rechnen sollen, dass Myde dieses Wissen nicht unbedingt positiv aufnehmen könnte. „Du warst das? [I"]Du hast mir das angetan?“ Der Junge packte ihn am Kragen, fluchte, beschimpfte ihn bitterlich – und brach schließlich in Tränen aus. „Es ist alles deine Schuld.“ Na wunderbar. Und wie ging man nun damit um? Unsicher legte der Schütze einen Arm um das schluchzende Nervenbündel. „Warum ich?“, murmelte der Junge gegen Xigbars Schulter. „Sieh es als dein Schicksal an.“ „Das Schicksal ist zum Kotzen!“ So konnte man es natürlich auch ausdrücken … Irgendwann löste sich Myde von Xigbar und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. „Was wird nun aus mir?“ „Du hast die freie Wahl.“ Vorsichtig befühlte der Schütze sein rechtes Auge und verzog unwirsch das Gesicht. Das würde wohl ein Veilchen geben. „Du kannst gehen, wohin du willst, und hoffen, dass du eines schönen Tages dein Herz wieder bekommst – oder du bleibst und unterstützt uns.“ „Ich glaube“, begann Myde nach einiger Zeit entschlossen, „ja, ich glaube ich bleibe. Warten war noch nie meine Stärke und hier bin ich eher zu etwas nütze.“ „Dann werde ich Xemnas deine Entscheidung mitteilen. Morgen findet dann die Aufnahmezeremonie statt und ich zeige dir dein neues Quartier. Bis dahin kannst du bei mir bleiben.“ Als sie gemeinsam das Dach verließen, meinte der Schütze mehr zu sich selbst, wie dringend er eine Dusche brauchte. Und etwas Eis für sein Auge – wie sähe das denn sonst aus? Ein Scharfschütze, der nur auf einem Auge sehen konnte? Von wegen! „Xigbar?“, fragte der Junge mit nachdenklichem Gesichtsausdruck. „Hmm?“ „Was ist eine Dusche?“ … Aspirin. Genau, ein paar Aspirin konnten auch nicht schaden … Surprises To Die For -------------------- Chapter 5/12 Man erschien nicht einfach in Xemnas’ Büro. Man klopfte und wartete, bis der Superior sich dazu herabließ, einem seine wertvolle Zeit zu schenken. Wahrscheinlich sollte das einschüchternd wirken. Immerhin gab es Xigbar die Gelegenheit, sich aufzuregen – es war schließlich typisch. Von den tausenden und abertausenden Welten im Universum mussten sie ausgerechnet jemanden auftreiben, der weder Elektrizität noch fließend Wasser kannte. Hoffentlich setzte der Junge sein Quartier nicht unter Wasser … Endlich wurde er hereingebeten. Xemnas saß hinter einem edlen Schreibtisch, auf dem sich die unterschiedlichsten Dokumente stapelten: abgegebene Reporte, Laborberichte, Statistiken. Um den Papierkram war ihr Anführer wirklich nicht zu beneiden. Xigbar hinterließ nur ein knappes ‚Der Kleine bleibt!’ und wollte eigentlich schon wieder gehen, als Xemnas von der Akte, über die er sich gebeugt hatte, aufsah. „Sehr gut. Du wirst ihn in allem unterrichten, was er zu können hat.“ Das war keine große Überraschung – sie handhabten es immer so, dass einer der ersten Sechs sich um den neusten ‚Zuwachs’ kümmerte. Man konnte sich wohl Zexions Begeisterung vorstellen, als er sich wochenlang mit Axel herumschlagen musste. Der Superior erhob sich, spielte damit den Größenunterschied zwischen ihnen beiden voll aus. „Damit wir uns nicht falsch verstehen, Xigbar, ich bin alles andere als zufrieden mit deinem Versagen. Dennoch bin ich geneigt, es zu übersehen, weil es uns ein neues Mitglied eingebracht hat.“ „Zu gütig, Boss. Wirklich.“ Ein kalter Schauer lief Xigbar über den Rücken, er wollte sich nicht vorstellen, was mit ihm passiert wäre, wenn Myde sich anders entschieden hätte. „Ich gebe dir einen guten Rat: Wage es nicht, mich noch einmal zu enttäuschen!“ Das würde ihm nicht im Traum einfallen. „Ich denke, wir verstehen uns.“ ~*~ Er war froh, dass er es hinter sich hatte. Xemnas war ihm seit eh und je ein wenig unheimlich gewesen. Immer ruhig, kalt und gelassen. Als ob ihn nichts in der Welt erschüttern könnte, als gäbe es nichts, das Emotionen in ihm weckte. Beinahe so, als könnte er sich nicht einmal mehr daran erinnern, wie es war, zu fühlen. Nicht, dass Xehanort je anders gewesen wäre … „Ach? Du weilst auch noch unter uns?“ Der auch noch … „Was dir gehörig gegen den Strich geht, was, Saïx?“ Der Berserker musterte ihn mit kritischem Blick und lächelte dann unschuldig. „Oh, ich halte es nur für unklug, wenn Fehlschläge einfach so hingenommen werden. Diese Bedenken werde ich dem Superior natürlich auch mitteilen. Das hat aber nichts mit dir zu tun.“ Er grinste überlegen. „Gleiches Recht für alle, oder, Xigbar?“ „Und was hast du vor, um deinen Willen durchzusetzen? Willst du Pfötchen geben und Xemnas die Hände ablecken?“ In Saïx’ Augen spiegelte sich dessen Wut wieder. „Du solltest mich nicht unterschätzen, sonst könntest du es noch bereuen!“ Der Schütze zuckte die Schultern. „Und du solltest darüber nachdenken, was du dir deinen Vorgesetzten gegenüber erlauben kannst, Nummer Sieben. Es könnte sonst schlecht für dich ausgehen. Vergiss nicht, Saïx, ich treffe nie daneben.“ Saïx gab nur einen höhnischen Laut von sich und verschwand in einem dunklen Portal. Dass der Berserker es auch immer wieder allein durch seine Anwesenheit schaffte, Xigbar die Laune endgültig zu verderben … ~*~ Keine Überschwemmung, keine Flutkatastrophe, alles noch heil. Immerhin etwas. Der Junge hatte sich die Sachen übergestreift, die Xigbar ihm in die Hand gedrückt hatte, ehe er ging, um seinen Bericht zu erstatten, und saß nun im Schneidersitz auf dessen Bett. „Wie ist es gelaufen?“ „Du bist herzlich willkommen“, verkündete der Schütze, während er seine Handschuhe zu dem Eisbeutel auf den Schreibtisch und seinen Mantel über die Stuhllehne warf. „Und was heißt das genau?“ „Dass du morgen deinen neuen Namen und deine Nummer bekommst, dein Element bestimmst und dann die große Ehre hast, von mir unterrichtet zu werden. Schätz dich glücklich!“ Er ließ sich geräuschvoll aufs Sofa fallen und entledigte sich seiner Stiefel. Falls Myde Xigbars Gereiztheit aufgefallen sein sollte, ließ er es sich nicht anmerken. „Element?“, fragte er nur. Xigbar winkte nur ab. „Das würde jetzt zu lange dauern. Ich erklär’s dir morgen.“ „Und was soll ‚neuer Name’ bedeuten?“ „Tja, da du nun einmal nicht mehr Myde bist, solltest du auch seinen Namen nicht mehr tragen. Er ist Geschichte, du bist die Gegenwart. Misch die Buchstaben, füg ein ‚x’ ein, fertig.“ Der Junge schwieg kurz, ehe er weiterfragte: „Wer bestimmt dann, wie ich heiße?“ „Kommt drauf an, ob dir was einfällt. Wenn nicht? Dann übernimmt das Xemnas.“ Myde sah nachdenklich an die Decke. „Ganz ehrlich? Ich finde, das geht ihn nichts an.“ „Gut gesagt. Dann überleg mal schön!“ Xigbar tat nachdenklich. „Hey, wie wär’s mit ‚Myxed’?“, meinte er scherzhaft und wurde zum Dank für seine Freundlichkeit mit einem Kissen beworfen. Die Jugend hatte einfach keinen Respekt mehr vor dem Alter! Er grinste. Es war ja nicht so, als könnte er den Jungen nicht verstehen – wenn man schon sein Herz und damit seine Existenz verlor, wollte man sich doch wenigstens mit seinem Namen identifizieren können. „Leg dich erstmal hin. Dir fällt schon was ein“, versprach er und verschwand im Bad. Als er nach einiger Zeit zurückkam, schlief Myde bereits tief und fest. * „Das ist Wahnsinn!“, rief Myde mit großen Augen. Xigbar lachte. „Ja, ein bisschen irre sind wir hier alle.“ „Ach, lass den Quatsch! Ich mein es ernst … das hier ist einfach toll!“ Um sie herum war alles blau. Es schien sogar eine Art Strömung zu geben, die sie aber nicht erreichte. Ihm war es egal, wie sie diesen Ort nannten, er stellte es sich vor, als befänden sie sich auf dem Meeresgrund, in einer gewaltigen Luftblase, die das Wasser davon abhielt, sie zu ertränken. Die seltsamsten Wesen in allen Farben und Formen kreuzten ihren Weg, und manchmal musste er aufpassen, dass er nicht mit einem von ihnen zusammenstieß. „Und von hier aus kommt ihr überall hin?“ „Wir“, verbesserte ihn sein zukünftiger ‚Mentor’. „Aber ja, durch diesen Ort können wir reisen, wohin immer wir möchten. Da überall Dunkelheit existiert, können wir uns die ‚dunklen Korridore’ zu Nutzen machen.“ „Und wie geht ihr – sorry, gehen wir sicher, dass wir uns nicht verlaufen?“ „Das hat etwas mit mentaler Konzentration zu tun.“ Xigbar strich nachdenklich über seine Narbe – eine Angewohnheit, die Myde häufig bei ihm bemerkte. „Wir stellen uns mit aller Kraft unser Ziel vor. Der Weg öffnet sich dann schon von ganz alleine.“ Myde lächelte nur. Er dachte daran, wie er unbedingt Pirat werden wollte, um fremde Länder zu sehen – den Wunsch würde er sich jetzt wohl bedingungslos erfüllen können. Wenn man darüber nachdachte, hatte er es wohl doch nicht so schlecht getroffen … Vor ihnen erschien ein Ball violetten Nebels, in den sie traten. Der riesige Raum, den Xigbar ihm als Konferenzsaal vorstellte, bestand wie alles in dieser Welt ausschließlich aus weiß und grau. Mit der Zeit gewöhnte man sich an die Farbkombination. Erstaunlicher war es, wie der Saal aufgebaut war: Dreizehn meterhohe Stühle waren kreisförmig angeordnet, Türen und Fenster gab es keine. Es wirkte gleichzeitig imposant und einschüchternd. Myde schluckte unwillkürlich. „Du machst das schon.“ Sein Mentor legte ihm eine Hand auf die Schulter und grinste beruhigend. „Ich hol’ dich gleich wieder ab.“ Er verschwand und Myde ging noch einmal das durch, was er über diese ‚Zeremonie’ gelernt hatte. Eigentlich waren es nur aneinander gereihte Floskeln, die er bejahen musste, aber er wollte sich nicht durch ein unüberlegtes Wort in Schwierigkeiten bringen. Plötzlich hörte er ein leises Rauschen und auf acht von den Stühlen erschienen Organisationsmitglieder, die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen. Welcher von denen war nun Xigbar? Es war unmöglich, sie auseinander zu halten. Von der Statur her schienen es alles Männer zu sein. „Dir wurde berichtet, wer und was wir sind, und zu welchem Zwecke wir uns zusammengefunden haben?“ Eine monotone Männerstimme erklang. Die Person im höchsten Stuhl neigte sich ein wenig nach vorne. Das musste der Anführer sein, Xemnas. „Ja.“ „Du wurdest darin unterrichtet, welcher Mittel wir uns bedienen, um unser Ziel zu erreichen?“ „Ja.“ Er schauderte. Mord und Zerstörung. Er verabscheute beides, aber Xigbar hatte ihm versprochen, dass er nichts tun müsste, was er nicht wollte. „Du bist dennoch gewillt, dich uns anzuschließen, und schwörst, dein ganzes Sein dafür aufzubringen, uns zu unterstützen?“ „Ich schwöre.“ „Du bist dir bewusst, dass es kein Zurück mehr gibt, sobald du dich entschieden hast?“ Auch dies bejahte er. „Dann nenn uns deinen Namen.“ Er atmete tief durch. Myde gab es nicht mehr, von nun an war er ein anderer. „Ich heiße Demyx.“ „Sei willkommen in Organization Thirteen, Demyx. Von nun an wird dein Deckname ‚Melodious Nocturne’ lauten. Deine Rangnummer ist die neun. Wir werden große Ansprüche an dich stellen.“ Einer nach dem anderen verschwanden sie in violettem Nebel. Demyx … Ihm war der Name ohne Zögern über die Lippen gekommen. Als hätte er nie einen anderen besessen. „Lass uns gehen, Kurzer. Wir haben noch einiges zu tun.“ Er nickte Xigbar, der neben ihm aufgetaucht war, zu. „Ich hatte es mir schlimmer vorgestellt“, gab er ehrlich zu, „auch, wenn das ein wenig unheimlich war. Man kommt sich so klein vor, wenn alle Augen auf einem ruhen.“ „Das ist Sinn und Zweck des Ganzen. Damit sich die noch einmal umentscheiden können, die in gefährlichen Momenten sowieso den Schwanz einziehen und sich verstecken würden. Wenn es hart auf hart kommt, müssen wir uns darauf verlassen können, dass keiner kneift und die anderen im Stich lässt.“ Er grinste. „Aber du hast deine Sache gut gemacht. Ich bin stolz auf dich.“ Demyx hob die Augenbrauen. „Aber ich hab doch gar nichts Besonderes gemacht.“ „Von wegen! Du hast Selbstbewusstsein gezeigt. Eines solltest du nicht vergessen: Von jetzt an wirft jeder Fehler den du machst, jede Unsicherheit, die du zeigst, auch ein schlechtes Licht auf mich.“ „Welcher von denen warst du eigentlich?“ Xigbar sah ihn gespielt bestürzt an. „Wie, du hast mich nicht erkannt? Das bricht mir das Herz!“ Sie grinsten beide und Demyx schüttelte den Kopf. „Was kann ich denn dafür, dass ihr mit den Kapuzen alle gleich ausseht?“ „Eigentlich ist es ganz einfach, uns zu unterscheiden. Mit der Zeit lernst du das auch noch. Ansonsten merk dir einfach, dass ich dort sitze.“ Er blickte zu dem Sitz, auf den sein Mentor zeigte. Zur Rechten des Anführers. ~*~ „Es ist eigentlich ganz einfach. Quartiere zwei bis sechs befinden sich im West-, sieben bis dreizehn im Ostflügel. Xemnas’ Räume und die große Bibliothek sind ein Stockwerk höher.“ „Wieso ausgerechnet dreizehn?“ „Irgendein symbolischer Unsinn. Dreizehn als Unglückszahl für unsere Feinde oder so.“ Er zuckte die Schultern. „Xemnas liebt solche Spielereien.“ Sie schritten den langen Gang entlang bis zu einer Tür, auf der groß die Zahl IX prangte. Xigbar hielt dem Jungen die Tür auf. „Nach dir.“ Mal sehen, was der Kleine dazu zu sagen hätte … Demyx sah sich erstaunt um. „Aber hier ist ja nichts drin!“ Das war klar … „Hier beginnt der erste Teil deines Unterrichts.“ Der Schütze vollführte eine dramatische Geste. „Jedes unserer Quartiere wurde dazu konzipiert, sich den Wünschen seines Besitzers anzupassen. Das hier ist dein persönliches Domizil. Hier“, er grinste breit, „hast du alle Macht der Welt, vorausgesetzt, du besitzt die mentale Kraft dazu. Du kannst allein durch deine Wünsche Dinge erschaffen, die du hier drin haben möchtest, du kannst sogar den Raum selbst verändern, wie’s dir beliebt.“ Die Augen des Jungen leuchteten. „Das heißt, ich muss nur an etwas denken, und schon ist es da?“ „Ganz recht.“ Demyx lächelte und schloss die Augen. „Ich glaube, ich weiß schon etwas.“ Ein Leuchten. Wasserblasen materialisierten sich, umgaben den Jungen, formten sich in seinen Händen zu einem blauen Instrument, einer Sitar, beinahe so groß wie er selbst. Der Schütze staunte nicht wenig, als Demyx die Sitar mit Leichtigkeit hochhob und ihr mit geschickten Fingern eine sanfte Melodie entlockte. Dann nickte er nur zufrieden. Der Kleine war ein absolutes Naturtalent. Er betrachtete das Instrument näher, bemerkte, dass die Form dem Zeichen der Nobodies ähnelte. Damit wäre die Frage nach Element und Waffe des Jungen wohl geklärt. Natürlich gab sich Demyx mit diesem ersten Erfolg nicht zufrieden. So verbrachte er die ganzen nächsten zwei Stunden damit, Dinge zu erschaffen und wieder verschwinden zu lassen. Mit Möbeln hatte es angefangen, dann ging es an die Feinarbeit. Irgendwann stapelten sich Regale mit Büchern über Musik und Seefahrerei, auf dem Schreibtisch lag stapelweise Papier, das Schreibzeug würde ein paar Jahre reichen. Xigbar saß in einem Sessel und wartete. Es konnte sich nur noch um Minuten handeln … Und tatsächlich, nach wenigen Sekunden sackte Demyx schwer atmend in die Knie und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. „Ah, du bemerkst also endlich, wie anstrengend es ist, seine Kräfte zu verwenden. Daran werden wir wohl noch arbeiten müssen.“ „Du hättest mich ruhig warnen können!“, beschwerte sich Demyx. „Als hättest du auf mich gehört. Außerdem haben wir alle auf die harte Tour gelernt.“ Er war dafür wohl das beste Beispiel. Ohne es wirklich wahrzunehmen fuhr er die lange Narbe nach, die knapp unter seinem linken Auge begann und sich quer über die Wange bis zum Kinn zog. Ein ewiges Mahnmal für Braigs Arroganz und Überheblichkeit; dafür, dass er Herzlose nie wieder unterschätzen durfte. Die Narbe erzählte eine beschämende Geschichte. Und manchmal, wenn er diesen Tag in seinen Alpträumen zum wiederholten Male erleben musste, wenn er die Schmerzen spürte, seine eigenen Schreie und sein erbärmliches Flehen um Gnade in seinen Ohren klang … ja, manchmal fragte er sich, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn Dilan es nicht rechtzeitig geschafft hätte, ihm das Leben zu retten. Der Junge warf ihm einen seltsamen Blick zu. „An was denkst du?“ „Ist nicht wichtig. Komm mit, wir besorgen dir was zu trinken.“ ~*~ „Hey, wartet!“ Der Schütze bedeutete dem Jungen, weiterzugehen. Wenn sie Axel ignorierten, würde er vielleicht wieder von alleine gehen. Nicht, dass Xigbar wirklich daran glaubte, aber wollte momentan nicht noch ein zweites hyperaktives Kind um sich haben. „Mensch, Xiggy, jetzt wart doch mal!“ Xigbars linkes Auge zuckte verdächtig. Er blieb stehen, bis zu ihm aufgeschlossen hatte. Dann packte er Axel um die Kehle, und nach einer winzigen Manipulation der Schwerkraft war es ein Leichtes, ihn in die Luft zu heben. Axels Hände umklammerten die des Schützen, er strampelte mit den Beinen, würgte etwas Unverständliches hervor. Schnürte man einem Menschen die Luft ab, dauerte es laut Statistik gerade mal sieben bis vierzehn Sekunden, bis die Sauerstoffzufuhr zum Gehirn unterbrochen wurde, und der Mensch in Ohnmacht fiel. Meist ging das Hand in Hand mit Gehirnschäden oder einem schnellen Tod, aber da sie Axel lebend brauchten – was Xigbar häufig bedauerte –, lockerte er seinen Griff schnell wieder. Axel fiel zu Boden, sog gierig die Luft ein und hustete. „Okay, okay“, stieß er hervor, „keine Spitznamen mehr, ich präg mir’s ein!“ „Was willst du?“ „Jetzt sei doch nicht immer so!“ Axel kam wieder auf die Beine und grinste. „Ich wollte mir den ‚Newbie’ hier mal aus der Nähe ansehen.“ „Das hast du ja gerade.“ Auch, wenn es anders aussah, Xigbar hatte nichts gegen Axel. Nicht immer jedenfalls. Es war einfach nur so, dass Nummer Acht einem tierisch auf die Nerven gehen konnte, wenn man ihm die Gelegenheit dazu gab. „Ach, und außerdem will Vexen dich sehen. Er hat einen Auftrag für dich.“ Auftrag? Jetzt?! „Es ist ja nicht so, als hätte ich gerade etwas Besseres zu tun.“ „Stimmt genau!“, gab Axel enthusiastisch zurück. Er würde das jetzt nicht kommentieren. Stattdessen wandte er sich an Demyx: „Kommst du auch allein zurecht?“ „Hey, mach dir um ihn keine Sorge“, meinte Axel breit grinsend und legte einen Arm um den Jungen. „Ich werd’ solange auf ihn aufpassen.“ Er zwinkerte Demyx zu. Es war wohl nicht nötig, zu erwähnen, dass gerade das Xigbar einige Sorgen bereiten würde. ~*~ Manchmal kam er nicht umhin, sich zu fragen, was er getan hatte, um das alles zu verdienen. Dann fiel es ihm wieder ein und er schätzte sich glücklich, wie glimpflich er doch davongekommen war. Trotzdem, mit diesem Auftrag hatte Vexen eindeutig den Vogel abgeschossen … „Eine Fee?“ Er musste sich verhört haben. „Lass mich das wiederholen: eine Fee?! So ein kleines Viech mit Flügeln?“ „Genau“, bestätigte Vexen, ohne von seinem Versuch aufzusehen. „Es wird behauptet, Feenstaub verleihe einem die Möglichkeit zu fliegen. Wenn das stimmt und es mir gelänge, ihn artifiziell herzustellen, könnte sich das als nützlich erweisen. Übrigens ist das, mit dem du herumspielst, konzentrierte Salzsäure.“ Hastig stellte der Schütze das Becherglas zurück auf den Schreibtisch. Er wollte gar nicht wissen, wozu Vexen sie benötigte. Stattdessen seufzte er resigniert. „Und wie soll ich sie dir fangen? Bekomm’ ich einen Schuhkarton mit Luftlöchern und ein Schmetterlingsnetz?“ Weder das eine noch das andere. Gnädigerweise hatte ihr Akademiker ihm eine – wie er es ausdrückte – ‚zweckmäßige Transportbox’ mitgegeben, die verdächtig einer Tupperschüssel ähnelte. Wie er die Fee allerdings erstmal hineinbekam, das war eine andere Frage. Er war jetzt schon seit Stunden unterwegs, und das einzige, was er bisher getroffen hatte, war ein Krokodil. Eines, das tickende Geräusche von sich gab. ‚Wunder der Natur’ konnte man dazu wohl nur sagen … Fluchend ließ Xigbar sich unter einem Baum nieder, den Rücken gegen den Stamm gelehnt, und zündete eine Zigarette an. Er war sich sicher, dass Saïx ihm das eingebrockt haben musste – er wusste doch, dass der Schütze Tage brauchen würde, bis er endlich eines dieser Wesen erwischt haben würde. Und was der Berserker in der Zeit alles versuchen würde, um Xemnas und Demyx zu beeinflussen, das wollte Xigbar sich nicht ausmalen. Er hatte wohl einfach ein lausiges Glück. Wolken zogen vor den Mond, ein milder Wind ließ die Blätter leise rauschen. Xigbar warf die Zigarette ins Gras. Dann wollte er mal wieder … Ein leises Klingeln ließ ihn aufsehen. Läutete da jemand eine Glocke? Nicht weit entfernt schwirrte etwas Leuchtendes in der Luft herum. Vielleicht nur ein großes Glühwürmchen, vielleicht aber auch … Der Schütze grinste. Das war wohl das, was man als ‚Glücksfee’ bezeichnen konnte. ~*~ Ein paar Minuten war die Fee in der ‚Transportbox’ gefangen. Sie klingelte wütend und ließ sich immer wieder gegen die Plastikwände fallen, in einem vergeblichen Versuch, auszubrechen. Xigbar machte sich noch einen Spaß daraus, ihr zu erzählen, wie Vexen ihr die Flügel ausreißen würde, als er hinter sich Schritte hörte. Der Luftzug verriet die Attacke. Schnell duckte sich der Schütze und etwas wirbelte an der Stelle vorbei, wo gerade noch sein Kopf gewesen war. Er erkannte die Waffe sofort – so viele Schlüsselschwerter gab es schließlich nicht mehr. Dispelling and Casting Doubts ----------------------------- Chapter 6 „Da unser erstes Zusammentreffen ja so rabiat gestört wurde ... ” Grinsend tippte Axel sich erst an die Brust und dann gegen die Schläfe. „Ich bin Axel. Präg dir’s ein!“ Der Blonde stellte sich ebenfalls vor. „Freut mich, dich kennen zu lernen.“ „Gleichfalls, mein Bester.“ Er legte Demyx freundschaftlich den Arm um die Schulter. „Sag mal, ich bezweifle, dass Xiggy dich schon richtig herumgeführt hat, also was hältst du davon, wenn ich dich dem Rest der Truppe vertraut mache?“ Die beiden grinsten sich nur an, und nachdem Demyx nickte, klatschte Axel begeistert in die Hände. „Na dann wollen wir mal!“ Nun musste man wissen, dass Axel niemand war, der irgendetwas aus reiner Freundlichkeit tat. Nein, er versprach sich immer eine Gegenleistung oder wenigstens einen Vorteil. Und daraus, sich auf eine Scheinfreundschaft mit Nummer neun einzulassen, sah er durchaus etwas, das sich für seine Zwecke nutzen lassen könnte: In der Organisation war es wichtig, die Schwächen der anderen Mitglieder zu kennen. Erschlich er sich nun Demyx’ Vertrauen, würde er über kurz oder lang nicht nur über dessen Schwachpunkte Bescheid wissen, sondern möglicherweise etwas erfahren, das sich gegen das Narbengesicht verwenden ließ. ~*~ „Seid ihr von der Organisation schon so tief gesunken, dass ihr Feen klauen müsst?“ Xigbar verdreht nur die Augen. Ihm war diese Stimme viel zu gut bekannt. Und dabei hatte er doch alles getan, um ein solches Zusammentreffen zu vermeiden. Er drehte sich um und winkte den drei Neuankömmlingen betont freundlich zu. „Eigentlich muss die Frage anders lauten!“ Er zeigte auf die drei. „Habt ihr nichts Besseres zu tun, als mich-“, dabei zeigte er mit dem Daumen auf sich selbst, „-zu nerven?“ „Wir verfolgen nur unser Ziel – euch alle auszumerzen!“, rief der Begleiter des Schlüsselschwertträgers und die Frau neben ihm nickte nur. „Und jetzt nimm gefälligst die Kapuze ab und kämpfe wie ein Mann!“ Sie würden sich wohl nie ändern … Xigbar tat, wie ihm befohlen, und grinste den Schlüsselschwertträger überheblich an. „Lange nicht gesehen, Cecil.“ Cecil fletschte die Zähne, und Xigbar konnte an seinem Gesichtsausdruck sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete, er sich jede Demütigung, die der Schütze ihm je zugefügt hatte, ins Gedächtnis rief. Xigbar war nämlich niemand, der seine Gegner einfach so tötete – er zog es vor, mit ihnen zu spielen, bis sein ‚Spielzeug’ zerbrach. Ursprünglich waren sie zu viert gewesen; außer Cecil, dem Dragoon und der Weißmagierin – er hatte sich nicht die Mühe gemacht, die Namen der beiden zu behalten – hatte sie noch eine Beschwörerin begleitet. Die war die Einzige gewesen, die ihm wirklich zu schaffen gemacht hatte, deshalb war sie diejenige gewesen, die sterben musste. Das war schon über ein Jahr her, aber Cecil würde es ihm wohl nie verzeihen. Es war einfach rührend gewesen, wie der Paladin mit vor Tränen verschleiertem Blick Rache geschworen hatte … Sie verloren keine Zeit. Der Paladin packte sein Schlüsselschwert mit beiden Händen, während der Dragoon sich mit einem Satz vom Boden abstieß. Die Weißmagierin erstrahlte in der Zwischenzeit in einem hellen Licht, als sie ihre Hände faltete und einen leisen Spruch murmelte. Ihre Kutte wehte und aus ihren Augen schien ein eigenartiger Glanz. Dann legte sich ein rotes Licht um ihre beiden Gefährten, deren Bewegungen sich auf einmal um ein Vielfaches verschnellerten. Xigbar wich den Angriffen fluchend aus und beschwor seine eigene Waffe. Die Box mit der Fee klemmte er sich unter den linken Arm. Mit einem Satz sprang er in die Luft, feuerte von dort auf Cecil. Der wiederum nutzte seine magisch erworbene Schnelligkeit, um die Kugeln auf den Schützen zurück zu lenken, und schrie erfreut auf, als eine von ihnen Xigbars linken Oberarm streifte. Xigbar biss die Zähne zusammen und verstärkte seinen Griff um die Box. Das Blut rann seinen Arm hinab, durchnässte den Stoff seines Mantels. Er musste das Blatt schnellstens zu seinen Gunsten wenden! Plötzlich spürte er, wie sich eine unsichtbare Macht wie Blei um seine Glieder legte. Es war, als würde er von Ketten gehalten, die jede seiner Bewegungen erschwerten und verlangsamten. Er starrte hasserfüllt zu der Magierin. Die Schlampe hatte einen Gemach-Zauber auf ihn gelegt! Mit diesem Gedanken hatte er sich einen Moment der Unachtsamkeit erlaubt, den er sogleich bereute, als sich die Lanze des Dragoons in seine Wunde bohrte. Der Schütze stieß einen Schmerzensschrei aus, die Box entglitt ihm und fiel – glücklicherweise ohne sich zu öffnen – zu Boden. „Was ist los, Xigbar?“, rief Cecil triumphierend, „machst du schon schlapp?“ „Von wegen!“, brüllte der Schütze zurück, „Dich und deine Speichellecker schaff’ ich auch mit einer Hand!“ Er spuckte große Töne, doch er wusste, dass er im Nachteil war. Nicht nur waren sie in der Überzahl, sie hatten auch noch magische Unterstützung! Er musste verschwinden. Sie ließen ihm nicht die Zeit, ein Portal zu beschwören. Während Cecil und der Dragoon ihn mit ihren Angriffen in Schach hielten, bombardierte ihn die Magierin mit Geschossen aus weißem Licht. Xigbar riss die Arme hoch, um die Attacke abzuwehren. Das Geschoss prallte mit voller Wucht auf seinen linken Arm, jagte höllischen Schmerz durch seinen Körper. Er musste das Weib loswerden! Das würde mit Sicherheit auch die beiden anderen lange genug ablenken, um ihm Gelegenheit zu geben, sich die Fee zu schnappen und zu verschwinden. Er teleportierte sich auf einen kräftigen Ast außerhalb des Sichtfeldes des Trios, um nach Luft zu schnappen und seine Gedanken zu ordnen. Er konnte versuchen, sie von seinem Standpunkt aus zu erwischen, aber die Chance, dass die Kugel abgefangen würde, war zu groß. Er musste also ganz nah ran! Die Magierin schrie auf, als er auf einmal vor ihr erschien, doch weder sie noch ihre Gefährten hatten Zeit, zu reagieren. Er richtete die Waffe auf ihre Stirn und drückte ab. Es war kein schöner Anblick, als all das Blut und die Hirnmasse aus ihrem Schädel gedrückt wurden, und doch ergriff Xigbar eine gewisse Genugtuung, als mit dem Tod der Magierin alle Zauber von ihm genommen wurden. Cecil und sein Begleiter schrieen auf, und noch während sie zu ihrer Freundin rannten, griff Xigbar nach der Fee und beschwor ein Portal, durch das er so schnell wie möglich verschwand. ~*~ „Da hast du deine scheiß Fee!“ Gereizt warf Xigbar die Box neben den Bericht, den Vexen gerade verfasste, und brachte die Fee dazu, wütend zu klingeln und ihm mit einer geballten, winzigen Faust zu drohen. „Es ist immer wieder erstaunlich, welch gute Laune du doch verbreiten kannst“, kommentierte der Akademiker mit hochgezogener Augenbraue und warf einen Blick auf Xigbars lädierten Arm. „Mit was hast du dich denn angelegt?“ „Mit dem Artenschutzkommando für gefährdete Feen – besser bekannt als ‚Schlüsselschwertheini und Konsorten’!“ „Das erklärt wohl alles. Ich nehme an, du hast gewonnen?“ Der Schütze zwinkerte grinsend und warf sich in Pose. „Aber natürlich! Sonst wär ich ja nicht hier.“ „Und das wäre schließlich für uns alle ein herber Verlust.“ Xigbar beschloss, sich nicht auf ein Wortgefecht mit dem Biologen einzulassen. Das würde er sowieso nur verlieren – Vexen war schon immer ein sarkastischer Bastard gewesen, und wenn er erst einmal so richtig in Fahrt kam, suchte man besser schnell das Weite. „Brauchst du etwas für deinen Arm?“, fragte Vexen beiläufig, während er die Fee in einen kleinen Käfig steckte und diesen in einem Schrank verstaute. Es war klar, worauf er damit anspielte. Nobodies waren nicht in der Lage, Heilzauber anzuwenden – wahrscheinlich fehlte ihnen das gute Herz, einen solch positiven Zauber zu wirken –, dafür hatten sie erstaunliche Selbstheilungskräfte. Ihre Wunden schlossen sich nach gewisser Zeit – ob es sich dabei um Minuten oder Wochen handelte, hing ganz vom Grad der Verletzung ab. Einzig das Schlüsselschwert, die Verkörperung des Lichts, schaffte es, ihnen, die von Licht und Dunkelheit gleichermaßen verstoßen wurden, etwas anzuhaben. Gegen Wunden, die ihnen ein Schlüsselschwert zufügte, konnte selbst die beste Potion nichts ausrichten. Der Schütze zuckte mit den Schultern. „Wäre vielleicht nicht schlecht. Das heilt zwar von selbst, aber ich hab nicht vor, mir ’ne Infektion einzufangen.“ Nach einer knappen Geste des Akademikers zog er den Mantel über den Kopf und setzte sich. Als Vexen das Blut abwusch und die Wunde reinigte, grinste Xigbar nur. „Ist halt schon praktisch, eine hauseigene Krankenschwester zu haben!“ Belohnt wurde er für diesen Kommentar damit, dass Vexen den Verband um einiges fester anzog als nötig, und damit einen stechenden Schmerz durch Xigbars Arm jagte. „Ich durfte vorhin übrigens deinen Schüler kennen lernen.“ „Ach?“ Xigbar legte den Kopf schief. „Und was hältst du von ihm?“ „Er passt zu dir.“ Vexen verzog die Lippen zu einem höhnischen Lächeln. „Er ist genau so eine Nervensäge wie du.“ „Du schmeichelst mir.“ Der Schütze hob den Zeigefinger. „Dabei wissen wir doch beide, dass du mich tief in deinem Innern gern hast.“ „Natürlich“, pflichtete Vexen ihm bei. „Irgendwo ganz tief in meinem nicht vorhandenen Herzen ist ein Platz, der ausschließlich für dich reserviert ist.“ Er prüfte den Verband noch einmal und nickte dann zufrieden. „Fertig. Lass ja die Finger davon!“ „Also bitte! Für wie blöd hältst du mich?“ Vexen hatte sich schon wieder einem Laborbericht zugewendet. „Glaub mir, darauf willst du keine Antwort.“ ~*~ „Meine Güte, du siehst ja aus wie drei Tage Regenwetter“, meinte der Schütze, als er auf Demyx traf, der auf dem Dach auf dem Boden saß und Kingdom Hearts betrachtete. „Was hat Axel wieder angestellt?“ Der Junge lächelte gequält. „Nichts. Axel ist ganz okay.“ „Ja, ungefähr so wie ’n Pickel am Hintern“, murmelte Xigbar leise und als der Junge ihn fragend ansah, schüttelte er nur den Kopf. „Ist nicht wichtig.“ Er ließ sich neben Demyx nieder und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Brüstung. „Saïx hat gesagt, ich würde es nicht schaffen.“ Xigbar zündete sich eine Zigarette an und vollführte eine wegwerfende Geste. „Darauf solltest du nichts geben. Saïx ist einfach ’n Arschloch.“ Demyx wollte etwas sagen, doch Xigbar unterbrach ihn gleich: „Hör zu, Saïx mag dich nicht. Das wird er auch nie. Und weißt du, wieso? Weil ich mich um dich kümmere. Wärst du einem der anderen unterstellt worden, würde er dich wahrscheinlich akzeptieren, aber so …“ Er nahm einen langen Zug und betrachtete den weißen Rauch. „Wahrscheinlich wird er dich in Ruhe lassen, aber falls nicht, merk dir einfach eines: Wenn er glaubt, dich mit Worten verletzen zu können, wird er es tun.“ Nachdenklich legte Demyx den Kopf schief. „Ach deshalb … “ „Deshalb was?“ „Er hat ziemlich über dich hergezogen. Gesagt, dass du unfähig bist und ich mit dir als Mentor schon so gut wie verloren wäre.“ Aus dem Jungen sprudelte es nur so heraus, er gestikulierte wild mit den Händen. „Dass es nicht lang dauern würde, bis ich mich in einen Dusk verwandle, auch wenn ich nicht weiß, was das ist, und dass es für alle besser wäre, wenn du und ich eliminiert werden.“ Lächelnd warf Xigbar die Zigarette über die Brüstung. Das klang so ganz nach Saïx … „Und was hast du gesagt?“ „Dass es schon einen Grund haben wird, warum du einen höheren Rang hast als er.“ „Gut gemacht, Kleiner, damit hast du einen wunden Punkt bei ihm erwischt.“ Demyx nickte. „Das hab ich gemerkt. Er-“, der Junge wurde rot, „ -wurde dann richtig ausfallend, hat Theorien aufgestellt, womit du Xemnas bestochen haben könntest -“ „Nein! Er hat im Ernst behauptet, ich hab’ mich hochgevögelt?!“ Xigbar brach in Gelächter aus. „Ich fühl’ mich geehrt!“ „Na ja, und dann hab ich rot gesehen und …“, Demyx räusperte sich und sah zerknirscht zu Boden, „ihm mit meiner Sitar eins übergebraten.“ Als Xigbar sich vor Lachen verschluckte und zu husten begann, klopfte der Junge ihm helfend auf den Rücken. Der Schütze wischte sich die Lachtränen aus den Augenwinkeln und legte Demyx anerkennend die Hand auf die Schulter. „Ich bin verdammt stolz auf dich, Kleiner. Nicht nur, weil Saïx jetzt bestimmt höllische Kopfschmerzen haben wird, oder weil du mich verteidigt hast.“ Er grinste breit. „Nein, du hast auch jetzt schon bewiesen, dass Saïx sich geirrt hat. Du bist nämlich stärker als du denkst!“ „Das sagst du so.“ Demyx sah ihn zweifelnd an. „Ich bin mir da nicht so sicher. Ich meine, ich hab’ gesehen, was Axel kann – und ich? Was kann ich denn schon?“ „Fang mir ja nicht an, so zu denken! Du weißt nur noch nicht genug über dein Element.“ Xigbar stand auf, klopfte sich imaginären Staub von den Kleidern und streckte dem Jungen die Hand hin. „Das werden wir jetzt ändern.“ ~*~ Demyx staunte nicht schlecht, als sie die riesige Bibliothek betraten. Hunderte von Regalen reichten bis zur Decke, die Zahl der Bücher musste bis in die Millionen gehen! Sein Mentor grinste ihn nur an. „Beeindruckend, hmm?“ Das war noch untertrieben. Der Musiker war sich allerdings nicht sicher, was genau sie hier finden sollten, das ihm einen besseren Einblick in sein Element verschaffen würde und diesen Zweifel teilte er Xigbar auch mit. Der schenkte ihm nur ein seltsam erschöpftes Lächeln und führte ihn nur zu einem der wenigen niedrigen Regale, in dem sich um die hundert dicke Wälzer befanden, von denen ein jeder einen der Buchstaben des Alphabets trug. „Das hier ist unser Stichwortverzeichnis. Hier haben sich Lexaeus und Zexion die Nächte um die Ohren geschlagen, und jedes der Bücher nach diversen Stichworten kategorisiert.“ Er nickte zu dem ersten Band mit dem Aufdruck ‚W’. „Sei ein guter Junge und zieh den mal raus!“ Der Musiker wollte gerade fragen, warum Xigbar das nicht selbst tun konnte, als ihm der breite Verband an dessen Arm auffiel, der durch einen Riss in dessen Mantel sichtbar wurde. „Was hast du denn da gemacht?“ Die Wunde musste frisch sein, das Blut sickerte durch den Verband. Wahrscheinlich wirkte sein Gegenüber deshalb so entkräftet. „Mach dir mal keine Gedanken.“ Das war leichter gesagt als getan, denn für Demyx war der Schütze in der kurzen Zeit, in der sie sich kannten, wichtig geworden. Es war schließlich das erste Mal in seinem Leben, dass er jemanden hatte, der sich um ihn kümmerte. Es war das erste Mal, dass er jemanden als wirklichen ‚Freund’, vielleicht sogar als ‚Familie’ bezeichnen konnte. Im Register standen glücklicherweise nicht nur Titel der Bücher, es wurde auch immer das Regal erwähnt, in dem man zu suchen hatte. Dadurch fanden sie einige Werke, die sich um den Begriff ‚Wasser’ drehten, und brachten diese zu einem der vielen Tische. Sie schlugen sich die halbe Nacht um die Ohren, um die verschiedenen Bedeutungen von Demyx’ Element herauszufinden, und im Nachhinein war der Musiker um einiges an Wissen reicher. Wasser, so sagten die Bücher, war der Schlüssel zu Leben und Tod, das durch seine Kräfte nicht nur Leben hervorbringen, sondern es auch wieder auslöschen konnte; es sei das Grundsymbol aller Energie und damit den anderen Elementen überlegen. In vielen der Bücher war von rituellen Reinigungen die Rede, die das Böse und Dämonische abhalten sollten, wiederum andere sprachen von Geistern, die sich im Wasser aufhielten, und Demyx fragte sich unwillkürlich, ob er wohl auch in der Lage sein würde, solche Wesen zu erschaffen. Weiterhin lernte er einiges über die Kraft von Strudeln und Wasserfällen, und auch über die Tatsache, dass der menschliche Körper zum größten Teil aus seinem Element bestand. „Siehst du“, meinte Xigbar irgendwann, „so schlecht bist du mit deinem Element echt nicht dran.“ Demyx lächelte nur. Er hatte es wirklich gut getroffen. Auch mit seinem Mentor, denn er bezweifelte, dass einer der anderen aus der Organisation so viel Zeit damit verbrachte hätte, seine Zweifel zu beseitigen. „Wenn jetzt alle Unklarheiten beseitigt sind, würd ich dir empfehlen, ins Bett zu gehen. Morgen Früh – oder wann immer ich aufwachen sollte – fängt dann dein Training an.“ Der Musiker sprang auf und nickte erfreut. „Ich werd’ dich bestimmt nicht enttäuschen!“ ~*~ Tage und Wochen verstrichen, in denen Demyx immer mehr über sich und seine Kräfte erfuhr. Sein Talent verschaffte ihm eindeutig gewisse Vorteile, auch wenn ihm so manche Aufgaben einfach nicht gelingen wollten – es fiel ihm noch immer schwer, ein Portal zu erschaffen, und er hatte sich mehr als einmal in den dunklen Korridoren verlaufen. Dennoch war Xigbar äußerst zufrieden mit der Entwicklung des Jungen, nicht nur, weil er Saïx’ Prophezeiungen damit entkräftet und dem Berserker ein Schnippchen geschlagen hatte, sondern auch, weil er selbst Demyx’ Gesellschaft nicht mehr missen wollte. Man kam einfach nicht umhin, sich von seinem Optimismus anstecken zu lassen, und wann immer er von den Abenteuern schwärmte, die er noch erleben wollte, ertappte Xigbar sich dabei, über seine eigene Zukunft nachzudenken. Natürlich wusste er, dass es sich nur um Hirngespinste handelte, aber ein kleines Fünkchen Hoffnung keimte trotzdem in ihm auf … Ein paar Wochen nach der Aufnahme ihres neusten Mitglieds Luxord wurde der Schütze in die Bibliothek gebeten, wo Zexion ihn bereits erwartete und freundlich wie eh und je mit den Worten „Du kommst spät.“ begrüßte. Xigbar zuckte mit den Schultern und setzte sich an einen der vielen Tische. „Sind schon seltsamere Dinge passiert.“ Zexion verschränkte missbilligend die Arme vor der Brust. „Du könntest dich wenigstens entschuldigen, wenn du es schon nicht für nötig hältst, dich an vereinbarte Uhrzeiten zu halten.“ „Was willst du denn hören?“ Der Schütze lehnte sich in seinem Stuhl zurück und legte nonchalant die Füße auf den Tisch. „Dass es mir Leid tut und nie wieder vorkommt?“ Er grinste nur. „Du weißt genauso gut wie ich, dass das nicht stimmt. Oder wär’ dir eine Ausrede à la ‚Ein Herzloser hat meinen Wecker gefressen’ lieber?“ Aus Zexions Augen schossen metaphorische Blitze, doch er hielt es scheinbar für intelligenter, sich nicht auf lange Diskussionen einzulassen. Stattdessen legte er ein aufgeschlagenes Buch auf den Tisch und tippte auf die Abbildung eines silbrig glänzenden Steins. „Was sagt dir dieses Bild?“ „Dass du unter die Hobbygeologen gegangen bist?“ Zexion verdreht die Augen. „Nein, Xigbar“, begann er gedehnt und betont ruhig, „es bedeutet, dass wir möglicherweise etwas Interessantes herausgefunden haben. Das hier“, er tippte noch einmal auf das Bild, „ist Mithril, eines der sagenumwobenen Metalle.“ „Und was ist so toll an dem Ding?“ „Zuallererst soll das Ding härter als Stahl und trotzdem leichter als eine Feder sein, was es zu dem perfekten Rohmaterial für Schmiedkunst machen würde. Aber das ist nicht von Interesse für uns. Allerdings stammen die Legenden über Mithril ausschließlich aus Welten, in denen es nie Aufzeichnungen über das Erscheinen von Herzlosen gab.“ Xigbar nickte verstehend. „Da muss irgendein Zusammenhang bestehen.“ „Ganz genau. Wir bräuchten ein Stück Mithril, um die Verbindung zu erforschen.“ „Dann mach’ mich mal gleich auf die Socken.“ „Nimm Demyx mit – vier Augen sehen besser als zwei und er könnte etwas ‚Auslauf’ gut gebrauchen.“ Der Schütze grinste nur. „Und da dachte ich immer, Saïx ist der einzige Hund hier.“ Ein schmales Lächeln umspielte Zexions Lippen. „Lass ihn das lieber nicht hören.“ ~*~ Er fand Demyx zusammen mit Luxord im großen Aufenthaltsraum. Der Junge lauschte gebannt einer von vielen Geschichten, die Luxord zu erzählen wusste, und von denen nicht ganz klar war, wie viel Wahrheit in ihnen steckte. Luxord war sowieso ein einziges Mysterium. Seine Art, angebliche wahre Begebenheiten zu erzählen, in denen zufälligerweise jedes Mal er selbst die Hauptrolle gespielt haben sollte, ganz egal, ob es sich um den strahlendsten Ritter oder hinterhältigsten Dieb handelte – dass er sich noch nicht als arme holde Maid bezeichnet hatte, die dem bösen Drachen geopfert werden sollte, überraschte Xigbar ein wenig –, und sein Geschick im Umgang mit Karten ließen darauf schließen, dass er einst ein Gaukler gewesen sein mochte. Aber das passte nicht zu seiner Mimik und Gestik, seinem Lächeln, das ‚Ich stehe weit über euch allen’ zu sagen schien, und auch nicht zu dem elaborierten Vokabular und dem starken Akzent, den man nicht genau einordnen konnte. Xigbar konnte sich eigentlich nur wiederholen: Luxord war ein einziges Mysterium. „Komm schon, Kurzer, wir müssen los“, verkündete der Schütze, woraufhin die beiden ihn ansahen und Demyx zu schmollen begann. „Ausgerechnet jetzt? Luxord wollte mir gerade erzählen, wie das Monster aus der Freakshow ausgebrochen ist!“ „Und er es wieder eingefangen hat, nehme ich an?“ Der Spieler lachte nur und schüttelte den Kopf. „Natürlich nicht, wie sollte ich denn? Ich war doch selbst damit beschäftigt, aus dem Zirkus auszubrechen.“ Er warf dem Jungen einen scheltenden Blick zu. „Außerdem war das kein ‚Monster’, sondern ein Kind. Zugegeben, ein überaus hässlicher, aber dennoch armer Tropf.“ „Das hättest du hören sollen, Xigbar!“ Demyx’ Augen funkelten aufgeregt wie die eines Kindes beim Anblick eines neuen Spielzeugs. „Dünn wie ein Skelett und ein so entstelltes Gesicht, dass man seinen Anblick nur ertragen konnte, wenn er eine Maske getragen hat!“ „Wahnsinnig spannend.“ Der Schütze warf Luxord einen unbeeindruckten Blick zu. „Und was, wenn man fragen darf, hattest du da überhaupt zu suchen? Wurdest du dafür bezahlt, Lügengeschichten zu erzählen?“ „Als würde sich damit Geld verdienen lassen“, kommentierte Luxord belustigt. „Nein, mein Bester, es war die Magie, die ich den Karten entlocken kann, die mich unentbehrlich machte.“ Als Xigbar nur ein abfälliges Geräusch von sich gab, schaltete sich Demyx wieder ein: „Damit kann er sogar die Zukunft voraussagen!“ Er räusperte sich verlegen grinsend. „Mir hat er eine harmonische Zukunft mit einer Partnerschaft versprochen.“ Dass sich der Junge immer so schnell von etwas begeistern ließ … „Das heißt, dir läuft ’ne Katze zu. Können wir jetzt?“ Luxords Finger glitten über das polierte Holz, auf dem sich sofort ein Stapel Karten materialisierte. „Willst du es nicht erst ausprobieren, bevor du meine Künste schlecht machst?“ „Ich glaube nicht an so etwas.“ „Dann kannst du’s ja auch versuchen, oder?“ Demyx grinste über seine eigene Argumentation und Luxord nickte bestätigend. Xigbar seufzte nur. „Wenn’s dich glücklich macht und wir dann los können.“ Er legte die Hand auf den Stapel und zog – nach kurzem Zögern, das er selbst nicht genau erklären konnte – die oberste Karte ab. „Pik-Zehn. Toll, und was sagt uns das?“ Das sonst ewig präsente Lächeln wich von Luxords Lippen. „Es bedeutet“, begann er ungewohnt ernst, „dass du dich vorzusehen hast, wenn du an deinem Leben hängst.“ „Klar doch, ich soll mich von Halsabschneidern und Trickbetrügern fern halten!“ Er zwinkerte Luxord zu und forderte den Jungen noch einmal zum Gehen auf. Ein leichter Schauer lief über seinen Rücken, als er die Karte zerriss, um sowohl den beiden, als auch sich selbst zu demonstrieren, wie wenig er von angeblicher Kartenmagie hielt. Wer glaubte schon an so einen Unfug? _____ A/N: Demyx hatte die Herz-Zwei gezogen. Im Tarot als ‚Zwei der Kelche’ bekannt und mit den Schlagwörtern ‚Harmonie’, ‚Zuneigung’, ‚Liebe’ und/oder ‚Partnerschaft’ versehen. Eine harmonische Beziehung zwischen zwei Menschen beginnt. Die Pik-Zehn oder ‚Zehn der Schwerter’ ist dagegen eine ganz fiese Karte und steht unter dem Motto ‚Niederlage’ beziehungsweise ‚Niedergang’ und wird mit der schonungslosen Härte des Schicksals in Verbindung gebracht. Dargestellt wird die Karte übrigens passenderweise durch eine blutige Leiche, aus deren Körper zehn Schwerter ragen. ;) Alle Bedeutungen der Tarot-Karten beziehen sich auf das Waite-Tarot. Die drei 'Helden' in diesem Kapitel sind Cecil, Kain und Rosa aus Final Fantasy IV. Das Kapitel entstand jedoch schon lange vor der Neuerscheinung von IV für den Nintendo DS - ich bin einfach nur ein kleines FF IV-Fangirl. Und die 'Phantom der Oper'-Referenz musste sein. Weil ebenfalls Fangirl. When Everything Goes Wrong -------------------------- Chapter 7/12 „Und wofür brauchen wir die?“ Fragend zeigte Demyx auf die beiden Rucksäcke, von denen sein Mentor ihm einen in die Hand drückte. „Deiner ist leer, da kommt das Mithril, das wir finden, rein“, erklärte Xigbar, „in dem anderen ist Proviant.“ „Wozu das denn?“ „Na, ist doch klar.“ Xigbar zählte die Gründe an drei Fingern ab. „Unbekanntes Terrain. Möglicherweise keine Zivilisation. Hast du Lust, dein Essen selbst zu fangen?“ Bei dem Gedanken verzog Demyx das Gesicht. „Hast du das etwa schon gemacht?“ „Natürlich, manchmal bleibt einem nichts anderes übrig.“ Der Musiker schüttelte sich, wenn er daran dachte, ein totes Tier ausnehmen und braten zu müssen. Möglicherweise vielleicht sogar Insekten zu essen. „Und was war das?“ Xigbar beugte sich verschwörerisch zu ihm, als würde er ihm ein Geheimnis anvertrauen. „Kleine Kinder.“ Das Problem bei Xigbar bestand darin, dass man sich nie ganz sicher sein konnte, wann er einen Scherz machte und wann nicht. So wie in diesem Moment. Demyx sah ihn ungläubig an. „Das meinst du doch nicht ernst?“ „Wer weiß … “, meinte sein Mentor nur grinsend und griff nach einer Spitzhacke, warf sie Demyx zu, der sie nur mit Mühe fangen konnte. Eine zweite hängte er sich selbst an den Gürtel und schulterte den Rucksack. „Mach den Mund zu, Kurzer, sonst fliegt noch was rein.“ Der Musiker tat, wie ihm geheißen, und betrat gemeinsam mit dem Schützen das Portal, das dieser heraufbeschwor. „Xigbar“, begann er noch einmal, „du hast doch nicht wirklich Kinder gebraten, oder?“ „Was heißt hier ‚gebraten’? Das Fleisch muss man roh genießen, wenn das Blut noch trieft und-“ „Xigbar!“ ~*~ Möglicherweise hatte Xigbar mit der nichtvorhandenen Zivilisation Recht gehabt, denn als sie in der neuen Welt ankamen, sah Demyx nur zwei Dinge soweit das Auge reichte: Wald und Meer. Sie waren auf einer steilen Klippe gelandet, von der aus man kilometerweit in den Horizont blicken konnte. Der Musiker wandte sich nur ungerne von dem Schauspiel ab, als Xigbar sich auf den Weg machte. „Was glaubst du, wo wir suchen müssen?“, fragte er aufgeregt und vergnügt. Er fand das Zwitschern der Vögel und das Rauschen der Blätter einfach wunderbar. Es war so ganz anders als das trostlose Grau ihrer eigenen Welt. Sein Mentor strich sich nachdenklich über die Narbe. „Na ja, es ist ein Metall – oder ein Stein, wenn man es so sehen will –, also tippe ich stark auf einen Berg oder den Boden unter uns.“ „Also buddeln oder Steine klopfen?“ „Sieht ganz so aus.“ Das war eine Wahl zwischen Pest und Cholera, wen man Demyx fragte. Was natürlich niemand tat. Sie wanderten einige Zeit ziellos durch den Wald, als Xigbar ihn plötzlich zurückhielt. „Was ist denn los?“ „Schritte“, erklärte Xigbar leise. „Hör zu, egal was passiert, wir verhalten uns friedlich. Vielleicht erfahren wir so, wo wir suchen müssen.“ Demyx bejahte und direkt darauf traten zwei Gestalten aus dem dichten Gebüsch. Der eine Mann war jung, vielleicht etwas älter als der Musiker selbst, hatte rotbraunes Haar und trug eine grüne Mütze. Der Andere war groß und breitschultrig, ein Bär von einem Mann. Beide trugen sie Gewehre. „Wer seid ihr?“, fragte der Jüngere überrascht, und ehe einer von ihnen antworten konnte, sprach er gleich weiter. „Seid ihr auch Engländer?“ Der Bär nickte in Richtung der Spitzhacken. „Ihr seht verdammt nach Goldsuchern aus.“ Demyx schüttelte den Kopf. „Wir suchen doch kein Gold, sondern-“ Weiter kam er nicht, da Xigbar ihm den Ellbogen in die Rippen rammte und die Augen verdrehte. „Ihr sucht was?“ Der Bär hob gefährlich das Gewehr. „Das Land hier gehört unserem König, ihr habt hier nichts verloren.“ Xigbar erhob beschwichtigend die Hände. „Wir haben nicht vor, irgendetwas zu stehlen. Wir sind nur Forscher auf der Suche nach Gesteinsproben.“ „Ach, so nennt man das heutzutage?“ Die Waffe war immer noch auf sie beide gerichtet. „Ihr seid auf alle Fälle verdächtig. Mitkommen! Gouverneur Ratcliff wird entscheiden, was wir mit euch machen.“ Demyx sah zu seinem Mentor und da der nur nickte, ließen die beiden sich ergeben in Gewahrsam nehmen. Dabei lief der Bär vor ihnen und der Junge passte von hinten auf, dass sie nicht zu fliehen versuchten. Der Musiker stieß Xigbar an. „Hast du das gehört?“, flüsterte er. „Was?“, wisperte Xigbar zurück. „England!“ „Ja, und?“ Demyx seufzte enerviert auf. „Ich hab dir doch erzählt, dass Port Royal britische Kolonie ist.“ „Hier wird nicht getuschelt!“, fuhr der Bär sie beide an. Es herrschte eine kurze Stille, dann beugte Xigbar sich wieder zu ihm. „Und was meinst du damit?“ „Britannien ist ein anderer Name für England!“ „Das heißt“, begann der Schütze mit erhobener Augenbraue, „wir sind möglicherweise in deiner Welt gelandet?“ Ihm blieb nicht die Zeit zu antworten. Ein Schuss gellte durch die Stille des Waldes, brachte die Vögel dazu, erschrocken aufzubrechen. Xigbar war fluchend in die Knie gegangen, und Demyx sah mit Schrecken, dass sich unter seinem linken Bein eine Blutlache gebildet hatte. „Was soll das?“, fuhr der Jüngere der zwei Fremden den anderen an. „Bist du verrückt geworden?“ Der Bär gestikulierte mit dem Gewehr. „Hast du sie nicht gehört, Thomas? Sie haben Fluchtpläne geschmiedet!“ Er grinste mit höhnischem Lächeln. „So jedenfalls werden die nicht abhauen können!“ Der Musiker sah rot. Er wollte auf die beiden losgehen, ihnen zeigen, mit wem sie sich angelegt hatte, da umklammerten Xigbars Finger sein Handgelenk. „Lass es“, stieß sein Mentor zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Wir brauchen die Informationen!“ Demyx wollte widersprechen, konnte nicht fassen, dass Xigbar sich nicht rächen wollte. Dann ließ er die Schultern hängen. Er wusste natürlich, dass der Schütze Recht hatte. Vorsichtig half er ihm hoch, legte ihm einen Arm um die Hüfte und ließ zu, dass er sich auf ihn stützte. „Braver Junge“, keuchte Xigbar leise. „Und ich verspreche dir, wenn wir nicht herausfinden, was wir wissen müssen, wirst du noch genug Spaß haben.“ ~*~ Sie wurden in eine Art Fort – Jamestown, wie Thomas sie darauf hinwies – und dann in ein protziges Zelt geleitet. Darin befanden sich ein breiter, in violetten Stoff gehüllter Mann, der fröhlich ein Hähnchen spachtelte, sowie ein hagerer Diener und kleiner Hund. „Wer sind denn die Gestalten?“, fragte der Mann mit abschätzendem Blick. „Und was ist mit dem passiert?“ Er zeigte mit einem Hähnchenschlegel auf den Schützen. Der Bär salutierte. „Gouverneur, das sind zwei Goldräuber, die wir erwischt haben und an der Flucht hindern mussten.“ „Was für ein Schwachsinn“, wetterte Xigbar. „Das verdammte Gold interessiert uns einen Scheißdreck!“ „So, so. Dann erzählt mal eure Variante der Geschichte“, meinte der Gouverneur. Mit einem spöttischen Lächeln fügte er hinzu: „Und verzeiht, dass ich Euch keinen Stuhl anbieten kann.“ Xigbar grinste zurück. „Ist auch besser so, ich hätte sonst Angst, meine Sachen zu beschmutzen.“ Den verächtlichen Blick Ratcliffs nicht beachtend erläuterte er, weshalb sie gekommen waren. „Ein silbriges Metall, das aber kein Silber ist? Nie gesehen.“ Thomas schien etwas einwerfen zu wollen, wurde aber mit einem Blick zum Schweigen gebracht. „Was nichts zu bedeuten hat“, meinte Xigbar gehässig, „bei Eurem Ego und Eurem Bauch würdet Ihr nicht einmal etwas erkennen, wenn ihr mit dem Kopf dagegen knallt. Wobei das dann mit Sicherheit eine Verbesserung zu vorher wäre.“ Ratcliff schlug mit solcher Wucht auf den Tisch, dass ein Teil seiner Mahlzeit wegflog. Der kleine Hund stürzte sich voller Eifer darauf. „Raus hier!“, brüllte der Gouverneur, „bevor ich Euch erschießen lasse!“ „Nichts lieber als das.“ Xigbar nickte Demyx zu. „Lass uns gehen.“ „Das war wohl nichts“, meinte der Musiker seufzend, als sie das Zelt verließen. Beide schenkten dem Teller, der an ihnen vorbei flog, keine Beachtung. „Das würd’ ich nicht sagen. Dieser Thomas weiß etwas, und ich bin mir sicher, dass wir es gleich erfahren. Ehrliche Leute sind doch so einfach zu durchschauen.“ „Aber … “ Demyx kam nicht weiter, denn tatsächlich holte sie der junge Mann ein. „Ich … Es… “, stotterte er und schüttelte dann den Kopf. „Verzeiht, was passiert ist. Den Männern ist das Goldfieber zu Kopf gestiegen.“ „Ist schon okay“, versicherte Xigbar. „Ihr habt nicht zufällig ein paar Hinweise für uns?“ Thomas nickte eifrig. „Doch, natürlich.“ Er zeigte in eine Richtung, in der der Wald dichter zu werden schien. „Im Süden hab’ ich in einer Höhle etwas Silbernes glänzen gesehen. Ich hoffe, das hilft Euch weiter. Und … es tut mir wirklich Leid.“ „Ihr hättet nichts daran ändern können“, beruhigte jetzt auch Demyx den jungen Mann. „Und vielen Dank.“ Sie verließen das Fort und liefen so weit, bis sie außer Sichtweite waren. Dann beschwor Xigbar ein Portal herauf, das sie zu der Höhle bringen sollte. Demyx war natürlich dafür, zurück in ihr Hauptquartier zu gehen, doch das kam für seinen Mentor gar nicht in Frage. „Keine Chance! Wenn Saïx mich so sieht, mach’ ich mich doch zum Gespött!“ Wenn der Musiker an Xigbars Stelle gewesen wäre, wären ihm Saïx’ Kommentare momentan herzlich egal. Aber bitte … „Bist du sicher, dass an der Sache mit den Karten nicht doch etwas dran war?“ Der Schütze stützte sich schwer auf ihn und schnitt eine Grimasse. „Und wo ist dann deine verdammte Katze? Ich hab nur einen potthässlichen Köter gesehen.“ ~*~ Sie landeten tatsächlich in einer Höhle und Demyx war ehrlich erstaunt von all dem silbernen Glanz. „Das ist ... “ „Ja, ja“, presste Xigbar schwer atmend hervor, „ich staune ja gleich mit dir. Würdest du mich vorher runterlassen? Ich glaub, mein Bein ist wirklich hin.“ Demyx half seinem Mentor, sich mit dem Rücken gegen eine Wand zu lehnen. Die Rucksäcke stellte er auf dem Boden ab und kniete sich daneben, suchte nach einem Heiltrank. „Vergiss es“, bemerkte Xigbar sogleich, „da findest du nichts Hilfreiches.“ „Na wundervoll. Bist du sicher, dass das nicht doch an den Karten liegt?“ „Wenn du noch einmal diese gottverdammten Karten erwähnst, mach ich dich einen Kopf kürzer“, knurrte Xigbar gereizt. „Dazu müsstest du mich erst einmal erwischen“, kommentierte Demyx und durchsuchte fluchend den Rucksack. “Hast du denn wirklich nicht daran gedacht, ein paar Potions einzupacken?” „Tut mir wahnsinnig Leid, dass ich nicht damit gerechnet habe, angeschossen zu werden.“ Die Stimme seines Mentors troff nur so vor Sarkasmus. „Lass mich raten: Verbandszeug haben wir auch nicht dabei?“ Xigbars Blick sagte mehr als tausend Worte und so erhob sich Demyx nur kopfschüttelnd. „Warte hier. Ich bin gleich wieder da.“ „Lass dir ruhig Zeit!“, wurde ihm hinterher gerufen, „es ist ja nicht so, als würde ich irgendwo hingehen!“ Der Musiker besah sich die Bäume vor der Höhle. Er war sich sicher, dass sie das Bein provisorisch schienen mussten, bis sie wieder zurück zum Schloss kamen. Eigentlich hätten sie sofort heimkehren sollen, Xigbars Stolz hin oder her, aber an seinen Befürchtungen war etwas dran. Wenn Saïx hiervon Wind bekäme, würde er das Thema nie wieder ruhen lassen. Nach einigen Minuten hatte er ein paar stabil aussehende Äste gefunden und abgebrochen, und war in die Höhle zurückgekehrt. „Oh, toll, Wünschelruten“, kommentierte Xigbar ironisch, „leider hast du vergessen, dass wir kein Wasser, sondern Metall suchen!“ „Halt einfach mal den Mund und lass mich machen, ja?“ Er kniete sich vor seinen Mentor, entfernte vorsichtig dessen linken Stiefel. Schon jetzt hatte er Blut an den Händen, die er an seinem Mantel abwischte, ehe er das Hosenbein ein wenig hoch rollte, um die Bescherung zu begutachten. Dass sich unter seinen Fingern eine Gänsehaut bildete, nahm er nur am Rande wahr, denn was er sah, ließ ihn hörbar nach Luft schnappen: Der Schuss aus nächster Nähe hatte einen Teil des Schienbeins zerschmettert, der Knochen ragte aus dem Fleisch wie ein Riff aus Elfenbein inmitten eines blutigen Meeres. Dadurch nämlich, dass Xigbar sein Bein weiterhin belastet hatte, wurde der Blutung bisher nicht die Möglichkeit gegeben, zu versiegen. Dass er damit überhaupt stehen, geschweige denn laufen konnte! Wenn Demyx es nicht besser wüsste, würde er von einem Wunder sprechen – aber da er den eisernen Willen und die Sturheit seines Mentors bestens kannte, lächelte er nur. Natürlich war es absolut idiotisch und verantwortungslos, mit so einer Verletzung herumzulaufen, aber er konnte nicht anders, als Xigbar zu bewundern. Er selbst wäre wohl längst vor Schmerz ohnmächtig geworden oder hätte zumindest Rotz und Wasser geheult. „Na, Herr Doktor, wie lautet die Diagnose?“ Das Lächeln auf Xigbars Lippen wirkte gequält, aber dass er überhaupt noch scherzen konnte, entspannte die Situation ein wenig. Es half auch, Demyx den ersten Schrecken zu nehmen, denn er grinste nur zurück. „Alles unter Kontrolle. Wir müssen nur ein bisschen improvisieren – ein Verband zum Beispiel wär nicht schlecht. Dein Shirt oder meines?“ Xigbar zuckte nur mit den Schulten und ließ den Mantel von selbigen rutschen. Während sein Mentor sich auszog, holte Demyx eine Flasche Wasser aus dem Rucksack und kramte nach dem Messer, das er irgendwo gesehen hatte. Als er es endlich mit einem triumphierenden Laut gefunden hatte, war Xigbar bereits wieder in den Mantel geschlüpft. Den schwarzen Stoff, der ihm in die Hand gedrückt wurde, schnitt der Musiker in verschieden lange und breite Teile, von denen er einen mit Wasser tränkte. Als er vorsichtig das getrocknete und frische Blut so gut wie möglich entfernte, zuckte Xigbar zwar zusammen, gab aber keinen Laut von sich. „Du kannst ruhig schreien, wenn du magst.“ „Von wegen! Das hättest du wohl gerne, was?“ Um ehrlich zu sein … nein. Demyx hatte Xigbar immer zuversichtlich erlebt, von sich selbst überzeugt und mit viel zu großer Klappe. Diese Sicherheit hatte ihm Mut gemacht, ihm vorgespielt, alles wäre möglich, wenn man nur fest genug daran glaubte. Ihn verletzt zu sehen, hatte sein Weltbild ins Wanken gebracht, auch wenn es ihm selbst eine Chance gab, sich zu beweisen. Außerdem … Xigbar war ihm in den letzten Monaten wichtig geworden. Er wusste, dass er für seinen Mentor mehr empfand als ein Schüler es unter normalen Umständen dürfen sollte – aber Demyx befand sich schon seit seinem Eintritt in die Organisation in keiner ‚normalen’ Situation mehr. War es da nicht natürlich und verständlich, dass man sich an jemanden klammerte, um nicht den Verstand zu verlieren? „Xigbar“, begann er vorsichtig, „das wird jetzt weh tun.“ „Ist ja heute mal was ganz Neues“, meinte der Schütze und schloss die Augen, atmete tief durch. „Okay. Bereit.“ Demyx streckte das Bein kurz und presste dann fest auf den Knochen, der mit einem unschönen Geräusch zurück an seine Position glitt. Er legte einen Verband um die Stelle und wischte einmal mehr das Blut von seinen Händen. Zwar hatte sich sein Mentor nicht gerührt, doch er atmete flach und schnell und Demyx fürchtete kurz, er könnte hyperventilieren. „Xigbar?“ „Mir geht’s gut!“ Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und lachte gequält. „Fuck, tut das weh.“ Das Band, das seine Haare zusammenhielt, hatte sich gelockert, und Xigbar fuhr sich durch die Strähnen, die ihm wirr ins Gesicht hingen. „Bevor wir verschwinden, statt’ ich diesem Arschloch noch einen Besuch ab und reiß’ ihm den Arsch auf! Ich servier’ ihm sein beschissenes Gewehr Stückchenweise!“ „Was immer du sagst“, pflichtete Demyx ihm bei und benutzte den schwarzen Stoff, um die Äste, die er zusammengebunden hatte, zu beiden Seiten an Xigbars lädiertem Bein zu befestigen. Das Gleiche tat er noch einmal knapp unter dem Knie seines Mentors, dann zog er ihm den Stiefel wieder an und zurrte auch dort einen Verband fest. „Okay, das sollte reichen. Bleib einfach sitzen und beweg das Bein so wenig wie möglich.“ Xigbar grinste kopfschüttelnd. „Kurzer, du vergisst, dass wir hier erst wegkommen, wenn wir unseren Auftrag erledigt haben.“ „Ja, aber …“ „Kein ‚aber’!“ Xigbar stand schwankend auf und griff nach einer Spitzhacke. „Na los, ich hab’ nicht vor, hier zu überwintern!“ Demyx seufzte nur. Wie war das mit dem eisernen Willen? ‚Stur wie ein alter Esel’ hätte wohl besser gepasst. ~*~ Einige Stunden später hatten sie den Rucksack zu zwei Dritteln mit Gesteinsproben gefüllt. Demyx lächelte. Wenn sie so weitermachten, konnten sie am nächsten Tag schon wieder zuhause sein. In diesem Moment entglitt die Spitzhacke Xigbars Händen und landete mit lautem Scheppern auf der Erde. Xigbar ließ sich an der Wand herab gleiten, lehnte den Kopf an den kühlen Stein. Sofort war Demyx bei ihm. „Ist alles in Ordnung?“ „Mach dir mal nicht ins Hemd“, versicherte sein Mentor. „Ich brauch’ nur ’ne kurze Pause.“ Demyx wagte das zu bezweifeln. Er war schließlich nicht dämlich, er sah doch, wie schwer Xigbar atmete, wie ihm der Schweiß von der Stirn rann und wie kreidebleich er durch die Anstrengung war, wodurch die Narbe noch mehr heraus stach und sich blutrot auf seiner Wange abzeichnete. Er hatte sich schon oft gefragt, was für ein Wesen diese Verletzung wohl hinterlassen haben mochte. Wenn es ein Herzloser gewesen war, wie kam es dann, dass Demyx selbst von dem Angriff in Port Royal keine sichtbaren Wunden zurückgetragen hatte? Kam die Narbe von einem Kampf, war sie vielleicht eine ‚Erinnerung’ an Xigbars Heimat? Er traute sich nicht, zu fragen. „Was ist los? Hab ich was im Gesicht?“ Der Schütze hatte die Augenbrauen gehoben, der Blick, den er Demyx zuwarf, schien diesen direkt in die Seele zu treffen. „Nur das Übliche …“ Der Musiker zögerte kurz und nickte dann in Richtung der Narbe. „Darf ich …?“ Xigbar sah ihn schweigend an. Dann schüttelte er leise lachend den Kopf. „Tu, was du nicht lassen kannst.“ Vorsichtig berührte Demyx Xigbars Wange. Sie beide trugen keine Handschuhe – Leder auf der Haut würde beim Arbeiten die Blasenbildung erhöhen, hatte ihm sein Mentor erklärt – und so fühlte sich das zerstörte Gewebe glatt und kühl unter seinen Fingerspitzen an. Er spürte genau, wie Xigbar unter seinen Berührungen erschauerte, und zitternd Luft holte, als Demyx die Konturen der Narbe nachzeichnete. Xigbar kam ihm in diesem Augenblick vor wie ein wildes Tier, das vor Körperkontakt zurückschreckte, und sich dennoch zwang, nicht wegzulaufen. Für Demyx war das der größte Vertrauensbeweis, den sein Mentor ihm je hätte schenken können. „Tut sie noch weh?“, fragte er sachte. „Wenn seelischer Schmerz auch gilt.“ Damit hatte sich Demyx’ andere Frage erübrigt. Er würde zuhören, wenn Xigbar ihn darauf ansprechen sollte, aber er würde selbst nicht nachfragen. Es war zu privat und Demyx wusste, wann man Grenzen respektieren sollte. ~*~ „Machen wir für heute Schluss, okay?“ Xigbar wollte es zwar nicht zugeben, doch seine Verletzung hatte ihn ziemlich geschlaucht und er brauchte dringend ein wenig Schlaf, um einen Teil seiner Kräfte zu regenerieren. Der Junge nickte und Xigbar tastete sich an der Wand entlang, bis er einen Vorsprung fand, an dem er sich hochziehen konnte. „Hey, was wird das?“, fragte Demyx überflüssigerweise. „Ich gehe. Sieht man doch.“ „Aber … “ Hör verdammt nochmal auf, mich zu bemuttern! Xigbar hasste Verletzungen wie die Pest. Nicht wegen des Schmerzes, damit kam er klar – und ein wenig Pein konnte unter gewissen Umständen auch recht prickelnd sein –, aber Schwäche zeigen zu müssen, ging ihm gewaltig gegen den Strich. Er fluchte leise, während er die Höhle verließ. Jeder Schritt schoss einen brennenden Schmerz durch seinen Körper, vor seinen Augen tanzten schwarze Punkte, der kühle Nachtwind ließ ihn frösteln, und er war froh, sich unter einem Baum niederlassen zu können. Er fing Demyx’ missbilligenden Blick auf und zuckte mit den Schultern. „Ja, ja, ich weiß, was du sagen willst. Aber das“, er zeigte in den Sternenhimmel, „war’s mir wert.“ Demyx setzte sich neben ihn. „Es ist wunderschön.“ Xigbar nickte. „Weil man sich so sehr an Kingdom Hearts gewöhnt hat, dass einem der normale Himmel fremd erscheint.“ Sie schwiegen eine Zeit lang, jeder in seine eigenen Gedanken versunken. Xigbar warf dem Jungen einen Seitenblick zu und lächelte. Er war verdammt stolz auf ihn. Wenn man bedachte, wie viel er gelernt hatte und jetzt anwenden konnte, und wie viel Talent in ihm steckte – auf allen Gebieten, setzte der Schütze im Hinblick auf die Schiene hinzu. Zugegeben, manchmal konnte er eine absolute Nervensäge sein, dann merkte man ihm sein junges Alter auch noch an, aber manchmal … Xigbar schluckte unwillkürlich, als er sich die kühlen, rauen Finger und die Art, wie Demyx ihn angesehen hatte, ins Gedächtnis rief. Es hatte sich gut angefühlt, verdammt gut sogar, das wollte er nicht bestreiten, aber er fragte sich, was dieser kurze Moment wohl an ihrer Beziehung geändert hatte, denn dass da etwas geschehen war, stand außer Frage. Siedendheiß fiel ihm da etwas ein und er legte dem Jungen die Hand auf die Schulter. „Kurzer“, begann er, obwohl er sich seiner nächsten Worte noch nicht ganz sicher war. Er war in solchen Dingen einfach nicht gut, sie kosteten ihn viel Überwindung, waren aber dementsprechend ehrlich gemeint. „Danke. Ich schulde dir was.“ Hätte die Sonne geschienen, würde Demyx mit ihr um die Wette strahlen. In diesem Moment wurde Xigbar klar, dass, was immer zwischen ihnen beiden geschehen würde, er sich immer auf ihn verlassen könnte. Demyx’ Augen leuchteten und er grinste listig. „Ich hab da auch schon eine Idee!“ Xigbar stöhnte scherzhaft und zündete sich eine Zigarette an, die er sich seiner Meinung nach redlich verdient hatte. „Dann schieß mal los.“ „Was machst du, wenn wir unsere Herzen wiederbekommen?“ „’Wenn’? Sollte das nicht eher heißen ‚Falls’?“ Der Junge widersprach vehement. „Es ist nur eine Frage der Zeit.“ Was sind wir wieder optimistisch. „Ganz ehrlich? Keine Ahnung. Was ist mit dir?“ „Ich will immer noch die Welt, nein, die Welten sehen. Abenteuer erleben, Seekarten zeichnen, berühmt werden und so. Und ich will dich dabeihaben.“ „Auch, wenn ich mich anstelle, wie der erste Mensch?“ „Umso besser! Dann kann ich zur Abwechslung mal dir etwas beibringen.“ Xigbar lachte nur. „Das hättest du wohl gern.“ „Komm schon, du schuldest mir was! Also, versprochen?“ Ein letzter Blick in den Sternenhimmel beseitigte alle Zweifel, die der Schütze haben mochte, und er gab sein Versprechen. ~*~ Der nächste Morgen begann verhältnismäßig ruhig – jedenfalls bis sie herausfanden, dass die Rucksäcke gestohlen wurden. „Aber wer könnte Interesse an ein paar Steinen haben?“, fragte Demyx kopfschüttelnd. „Ratcliff. Und wenn es nur ist, um uns eins auszuwischen. Darauf verwett’ ich mein letztes Hemd!“ „Das hast du schon verloren.“ Xigbar verdreht die Augen. „Das war metaphorisch gemeint.“ Er seufzte nur. „Wie auch immer, wir müssen sie zurückholen.“ Der Junge nickte und zeigte auf die Fußspuren, die sich im taufeuchten Gras abzeichneten. „Netterweise machen sie es uns leicht. Ich folge ihnen und du bleibst hier, einverstanden?“ „Ich hab wohl keine Wahl.“ Dabei juckte es Xigbar in den Fingern, sich für den vorigen Tag zu rächen und diesen Bastarden die Haut von jedem Knochen einzeln abzuziehen. „Pass auf dich auf“, gab er Demyx noch mit auf den Weg, ehe dieser die Spur verfolgte. Der Schütze verbrachte die nächsten Stunden damit, zu warten und vorsichtig auf- und abzugehen, um sein Bein wieder an die Belastung zu gewöhnen. Der Schmerz hatte tatsächlich nachgelassen, und er machte sich eine mentale Notiz, dem Jungen ein weiteres Mal zu danken. Nur, wo blieb der bloß? Er hörte Schritte. Na also, das würde wohl endlich Demyx sein. Hatte ja auch lange genug gedauert! Xigbar drehte sich um, um dem Neuankömmling eine gewaltige Standpauke zu halten – und sah sich geradewegs mit der blitzenden Klinge eines Schlüsselschwertes konfrontiert. Es blieb keine Zeit, aus dem Weg zu teleportieren. Der Schütze versuchte auszuweichen – vergeblich! Er schrie vor Schmerz, als ihn die Klinge im Gesicht traf. „Das ist die Rache für Rosa!“, rief Cecil triumphierend. Xigbar vernahm die Worte kaum, der Schmerz vernebelte seine Sinne. Über sein rechtes Auge hatte sich ein undurchsichtiger Schleier gelegt, heißes Blut rann ihm über Wange und Lippen. Der metallische Geschmack brachte ihn zum Würgen. Ein weiterer Hieb, diesmal in die Seite. Endlich war Xigbar geistesgegenwärtig genug, zu reagieren; er veränderte den Boden, erschuf einen breiten Graben und brachte damit einen gewissen Abstand zwischen sich und den Paladin. Schwer atmend und die linke Hand auf die Wunde an seiner Flanke gedrückt beschwor er seine Waffe, als ihm mit Grauen etwas dämmerte: Wo war der Dragoon? Die Frage wurde durch eine Woge des Schmerzes beantwortet, wie der Schütze sie noch nie verspürt hatte, als sich eine Lanze durch seinen Oberkörper bohrte. Xigbar spuckte Blut. Ungläubig starrte er auf die metallene, rötlich schimmernde Spitze, die aus seinem Brustkorb ragte. War das wirklich das Ende? Konnte er wirklich so zugrunde gehen, ehrlos, ohne sich gewehrt, ohne bis zum Letzen gekämpft zu haben? Ruckartig wurde die Waffe aus seinem Körper gezogen, ließ Xigbar noch einmal den Schmerz und sein eigenes Versagen spüren. Dann wurde alles schwarz. Never Say Die ------------- A/N: Ich möchte gleich warnen Es könnte eklig werden. Ein bisschen. Nicht viel. Gerade genug, um die sehr, sehr Zartbesaiteten nach einem Eimer greifen zu lassen. ;) Chapter 8 Demyx folgte den Fußspuren, bis er an einen Wasserfall kam. Er nahm sich die Zeit, das Naturschauspiel zu bewundern. Die Natur auf dieser Welt war einfach zu schön, um wahr zu sein. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte er eine Pause eingelegt und wäre ins kühle Nass gesprungen, um den Schweiß und den Staub von sich abzuwaschen. So jedoch setzte er seinen Weg nur fort. Etwas raschelte im Gebüsch. Der Musiker machte sich zum Kämpfen bereit – die beiden Männer vom Vortag hatten ihn Vorsicht gelehrt. Er hatte mit einem Angreifer oder einem wilden Tier gerechnet und war umso überraschter, als eine junge Frau aus dem Schutz des Waldes trat. Sie war mit Sicherheit eine Eingeborene, das konnte er an ihrer gebräunten Haut und ihrer seltsamen Kleidung erkennen. Ihr schwarzes Haar fiel ihr wallend über die Schultern und ihr Blick war misstrauisch auf ihn gerichtet. Als ihm das Messer in ihrer Hand auffiel, hob er sofort abwehrend die Hände. „Nicht angreifen, ich tu dir nichts!“ Hoffentlich würde sie darauf hören. Für solche Sachen war er wirklich der Falsche! Verwirrt sah sie ihn an. „Du sprichst meine Sprache?“ Tat er das? Scheinbar. Möglicherweise lag es daran, dass er aus einer anderen Welt kam und so eine Art „Universalübersetzer“ nutzen konnte. Möglicherweise war es aber auch nur tierisches Glück. Was auch immer es war, die Frau steckte das Messer weg, und das war Demyx nur recht. „Wer bist du?“, fragte sie. „Gehörst du zu den Engländern?“ Er schüttelte den Kopf. „Nein. Mein Freund und ich, wir sind nur gekommen, um etwas zu suchen.“ Er zeichnete einen Kreis in die Luft. „Es geht um runde, graue oder silbrige Steine. Wir hatten sie in einem Rucksack verwahrt, aber der wurde uns gestohlen!“ „Was ist ein Rucksack?“ Oh. Demyx überlegte kurz und zuckte dann die Schultern. „Ein Behälter könnte man sagen. Ein Beutel. Eine Tasche. Jedenfalls folge ich gerade den Spuren der Diebe.“ Sie nickte. „Ich auch. Und ich glaube, ich weiß, wo deine Beutel sind.“ „Wirklich?“ Demyx widerstand dem Drang, vor Freude in die Luft zu springen. Hatte sich die Mühe doch gelohnt! Die Frau nickte noch einmal. „Heute Morgen lagen zwei Beutel in unserem Dorf. Wir glaubten, die Engländer hätten darin etwas versteckt, um uns anzugreifen, deshalb haben wir sie nicht angefasst. Wenn du mit mir kommst, kannst du sehen, ob es deine sind.“ „Klar doch.“ Lächelnd folgte er der Frau, und freute sich schon darauf, Xigbars Gesicht zu sehen, wenn der erfahren würde, dass sein ‚Schüler’ doch nicht so unnütz war, wie Saïx immer behauptete. „Da fällt mir ein“, meinte er noch, „wie heißt du eigentlich?“ „Pocahontas.“ Er nickte nur. „Freut mich, dich kennen zu lernen, Pocahontas. Ich bin Demyx.“ Das Dorf der Eingeborenen war recht groß. Es bestand aus dutzenden von seltsam spitzen Zelten, die alle um einen großen Platz herum aufgestellt worden waren. Und da, in der Mitte des Platzes lagen einsam und verlassen die beiden Rucksäcke. Demyx jauchzte vor Freude und ließ sich auf der Erde nieder, um die Inhalte der beiden Rucksäcke zu prüfen. Das Mithril war noch da, und es schien nichts zu fehlen. Er atmete auf. „Sind diese Steine wichtig für euch?“, fragte Pocahontas mit geneigtem Kopf und nahm einen von ihnen in die Hand, betrachtete ihn von allen Seiten. „Für mich sehen sie aus wie ganz normale Steine.“ „Sie haben einen verborgenen Wert“, erklärte Demyx grinsend. „Ohne sie könnten wir es nicht wagen, zurück nach Hause zu kommen.“ Es war seltsam, das Schloss als ‚Zuhause’ zu bezeichnen, und doch kam es ihm richtig vor. Als er den anderen Rucksack öffnete, sprang ihm ein Tier entgegen, schwarzgrau und mit viel Fell. Und was es da zwischen den Zähnen hatte, war … Demyx sah das Fellknäuel misstrauisch an. „Was ist das und warum frisst es meine Kekse?“ Pocahontas nahm das Tier lächelnd auf die Arme. „Das ist nur Meeko. Er kann einfach nicht anders, mach dir nichts draus.“ Wenn Demyx es nicht besser wüsste, würde er sagen, dass das Tier – dass Meeko in ein Grinsen ausbrach. „Was auch immer.“ Der Musiker nahm den schweren Rucksack mit dem Metall auf die Schulter und den andren in die Hand. „Nochmal vielen Dank“, meinte er an die Frau gerichtet. „Ich hätte sonst noch stundenlang gesucht.“ „Keine Ursache.“ Sie faltete die Arme hinter dem Rücken. „Ich hoffe doch, du kommst einmal wieder.“ Demyx schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht genau sagen. Aber selbst wenn nicht-“ Er zeigte auf ihr Herz und grinste. „Darin werde ich wohl für immer sein.“ Mit einem letzten Nicken verabschiedete er sich von ihr und wandte sich zum Gehen. Es war leicht, den Fußspuren zurück zur Höhle zu folgen, nur leider dauerte es recht lange. Demyx wischte sich den Schweiß von der Stirn und verfluchte sich selbst. Es wäre so viel schneller, schnell ein Portal zu erschaffen, aber das Risiko, sich zu verirren, war zu groß. Und momentan wäre Xigbar wohl nicht in der Lage, ihm zu folgen und ihn zu suchen. Apropos Xigbar. Ob es ihm wohl besser ging? Demyx hoffte es zumindest. Die Stille des Waldes wurde durchbrochen. Dieses Mal nicht durch einen Schuss, sondern durch einen Schrei. Demyx blieb wie angewurzelt stehen, der Schreck fuhr ihm durch alle Glieder. War das nicht Xigbars Stimme? Unbewusst ließ er den Rucksack in seiner Hand fallen und rannte so schnell er konnte. Zwei Männer. Einer in weißer, der andere in dunkelblauer Rüstung. Der Weiße hielt ein Schlüsselschwert in den Händen und holte gerade zu einem vernichtenden Stoß aus, um der Gestalt, die vor ihm am Boden lag, endgültig den Gar aus zu machen. Demyx schrie auf, als er in der zusammengesackten Gestalt seinen Mentor erkannte. Wut flammte in ihm auf, und als die beiden Männer sich zu ihm umwandten und auf ihn zustürmten, wusste er, dass er nicht eher ruhen würde, ehe sie als Leichen vor ihm lagen. Sie würden bezahlen, das schwor er sich. Er spürte, wie seine Kräfte in ihm strömten, und als die beiden angriffen, erschien eine Wasserwand, die ihn vor den Attacken schützte. Eine weitere Wassersäule schoss aus dem Boden und erwischte den Mann in der weißen Rüstung, der nach hinten geschleudert wurde und mit dem Kopf gegen einen Baum prallte. Besinnungslos landete er auf der Erde. Der andere war ausgewichen. Er verstärkte den Griff um seine Lanze und startete einen weiteren Angriff. „Stirb, verdammter Diener der Dunkelheit“, schrie er dabei. Demyx lachte nur bitter. Er vollführte eine Handbewegung und der Mann wurde von Wassermarionetten gepackt und festgehalten. „Und du hältst dich wohl für einen Diener des Lichts?“ Ein finsteres Lächeln schlich sich auf seine Lippen. „Die Dunkelheit hat uns nicht aufgenommen, als das Licht uns verstoßen hat. Wir haben keinen Herren.“ Der Mann spuckte ihm hasserfüllt ins Gesicht. „Eines Tages werdet ihr Monster alle ausgerottet sein, verlass dich darauf!“ „Das mag sein.“ Demyx zuckte die Schultern. „Aber du wirst diesen Tag nicht mehr erleben.“ Er legte seine Hand auf den Halbhelm des Dragoons, rief das Wasser aus jeder einzelnen Zelle des Körpers zu sich und sah mit einer gewissen Genugtuung, wie der Mann sich vor Schmerzen krümmte und zu schreien versuchte. Doch es war schon zu spät. Die Zellen seines Körpers platzten auf. Seine Augen schwollen an und traten aus den Höhlen. Demyx sah emotionslos zu, wie der Dragoon an seinem eigenen Blut erstickte, das aus seinem Mund und den Nasenlöchern lief. Es rann aus seinen Augenhöhlen herab, sodass es schien als weinte er blutige Tränen. Das Schauspiel dauerte nur wenige Sekunden, dann gab der Dragoon ein letztes Röcheln von sich und sackte zusammen. Als Demyx dachte, dass alles vorbei war, bäumte sich der tote Körper noch einmal auf. Der Musiker hielt schützend einen Arm vors Gesicht, er wollte nicht sehen, wie die letzte Stufe seines Rufes befolgt würde. Der Schwall warmen Blutes und die Eingeweide trafen ihn unvorbereitet, verklebten seine Haare und legten sich stinkend auf seinen Mantel. Würgend ließ er die Marionetten verschwinden und trat zu dem zweiten Mann, dem mit dem Schlüsselschwert. Normalerweise war es nicht seine Art zu kämpfen. Es war erst recht nicht seine Art, wehrlose Gegner anzugreifen, aber er machte in diesem Falle gern eine Ausnahme. Eine Wasserblase materialisierte sich und umschloss den Ritter. Schnell füllte sie sich mit Wasser. Der Mann ertrank, ohne vorher noch einmal zu sich zu kommen. Demyx stieß zitternd den Atem aus, als alles vorbei war. Er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, was er gerade getan hatte, auch wenn eine kleine, nagende Stimme in seinem Kopf anklagend rief: „Du hast gemordet! Du bist wirklich nur ein Monster!“ Er verscheuchte die Stimme, die möglicherweise sein Gewissen darstellen sollte, und fiel neben seinem Mentor auf die Knie, legte ihm zwei Finger an die Halsschlagader. Das kalte, hässliche Gefühl unendlicher Verzweiflung kroch in ihm empor und ließ ihn in Tränen ausbrechen, als er keinen Herzschlag spüren konnte – dann jedoch fiel ihm ein, dass sie keine Herzen und dementsprechend auch keinen Puls besaßen. Erst jetzt fiel ihm auf, wie sich Xigbars Brustkorb schwach hob und senkte und er atmete erleichtert auf. Es war noch nicht zu spät! Aber er musste sich beeilen. Es blieb nicht die Zeit, den Gumi-Jet zu rufen, realisierte er schluckend. Ihm blieb keine Wahl – er musste ein Portal erschaffen! Bisher war er noch nie in der Situation gewesen, ein Portal erscheinen zu lassen, das stark genug für zwei Personen war, und er flehte jede höhere Macht an, von der er jemals gehört hatte, während er sich Xigbars Arm um die Schultern legte. Dann konzentrierte er all seine Kräfte und spürte, wie die Schwärze der Dunkelheit sie beide umhüllte. ~*~ Betwixt und Between erkennend, stemmte sich Demyx auf die Beine, verstärkte dabei seinen Griff um Xigbars Hüfte. Er wandelte in den dunklen Korridoren entlang und rief sich so viele Einzelheiten des Schlosses ins Gedächtnis, wie es ihm nur möglich war: die kalte Atmosphäre, die tristen Farben, die hohen Wände und vielen Treppen … Es musste funktionieren, es musste einfach! Vor ihm tat sich violetter, wabernder Nebel auf. Inzwischen stand Demyx der Schweiß auf der Stirn. Sowohl das Gewicht Xigbars, als auch das des Rucksacks lasteten schwer auf seinen Schultern. Mit zusammengebissenen Zähnen schleppte er sich durch das Portal – und jauchzte innerlich auf, als er die vertraute Umgebung der Halle der leeren Melodien erkannte. So vorsichtig wie möglich bettete er Xigbars leblosen Körper auf den kalten Stein, ehe er selbst nach Luft schnappend auf die Knie sackte und dann den Rucksack von seinen Schultern schnallte. Der prallte mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden. Hilfe. Sie brauchten Hilfe. Er ließ Xigbar jetzt nur ungern allein, doch es war nicht so, als hätte er eine andere Wahl. „Ich bin gleich wieder da“, versprach er dem besinnungslosen Schützen noch, ehe er aus dem Raum stürmte. Er eilte die vielen Treppen auf dem Weg zum Aufzug hinab, als er in einiger Entfernung einen seiner ‚Kollegen’ entdeckte. „Xaldin!“, rief er laut, woraufhin jener glücklicherweise stehen blieb und fragend den Kopf in Demyx’ Richtung neigte. „Wie siehst du denn aus?“, wollte der Dragoon mit hochgezogener Augenbraue wissen, als Demyx atemlos vor ihm zum Halten kam. „Keine Zeit!“ Der Musiker zog an Xaldins Ärmel und setzte sich schon wieder in Bewegung. „Xigbar braucht Hilfe!“ ~*~ Mit gesenktem Kopf trottete er hinter Xaldin, der Demyx’ Mentor auf die Arme genommen hatte, als wäre er leicht wie eine Feder, durch die Korridore. Sie hatten kein Wort miteinander gewechselt, doch Demyx wusste auch so, dass sie beide das Gleiche dachten: Was, wenn sie zu spät kamen? Was, wenn Xigbar nicht überlebte? Demyx versuchte, diese Gedanken zu verscheuchen, ehe er wieder in Tränen ausbrach; denn damit wäre niemandem geholfen. Dennoch machte er sich Vorwürfe. Er hätte sich nicht um diesen vermaledeiten Rucksack scheren, sondern Xigbar – zur Not auch gegen dessen Willen – zurückbringen sollen. Aber so … so war er mitschuldig an dem ganzen Dilemma. Er seufzte laut. Xaldin warf ihm einen Blick zu. „Mach dir keine Sorgen! Unsere Nervensäge hier ist hart im Nehmen“, meinte er, doch das Lächeln auf seinen Lippen kam Demyx gezwungen vor. Endlich erreichten sie Vexens Labor. Auf Demyx’ Klopfen hin hörte man etwas, das wie zu Bruch gehendes Glas klang, dann steckte Vexen mit einem zornigen Funkeln in den Augen den Kopf zur Tür heraus. „Was wollt ihr? Ich hab zu tun, verflucht noch-“ Er verstummte, musterte mit hochgezogenen Augebrauen Demyx’ blutbeschmierten Mantel. Dann erst fiel sein Blick auf Xigbar und er stieß einen solch heftigen Fluch aus, wie man es einem Mann von seiner Bildung überhaupt nicht zutrauen würde. Die Tür wurde ganz geöffnet und Vexen verlor keine Zeit. Er gab Anweisungen und zeigte auf diverse Utensilien, die noch von dem großen Labortisch geräumt werden mussten, ehe Xaldin den Schützen darauf legen konnte. „Was hat euch angegriffen?“, fragte er, während er Xigbars Mantel öffnete. Ihm schien ein Kommentar bezüglich Xigbars fehlendem Hemd auf Lippen gelegen zu haben, doch der erledigte sich von selbst, als sein Blick auf die provisorische Schiene fiel und er eins und eins zusammenzählte. Demyx bemerkte gar nicht, dass er angesprochen wurde. Er konnte nur entsetzt auf die Wunden seines Mentors starren. Einige davon waren alt und hatten nur Narben zurückgelassen, doch aus der auf seiner Brust sickerte noch immer ein schwacher Blutsrom. Erst als Vexen ihn an den Schultern packte und schüttelte, kam er wieder zu sich. „Ein Schlüsselschwertträger“, sagte er knapp. „Und ein“, er schielte zu Xaldin, „ein Dragoon.“ Der Akademiker nickte verstehend. „Eines nach dem anderen“, murmelte er mehr zu sich selbst, als er einen Heiltrank aus einem der vielen Regale nahm, und ihn Xigbar einflößte, dabei zwei Finger auf dessen Adamsapfel legte, um den Schluckreflex auszulösen. Ein wenig beruhigt sah Demyx, wie sich die Wunde zusammenzog und wie sie schließlich verschwand, ohne auch nur eine Narbe zurückzulassen. Jetzt würde alles gut werden … oder? Die Mienen der anderen beiden verfinsterten sich jedoch. „Demyx“, begann Vexen, „such eine Schüssel und füll sie mit Wasser. Bring Nadel und Faden mit. Xaldin, weißt du, wie Xigbar auf Morphin reagiert?“ Demyx konnte die gemurmelte Antwort nicht klar verstehen, da er selbst nicht gerade leise in den Schränken wühlte. Was musste Vexen auch so ein Chaos in seinem Labor haben? Na also, dachte er, als er ein passendes Gefäß auftrieb, das sich nach einem Fingerschnippen mit Wasser füllte. Er griff noch schnell nach dem Nähzeug, das er in einer der Schubladen gefunden hatte, und reichte beides an Vexen weiter. Der wusch vorsichtig das getrocknete Blut von Xigbars Oberkörper und wandte sich dann der Verletzung an seiner Flanke zu. „Sieh genau hin“, bedeutete er Demyx. „Irgendwann sind wir vielleicht nicht mehr da, um zu helfen. Dann musst du dich selbst verarzten können.“ Demyx ging nicht darauf ein. Er wusste genau, was Vexen meinte. Sie alle waren sterblich. Sie alle waren – wie ihm mit einem Blick auf Xigbar schmerzlich bewusst wurde – verletzlich. Er prägte sich genau ein, wie der Akademiker sorgfältig die Naht setzte. Es fiel ihm nicht schwer, es sich zu merken – schließlich war er kein Idiot. „Bleibt nur noch eine Sache“, bemerkte Xaldin und sah Vexen ernst an. „Ich fürchte, wir haben keine andere Möglichkeit.“ „Ich weiß. Exenteration.“ „Brauchst du Hilfe?“ Vexen schnaubte missmutig. „Hältst du mich für einen Anfänger?“ Mit einem Seitenblick auf Demyx setzte er hinzu: „Bring ihn lieber in sein Zimmer. Das ist kein Anblick für Kinder.“ Das ‚Kind’ versuchte, Xaldins Hand von seiner Schulter zu schieben, gab aber schnell auf und sah nur vom einen zum anderen. „Worum geht es denn überhaupt? Exen – was?!“, verlangte er zu wissen. Vexen seufzte. „Das Auge ist nicht mehr zu retten.“ „Was?!“ Entsetzen machte sich in Demyx breit. Das konnte doch nicht sein! Xigbar konnte doch nicht einfach blind werden … oder? „Wir müssen die gesamte Masse entfernen, sonst -“ „Das könnt ihr doch nicht machen!“ Demyx schrie. Er spürte, wie ihm wieder Tränen in die Augen stiegen. Sie konnten ihn doch nicht einfach … ausweiden … so etwas machte man mit Tieren, aber doch nicht mit Menschen! Xaldin verstärkte den Griff um seine Schulter. „Hör zu, Kurzer, ich erkläre es nur einmal. Wenn wir das nicht tun, entzündet sich die Wunde und Xigbar wird vor Schmerzen verrückt. Willst du das?“ Was für eine Frage! Natürlich nicht, aber … Demyx senkte den Kopf und unterdrückte ein Schluchzen. Er hoffte immer noch, dass das alles nur ein Alptraum war. Als Xaldin ihn zur Tür bringen wollte, schüttelte er den Kopf. „Nein, ich … ich will hier bleiben.“ Vexen warf ihm einen abschätzenden Blick zu. „Du kannst nicht helfen, falls du das wissen willst. Oder ist es eine Art Sensationslust, die dich antreibt? Ein Überbleibsel aus deiner menschlichen Vergangenheit?“ „Ich halte es einfach für meine Pflicht.“ Was genau er damit meinte, ob er Xigbar zur Seite stehen oder sich selbst bestrafen wollte, wusste er selbst nicht genau. Aber als Vexen nur die Schultern zuckte und „Mach doch, was du willst“, murmelte, fragte er sich, ob das so eine gute Idee war. Er zwang sich, mit anzusehen, wie Vexen zu zwei Klammern griff und damit Xigbars Augenlider festmachte. Unbewusste fiel sein Blick auf die blutigen Überreste, die einst Xigbars rechtes Auge gewesen war. Er schauderte. Dieses Bild würde sich wohl für immer in seine Alpträume brennen. Seine Finger krallten sich in Xaldins Mantel und dieses eine Mal war er froh um den Tränenschleier, der ihm die klare Sicht nahm, als der Akademiker nach einer Art Spachtel griff und damit die weiße Masse herausschabte und in einem Reagenzglas verstaute. Was Vexen damit anstellen würde, wollte er gar nicht wissen. Er wusste nur, dass ihm durch das schmatzende Geräusch, das der Spachtel verursachte, schlecht wurde, und er befürchtete, sich übergeben zu müssen. Beinahe mitfühlend strich ihm Xaldin übers Haar. „Du solltest wirklich gehen, Kurzer. Hier gibt es nichts mehr für dich zu tun.“ ~*~ Xigbar setzte sich auf. Und im nächsten Moment wünschte er sich, er hätte es nicht getan. Vor seinen Augen war alles verschwommen, die Welt drehte sich um ihn. Noch dazu schien sein Magen gerade Salti zu schlagen. Er hielt sich den brummenden Schädel und spürte dabei den Verband über seinem rechten Auge. Schlagartig kehrte die Erinnerung zurück. Cecil, der Dragoon … „Demyx!“ Was war mit dem Jungen passiert? War er in Sicherheit? „Dem geht es gut“, hörte er Vexens Stimme sagen. Der andere stand mit verschränkten Armen zu seiner Rechten und studierte ihn aufmerksam. „Wie fühlst du dich?“ Xigbar grinste breit. „Als hätt ich gleichzeitig die schlimmste Migräne und den höllischsten Kater.“ „Schön, dass du deinen Humor noch hast“, kommentierte der Akademiker trocken. „Dann wirst du die schlechten Nachrichten besser aufnehmen können.“ „Ist doch etwas mit Demyx? Oder hat er das Mithril verloren?“ Xigbar legte die Stirn in Falten – was mit diesem nervigen Verband nicht so gut funktionierte, wie er es gerne gehabt hätte. Außerdem … „Sag mal, wann kann ich das Ding abnehmen? Mein Auge juckt wie verrückt.“ „Siehst du, genau das ist die schlechte Nachricht. Wir haben dich zwar wieder zusammengeflickt, aber -“ „Was ‚aber’?“ Xigbar mochte diesen Tonfall nicht. Ihm war klar, dass jetzt irgendein Hammer folgen musste, der ihn von den Socken reißen würde. „Fangen wir mit dem weniger gravierenden Teil an: Deine Tiefenwahrnehmung wird in nächster Zeit nicht richtig funktionieren.“ Er hob eine Augenbraue. „Dir ist klar, weshalb?“ „Weil ich diesen bescheuerten Verband trage?“ Xigbar zupfte an selbigem, um seiner Frage Gewicht zu verleihen. „Weil wir eine Exenteration durchführen mussten.“ Es traf Xigbar wie ein Schlag. „Du verarschst mich!“, brachte er nur hervor, unfähig, Vexen zu glauben. „Ich hab die Reste noch. Willst du sie sehen?“ „Ich verzichte dankend“, zischte der Schütze und stemmte sich in die Höhe, den Schwindel ignorierend. Er weigerte sich, Vexen zuzuhören. Das konnten sie nicht getan haben – nicht bei ihm! Verdammt, sie wussten doch, dass er beide Augen brauchte! Vexen reichte ihm wortlos einen Spiegel. „Du kannst den Verband kurz abnehmen. Aber dann solltest du ihn für die nächsten drei Tage nicht anfassen, wenn du willst, das alles richtig verheilt.“ Xigbar riss sich die Binde vom Gesicht und erstarrte. Er konnte kaum fassen, was er da sehen musste: Die Haut um das Auge herum war gerötet und angeschwollen, als hätte er einige harte Schläge einstecken müssen. Das Auge selbst … nun ja … es war nicht mehr vorhanden. Eine leere Augenhöhle starrte in all ihrer Schwärze auf ihn zurück. „Das kann nicht sein.“ „Glaub es lieber.“ Vexen nahm ihm den Spiegel aus der Hand und legte den Verband wieder an. „Du weißt hoffentlich, dass du selbst an all dem Schuld bist. Hättest du besser aufgepasst, wäre das nicht passiert.“ „Tu mir den Gefallen und halt dein Schandmaul.“ „Mit Vergnügen. Nächstes Mal lasse ich dich einfach verbluten, dann muss ich deine Undankbarkeit nicht mehr ertragen.“ „Leck mich doch!“, zischte Xigbar noch, ehe er schwankend das Labor verließ und durch die Gänge des Schlosses wandelte. Kurz vor seinem Quartier wurde er abgefangen. Sein Blick verhärtete sich und er verschränkte die Arme vor der Brust. „Bist du gekommen, um dich über mich lustig zu machen?“ Saïx bedachte ihn mit einem betont unschuldigen Blick und einem falschen Lächeln. „Aber nicht doch. Ich wollte nur sehen, wie es um dich steht.“ Er schüttelte scheinbar bedauernd den Kopf. „Also ist es wahr. ‚Unser‘ Schütze wird seinen Tätigkeiten in nächster Zeit nicht mehr nachkommen können.“ „Was zum Teufel geht dich das an?“, knurrte Xigbar ungeduldig. Von Saïx‘ geheuchelter Anteilnahme wurde ihm beinahe schlecht. „Nun, es ist doch ganz einfach ... “ Inzwischen war das unschuldige Lächeln von den Lippen des Berserkers verschwunden, hatte sich in ein wölfisches Grinsen verwandelt. „Du bist zu nichts mehr zu gebrauchen. Die Organisation kann auf dich verzichten. Dieses Mal-“, er trat näher zu Xigbar heran, flüsterte ihm ins Ohr, „wirst du deinem Schicksal als Dusk nicht entgehen. Auf Nimmerwiedersehen.“ Das also hatte der Bastard im Sinn! Außer sich vor Zorn packte Xigbar den Berserker am Kragen und pinnte ihn gegen die nächste Wand. Dass Saïx sich dabei den Kopf anstieß und das Gesicht verzog, kümmerte den Schützen herzlich wenig. „Ich warne dich, Saïx ...“ „Was willst du denn tun?“, unterbrach der ihn lachend. „Im Moment würdest du nicht einmal ein Scheunentor treffen!“ Ehe Xigbar darauf reagieren konnte, war Saïx schon in einem Portal verschwunden. Der Schütze starrte nachdenklich auf die kahle Wand. Was, wenn Saïx Recht hatte? Wenn wirklich alles vorbei war? Er vertrieb diesen Gedanken schnell – das würde er nicht zulassen! Er würde es diesem Bastard schon noch zeigen! Wortlos beschwor Xigbar ein Portal. Er musste sich dringend abreagieren und irgendetwas umbringen. ~*~ Er landete auf einem der vielen hohen Dächer der Dunklen Stadt. Hier tummelten sich genügend Herzlose, um Xigbars zugegebenermaßen etwas tierischen Trieb zu befriedigen. Aber wen kümmerte das schon? Er wollte einfach nur irgendwas tot sehen und sich vorstellen, es sei Saïx. Mit geschickten Fingern legte er seine beiden Waffen aneinander, die sich nach einem kurzen Lichtblitz in ein graues Scharfschützengewehr verwandelten. Es war ein seltsames Gefühl, links anlegen und mit dem linken Auge durch das Fadenkreuz sehen zu müssen, doch daran würde er sich gewöhnen. Xigbar nahm einen Herzlosen ins Visier, der ein wenig abseits stand und sich verwundert umblickte -–fast so, als merkte er, dass etwas geschehen würde – und betätigte den Abzug. Der Rückstoß presste das Gewehr fest gegen seine Schulter, die Kugel zischte durch die Nacht – und verfehlte. Der Herzlose verschmolz erschrocken mit dem Boden. Xigbar verstand die Welt nicht mehr. Wie konnte er, der ‚Schütze der magischen Kugeln’ daneben schießen? Natürlich! Vexen hatte es doch klar gesagt – seine Tiefenwahrnehmung war gestört, daher der Schwindel und die Übelkeit. Und ... Der Schütze ballte die Hände zu Fäusten. Das würde bedeuten, dass Saïx doch Recht gehabt hatte. Alles war vorbei. Er würde den Rest seiner Tage als Dusk verbringen, ohne Erinnerungen an sein früheres Leben, ohne das Wissen, einmal ein Mensch, einmal komplett gewesen zu sein. „Hier bist du also“, meinte in diesem Moment jemand hinter ihm. Xigbar hob verwundert den Kopf. „Luxord?“ Der Spieler setzte sich neben ihn, penibel darauf achtend, seinen Mantel nicht schmutzig zu machen. „Ich hab' nach dir gesucht.“ „Schön, dass ich heute so beliebt bin“, kommentierte Xigbar mit einem bitteren Lächeln. „Was ist los?“ „Xemnas will dich sehen.“ Er starrte Luxord einen Augenblick lang an und brach dann in irres Gelächter aus. „Also hat Saïx es geschafft. Ich bin so gut wie tot!“ Verzweifelt krallte er die Finger in Luxords Mantel. „Was soll ich tun, verdammt noch mal?! Ich will nicht sterben, nicht so, nicht jetzt! Ich ... “ Sein Redeschwall wurde jäh unterbrochen, als Luxord ihm eine schallende Ohrfeige versetzte. Xigbar rieb sich die schmerzende Wange und verzog die Lippen zu einem schmalen Lächeln. Der Schlag hatte ihn wieder beruhigt, ihn wieder dazu gebracht, klare Gedanken zu fassen. „Danke. Das hab ich gebraucht.“ „Jederzeit wieder.“ Der Spieler schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern. „Hör zu, ich bezweifle, dass irgendetwas passiert. Saïx blufft. Und das noch nicht einmal gut. Ein guter Spieler legt seine Karten niemals offen auf den Tisch.“ „Aber er ist mir gegenüber im Vorteil. Er weiß, dass mit mir momentan nichts anzufangen ist, und Xemnas wird sicher eher auf seinen Bettvorleger hören als auf mich.“ „Das beste Blatt kann sich noch wenden“, erklärte Luxord geheimnisvoll lächelnd. „Die Glücksgöttin stellt sich auf die Seite der Wagemutigen.“ Xigbar hob verwirrt eine Augenbraue. „Das wären aber weder Saïx noch ich ...?“ „Korrekt. Ich spreche ja auch von Demyx. Wie würde er es wohl verkraften, dich zu verlieren?“ Woher bitte schön sollte er das wissen? Nun ja, zugegeben ... Freudentänze würde der Kleine wohl nicht veranstalten. „Wie geht es dem Kurzen eigentlich?“ Luxord seufzte. „Er heult sich deinetwegen die Augen aus, gibt sich für alles die Schuld und hat Angst vor der Zukunft. Ihr beide seid euch recht ähnlich.“ „Kann man so sagen“, stimmte Xigbar lächelnd zu und erhob sich. „Ich werd‘ mal nach ihm sehen, wenn Xemnas mit mir fertig ist.“ „Viel Glück.“ Das würde er brauchen … ~*~ Xemnas saß wie immer hinter dem Mahagonischreibtisch, die Hände gefaltet, mit stechendem Blick. Der Berserker stand neben ihm und grinste unverhohlen. „Saïx hat mir von deiner Verletzung erzählt“, begann der Superior. „Er hat mir auch seine Bedenken mitgeteilt, ob du durch diese Benachteiligung als Mitglied der Organisation weiterhin tragbar bist.“ „Saïx kann sich seine Bedenken sonstwohin schieben“, meinte Xigbar trocken und fügte auf Xemnas‘ tadelnden Blick schnell hinzu: „Ich hab‘ keine Probleme. Alles ist wie immer.“ „Das ist eine dreiste Lüge“, zischte der Berserker. „Du kannst nicht einmal richtig gehen, wie willst du da zielen können?“ Er richtete anklagend den Zeigefinger auf Xigbar. „Dur versucht nur, deine Haut zu retten, du Mistkerl!“ „Das genügt!“ Obwohl – oder gerade weil – die Stimme des Superiors so kalt wie immer geblieben war, zuckte Saïx zusammen wie ein geprügelter Hund. Xigbar erlaubte sich ob dieses Vergleichs ein Lächeln. „Du behauptest also“, wandte sich Xemnas an den Schützen, „dass die Verletzung keine Auswirkungen hat. Bist du auch gewillt, das zu beweisen?“ Xigbar schluckte unwillkürlich und dachte an Luxords Worte. „Jederzeit“, meinte er dann nach einer kurzen Pause. Xemnas nickte nur. „Du hast drei Tage. Dann nehme ich mir die Zeit, diese Behauptung zu verifizieren. Du kannst gehen.“ Der Schütze verneigte sich und warf Saïx einen spöttischen Blick zu. Er genoss es, wie der Berserker vor Wut kochte und die Finger zu Fäusten ballte. Luxord hatte Recht gehabt: Das Glück war mit den Wagemutigen – oder in Xigbars Falle mit den Waghalsigen. ~*~ Er musste nicht lange suchen, schließlich wusste er, dass der Junge sich immer aufs Dach begab und Kingdom Hearts anstarrte, wenn er ungestört sein wollte. So auch dieses Mal. „Ich hab gehört, du hast geflennt“, begann Xigbar, während er sich neben Demyx niederließ und dabei das Gesicht verzog, als sich die Wunde an seiner Flanke bemerkbar machte. „Ich hatte Angst", gestand Demyx leise, sah jedoch nicht von seiner Sitar auf, der er mit geschickten Fingern eine melancholische Melodie entlockte. Er wusste, er sollte ihn rügen. Ihm sagen, dass sie keine Angst haben konnten. Aber da er selbst vor ein paar Minuten das beklemmende Gefühl erdrückender Panik erfahren hatte, war er der Letzte, der etwas zu dem Thema sagen sollte. In einer – wie er hoffte – beruhigenden Geste legte Xigbar seinen Arm und die Schultern des Jungen. „Die haben wir alle von Zeit zu Zeit, kein Grund, sich zu schämen.“ „Wirklich?" Jetzt sah Demyx auf und die rotgeweinten Augen brachten Xigbar zum Schlucken. Hatte der Junge sich wirklich solche Sorgen um ihn gemacht? „Wirklich“, bestätigte er und lächelte, als Demyx näher zu ihm rückte und den Kopf gegen seine Schulter lehnte. „Du bist mir also nicht böse?“ „Warum sollte ich das sein?“, fragte der Schütze ehrlich verwirrt. Demyx betrachtete ihn mit ernstem Blick und gestikulierte wild. „Wenn ich nicht gegangen wäre, wärst du nicht verletzt worden.“ Ein belustigter Laut entkam Xigbars Lippen. Er zerzauste Demyx die Haare und schüttelte den Kopf. „Ich kann gar nicht sauer sein. Wärst du schließlich nicht gewesen, wär‘ ich nicht mehr am Leben.“ Und was ihm zugestoßen war ... er würde nicht den Kopf verlieren wie ein aufgescheuchtes Huhn – das Stadium hatte er bereits hinter sich. Nein, er würde damit zurechtkommen. Irgendwie. Das schien den Jungen glücklicherweise zu beruhigen. Sie schwiegen eine kurze Weile, bis Demyx fragend den Kopf neigte. „Xigbar?“ „Hmm?“ Statt einer Antwort legten sich behandschuhte Finger auf Xigbars Wange, zwangen ihn, Demyx anzusehen. Im nächsten Augenblick spürte er dessen Lippen auf seinen eigenen. Die Berührung war so sacht, so flüchtig, dass der Schütze für einen Moment glaubte, sie sich eingebildet zu haben. Der nächste Kuss war fordernder, forscher. Instinktiv und animalisch. Und als Demyx sich an ihn presste und sie sich aneinander klammerten wie Ertrinkende an den rettenden Strohhalm, als sich Demyx‘ Zähne in Xigbars Lippen bohrten, so fest, dass sie beide das Blut schmecken konnten, als sich ihre Zungen trafen und als sich Demyx‘ Finger – die die Handschuhe irgendwann abgestreift haben mussten – in Xigbars Nacken krallten, da verstand der Schütze endlich: Sie brauchten sich. Sie brauchten sich, um sich zu beweisen, dass sie fühlten und existierten, auch wenn sie wussten, dass es sich bei diesen Gefühlen einzig um Illusionen handelte. Dennoch waren sie beide mehr als bereit, sich diesen Illusionen hinzugeben. Valuation and Vacation ---------------------- Chapter 9/12 Wann waren seine Schreie in hoffnungsloses Schluchzen übergegangen? Als er seine Beine nicht mehr spüren konnte? Oder als seine Rippen brachen? Er war sich nicht sicher. Es machte aber auch keinen Unterschied mehr. Als er die hohen Laute vernahm, durch die die Kreaturen miteinander kommunizierten, schloss er die Augen und flehte zu allen Göttern, dass er dieses Grauen überleben möge. Er wurde auf die Knie gezogen, ächzte vor Schmerz. Eine Klaue legte sich unter sein Kinn, zwang ihn, in die gelben Augen zu blicken, in denen sich sein eigenes schmerzverzerrtes Gesicht spiegelte, und in denen er das Ausmaß der Wunde auf seiner Wange erkennen konnte. Der Blutstrom war noch nicht versiegt, der warme Lebenssaft rann noch immer seinen Hals hinab, verfärbte die bis dato weiße Krawatte. Die Kreatur neigte ihren Kopf und gurrte beinahe, sichtlich zufrieden mit sich selbst. Dann hob sie die andere krallenbesetzte Pranke und holte zum finalen Hieb aus. Er schlug um sich, schrie verzweifelt auf, wehrte sich gegen die Hände, die ihn festzuhalten versuchten. Um ihn herum gab es nichts außer der Dunkelheit, die ihn zu verschlingen drohte. Jemand rief seinen Namen. Xigbar riss das verbleibende Auge auf und sah sich orientierungslos um. Erst, als er die Vertrautheit seines eigenen Quartiers erkannte, stieß er beruhigt den Atem aus, den er unbewusst angehalten hatte. Sein Blick auf die Gestalt, die neben ihm am Bettrand saß und seine Schultern noch immer ins Kissen drückte. „Demyx?“, fragte er verwirrt blinzelnd, wunderte sich selbst darüber, wie rau seine Stimme klang. Was tat der Junge hier? Ach genau … Er wollte nicht allein gelassen werden und Xigbar hatte ihm erlaubt, über Nacht zu bleiben. Demyx versicherte sich, dass der Schütze wirklich wach war und ließ ihn los. „Wovon hast du geträumt?“, wollte er dann wissen. Xigbar strich sich durch die Haare und legte seufzend einen Arm über die Augen. „Das ist eine lange Geschichte.“ „Ich hab’ Zeit.“ Wieso glaubte er das aufs Wort? Xigbar zögerte kurz, suchte nach einem Anfang. „Damals“, begann er schließlich, „vor ungefähr zehn Jahren gab es eine Welt, die von einem weisen und gütigen König regiert wurde. Er hatte sechs Lehrlinge, die er liebte, als seien sie seine eigenen Söhne, und die mit ihrem Ansehen als Wissenschaftler durchaus zufrieden waren. Bis zu jenem Zeitpunkt, als sie auf die Herzlosen stießen. Sie entwickelten eine zwanghafte Gier nach Wissen über diese Wesen, über die Dunkelheit und die Herzen an sich, die sie bis zum Äußersten trieb.“ Er warf Demyx einen Seitenblick zu. „Braig war einer von ihnen.“ Er erzählte dem Jungen die gesamte Geschichte, wie sie ihren alten Lehrmeister in die Dunkelheit verbannt und wie sie sich selbst, ihr Gewissen und ihre Herzen verloren hatten. Viele Erinnerungen waren bereits verblasst, aber ein spezielles Ereignis würde er wohl nie vergessen können: „Braig war vieles, aber vor allem war er überheblich. Er glaubte, alles erreichen zu können, ohne Hilfe und Unterstützung. Er war ein verdammter Idiot.“ Xigbar zuckte mit den Schultern und sprach weiter. Es war sein Auftrag gewesen, die Wirkung von Licht auf die Herzlosen zu untersuchen. Eines Tages jedoch war er unvorsichtig gewesen: Der Herzlose, den er zu Forschungszwecken verwendet hatte, war ausgebrochen und hatte Alarm geschlagen. Braig hätte vorher nie gedacht, dass Herzlose im Rudel auftreten würden. Er hatte immer geglaubt, die Kreaturen der Dunkelheit würden sich aus dem Weg gehen, da der Konkurrenzkampf sonst zu groß wäre. Nun ja, ihm wurde schmerzlich bewusst, wie sehr er sich geirrt hatte, als die Herzlosen Rache für das übten, was er einem der ihren angetan hatte. „Er wurde – mehr tot als lebendig – von einem Freund gerettet.“ Xigbar schnaubte verächtlich und vollführte eine abwertende Handbewegung. „Man sollte meinen, das Ganze hätte sich mit ein paar Heiltränken erledigt, aber nein … Xemnas, der als erster sein Herz verloren hatte und der von ihnen zum Anführer bestimmt wurde, hatte einen Befehl gegeben, dem unbedingt Folge zu leisten war. Braig sollte den ganzen Schmerz seines Versagens spüren.“ Eisige Kälte und unendliche Bitterkeit lagen in seiner Stimme, und vergeblich versuchte er, das Zittern seiner Finger zu verbergen, das durch die Wut, die diese Erinnerung hervorrief, ausgelöst wurde. Wortlos griff Demyx daraufhin nach seiner Hand und verschränkte ihre Finger ineinander. Was diese Geste für sie beide bedeutete, wusste der Schütze durchaus. Er verkniff sich jedoch jegliche ironische Bemerkung dazu. „Es hatte Monate gedauert, bis die Verletzungen verheilt waren. Als es dann endlich soweit war, hatten sich so viel Wut und Hass in Braigs Herz gefressen, dass er nur noch eines wollte: Rache.“ Er sah zu Demyx und verzog die Lippen zu einem bitteren Lächeln. „Er wollte Xemnas töten. Und wie man sieht, hat er versagt.“ „Was ist dann mit ihm passiert?“ „Xemnas hat ihn gebührend bestraft. Er hat ihn zu dem gemacht, was er jetzt ist.“ Schweigend wandte Demyx den Kopf und sah aus dem Fenster in den Nachthimmel, an dem Kingdom Hearts in seinem gewohnten Glanz erstrahlte. „Das Herz“, begann er schließlich leise, „ist das höchste Gut, das ein Mensch je besitzen kann. Und doch wissen wir es nicht zu schätzen.“ „Das tun wir nie“, stimmte Xigbar ihm zu. „Erst, wenn wir etwas verlieren, wissen wir, wie wertvoll es wirklich war.“ „Und dann lassen wir nichts unversucht, um es zurückzubekommen.“ Lachend fuhr sich der Schütze durch die Haare. „Wir sind schon irgendwie erbärmlich, oder?“ „Klar doch“, bestätigte Demyx grinsend. „Aber immerhin haben wir ein Ziel. Anders als-“ Er brach ab und kratzte sich nachdenklich am Kopf. „Ich meine … Ich werde aus Xemnas und Saïx einfach nicht schlau. Manchmal glaube ich, sie wollen ihre Herzen gar nicht wieder. Aber was kann ihnen denn wichtiger sein?“ Xigbar schwieg. Er hatte zwar einen vagen Verdacht, aber er fand, dass der Junge nicht darüber Bescheid wissen sollte, welchen Stellenwert Macht haben konnte. ~*~ Ein Klopfen riss ihn aus dem Schlaf. Der Junge, der sich Besitz ergreifend an ihn gepresst hatte, versteifte sich im Schlaf und Xigbar selbst drückte sich murrend das Kissen auf die Ohren. Wer auch immer das war, er sollte sich verziehen und sterben gehen. „Wir treffen uns im großen Labor. Sofort!“, erklang Zexions Stimme. „Es gibt da etwas, das du sehen musst.“ Fing doch schon wieder verdammt wundervoll an, der Tag. Nach einem Blick auf den Wecker, der auf seinem Nachttisch stand, und einem herzhaften Fluch schwang Xigbar seufzend die Beine über den Rand des Bettes und streckte sich, sah noch kurz zu Demyx, der sich zusammenrollte und die Decke über die Ohren zog – wie sehr beneidete Xigbar ihn in diesem Moment –, und verschwand schließlich im Bad. Als er gerade in den Mantel schlüpfte – die Zahnbürste noch im Mund –, rührte sich Demyx. Er wischte sich mit dem Hemdsärmel über die Augen und blinzelte den Schützen verschlafen an. „Ist irgendwas passiert? Wie spät ist es?“ „Viel zu früh“, nuschelte Xigbar müde. „Bleib liegen, du verpasst nichts.“ Demyx murmelte noch etwas Unverständliches und sackte wieder zurück in die Laken. „Verdammter Glückspilz!“ Xigbar warf die Zahnbürste auf den Schreibtisch und stürzte eine Tasse kalten Kaffees vom Vorabend herunter. Wenn das nicht verdammt wichtig war, würde er Zexion als Zielscheibe verwenden. Er schloss die Tür hinter sich und begab sich gemächlichen Schrittes zum Labor, anstatt sich gleich dorthin zu teleportieren. So wurde er wenigstens wach. Immerhin, dachte er auf dem Weg, war der Schwindel verschwunden. Er musste sich auch nicht mehr an den Wänden entlang tasten, und gegen diverse Türrahmen war er ebenfalls noch nicht gerannt. Man gewöhnte sich wohl wirklich schnell an gravierende Veränderungen. ~*~ Natürlich wurde er bereits erwartet. Während Zexion nur mit vor der Brust verschränkten Armen dastand, hielt Lexaeus einen kleinen Herzlosen fest, der wild zappelnd versuchte, dem Hünen die Augen auszukratzen. „Euer neues Haustier?“, fragte Xigbar, während er sich eine Zigarette zwischen die Lippen schob und in seinen Taschen nach seinem Feuerzeug kramte. „Deine Scherze werden auch von Tag zu Tag platter“, bemerkte der Schemer mit gehobenen Augenbrauen. „Und wage es nicht, hier zu rauchen!“ Murrend steckte der Schütze die Zigarette in die Brusttasche. Zexion würde eindeutig als Zielscheibe enden, dessen war er sich gewiss. „Also dann … Erleuchtet mich! Was zum Teufel ist so verflucht wichtig, dass man mich um eine unverschämte Uhrzeit aus dem Bett holt und mir das Rauchen verbietet?“ Zexion rümpfte unwirsch die Nase. „Diese furchtbare Angewohnheit solltest du dir sowieso abgewöhnen.“ „Ja, Mutter.“ Xigbar verdrehte theatralisch das gesunde Auge. Obwohl seine Finger verdächtig zuckten, ging Zexion nicht weiter auf Xigbars Laune ein. Stattdessen griff er nach einem Stück Mithril, das auf dem großen Labortisch lag. „Wir haben herausgefunden, wie es auf Herzlose wirkt!“ „Dann lasst mal sehen!“ Der Schemer gab den Stein an Lexaeus weiter, welcher ihn wiederum erst stumm in der Hand wog, ehe er ihn dem Herzlosen auf die Brust drückte. Das Wesen bäumte sich auf, gab dabei ein ohrenbetäubendes Kreischen von sich. Flammen leckten über seinen Körper, rissen die Haut auf, aus der eine schwarze Flüssigkeit lief. Der Herzlose verbrannte, ließ nur noch ein Häufchen Asche zurück. Das war, wie Xigbar zugeben musste, wirklich eine beeindruckende Vorstellung gewesen. „Unbeschreiblich, nicht wahr? Damit könnte man die Herzlosen ohne Mühen auslöschen“, erläuterte Zexion. „Leider bleibt kein Herz zurück, das wir weiter verwenden könnten.“ „Und das ist natürlich nicht Sinn der Sache.“ „Exakt. Allerdings gibt es noch eine weitere schlechte Neuigkeit.“ Xigbar seufzte. „Wieso hab ich beinahe mit sowas gerechnet?“ Wäre ja auch zuviel verlangt, wenn irgendetwas mal so klappen sollte wie geplant. „Mithril“, meinte Lexaeus, während er sich den Staub vom Mantel klopfte, „hat noch einen anderen Namen. Man kennt es auch als Pyrit.“ „Und das heißt?“ Er hatte den Namen schon einmal gehört, das wusste er. Aber wo? Und in welchem Zusammenhang? Er hob einen Zeigefinger. „Warte, ich glaub, ich hab’s … Oh, Fuck!“, kommentierte er ungläubig, als es ihm wieder einfiel. „Aeleus! Hey, Aeleus, hast du kurz Zeit?“ Der Angesprochene sah von seinem Manga auf, als Braig schwer atmend vor ihm zum Stehen kam. „Was hast du jetzt schon wieder kaputtgemacht?“ „Oh, bitte!“ Braig winkte ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Dass man mir dieses eine Mal immer noch vorhält, ist nicht fair!“ „Es war ja auch nur das Labor, das du in die Luft gejagt hast“, schaltete sich Dilan ein und legte seinem Freund einen Arm um die Schultern. „Ist ja nicht so, als wäre das etwas, an das man sich noch lange erinnern wird.“ „Du weißt genau, dass Even mich abgelenkt hat! Ich bin unschuldig!“ „Aber natürlich. Du bist unsere Unschuld vom Lande.“ Braig grinste Dilan breit an. „Sag ich doch die ganze Zeit. Wieso glaubt mir das keiner, verdammt noch mal?“ „Du hast mein vollstes Mitgefühl.“ Aeleus klappte seufzend den Manga zu. „Also, was willst du?“ „Na ja …“ Braig kratze sich verlegen an der Wange. „Meine Süße hat doch bald Geburtstag. Und ich wollte ihr ein Amulett schenken. So als Glücksbringer.“ „Und du brauchst jemanden, der dich berät?“ „Genau! Ich meine, bei den Preisen, die diese verdammten Moogles verlangen …“ Aeleus erhob sich und setzte sich in Bewegung, ohne noch einmal zurückzublicken. „Du schuldest mir etwas.“ „Klar, Mann! Alles, was du willst!“ „Übernimmst du ab sofort den Küchendienst?“, schlug Dilan lachend vor und schloss sich den beiden an. Braig boxte ihm gegen die Schulter. „Bring’ ihn nicht noch auf dumme Gedanken!“ „Weißt du“, meinte Aeleus über seine Schulter gewandt, „die Idee ist gar nicht mal so schlecht.“ „Hey!“ „Nun, was hast du dir vorgestellt?“, wollte Aeleus wissen, als sie vor der Auslage standen. Braig zeigte auf ein Medaillon, in dessen Fassung ein rosa Stein im Licht der Sonne schimmerte. „Was ist mit dem?“ Der Hüne warf ihm einen Seitenblick zu. „Weißt du, das sagt viel über dich aus.“ „Echt?“ „Ja. Ich dachte eigentlich, du wärst nicht mehr in dem Alter, in dem man ins Bett macht.“ Dilan grinste breit. „Das ist eben unser Braig: Sieht alt aus, ist aber im Herzen und in den Körperfunktionen noch ein Kind.“ „Ich bin zweiundzwanzig, du Depp. Was bitte ist daran alt?“ „Deshalb sagte ich ja, ‚du siehst nur alt aus’.“ Braig warf ihm einen Blick zu, der töten könnte, und schüttelte den Kopf. Dann zeigte er auf zwei weitere Amulette. „Und die?“ „Ist deine Freundin nicht Künstlerin?“ Als Braig bejahte, nickte Aeleus nur. „Dann würden beide passen. Der Blaue ist ein Sodalith, er sorgt für Inspiration und Kreativität. Den Grauen nennt man Pyrit. Er-" „- sorgt für Ruhe und entspannt in Stresssituationen“, zitierte Xigbar zu Ende. „Ich hab mein Auge verloren – wegen eines gottverdammten Schmucksteins, den man wahrscheinlich heute noch in Hollow Bastion bekommt?!“ Mit jedem Wort nahm seine Stimme an Lautstärke zu, bis er seine beiden Kollegen schließlich fassungslos anschrie. „Beruhig dich …“ „Ich will mich aber nicht beruhigen! Ich glaube, ich hab’ ein gottverdammtes Recht, mich aufzuregen!“ Er musste sich dazu zwingen, den beiden nicht an die Kehle zu gehen. „Wenn ich euch zwei“, knurrte er schließlich vor unterdrückter Wut, „in nächster Zeit auch nur in meiner Nähe sehen sollte, bring’ ich euch um. Und das ist ein verfluchtes Versprechen!“ Er stürmte aus dem Labor und ließ die Tür krachend hinter sich ins Schloss fallen. ~*~ „Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?“ „Geht dich einen Dreck an, Kurzer!“ Fluchend suchte Xigbar nach seinem Feuerzeug. Er befürchtete, gleich den Verstand zu verlieren, wenn er nicht endlich eine Zigarette bekäme. Endorphine? Die brauchte er in diesem Moment in rauen Mengen! „Ich will doch nur helfen“, begann Demyx noch einmal. „Und ich will, dass du dich um deinen eigenen Kram kümmerst!“, herrschte Xigbar ihn ungehalten an. Erst, als der Junge zusammenzuckte, merkte er überhaupt, dass er sich wie ein Idiot aufführte, und dass Demyx das nun wirklich nicht verdient hatte. Er sackte auf dem Bettrand zusammen und vergrub das Gesicht in den Händen. „Tut mir Leid, Kurzer“, meinte er zerknirscht. „Es ist ja nicht deine Schuld.“ Er ließ zu, dass Demyx’ Finger über seine Schultern und dessen Lippen über seinen Nacken wanderten. „Ist schon okay“, flüsterte der Junge, sein Atem geisterte dabei über Xigbars Haut. „Ich kann dich verstehen.“ Irgendwie bezweifle ich das. Er entschloss sich, nicht darauf einzugehen. „Sei ein guter Junge“, begann er stattdessen, „und besorg’ mir irgendwoher ein-“ Er musste den Satz nicht einmal beenden, da wurde ihm sein eigenes Feuerzeug unter die Nase gehalten. Xigbar beäugte den Jungen kritisch, als er es ihm aus der Hand nahm. „Und wo hast du das so schnell hergenommen?“ „Überlebenskünstler, schon vergessen?“ Demyx lächelte dasselbe selbstgefällige und überhebliche Lächeln wie damals in Port Royal. Und Xigbar kam nicht umhin, es zu erwidern. „Einmal Dieb, immer Dieb.“ Mit hinter dem Kopf gefalteten Händen und geschlossenem Auge lehnte er sich zurück und genoss die Zigarette, die er sich so verflucht verdient hatte. Es war einfach eine unmögliche Situation. Dabei hätte ihm wohl klar sein müssen, dass Cecil ihm noch aus dem Grab heraus das Leben schwer machen würde. Demyx schien seine Gedanken gelesen zu haben, denn in diesem Augenblick fragte er nur: „Du weißt, dass du dieses Mal gerächt wurdest?“ „Aber manchmal, Kurzer, ist Rache einfach nicht genug.“ Stille. Er blieb liegen, bis die Zigarette bis auf den Stummel hinab gebrannt war, dann drückte er sie mit einer Handbewegung aus. „Die nächsten Tage wirst du auf mich verzichten müssen. „Wieso?“ Xigbar setzte sich auf und tippe auf den Verband. „Deswegen. Wenn ich mich nicht beweise, bin ich ein Ex-Mitglied.“ Demyx’ Augen weiteten sich. „Du meinst doch nicht etwa …?“ „Genau das.“ Der Schütze grinste beruhigend. „Aber ich hab’ schon eine Idee.“ ~*~ Was brauchte die Organisation am meisten? Mitglieder. Und wie würde sich ihre Anzahl erhöhen? Indem man suchte. Er musste also nur eine Welt aufsuchen, in der sie vor Kurzem Herzlose freigelassen hatten, und über kurz oder lang würde er jemanden finden. Dass sie selbst zehn Jahre gebraucht hatten, um ihre Zahl von sechs auf zehn zu erhöhen, verdrängte er erst einmal. Xigbar hoffte einfach, dass seine Glückssträhne noch eine Weile anhielt. Es war wohl unnötig zu erwähnen, dass dem nicht der Fall zu sein schien. Er hatte unzählige Welten abgeklappert – erfolglos. Seine Frist war so gut wie um, und er hatte noch niemanden gefunden, der seine Haut hätte retten können. Xigbar ging zu Fuß durch die Dunkle Stadt, um das Unabwendbare wenigstens noch etwas hinauszuzögern. Wie so oft regnete es. Beinahe so, als würde der Himmel weinen. Xigbar lachte bitter. Was für ein absurder Gedanke. Seine Schritte gingen im Geräusch des prasselnden Regens unter, seine Kleidung war vollkommen durchnässt, er fror erbärmlich – und dennoch würde er es vorziehen, für alle Ewigkeit an diesem Fleck stehen zu bleiben, wenn es nur sein Schicksal ändern möge. Nur noch ein paar Ecken, dann würde das Schloss in Sicht kommen. Und wenn er einfach verschwinden und nie wieder zurückkommen würde? Nein, das würde auch nichts bringen. Es war nicht seine Art, davonzulaufen und sich zu verstecken. Er würde wohl oder übel … was war das denn? Schritte. Schatten. Eine Gestalt, die aus dem Dunkeln stolperte und auf die Knie fiel. Xigbar kam näher; nahe genug, dass der Fremde aufsah und zu ihm blickte. Ausdruckslose blaue Augen, ein Schopf rosaroten Haares, muskulös gebaut, ein weißer Laborkittel, mit dem er ausgerechnet an diesem Ort gänzlich fehl am Platze wirkte. „Wie bist du hierher gekommen?“ Ein Lachen, dunkel und wohlklingend, dann die knappe Antwort: „Wenn ich das selbst nur wüsste.“ Xigbar grinste. Er hatte wohl doch mehr Glück als Verstand. ~*~ „Bist du gekommen, um dich zu verabschieden?“, wollte Demyx mutlos wissen, als Xigbar an seine Tür klopfte. „Ist das eine Art, jemanden zu begrüßen? Ich hab’ nicht vor, irgendwohin zu gehen.“ Er drängte sich an dem Jungen, der ihn verwirrt anstarrte, vorbei, und warf den nassen Mantel über einen Stuhl. „Heißt das, du kannst bleiben?“ „Was? Wäre dir das nicht recht?“ Er lächelte, als Demyx ihm strahlend um den Hals fiel, obwohl es ihn selbst ein wenig verwunderte, wie sehr er ihn in den letzten drei Tagen vermisst hatte, und wie gut es tat, wieder bei ihm zu sein. „Du hättest Saïx’ Gesicht sehen sollen“, erklärte er, wie um sich selbst von seinen Gedanken abzulenken, „der ist beinahe geplatzt vor Wut!“ Das war noch nicht einmal untertrieben. Als Xemnas gesagt hatte, Xigbar hätte ‚seinen Wert bewiesen’, hatte Saïx getobt wie ein Teufel in Menschengestalt. Natürlich war Xigbar sowohl auf diesen Gefühlsausbruch, als auch auf sein selbst erdachtes Wortspiel mehr als stolz und bedauerte, es nicht auf Band festgehalten zu haben. „Hör mal, ich erzähl’ dir das alles später. Im Moment bin ich nass und müde – und werd’ mal deine Dusche zweckentfremden, ja?“ ~*~ „Es geschehen doch noch Zeichen und Wunder.“ Demyx zuckte zusammen, als er Saïx’ kalte, höhnische Stimme vernahm. Er hatte sich schon immer unwohl in dessen Nähe gefühlt. Ihm kam Saïx wie ein Raubtier vor – ein Wolf vielleicht –, der zielstrebig und geduldig wartete, bis seine Beute sich von der Herde absonderte. Dann, im richtigen Moment, würde er das verängstigte Tier jagen, es vor sich her hetzen, bis er es zitternd und bettelnd in die Enge getrieben hatte. Und dann würde er es zerfetzen, Bissen für Bissen, sich an seinen Schreien ergötzen, sich an seinem Blut laben. In diesem Moment glaubte Demyx, das heutige Beutetier darzustellen. Er schluckte, unterdrückte einen kalten Schauer und wandte sich dem Berserker zu. „Was“, fragte er mit vor Nervosität zitternder Stimme, „ist denn so wundervoll?“ Saïx lächelte, entblößte dabei seine spitzen Eckzähne. „Dass du dich aus deinem Bau traust, ohne an Nummer Zweis Rockzipfel zu hängen.“ Er hob die Schultern ein wenig. „Aber daran sollte ich mich wohl gewöhnen – jetzt, da der gute Xigbar nicht zurückkehren wird.“ Demyx blinzelte verwirrt. „Wird er nicht?“ „Natürlich nicht. Er ist schließlich kein Idiot, auch wenn er sich alle Mühe gibt, jeden vom Gegenteil zu überzeugen.“ Saïx reckte erhaben den Kopf, schien Demyx’ Unsicherheit zu genießen wie guten Wein. „Wozu braucht die Organisation einen einäugigen Scharfschützen? Nein, er wird sich verstecken und hoffen, dass wir ihn nie finden.“ „Das ist nicht wahr!“ Obwohl sein ganzer Körper bebte, obwohl Saïx’ Blick seine Eingeweide einzufrieren schienen, konnte Demyx nicht zulassen, dass so über Xigbar geredet wurde. Er würde Demyx nicht verlassen. Daran konnte er einfach nicht glauben. Und doch hatte Saïx es geschafft, Zweifel in ihm zu säen. Er hatte nicht damit gerechnet, Xigbar noch einmal sehen zu können, selbst als jener vor seiner Tür stand, hatte Demyx nur ein paar kurze Worte des Abschieds erwartet. Auch jetzt, da er das Rauschen des Wassers und Xigbars furchtbaren Gesang hören konnte, war er sich nicht vollkommen sicher, ob es sich nicht nur um einen Traum handelte. Falls er wirklich nur träumen sollte, entschied er, während er über Xigbars nasse, achtlos aufs Bett geworfene Kleidung strich und die Feuchtigkeit aus ihnen sog, wollte er nie wieder erwachen. Das Rauschen stoppte. Als Xigbar das Bad verließ, ein weißes Handtuch um die Hüften, das lange schwarze Haar mit den grauen Strähnen offen über die Schultern fallend, nahm Demyx sich die Zeit, ihn ausgiebig zu betrachten. Wenn das alles wirklich nur ein Traum sein sollte, wollte er sich jedes Detail genau einprägen. Sein Blick wanderte über die gebräunte Haut und über die vielen Narben, die sich dunkel auf seinem Körper abzeichneten, über seine schlanke, beinahe – aber nur beinahe – hagere Statur. Das sichtbare Auge leuchtete golden, das andere wurde unter einer schwarzen Augenklappe verdeckt. Vom Bauchnabel an führte ein Pfad schwarzen Haares verheißungsvoll hinab. Unwillkürlich fragte sich der Musiker, was er tun musste, wie er diesen Körper zu spielen hatte, um den schmalen, so oft zu einem spöttischen Lächeln verzogenen Lippen eine Melodie, eine ganze Symphonie zu entlocken. „Na, was schaust du denn so selig?“, wollte Xigbar lachend wissen und strich ihm durch die Haare. „Ich bin einfach nur froh, dass du wieder da bist.“ Gut rausgeredet. Und es war nicht einmal gelogen. „Hast du damit etwa nicht gerechnet? Das enttäuscht mich jetzt aber.“ Er grinste überheblich und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich sagte doch, ich hatte eine Idee. Ein bisschen mehr könntest du mir schon vertrauen.“ Da war sie wieder, diese selbstsichere Art, die schon an Arroganz grenzte. Dieses Selbstbewusstsein, das Demyx so sehr bewunderte, von dem er sich wünschte, selbst auch nur einen Bruchteil besitzen zu können. Wann immer Xigbar diesen Ton anschlug, glaubte Demyx, dass alles möglich sei, dass sie alles erreichen konnten. „Meine Güte, du bist ja wirklich nützlich!“, bemerkte Xigbar, als er nach seinen trockenen Sachen griff. Ehe Demyx dazu einen Kommentar abgeben konnte, fischte sein Mentor seufzend eine tropfnasse Zigarettenschachtel aus seiner Manteltasche. „Wäre ja auch zu schön gewesen.“ „Ich weiß sowieso nicht, was du an diesen Dingern findest.“ Und er würde es auch nie verstehen. Einmal hatte er heimlich eine von Xigbars Zigaretten geraucht – beziehungsweise zu rauchen versucht. Nach einigen Zügen war ihm schlecht geworden. „Du bist einfach zu jung dafür. Und jetzt sei ein braver Junge und dreh dich um, damit ich mich anziehen kann.“ „Zierst du dich etwa vor mir?“, bemerkte Demyx grinsend, tat aber wie ihm befohlen. „Wie immer denke ich nur an deine Gesundheit, Kurzer. Wenn du noch einmal solche Stielaugen bekommst wie eben, bleibt das noch so.“ „Ich habe nicht …“ Demyx Proteste wurden jäh erstickt, als er Xigbars Lippen auf seinen eigenen spürte, unnachgiebig, beinahe verzweifelt. Als hätte er ebenfalls nicht mit seiner Rückkehr gerechnet. Demyx schloss seine Finger grob um das schwarze Haar, ließ gleichzeitig seine andere Hand über den nackten Rücken gleiten. Das tiefe Grollen, das aus Xigbars Kehle drang, war für Demyx wie die süßeste Musik. Wozu, fragte er sich in diesem Moment, brauchten sie Gefühle? Er konnte den Hauch der Minze schmecken, die den Tabak überdecken sollte – was nicht funktionierte, aber das machte nichts –, konnte das Duschgel riechen, das Xigbar verwendet hatte – und eigentlich war es sein Duschgel, hätte er nicht wenigstens fragen können, verdammt? –, konnte die Finger spüren, die sich auf seine Oberarme pressten, so fest, dass es mit Sicherheit Abdrücke hinterlassen würde. Wozu brauchten sie Gefühle, wenn sie fühlen konnten? Als sie sich voneinander lösten, war er sich sicher, dass sein Mentor das Gleiche dachte. Sie grinsten sich an und nachdem Demyx sich mit unschuldigem Gesichtsausdruck umdrehte, brach Xigbar in leises Gelächter aus. „Du lernst schnell, Kleiner.“ „Ich hatte ja auch einen halbwegs fähigen Lehrer.“ Das Rascheln von Stoff erklang. Ein Reißverschluss wurde zugezogen. „Nur halbwegs? Unverschämtheit!“ Er klopfte Demyx kurz auf die Schulter und meinte nur betont kühl: „Dann sollte ich meinen vollkommen unfähigen Schüler wohl besser alleine lassen.“ „Das war doch nicht ernst gemeint!“, beeilte Demyx sich zu sagen. „Weiß ich doch.“ ~*~ Als er aus der Tür trat, prallte er beinahe mit Saïx zusammen, der scheinbar aus der Richtung des Quartieres ihres Neuzugangs kam. „Was für eine Überraschung“, bemerkte der Berserker trocken. „Ich hätte nicht damit gerechnet, dich noch hier anzutreffen.“ „Was? Hast du etwa schon den Part vergessen, an dem Xemnas dir verbal den Arsch aufgerissen hat? Dein Gedächtnis lässt aber auch zu wünschen übrig.“ Xigbar bemerkte nicht ohne Genugtuung, wie Saïx’ Miene ihre Ausdruckslosigkeit verlor und er die Lippen zu einem schmalen Strich zusammenpresste. „Wie könnte ich nur den Moment vergessen, in dem du dich wieder aus der Affaire gezogen hast? Aber ich meinte eigentlich deine-“ Die nächsten beiden Worte sprach er voll höhnischer Verachtung aus. „-sentimentale Tradition. Solltest du nicht schon längst betrunken in einer Ecke dieser Welt – wie war ihr Name noch gleich? – sitzen und deine Nichtexistenz beklagen?“ Xigbar breitete gespielt mitfühlend die Arme aus. „Ich wusste ja, dass du deinen Sinn für Humor mit deinem Herzen verloren hast, aber heute? Was ist los, Saïx? Hat dein Herrchen dich übers Knie gelegt?“ Er zuckte mit den Schultern und ließ nicht zu, dass Saïx ihn unterbrach. „Aber du hast Recht. Ich bin wirklich spät dran. Wie ungewohnt nett von dir, mich daran zu erinnern.“ „Denk dir nichts dabei. Ich genieße einfach nur jeden Augenblick, in dem ich deine Anwesenheit nicht ertragen muss.“ Er grinste spöttisch und verschwand in einem Portal. „Gleichfalls“, murmelte der Schütze mehr zu sich selbst und dreht sich dann zu Demyx, der die ganze Zeit stumm gelauscht hatte. „Na los, Kurzer, worauf wartest du noch? Lass uns gehen!“ „Wohin denn?“ „Das wirst du schon sehen. Aber ich glaube, es wird dir gefallen.“ Interlude – Celebration ----------------------- Warnung: Kitsch! Like woah. Nein, wirklich ... Interlude – Celebration „Wieso sagst du mir nicht einfach, wohin wir gehen?“, versuchte Demyx es noch einmal, während sie durch den Raum zwischen den Welten schritten. „Weil es dann keine Überraschung mehr ist.“ „Ich kann überrascht tun.“ Xigbar lachte und zündete sich eine Zigarette an. „Das wäre nicht dasselbe.“ Es war einen Versuch wert gewesen. Demyx wechselte grinsend und mit einem Seitenblick auf Xigbars Zigaretten das Thema. „Waren die vorhin nicht noch nass?“ Dabei handelte es sich natürlich um eine rein rhetorische Frage. Demyx wusste mit Bestimmtheit, dass diese Sargnägel noch immer vor Nässe triefen mussten. Schließlich hatte er sich geweigert, sie für den Schützen zu trocknen, da er seine Macke zwar akzeptierte, aber nicht unterstützte. „Man kann auch feuchten Tabak rauchen“, gab Xigbar knapp zurück und fügte mit einem anklagenden Blick hinzu: „Auch, wenn es beschissen schmeckt.“ Demyx zuckte betont unschuldig mit den Schultern und betrat gemeinsam mit seinem Mentor das Portal, das sich auf der anderen Seite des dunklen Korridors auftat. ~*~ Weiß. Reines, pures, ungetrübtes Weiß, gegen das die Farben des Schlosses ihrer Welt trist und öde wirkten. Um Demyx' Erstaunen zu verstehen, musste man wissen, dass es in der Karibik nicht gerade häufig schneite; und falls doch, dann ausschließlich wenn Ostern und Weihnachten auf ein und denselben Tag fielen. Dementsprechend ungewohnt war der Anblick von so viel Schnee für ihn. Ansonsten befanden sich um sie herum mehrere rote Häuser mit spitzen schwarzen Dächern. Ein kleines Dorf, fremdartig und doch so vertraut. Er konnte sich nur nicht erinnern, weshalb. Während er noch überlegte, schritt Xigbar bereits zu einem der Häuser und öffnete die Tür. Demyx stand noch immer am selben Fleck und sah sich um. Fremde Schriftzeichen. Wände, dünn wie Papier. Türen, die sich zur Seite schieben ließen. Kahle Bäume, von deren nackten, schneebedeckten Ästen rote Papierstreifen herabhingen. Ehe er sich die Gebilde genauer betrachten konnte, rief Xigbar ihm zu, ob er endlich mitkommen oder lieber Wurzeln schlagen wollte. Freundlich wie immer, dachte er, belustigt den Kopf schüttelnd, und folgte seinem Mentor, der bereits im Gebäude verschwunden war und sich mit einem Mann unterhielt. Es stellte sich heraus, dass es sich bei dem Gebäude um ein Hotel handelte, in welchem sie diese Nacht unterkommen würden. Lächelnd nickte der Mann Xigbar zu und deutete auf einen Tisch in der Nähe. „Vergessen Sie nicht, Ihre Wünsche aufzuschreiben.“ Im Gegensatz zu Demyx schien der Schütze zu verstehen, denn er bejahte nur und zog den Musiker mit sich zum besagten Tisch. „Sieh dir das an“, erklärte er, zeigte dabei nacheinander auf die roten Papierstreifen, die Feder und die Tinte, welche sich auf dem Tisch befanden, „auf dieses Papier schreibst du, was du dir am sehnlichsten wünschst. Dann hängst du es draußen an den Baum und wartest darauf, dass der Wunsch in Erfüllung geht.“ „An sowas glaubst du?“, fragte Demyx mit zweifelndem Blick. „Es ist so Sitte. Außerdem kann es nicht schaden.“ Xigbar zuckte mit den Schultern und sah Demyx abwartend an. „Also, nach dir.“ Na wundervoll. Er war nicht gut in solchen Spontanitäten. Was wünschte er sich überhaupt? Natürlich, er wollte sein Herz zurück. Aber das war wohl kaum ein passender Wunsch für diesen Aberglauben. Xigbar. Er wollte ihn nicht verlieren. Nicht, nachdem sein Mentor ihm schon einmal einen furchtbaren Schrecken eingejagt hatte. Konnte man das als Wunsch zählen? Er nickte zu sich selbst und schrieb genau das auf den Streifen, reichte die Feder dann weiter. Xigbar nahm sie grinsend an und schrieb, ohne vorher lange zu überlegen. Als Demyx versuchte, über seine Schulter zu linsen, um zu sehen, was genau Xigbar von sich gab, wurde er wütend angesehen. „Und was soll das jetzt?“ „Ich …“ Demyx blinzelte verwirrt. „Ich wollte nur sehen, was du dir wünschst.“ „Im Moment wünsche ich mir, dass du dich benimmst, ja?“ „Aber …“ Was hatte er denn jetzt schon wieder falsch gemacht? „Kein aber. Sei brav und häng deinen Wunschzettel auf.“ Xigbar grinste und beugte sich wieder über den Tisch. Kopfschüttelnd verließ Demyx das Hotel und tat wie ihm befohlen, wartete, bis Xigbar sich zu ihm bequemte und das Gleiche tat. „Und wieso die Geheimniskrämerei?“ „Du willst es nicht wissen.“ Xigbar lächelte nur geheimnisvoll und ging an Demyx vorbei. „Komm schon, wir haben ein Fest zu feiern.“ „Ja. Ja, natürlich. Bin gleich da.“ Zuerst wollte er sehen, was sein Mentor von sich gegeben hatte. Neugierig betrachtete er den Zettel, doch mit jedem Wort, das er las, blinzelte er überraschter. Konnte nicht glauben, was er da gelesen hatte. Drehte sich schließlich fassungslos um und sah, wie Xigbar sich vor Lachen bog. „Mistkerl“, murmelte er kopfschüttelnd und mit hochrotem Kopf. Was Xigbar sich gewünscht hatte? Demyx, der willig und bettelnd unter ihm lag und seinen Namen schrie. ~*~ Sie stiegen den kleinen Bergpfad hinab, schwiegen sich an. Xigbar fragte sich schon, ob Demyx seinen Scherz übel nahm, als der Junge plötzlich stehen blieb. „Singapur!“ „Bitte was?“ Der Junge lächelte. „Ich hab Geschichten von den Häusern und den Menschen hier gehört. Das alles erinnert an Singapur.“ Fragend legte er den Kopf schief. „Sind wir in Singapur?“ „Ich weiß nicht einmal, wo das sein soll“, gab Xigbar kopfschüttelnd zu. „Bitte? Jeder Pirat, der etwas auf sich hält, kennt die Geschichten von Singapur!“ „Wie gut, dass du keiner mehr bist.“ Der Schütze verdrehte das Auge und ging weiter, erzählte Demyx noch mehr über das Fest, auf das sie sich begeben würden. Es war ein jährliches Frühlingsfest, das sich über drei Wochen erstreckte und einen der Höhepunkte dieser Welt darstellte. Aber mehr sollte Demyx selbst sehen, meinte er grinsend, während sie das große Stadtportal betraten. Verwinkelte Straßen, Menschenmassen, fremdländische Musik, die an das Ohr eines jeden Besuchers drang, der Peking betrat. Es duftete nach Jasmin und Lotus, gemischt mit edlen Gewürzen. Lampions hingen über ihnen, rot und mit diversen Bildern und Schriftzeichen verziert. Drachen und andere Fabelwesen fanden sich dort ebenso wie Glückwünsche und Rätsel. Irgendwann griff Demyx nach Xigbars Hand, um ihn in dem Gewimmel nicht zu verlieren. Obwohl es nur eine kleine, scheinbar unbedeutende Geste war, erfüllte sie die Brust des Schützen mit einer seltsam ungewohnten Wärme. Er lächelte schmal und führte Demyx durch die Straßen. Keine zehn Meter weiter jedoch hielt der Junge ihn an und zeigte auf einige Musiker, die sich in einiger Entfernung ihre Künste all jenen präsentierten, die ein paar Minuten ihrer wertvollen Zeit, sowie einige Münzen aus ihrem wertvolleren Besitz entbehren konnten. „Kann ich mir das aus der Nähe ansehen?“ „Du musst mich doch bei sowas nicht um Erlaubnis fragen.“ Xigbar lachte und folgte Demyx zu den Künstlern. Neugierig betrachtete Demyx die Musikinstrumente, unterhielt sich mit einer Musikerin, die sich von den Fragen des Jungen nicht gestört zu fühlen schien. Geduldig erzählte sie ihm alles, was er wissen wollte, und erlaubte ihm, nachdem das Lied zu Ende war, die Saiten der hölzernen Zither zu berühren, weil Demyx unbedingt das Material erfahren wollte. „Was ist das? Das ist kein Material, das ich auf Anhieb erkenne. Und ich kenne mich mit Saiten aus.“ Sie bedachte ihn mit einem seltsamen Blick, als wäre es ihr unverständlich, dass überhaupt jemand nachfragen musste. Scheinbar war das allgemeines Wissen in dieser Welt. „Sie sind aus reiner Seide gefertigt“, erklärte sie ihm schließlich. „Dann sind das ja richtige ‚Seideninstrumente’!“, schlussfolgerte Demyx und lachte über seinen eigenen Scherz. Das Lachen verging ihm jedoch schnell, als sie die Stirn in Falten legte und ihm bestätigte, dass diese Art Instrument tatsächlich jenen Namen trug. Für Xigbar war das der Moment einzuschreiten, ehe die Musikerin noch fragen konnte, ob Demyx hinterm Mond lebte. Er legte ihm eine Hand auf die Schulter und lächelte entschuldigend. „Er ist nicht mehr ganz nüchtern“, behauptete er und bedeutete dem Jungen mit einem Blick, ja still zu sein. Ihm wurde ein verständnisvoller Blick zugeworfen. Ihre Lippen teilten sich zu einem Lächeln und entblößten perlweiße Zähne. „Meine eigenen sind auch so. Sie glauben immer, erwachsen zu sein, und kennen doch ihre Grenzen nicht.“ Xigbar verbiss sich einen Kommentar, nickte nur und zog Demyx mit sich. Der Junge kicherte unkontrolliert, lehnte sich an den Schützen, drückte seine Hand. „Sie hat dich für meinen Vater gehalten. Sie hat dich allen Ernstes für meinen Vater gehalten.“ „Halt den Mund, Kurzer!“, knurrte er leise und ungehalten, stieß damit eine unmissverständliche Warnung aus. Natürlich ließ Demyx sich nicht beirren. „Ich meine, vom Alter her würd’ es ja hinkommen, aber-“ „Ich warne dich, kein Wort mehr!“ „Wir sehen uns überhaupt nicht ähnlich!“ Das reichte. Genug war genug. Xigbar zog den Jungen in eine schlecht beleuchtete Gasse und drückte ihn gegen die Wand. „Entweder du benimmst dich jetzt“, raunte er gefährlich, „oder ich tu das, was dein Vater schon längst hätte tun sollen.“ „Und das wäre?“ In Demyx’ Augen lag ein übermütiger Glanz, seine Lippen zierte ein angriffslustiges Grinsen. „Ich versohl’ dir den Hintern.“ Lächelnd beugte Demyx sich vor, sein warmer Atem streifte dabei Xigbars Hals. „Würde dir das gefallen?“, hauchte er betont lasziv und biss dem Schützen zärtlich ins Ohr. Oh bitte … wollte der Junge ihn etwa verführen? Xigbar lächelte. Das Spiel konnten sie auch zu zweit spielen. „Weißt du, was mir wirklich gefallen würde?“, fragte er und küsste Demyx stürmisch, ließ ihm nicht die Zeit zu antworten. Seine Finger begaben sich auf Wanderschaft, öffneten Demyx’ Mantel und fuhren unter sein Shirt. Kaltes Leder traf auf erhitzte Haut, raue Lippen trafen sich wieder und wieder. Er spürte Demyx’ Finger, die sich in seinem Haaren vergruben, hörte dessen leises Keuchen, sehnte schon den Augenblick herbei, an dem er sich den Wassermanipulator ganz zu Eigen machen würde. Aber so weit waren sie noch nicht. Ein Stöhnen entglitt Demyx’ Kehle, als Xigbar ein Knie zwischen seine Beine presste. Erwartungsvolle Blicke aus halbgeschlossenen Augen, seliges Lächeln auf fein geschwungenen Lippen … Er war einfach wunderschön – so zumindest fand Xigbar. Natürlich hielt das jedoch nicht ab, den Jungen zumindest ein klein wenig auf die Palme zu bringen. Strafe musste schließlich sein. „Wenn du dein Gesicht sehen könntest“, führte er seinen vorherigen Satz fort. „Und zwar genau jetzt.“ Mit diesen Worten ließ er von Demyx ab, würdigte ihn keines weiteren Blickes und verließ innerlich grinsend die Gasse, als ihm ein Schwall an Flüchen und Verwünschungen hinterher gerufen wurde. Wer hatte Demyx nur solche Ausdrücke beigebracht? Es dauerte einige Minuten, bis Demyx mit geröteten Wangen und wütend funkelndem Blick zurück auf die Straße trat. „Das war wirklich nicht lustig.“ „Im Gegenteil. Außerdem war es gerecht.“ Xigbar legte ihm lächelnd eine Hand auf die Schulter. „Du verarschst mich, ich verarsch dich. Das ist der Lauf der Dinge.“ Und ehe Demyx, der sich murrend an den Schützen lehnte, darauf etwas sagen konnte, sprach Xigbar bereits weiter: „Und jetzt lass uns erstmal was essen. Danach will ich dir noch was zeigen.“ ~*~ Das Lokal, das Xigbar ausgesucht hatte, lag abgeschieden vom Gedränge, was der Lautstärke der Hauptstraßen eine angenehme Abwechslung bot. Schweigend ließ Xigbar sich im Schneidersitz an dem flachen Tisch nieder und wartete, bis Demyx es ihm gleich tat. „Keine Stühle?“ „Das ist nicht das einzige, an das du dich gewöhnen musst.“ Lachend betrachtete er Demyx’ Verrenkungen und wartete, bis ein Kellner sich ihrer annahm, bei welchem er ihre Bestellung aufgab. Demyx’ fragenden Blick ignorierte er, bis sie wieder alleine waren, dann erklärte er schulterzuckend: „Nudeln und Alkohol.“ „Wieso sagst du das dann nicht einfach?“ „Andere Länder, andere Sitten.“ Und damit war alles geklärt. Zumindest bis das Essen kam. „Was ist das?“ Er seufzte. „Ich sagte doch: Nudeln und Alkohol.“ Demyx schüttelte den Kopf und zeigte auf die Essstäbchen. „Ich rede davon.“ „Das ist Besteck.“ „Ich weiß, wie Besteck aussieht. Das da ist kein Besteck. Das sind übergroße Zahnstocher.“ Es sollte ein sehr lustiges Essen werden. Xigbar zumindest amüsierte sich königlich, als der Junge versuchte mit den Stäbchen umzugehen, wobei er sich beinahe selbst ein Auge ausgestochen hätte. Irgendwann jedoch hatte er den Dreh raus. Er lernte wirklich schnell. In allen Belangen. Kein Wunder, bei dem Lehrmeister. Xigbar lächelte selbstzufrieden über seinen Schüler. ~*~ Später, als die Sonne bereits untergegangen war, zog Xigbar ihn durch die beleuchteten Gassen, immer dem Strom der Menge nach, bis sie schließlich an einem großen Platz ankamen. Dort zogen Tänzer durch die Straßen, zusammen mit einer Parade von Musikern und Lampionträgern. Demyx beobachtete alles mit leuchtenden Augen und der Freude, die der eines Kindes ähnelte, welchem man seinen innigsten Herzenswunsch erfüllt hatte. „Das Beste kommt erst noch“, prophezeite Xigbar und drückte Demyx’ Hand. Er sollte Recht behalten, denn kurz darauf erschienen zwei Tänzer im Kostüm einer länglichen, echsenartigen Kreatur, die in verschiedenen Rottönen leuchtete und sich anmutig im Schein der Lampions bewegte. „Ein Drache. Das Symbol für Glück, Macht und Reichtum in dieser Welt.“ „Er ist wunderschön“, murmelte Demyx ehrfürchtig. Lächelnd legte der Schütze von hinten die Arme um ihn, küsste seinen Nacken. „Irgendwann werd’ ich dir einen Echten zeigen“, versprach er leise. Sie blieben lange so stehen, selbst als der Zug bereits an ihnen vorbeimarschiert war. Erst, als über ihnen die Anfänge eines Feuerwerkes den Himmel erleuchteten, lösten sie sich voneinander. „Lass uns zurückgehen“, schlug Xigbar vor. „Vom Hotel aus haben wir eine bessere Sicht.“ ~*~ Sie standen gemeinsam auf dem Balkon ihres Hotelzimmers und beobachteten das farbenfrohe Spektakel. Wobei … um genau zu sein, war Demyx der Einzige, der das Feuerwerk betrachtete. Xigbar hingegen hing, eine Zigarette paffend, seinen Gedanken nach. Es war schon eigenartig. Jahrelang hatten sie geglaubt, keine Emotionen zu besitzen, und jetzt? Jetzt kam er sich vor wie ein Blinder, dem man das Augenlicht geschenkt hatte. Mit Sicherheit ein schlechter Vergleich, aber Xigbar verstand die Situation einfach nicht, wusste nicht einmal, ob das, was er für Demyx empfand, Gefühle waren, oder einzig die Erinnerung an selbige. Oder ob er sich alles nur einredete. Im Endeffekt konnte er nur mit Gewissheit sagen, dass sich Farbe in die Tristesse seines grauen Alltags geschlichen hatte, seit der Junge in sein Leben getreten war – und allein darauf kam es seiner Meinung nach an. Nun blieb nur die Frage, ob Demyx genauso dachte. Er hoffte es zumindest. Der Junge sah ihn an, schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. „Danke.“ „Wofür?“, fragte Xigbar ehrlich verwirrt. „Für heute.“ Demyx nickte gen Horizont in den dunklen Himmel. An selbigem zeichneten sich noch immer vereinzelte Farben und Formen ab. „Jederzeit wieder“, versprach Xigbar und erwiderte das Lächeln. „Nächstes Jahr? Die ganzen drei Wochen?“ „Klar. Wenn du dir ’nen passenden Vorwand für Xemnas ausdenkst.“ Ein Kopfschütteln. Demyx sah ihn aus großen Augen an. „Kannst du das nicht machen?“ Es war kein Geheimnis, dass der Junge sich nicht gern in Xemnas’ Nähe aufhielt. Er war ihm unheimlich. Man konnte es ihm wirklich nicht verübeln. Allerdings war dies einer der wundervoll häufigen Momente, in denen die sadistische Ader des Schützen zum Vorschein kam. „Wieso sollte ich? Du willst das Fest sehen.“ Zufrieden grinsend lehnte er sich mit dem Rücken gegen die Brüstung, zog an der Zigarette, weidete sich an dem Anblick des Jungen, der stammelnd mögliche Ausreden durchging, welche natürlich alles andere als überzeugend klangen. Vorgetäuschtes Mitleid spiegelte sich in Xigbars Blick. Er lehnte sich weiter zurück und lächelte noch breiter. „Natürlich könnte ich mich möglicherweise breitschlagen lassen. Kommt natürlich ganz darauf an, was ich als Gegenleistung bekomme.“ Er hatte an nichts allzu Wildes gedacht. Ein paar von Demyx’ Monatsgehältern, vielleicht die ein oder andere Mission, die der Junge für ihn übernehmen könnte. Er war ja nicht boshaft. Zumindest nicht immer. Umso mehr überraschte es ihn, dass sich nach kurzem Nachdenken in Demyx’ Augen ein schelmisches Funkeln zeigte. Mit wenigen Schritten stand Demyx vor ihm, pflückte ihm die Zigarette von den Lippen, welche er stattdessen mit seinen eigenen versiegelte. Xigbar schloss das linke Auge, während er sich in den Kuss lehnte, nahm kaum wahr, wie der Mantel von seinen Schultern gestreift wurde und sich geschickte Finger an seinem Hemd zu schaffen machten. Erst als der kühle Wind ihn frösteln ließ und dazu führte, dass sich die feinen Härchen auf seiner Brust aufstellten, sah er sein Gegenüber mit erhobener Augenbraue an und legte ironisch grinsend die Arme um ihn. „Wie soll ich einem solchen Angebot nur widerstehen?“ „Am besten gar nicht?“ Sie küssten sich noch einmal. Länger. Impulsiver. Atemberaubender. Eigentlich hielt Xigbar es für seine Pflicht, jetzt etwas Romantisches zu denken. Dass der Geschmack von Demyx’ Lippen ihn süchtig machte oder ähnlich Kitschiges. Doch alles, was er wahrnahm, waren Momentaufnahmen: Wie Demyx’ behandschuhte Finger über seine nackte Brust strichen und er sich automatisch an die Berührung drängte. Wie das Geländer des Balkons gegen seinen Rücken drückte, gleichzeitig sein Haarband gelöst wurde und seine Haare frei auf seine Schultern fielen. Die bittere Mischung aus Maotai und Nudeln, nach der Demyx schmeckte und die dem Augenblick sowohl einiges mehr an Realität verlieh, als auch lange verloren geglaubtes Verlangen in ihm auslöste. Nervosität machte sich in ihm breit, schließlich war seit dem letzten Mal, dass er einer anderen Person Zärtlichkeiten hatte zukommen lassen, viel Zeit vergangen. Er ließ zu, dass Mantel und Hemd komplett zu Boden fielen, wo sie mit einem dumpfen Geräusch aufkamen. Es sollte nicht das letzte Kleidungsstück sein, das er an diesem Abend verlor. Zusätzlich sollte er in dieser Nacht erfahren, dass Wünsche wirklich wahr werden konnten. In den Nächten der kommenden Wochen fand er außerdem heraus, dass Demyx bei Weitem nicht so unschuldig war, wie es häufig den Anschein hatte. Home is where the Heart is -------------------------- Chapter 10/12 Home is where the Heart is Inzwischen waren zwei Jahre vergangen, seit Demyx sich der Organisation angeschlossen hatte. In dieser Zeit war ihm so manche Kuriosität begegnet, so manche Mission, die sich auf den ersten Blick als unlösbar herausstellen sollte, und die ihm einiges an Kraft und Flexibilität abforderte. Aber eine Mission wie diese war ihm noch nicht untergekommen. Natürlich war es nicht die Erste, die er alleine absolvierte, doch war es das erste Mal seit langer Zeit, dass er seine Heimat wiedersehen sollte. Eine Heimat, die er als solche nicht mehr anerkannte. Zu sehr hatte er sich an das technische Niveau des Schlosses gewöhnt, an die sterile Umgebung und die Ruhe. Seine eigene ‚Heimat’ war ganz anders, wie er in der Hafenstadt Santa Marta herausfinden sollte: Zwar fand man hier kaum Gesetzesübertreter – dazu befand sich die Inselstadt zu fest in spanischer Hand – und die Menschen benahmen sich Fremden gegenüber freundlich und zuvorkommend, doch wollte er sich dennoch nicht länger in dieser Gegend aufhalten als nötig. Zu bedrängend war die Ansammlung an Menschen, die sich durch die Straßen schoben, um ihren Einkäufen, ihrer Arbeit oder lautstark dem unausweichlichen Klatsch und Tratsch der Nachbarschaft nachzugehen. Zu erdrückend war der Gestank. Gestank der Tiere, die durch die Straßen getrieben wurden, der Straßen selbst, auf die der Unrat der einzelnen Haushalte geschüttet wurde, und schließlich der der Menschen im Allgemeinen, deren mangelnde Hygiene oftmals durch prunkvolle Kleidung übertüncht zu werden versuchte. Demyx fragte sich häufig, wie er es all die Jahre in dieser Welt hatte aushalten können. Allerdings war er sich bewusst, dass er all die negativen Seiten niemals wahrgenommen hätte, wäre ihm nicht vor Augen geführt worden, wie anders es in anderen Welten zugehen konnte. Kopfschüttelnd stieß er die Tür zu einer Taverne auf und begab sich an die Bar. Möglicherweise würde ihm hier jemand weiterhelfen. Es hatte schon seinen Grund, aus dem er sich Santa Marta ausgesucht hatte und nicht Tortuga oder Port Royal – denn so friedlich wie die Stadt selbst war, so gefährlich war die See. Riffe und Untiefen versteckten sich unter der Wasseroberfläche, lauerten wie Raubtiere auf ahnungslose Seefahrer, die sie in die Tiefe ziehen konnten. Gepaart mit dem hohen Wellengang und den stürmischen Regenschauern, war das Meer vor dieser Stadt am schönsten. Und am tödlichsten. Genau, was er für die Ausführung seiner Order benötigte. Nachdem er sich auf einen der leeren Hocker gesetzt hatte, dauerte es nicht lange, bis die Wirtin sich ihm zuwandte. Dabei musterte sie ihn unverhohlen und lehnte sie sich auf den Tresen, betonte somit ihr Dekolleté. Mit samtweicher Stimme und einem anzüglichen Grinsen auf den Lippen erkundigte sie sich nach seinem Begehr. Errötend räusperte sich Demyx, riss seinen Blick von ihrem Ausschnitt los. „Um genau zu sein“, begann er zu erklären, „geht es mir nur um eine Auskunft.“ Sie hob eine geschwungene Augenbraue. „Das wird dich was kosten, mein Hübscher.“ Demyx glaubte sicher zu wissen, welche Bezahlung sie sich wünschte. Natürlich ging er auf ihren Flirtversuch nicht ein, sondern zog einige Münzen, die er vorher einem arglosen Passanten entwendet hatte, aus der Manteltasche und schob sie ihr hin. Ein sichtlich enttäuschter Zug umspielte ihre Mundwinkel. Dennoch steckte sie das Geld mit einer beinahe unglaublichen Geschwindigkeit ein. „Und womit kann ich dienen?“ „Ich benötige eine Überfahrt nach Límon. So bald wie möglich. Am Hafen sagte man mir, ich sollte hier nach einem Captain Colón fragen, aber-“ Er brach ab und lächelte schelmisch. „Ich weiß beim besten Willen nicht, wer das sein soll.“ Ihr Lächeln wirkte jetzt steif, gekünstelt. Mit einem Kopfnicken deutete sie zu dem Tisch in der hintersten Ecke, an dem sich drei Männer hitzig unterhielten. Demyx wollte sich noch bedanken, doch sie hatte sich bereits von ihm abgewendet. Unverständlicherweise. Zumindest für ihn. Waren Frauen immer so, wenn man sich nicht für sie interessierte? Er schüttelte nur den Kopf. Sollte die Frauen verstehen, wer will – er tat es nicht … Seine Schritte lenkten ihn zu den drei Herrschaften und er begrüßte sie, lächelte in die Runde. „Verzeiht die Frage, Senõrs“, meinte er dann, um gleich zum Punkt zu kommen, „aber wer von Euch ist Captain Colón?“ Einer der Männer stellte sein Glas ab und musterte Demyx kritisch. Der schluckte nur, da es sich ausgerechnet um den Größten der Männer handelte, und er hoffte inständig, dass seine Frage nicht irgendwie anstößig war, Colón nicht irgendwelche Schulden hatte und ihn nicht für den Gläubiger hielt und ihn bitte, bitte, nicht unangespitzt in den Boden rammte. Da jedoch lächelte sein Gegenüber. „Womit kann ich Euch helfen?“ Glück gehabt. Demyx wäre ja beinahe das nicht vorhandene Herz in die Hose gerutscht. „Ich habe gehört, dass Ihr nach Límon übersetzt und ich wollte Euch bitten, mich mitzunehmen.“ Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, wurde er sich bewusst, dass man sie missverstehen und ihn für einen mittellosen Bettler halten könnte, der um die christliche Barmherzigkeit eines Mannes flehte. Das wäre für sein Unternehmen natürlich nicht gerade hilfreich. „Ich meine …“ Er spürte, wie ihm eine leichte Röte in die Wangen schoss und verfluchte sich selbst. Das war jetzt überaus peinlich … Seine Finger wanderten in seine Manteltasche und er zog das kleine Beutelchen heraus, aus dem er gerade schon die Münzen für die Bartenderin abgezählt hatte. „Ich kann selbstverständlich dafür bezahlen!“ Colón lächelte. „Meine Dienste sind teuer. Glaubt Ihr, dass es wirklich genügt?“ Was sollte Demyx dazu sagen? Dass er es nicht wusste, aber es nun einmal alles war, was er sich gerade hatte zusammenstehlen können? „Es ist besser als nichts“, meinte er dann und zuckte mit den Schultern. „Ich kann die Überfahrt auch abarbeiten. Das soll nicht das Problem sein, solange Ihr mich nur nach Límon bringt.“ „Stammt Ihr von dort?“ „Ja.“ „Wie ist Euer Name?“ „Myde“, kam es ihm ohne zu zögern über die Lippen. Es klang einfach besser, authentischer als der Name des Mannes, zu dem er sich inzwischen entwickelt hatte. Als Colón die Hand ausstreckte, platzierte Demyx das Beutelchen darin. Und damit schien alles geklärt, denn der Kapitän erhob sich und griff nach seinem Dreispitz, verabschiedete sich von seinen Begleitern. Ging dann an Demyx vorbei und nickte ihm zu. „Die Vizcaína und ich stehen zu Euren Diensten“, sagte er und lächelte, wobei sein Schnurrbart wackelte und er einige Goldzähne entblößte. Vizcaína. Wieder einmal kam Demyx ein Name unglaublich bekannt vor, wieder einmal konnte er ihn nicht zuordnen. Den ganzen Weg zum Hafen hinab grübelte er, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. „Es geht mich zwar nichts an“, meinte da Colón und unterbrach Demyx’ Gedankengang, „aber es würde mich schon interessieren, weshalb Ihr mich angelogen habt.“ Oh, verdammt. Demyx blieb stehen und gab sich alle Mühe, verdattert auszusehen – ein Gesichtsausdruck, der ihm übrigens nicht schwer fiel. „Wovon redet Ihr?“ „Tut nicht so. Ihr kommt nicht aus Límon. Euer Akzent und Eure Kleidung passen nicht.“ Demyx seufzte leise. Wieso mussten manche Leute auch so verflucht aufmerksam sein? „Ihr habt Recht. Ich komme aus Port Royal.“ Seine Finger vergruben sich in den Manteltaschen und sein Blick richtete sich gen Erde. Er versuchte den Eindruck eines reumütigen Sünders zu erwecken – auch eine Rolle, die ihm überaus leicht fiel. Schließlich hatte er nicht umsonst über siebzehn Jahre seines Lebens mit Lügen, Betrügen und Stehlen verbracht. „In Límon wartet meine Geliebte auf mich. Wir wollen zusammen durchbrennen, aber niemand darf davon erfahren, niemand darf ihre Eltern warnen. Deshalb wollte ich Euch den Grund nicht nenne, aus dem ich nach Límon muss.“ Das war natürlich absoluter Schwachsinn. Das konnte eigentlich niemand glauben. Dazu war es viel zu dick aufgetragen. Doch gepaart mit dem beschämten Blick und den falschen Tränen, die Demyx mehr oder weniger hervorzauberte – eine Fähigkeit, die er jahrelang hatte üben müssen, um sie zu perfektionieren –, erweichte er das Herz des Kapitäns, denn der klopfte Demyx nur auf die Schulter, sagte ihm, dass alles gut werden würde, und gab ihm sogar sein Geld zurück. Lief das nicht alles genau nach Plan? Gerade wollte Demyx dem Schauspiel die Krone aufsetzen und Colón für seine ‚christliche Barmherzigkeit’ danken, da … strich etwas um seine Beine und maunzte vergnügt. Als der Musiker herabblickte, sah etwas anderes zu ihm herauf. Etwas Kleines. Mit viel Fell. Verwirrt blinzelnd nahm er das Kätzchen hoch und hielt es auf Augenhöhe, betrachtete es ausgiebig, sah in seine bernsteinfarbenen Augen. „Was bist du denn für ein Süßes?“, fragte er lächelnd und kraulte es hinter dem Ohr. Das Kätzchen schnurrte glücklich. Irgendwie verlief die Konversation sehr einseitig … Vorsichtig streichelte Demyx ihm über das pechschwarze Fell und stubste erst gegen eine der vier grauweißen Pfoten, dann gegen die ebenfalls weiße Schwanzspitze. Er grinste. „Du bist nicht zufällig mit Xigbar verwandt, oder?“ Man sollte es kaum glauben, aber Demyx bekam sogar eine nonverbale Antwort: Das Kätzchen hob nämlich eine Pfote und legte sie auf Demyx’ Nasenspitze. Hieß das jetzt ‚ja’ oder ‚nein’? „Falls Ihr das Tier mitnehmen wollte“, schaltete Colón sich ein, „könnt Ihr das gerne tun. Auf der Vizcaína ist genügend Platz vorhanden.“ Demyx musste ablehnen. Er konnte das Kleine unmöglich mit ins Schloss nehmen, denn Xigbar hasste Katzen. Zumindest glaubte der Musiker das – er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass ausgerechnet jemand wie Xigbar kleine flauschige und knuddelige Tiere mochte. Außerdem wusste er, was mit dem Schiff passieren würde, und er wollte nicht noch mehr unschuldige Wesen mit in den Tod reißen als unbedingt nötig. Seufzend setzte er das Tier ab und ging zusammen mit Colón weiter. Erst, als er die Vizcaína zu sehen bekam, konnte Demyx sich daran erinnern, weshalb ihm der Name so bekannt vorgekommen war: Die Karavelle, deren zwei Masten in der Dunkelheit aufragten, war mit ihren geschätzten zwanzig Metern ein recht kleines Schiff. Klein, aber schnell und wendig. Der gesamte Schiffkörper war mit Metall verkleidet worden, so, wie es vor mehreren hundert Jahren vom spanischen Königshaus angeordnet wurde; nicht, um sich vor feindlichen Übergriffen und Kanonenkugeln zu schützen, sondern als Verteidigung gegen einen Feind im Inneren … im wahrsten Sinne des Wortes. Holzwürmer hatten schon viele Schiffe zum Kentern gebracht. „Sie ist ein Nachbau, nicht wahr?“ Colón nickte bestätigend. „Zu ehren meines Vorfahren Christobal.“ Was? Demyx gab sich alle Mühe, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihn diese Nachricht traf. Dieser Mann war ein Enkel – mit ziemlich vielen ‚Ur’s davor – von Christoph Kolumbus? Und er würde durch Demyx’ Hand sterben? Das war für jeden Seefahrer reinste Blasphemie! Aber er konnte nichts dagegen tun, jetzt gab es keinen Weg zurück. Und jetzt begann der schwierige Teil … ~*~ „Jetzt beginnt der schwierige Teil.“ „Es gab auch einen leichten Teil?“, fragte Xigbar mit obligatorisch schlechter Laune, während er einer krallenbesetzten Pranke auswich. Warum befanden sie sich überhaupt noch in dieser Welt? Sie hatten doch bereits herausgefunden, dass Kreaturen aus der Hölle kein Herz besaßen, das man ihnen stehlen könnte. Eine seiner Waffen erschien in seiner Hand und er feuerte zwei Kugeln ab, riss dem Wesen die grotesk verzerrte Fratze von den Schultern. Wenn es nach ihm ginge, wäre er schon längst wieder Zuhause unter der Dusche, um sich das stinkende, säureartige Blut abzuwaschen. Aber nein, Xemnas verlangte ja Millionen von Proben, ehe er glaubte, dass es hier nichts zu holen hab. Xigbar knurrte. Irgendwann würde er den Superior noch so richtig schön zusammenstauchen – Konsequenzen hin oder her! Mit einem Nicken zu Larxene und Luxord wagten sie sich weiter in diese seltsame Stadt hinein. Xigbar war schließlich jemand, der Prioritäten setzte. Und bevor er sich mit Xemnas anlegte, würde er erst einmal das Vieh abschlachten, das seine Zigaretten gefressen hatte! ~*~ Er starrte auf die dunklen Wellen hinab und seufzte leise. Fünfundzwanzig Leute waren auf dem Schiff angeheuert. Fünfundzwanzig Seelen, die er einem Schicksal aussetzen würde, das schlimmer war als der Tod selbst. Doch vielleicht … ja, wenn er diese Mission abgeschlossen hatte, würde das Sterben in dieser Welt vielleicht nicht mehr mit ewiger Verdammnis gleichzusetzen sein. Das beruhigte ihn dummerweise nicht wirklich. Aber was brachte es, darüber nachzudenken? Befehle waren Befehle, also sollte er es endlich hinter sich bringen. Seine Finger strichen über die Reling und er wandte sich kopfschüttelnd ab, ging zum Heck des Schiffes. Es fiel ihm nicht leicht, die Stimmen der beschäftigten Seeleute auszublenden und die Arme zu heben. Es regnete. Xigbar hatte ihm einmal gesagt, dass es immer regnete, wenn etwas bevorstand, das das Schicksal vieler Menschen beeinflussen und verändern würde. Seiner Meinung nach wäre es sonst einfach nicht richtig. ‚Würdest du dir nicht vollkommen verarscht vorkommen, wenn dir jemand erzählt, dass du heute stirbst, und draußen ist strahlender Sonnenschein?’ Doch, das würde er. Deswegen war es gut, dass es regnete. Und natürlich nicht nur deshalb. Hier, im Regen, auf offener See, war seine Macht am stärksten. Hier würde es ein Leichtes sein, den Auftrag durchzuziehen. Demyx sah hinauf in den düsteren Himmel, spürte die Regentropfen, die auf sein Gesicht und seinen Hals prasselten und in seinen Kragen hineinliefen. Er schloss die Augen. Und begann. Oftmals kam Demyx der Gedanke, eigentlich nichts anderes als ein Komponist zu sein: Er verknüpfte Töne, Akkorde, Intervalle, um aus ihnen eine ganz besondere Melodie zu machen, sie zu weben wie einen feinen Teppich. Jeder Ton zählte, und wenn er nur einen Fehler beging, so war das Gesamtkunstwerk zerstört. Normalerweise fiel es ihm leicht, doch heute … heute wollte es ihm einfach nicht gelingen. Düster klang seine Musik, leise und schwer. Ein Trauermarsch. Der Regen verstärkte sich, prasselte, plätscherte beständig auf das Deck, wirkte wie die Rasseln, die – obgleich sie eine Nebenrolle spielten und nicht mehr darstellen konnten als eine nette Untermalung der Hauptmelodie – das Augenmerk des Zuschauers an sich reißen wollten. Ein Paukenschlag, als es donnerte. Und schließlich stiegen Wellen auf, langsam, ganz langsam. Experimentelles Herumklimpern auf den Tasten eines Klaviers, so lange, bis der Pianist sein Können bewies und auf die Tasten einhieb; so lange, bis die Wellen gegen die Flanken des Schiffes droschen und an ihnen brachen. Die ersten vereinzelten Rufe der Matrosen; aufgebracht, hart, so, wie sein eigenes, schweres Armen. Es war anstrengend. Die Segel wurden eingeholt – panisches Kreischen einer Violine. Gischt spritzte in Demyx’ Gesicht und schließlich, endlich erhoben sich die Wellen so sehr, dass sie das Schiff ins Wanken brachten. Befehle wurden gebrüllt, doch vergeblich … Ein weiterer Paukenschlag. Kein Donner dieses Mal, sondern das Geräusch des Schiffes, das auf ein Riff aufgelaufen war. Sie hatten Leck geschlagen. Diese Aufgabe war erfüllt. Und das keine Sekunde zu früh, denn länger hätte er seine Konzentration nicht aufrecht erhalten können. Schweiß rann ihm in Strömen übers Gesicht, sein Atem ging schwer, seine Glieder fühlten sich an wie Blei. So viel Wasser hatte er noch nie zuvor kontrolliert … Ein Zittern lief durch seinen Körper und er sackte kraftlos zu Boden, stieß sich den Schädel an der Reling. Ihm wurde schwarz vor Augen, auch wenn er noch hören konnte, was alles um ihn herum geschah; das Tosen des Sturms, der über sie hinwegfegte, Blitz und Donner, das Brausen der Wellen. Es krachte. Schreie. Ein Blitz schien den Mast getroffen zu haben. Jemand rief seinen Namen. Nein. Jemand rief Mydes Namen. Ihm wurde aufgeholfen. Eine Hand legte sich um seine Hüfte und stützte ihn. Demyx schämte sich furchtbar – selbst jetzt, nachdem er sie in diese Situation gebracht hatte, waren sie so selbstlos, nicht nur an ihre eigene Rettung zu denken. Die helfende Hand gehörte zu Colón, wie Demyx herausfand, als er wieder etwas erkennen konnte. Der Kapitän sprach von Rettungsbooten, davon, sie vom Schiff zu holen, ehe es komplett versank, davon … Was auch immer er sagen wollte, er kam nicht mehr dazu. Einige Wellen schwappten über die Reling, spülten sie beide weg. Während Colón jedoch geistesgegenwärtig genug war, sich an einem der Taue festzuhalten, besaß Demyx dieses Glück nicht. Er fiel hinab in das nachtschwarze Wasser. ~*~ „Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig.“ Larxenes Finger bewegte sich unablässig, zeigte auf jedes toten Körper der Monster, die vor ihr lagen. Dann legte sie eine Hand an die Hüfte und lächelte. „Macht insgesamt achtundfünfzig. Damit liege ich drei in Führung, Lux!“ Luxord lachte nur, strich sich mit Daumen und Zeigefinger über den Bart. „Ich mache mir deswegen keine Gedanken. Das Glück wird den Weg auf meine Seite schon wieder finden.“ Xigbar gab nur einen genervten Laut von sich. Seine Finger glitten über die offene, blutende Wunde am Bauch einer der Viecher. Schwarze, stinkende Flüssigkeit troff heraus, fraß sich durch das weiche Leder seines Handschuhes. Ein Seufzen. Dann schob Xigbar die Hand ihn das Loch, steckte bis zum Ellbogen in Gedärmen und suchte, wühlte, fluchte leise. Er sah Larxenes angeekelten Blick auf sich ruhen und verdrehte das gesunde Auge, ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Schließlich … stieß er einen freudigen Laut aus und zog die Hand zurück, hielt die Überreste einer Zigarettenschachtel zwischen den Fingern. Die sah … natürlich nicht mehr so gut aus. Seufzend öffnete er die zerfledderte Schachtel, besah sich die einzelnen Zigaretten, fand sogar noch zwei, die nicht vollkommen verklebt, zerfetzt oder anderweitig so unbrauchbar waren, dass man sie nicht mehr rauchen könnte. Eine davon schob er sich zwischen die Lippen und zündete sie gleich an, die andere steckte er in seine Manteltasche. „Armselig“, meinte Larxene kopfschüttelnd. „Raucher sind einfach nur armselig.“ Xigbar zuckte mit den Schultern. „Blondinen auch.“ ~*~ Das Leder des schwarzen Mantels sog sich voll mit dem ebenso schwarzen Wasser. Demyx versank, streckte die Hand nach der rettenden Oberfläche aus. Er bekam keine Luft; der Aufprall hatte seine Rippen geprellt, ihm die Luft aus den Lungen gedrückt. Seine Augenlider flatterten. Er ließ sich ganz auf das Wasser ein, ließ zu, dass es ihn komplett umhüllte, in seine Nase und seinen Mund eindrang, ihn erforschte. Das Wasser erkannte ihn als seinen Meister, als jenen, der es beherrschte, es kontrollierte. Eine schützende Luftblase formte sich um seinen Körper, füllte sich mit Sauerstoff, gab ihm Luft zum Atmen. Demyx lächelte. Es tat gut zu wissen, dass sein Element ihn niemals verletzen würde. Seine Augen öffneten sich, er konnte sein eigenes Blut sehen, welches sich im Wasser verflüchtigte. Er fasste sich an die Stirn, spürte die kleine Platzwunde unter seinen Fingern. Ein Seufzen. Für so etwas war keine Zeit. Der Schiffsrumpf der Vizcaína war sicher gerade dabei, sich mit Wasser zu füllen. Er musste zurück aufs Schiff, musste bei dem, was sich jetzt anbahnte, von Anfang an dabei sein. Er stockte. Eine Schwingung zog sich durchs Wasser. Etwas kam auf ihn zu. Etwas Großes. Als Demyx sich umwandte, sah er kalte, trübe Augen, graue Schuppen, eine lange, spitz zulaufende Nase. Und rasiermesserscharfe Zähne, eingebettet in blutrotem Zahnfleisch. Oh, Kacke. Da lief etwas falsch. Etwas stimmte nicht. Haie griffen keine Menschen an, nicht ohne Grund. Dummerweise … Es fiel ihm wieder ein, als er den Kopf schüttelte und ihm kurz schwindelig wurde. Das Tier hatte einen Grund: Das Blut, das noch langsam, aber bedächtig aus der Wunde an seiner Schläfe tropfte. Scheinbar hieß das in Haisprache „Hallo, mein Name ist Demyx. Ich bin dein Abendessen.“ Und nun? Demyx überlegte, während das Tier näher kam und das Maul aufriss – und gute Güte, wie viele Zähne konnte so ein Hai denn haben?! In allen Büchern stand, man sollte einem Hai auf die Nase schlagen. Jetzt war die Frage nur: Hatte der Hai die Bücher auch gelesen? Jetzt war das Tier gerade mal eine Armlänge von Demyx entfernt, als dieser … sich mit der flachen Hand vor die Stirn schlug. Was tat er denn hier? Er war doch kein normaler Mensch, der jetzt hoffen und bangen musste, dass er diese Begegnung der fischigen Art überlebte! Er war ein Nobody! Er konnte einfach ein Portal erschaffen und verschwinden. Was er jetzt auch tat. Und als der Hai zubiss, schmeckte er nur noch Dunst und Nebel und fragte sich mit Sicherheit vollkommen verwirrt, wo denn jetzt der leckere Happen abgeblieben war. Demyx landete in der Zwischenzeit wieder auf dem Schiff und seufzte erleichtert. Hob den Blick, sah, wie die Matrosen dicht gedrängt an der Reling standen und fassungslos auf etwas blickten, das sich im schwarzen Ozean auftat. Nämlich auf einen gewaltigen Strudel. Wenn das nicht schon schlimm genug gewesen wäre, erhob aus den Tiefen des Ozeans, aus der Mitte der rauschenden Wellen ein Schiff, welches über und über mit Muscheln verkrustet und Seetang behängt war. Die Flying Dutchman. Auf was hatte Demyx sich da nur eingelassen? ~*~ „Was zum Teufel ist das?“ „Für mich sieht das aus wie ein fliegender Walfisch.“ „Wie zum Teufel kann ein Wal fliegen? Das spricht gegen jegliche Logik! Und gegen die Gesetze der Schwerkraft!“ Luxord musterte ihn nur mit amüsiertem Blick. „Interessant, dass ausgerechnet du dich über die Gesetze der Schwerkraft auslässt, wenn man bedenkt, dass du sie ständig brichst.“ „Das ist etwas vollkommen anderes!“ Larxene seufzte nur und ging voran, ließ die beiden Männer einfach stehen. Wenn die sich mal über etwas unterhielten, konnte es sich nur um Stunden dauern. Stunden, die sie nicht in dieser Welt verbringen wollte. Es war … seltsam hier. Und das lag nicht an den Monstern oder dem fliegenden Fisch da oben, sondern vielmehr an dem bewölkten, roten Himmel und an den düsteren Glocken, welche die Form von Todesengeln besaßen und im Wind schwangen, ihr unheilvolles Lied verkündeten. Ja, es wäre eine gute Idee, die Mission zu beenden, ehe sich der Himmel auftat und die Erde schluckte, oder die Hölle den Weg in die Welt der Menschen fand. Oder ähnlicher abgedroschener Schwachsinn, den man in viel zu vielen Filmen und Videospielen gesehen hatte. ~*~ Schreie. Dieses Mal nicht von den Matrosen, sondern von den Wesen, die an Bord gekommen, die das Schiff gekapert hatten. Schreie. Befehle. Höhnisches Lachen. Sie alle wurden auf die Knie gezwungen, und während sich die Wesen, halb Mensch, halb Fisch – manche jedoch auch neunzig Prozent Fisch, kaum Mensch – um sie herum versammelten, sie mit ihren Schwertern in Schach hielten. Und dann erschien er. Der Teufel höchstpersönlich. Davy Jones. Ein Zittern ging durch die Menge der Matrosen, ein kollektives Wimmern, panische Blicke wurden ausgetauscht. Es war ihr Ende. Sie wussten es alle. Nur Colón und Demyx starrten wie gebannt, auf den Mann, der seinen Dreispitz zurechtrückte, der eine Hand – nein, eine Krabbenschere – auf sie richtete und lachte. „Unsichere Gewässer, nicht wahr?“, fragte er ironisch, wobei sich die Tentakeln in seinem Gesicht bewegten. Er schüttelte den Kopf. „Kommen wir gleich zur Sache, meine Herren“, sprach er geschäftig, als wäre das alles etwas, das für ihn Routine geworden war, das ihn nicht mehr berührte, obgleich er diese Männer jetzt in ein furchtbares Schicksal stürzte. Nun gut, wenn man es genau nahm, dann war es für ihn reine Routine … Er ging auf Colón zu, lächelte ihn an. „Es ist eine Ehre, Euch treffen zu dürfen“, säuselte er und die Scherenhand klickte leise. „Captain Colón, ich stelle Euch eine einfache Frage: Fürchtet Ihr den Tod?“ Stille. Dann ein Kopfschütteln. Und dann erhob der Kapitän die Stimme, die kalt und hart und furchtlos klang. „Nichts weniger als ihn. Warum auch? Ich bin erfreut, in die Reihen meiner Vorfahren eintreten zu dürfen. Eine Freude, die mir verwehrt bleibt, wenn ich mich Eurer Crew anschließe.“ Gelächter von Seiten der Fischmenschen. Jones lachte ebenfalls, die Tentakeln zuckten, seine Augen weiteten sich und er besah sich den Mann, der vor ihm kniete, genau. „Ihr werdet in gar nichts eintreten“, sagte er leise, als verriete er ihm ein großes Geheimnis. „Die meisten Eurer Ahnen findet Ihr in meinen Reihen. Doch … wenn Ihr sie nicht wiedersehen möchtet …“ Der Rest des Satzes blieb unausgesprochen. Jones nickte einem seiner Leute zu. Ein Messer wurde gezückt. Colóns Kehle aufgeschnitten. Blut strömte in Massen aus der Wunde und der Fischmensch, der das Messer in der Hand hielt, leckte es grinsend ab, versetzte dem sterbenden Kapitän einen Fußtritt, der ihn nach hinten über die Reling und auf den Grund des Meeres schickte. „Was ist mit dem Rest von euch?“, fragte Jones lachend. Es gab eine schnelle Selektion: Etwa die Hälfte der Matrosen folgte dem ehrenvollen Beispiel ihres Kapitäns, die andere Hälfte klammerte sich an ihr Leben, ohne wirklich zu begreifen, dass das, was sie von nun an führen würden, kein Leben war. Schließlich stand Jones vor Demyx, der bis zuletzt geschwiegen hatte. „Was ist mit dir, mein Junge?“, fragte er und sah auf ihn hinab, wollte ihn mit seinem Namen ansprechen. Doch es kam nichts. Demyx hatte keinen Namen, keinen, den Davy Jones hätte kennen können. Myde war schließlich bereits verstorben. Demyx schauderte, schloss schnell die Augen, als sich eine, zwei Tentakeln prüfend über sein Gesicht schlängelten, als sie klebrigen Schleim auf seinen Wangen zurückließen. „Wer … was bist du?“, wurde er gefragt. „Jemand, der krampfhaft nach dem Leben trachtet“, lautete die Antwort. ~*~ Es war kalt. Nass. Widerlich. Demyx ließ die Finger über die Schiffswände gleiten und seufzte leise. Wundervoll. Nun war er hier. Nun musste er nur noch den Rest seines Auftrages erledigen – was natürlich leichter gesagt als getan war, denn wie wollte man einem Davy Jones das Herz stehlen, wenn man nicht wusste, wo es sich befand? Also blieb es ihm nur, zu suchen. Er hatte sich bei der Crew umhören wollen, doch die waren zu beschäftigt. Sie spielten „Liar’s Dice“, ein Würfelspiel, bei dem es darum ging, die richtige Anzahl der unter den Bechern der Mitspieler verdeckten Würfelaugen zu erraten. Sie spielten nicht um Gold. Sie besaßen keines. Es interessierte sie nicht. Sie brauchten es nicht. Sie spielten um das einzige, was sie hatten, was ihnen wichtig war: Um Jahre in Davy Jones’ Diensten. Eigentlich nicht schlecht; so konnte Demyx sich in aller Ruhe umsehen, ohne Angst haben zu müssen, in eine oder mehrere Wachen zu laufen. Langsam. Vorsichtig. Seine Stiefel gaben schmatzende Geräusche von sich, das morsche Holz knarrte unter seinen Füßen. Wo war er? Suchend sah er sich um, betrat das erste Zimmer, sah … den Navigationsraum. Ein Kompass lag auf einem Tisch, zusammen mit einer Seekarte. Beides schien wie aus dem letzten Jahrhundert entnommen, was wohl gar keine so schlechte Schätzung war, wenn man bedachte, wie lange Jones schon sein Unwesen auf dem Meer trieb. Er durchwühlte den Raum, suchte die kleine Kiste, von der in den alten Legenden immer die Rede war. Die Kiste, die das pochende, schlagende Herz von Davy Jones enthielt. Natürlich fand er sie nicht. Eigentlich selbstverständlich, wer bewahrte seinen wichtigsten Besitz schon in einem Raum auf, zu dem jeder Zugriff hatte? Nein, er musste weiter. Er musste … Demyx schluckte, als ihm etwas dämmerte. Wenn es einen Raum auf dem Schiff gab, in dem sich die Kiste aufhalten konnte, dann nur in Jones’ Kajüte. Na wundervoll. Ab in die Höhle des Löwen. Er schlich weiter, sah sich immer um, ob ihm auch niemand folgte, lugte um die Ecken. Keiner zu sehen. Das laute Johlen ein Stockwerk tiefer ließ ihn annehmen, dass sie es gerade geschafft hatten, einen der ‚Neulinge’ auszunehmen und zu ein paar hundert weiteren Jahren Sklaverei und Tortur zu verdammten. Demyx ballte die Hände zu Fäusten. Das musste aufhören! Und dafür würde er schon sorgen! Schließlich stand er vor der reichlich verzierten Tür, die ihn das Gemach des Kapitäns führte. Er nahm allen Mut zusammen. Schluckte noch einmal. Und drückte die Klinke herab, zuckte zusammen, als die Tür leise knarrte. Verdammt, er wollte doch nicht gehört werden! Doch seine Sorge war unbegründet: Auch Jones war gerade nicht zuhause. Immerhin etwas. Langsam betrat Demyx das Zimmer, schloss die Tür hinter sich, um zu verhindern, dass neugierige Fischmenschen, die rein zufälligerweise vorbeikämen, sich fragen würden, weshalb der Kapitän denn seine Tür offen stehen ließ. Sein Blick schweifte durch den Raum und er unterdrückte einen Jubelschrei, als ihm ein kleines Kästchen auffiel, das auf einem Nachttisch stand. Das musste es sein! Was sollte denn sonst darin aufbewahrt werden? Demyx’ Finger strichen über das Schloss der Kiste. Sie war verschlossen. Natürlich. Er hätte es nicht anders getan. Doch er wusste, wie er dennoch an das herankam, was er haben wollte: Seine Finger legten sich auf den Umkreis des Schlosses. Wasser strömte in die Poren des Holzes, brachten es in Sekundenschnelle zum Schimmeln, ließen es morsch und brüchig werden. Nun drückte Demyx einfach nur mit etwas Kraft auf das Schloss, und schon brach das Holz, schon fiel das Schlüsselloch mit leisem Klackern zu Boden. Ha! Wie hatte er das gemacht? Klasse hatte er das gemacht! Und er war nicht einmal ein Schlüsselträger, er brauchte nicht einmal ein Hilfsmittel, um Schlösser zu knacken! Seine Hände zitterten. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn, als er das Kästchen in die Hände nahm und langsam den Deckel öffnete. Und da lag es vor ihm, in all seiner hässlichen Pracht: Das Herz von Davy Jones, das er sich selbst aus der Brust geschnitten hatte. Es pochte. Schlug regelmäßig. Demyx zog einen Handschuh aus und strich mit den Fingerspitzen darüber. Eklig. Es fühlte sich glitschig an, lebendig, obwohl es doch schon so lange hier verwahrt wurde. Ein Kopfschütteln. Egal. Er musste es nur noch einstecken und konnte dann nach Hause, konnte diese Welt und alles, was er hier Schreckliches gesehen hatte, hinter sich lassen. Doch so einfach war es nicht. Es erklangen Schritte. Die Tür wurde aufgerissen. „Was tust du hier, Junge?!“, fragte der Teufel aufgebracht, ließ die Scherenhand im Türrahmen versinken und brach ein Stück davon heraus. Demyx schrie vor Schreck auf, seine Hände zuckten zurück, das Kästchen fiel zu Boden. Er schüttelte den Kopf, wich rückwärts, während Jones sein Schwert zog und ihm versprach, ihn zu Fischfutter zu verarbeiten. Jedoch war Demyx auch dieses Mal schneller: Als Jones den Säbel in die Wand rammte, traf er nur noch den violetten Nebel, den das Portal, in welchem Demyx verschwunden war, hinterlassen hatte. Das Herz war aus dem Kästchen gefallen und lag laut und schnell pochend auf dem schmutzigen Boden. ~*~ Ehe er ins Schloss zurückgekehrt war, hatte er noch einen kleinen Abstecher gemacht. Sein Mitbringsel sollte das erklären, was Demyx einfach nicht konnte, wozu ihm die Worte fehlten … Zaghaft klopfte er an die Tür zu Xemnas’ Büro, um seinen Bericht abzuliefern, wartete auch das altbekannte kühle ‚Herein’, trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Zugegeben, er hatte es mit einem Hai aufgenommen, mit Fischmenschen und sogar mit Davy Jones persönlich – aber Xemnas war noch einmal ein ganz anderes Kaliber. Schließlich wurde er hereingebeten und betrat den Raum, schloss leise die Tür hinter sich. Stockte. Wäre es nicht schon der personifizierte Horror gewesen, sich mit Xemnas alleine zu unterhalten, strahlte ihm jetzt dreifaches Grauen entgegen: Außer dem Superior befanden sich noch zwei weitere Leute im Raum. Saix stand zu Xemnas’ rechter Seite, das Kinn erhoben und die Hände hinter dem Rücken gefaltet. Demyx – den er wohl als einen Eindringling betrachtete – taxierte er mit finsteren Blicken. Der zweite Besucher war Vexen, der das Erscheinen des Musikers zum Anlass nahm, zwei ungeduldige Schritte auf ihn zuzumachen. Glücklicherweise kam er nicht noch näher, sonst hätte Demyx die Beine in die Hand genommen und wäre geflüchtet. „Wie du siehst“, sagte der Superior und stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch, verschränkte die Finger ineinander und musterte Demyx mit einem überraschend amüsierten Blick, „haben wir deinen Bericht schon sehnsüchtig erwartet. Hast du das Herz von Davy Jones?“ Das war wohl eine Frage, die er guten Gewissens mit ‚nein’ beantworten konnte. Also tat er es auch. Vexen gab einen leicht hysterischen Laut von sich und packte Demyx an den Schultern, schüttelte ihn so fest, dass seine Zähne klappernd aufeinander schlugen. „Bist du von allen guten Geistern verlassen? Weißt du nicht, wie wichtig es für uns ist?“ Doch. Doch, das wusste er. Ihm war klar, dass Vexen herausfinden wollte, weshalb sich das Herz nicht aufgelöst hatte, weshalb jemand, dem das Herz aus der Brust gerissen – oder eher geschnitten – wurde, noch Gefühle empfinden konnte. Aber das, was Demyx gesehen hatte, konnte keine Fragen klären – wenn man ihn doch nur ausreden ließe und bitte aufhören würde, ihn zu schütteln! „Lass ihn“, sagte Saix ruhig und Vexen gehorchte, wenn auch widerwillig, wie Demyx bemerkte. Was eigentlich kein Wunder war: War es doch Vexen, der sich schon beinahe verzweifelt an die Rangfolge klammerte und dem es überhaupt nicht passte, dass er sich von Leuten wie Saix – oder Marluxia, der in Xemnas Gunst sehr schnell gestiegen war – Befehle erteilen lassen musste. Und sie wussten alle, wie sehr Saix es liebte, anderen irgendwelche Dinge zu befehlen und sie herumzuscheuchen, wie viel Spaß es ihm machte, mit seiner Stellung als Xemnas’ rechte Hand anzugeben. Sie wussten ebenfalls, wie gerne er diese Stellung ausnutzte, um das Ansehen seiner Kollegen in den Dreck zu ziehen. „Er kann doch nichts dafür, dass er unfähig ist. Du weißt doch selbst, wen er zum Mentor hat.“ Da! Was hatte Demyx gesagt?! Da war sie wieder, diese überhebliche Art! Die Finger seiner freien Hand ballten sich zur Faust und der Blick, den er Saix zuwarf, war mörderisch. Davon ließ Saix sich natürlich dummerweise nicht beeindrucken. Und natürlich wurde er von Xemnas nicht zurechtgewiesen, wurde ihm nicht erklärt, dass man, wenn man schon über Kollegen herziehen musste, es vielleicht dann tun sollte, wenn der Schüler desjenigen, über den man sich gerade ausließ, nicht im Raum stand. Nein, Xemnas lächelte nur kühl und wandte sich gleich an Demyx: „Du wirst verstehen, dass wir von deinem Versagen nicht gerade begeistert sind.“ „Aber ich habe nicht versagt!“, würgte Demyx ihn schnell ab, ehe eine Schimpftirade oder eine Moralpredigt folgen konnten. „Ich … Es ist nicht das, was wir suchen.“ Sofort hatte er alle Aufmerksamkeit. Drei Augenpaare richteten sich auf ihn, musterten ihn überrascht und neugierig und warteten darauf, dass er seine Aussage spezifizierte. Demyx atmete tief durch, nahm allen Mut zusammen und trat vor Xemnas’ Schreibtisch, legte das Säckchen darauf. „Es sieht so aus. Nicht wie das, was die Herzlosen einem Menschen rauben.“ Mit spitzen Fingern öffnete Xemnas den Beutel und besah sich den Inhalt, starrte schweigend auf das blutige Organ des armen Mannes, der von Davy Jones getötet worden war, und dem Demyx es aus der Brust gerissen hatte. „Es ist ein Herz“, sagte er schließlich, um das Offensichtliche noch zu betonen. „Aber nicht das, was wir suchen!“, beharrte der Musiker noch einmal. „Es sieht anders aus. Es löst sich nicht auf. Es liegt einfach nur herum!“ Aus den Augenwinkeln konnte er Vexens Gesichtsausdruck erkennen; einen stummen, mitleidigen Blick, der Demyx zeigte, dass er einen Fehler begangen hatte, dass er etwas furchtbar Einfaches nicht verstanden hatte, dass er nicht in der Lage gewesen war, zwischen dem Herzen eines Menschen und dem Herzen eines Menschen zu unterscheiden. Aber worin lag der Unterschied? „Nun, auf alle Fälle hast du dich bemüht“, sagte Xemnas leise und Demyx lächelte bitter. Bemüht war nur ein anderen Wort für versagt. „Du darfst gehen.“ Das ließ er sich nicht zweimal sagen. Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, atmete er erleichtert auf und legte sich eine Hand auf die Brust. Sein Herz klopfte. Er konnte es spüren. Nach all den Jahren war es noch immer da – zumindest glaubte Demyx das. Aber was war die Wahrheit? Besaß er sein Herz noch immer oder bildete er sich das nur ein? War es einfach nur eine Art von Phantomschmerz, so, wie ihn Leute manchmal hatten, die ein Körperteil verloren und sich dennoch immer wieder einbilden, es wäre noch vorhanden? Vielleicht war auch einfach nur er der einzige, der es noch schlagen hören konnte, weil seine Kollegen es endgültig verloren glaubten und nicht mehr in sich hineinhörten. Vielleicht war ihr Glaube daran so stark, so unerschütterlich, dass die Realität sich ihm beugen musste. Er hatte sich nicht getraut nachzufragen, nicht einmal bei Xigbar, denn er wusste, er würde es nicht ertragen, wenn der Schütze seine letzte Hoffnung zunichte machte. Seufzend machte er sich auf den Weg durch die vielen Gänge, lief lieber, statt einfach ein Portal zu erschaffen, um seine Gedanken schweifen zu lassen und darüber nachzudenken, was für ein verdammter Glückspilz er doch war. Immerhin lebte er noch. Immerhin war er nicht als Fischfutter geendet und immerhin schwebte er jetzt nicht als Dusk durch die Gegend. Immerhin … Aber gut gelaufen war es auch nicht. „Ich weiß nicht, ob es dir aufgefallen ist“, meldete sich jemand hinter ihm zu Wort, „aber du läufst im Kreis!“ Demyx hob den Blick und erkannte, dass er tatsächlich mehrmals durch dieselben Räumlichkeiten gestreift war. Er lächelte über sich selbst, darüber, wie gedankenverloren er gewesen war, und darüber, wie sehr er sich nach genau dieser Stimme gesehnt hatte. Beziehungsweise nach der Person, zu der die Stimme gehörte. Auch, wenn die Versuchung groß war, musste er sich alle Mühe geben, dem Schützen nicht einfach um den Hals zu fallen. „Immerhin kann ich überhaupt noch laufen“, sagte er indes. „Im Gegensatz zu dir. Du fällst mir ja gleich vor die Füße!“ Und wirklich, Xigbar sah aus, als hätte er keine viel leichtere Mission hinter sich als Demyx selbst. Man sah es an der Art, wie Xigbar stand, wie er sein Gewicht auf ein Bein verlagerte – weil das andere verletzt war? – wie es ihn überhaupt nicht störte, dass die Zigarette zwischen seinen Lippen bereits zu einem Stummel heruntergebrannt war, wie er matt die Schultern hängen ließ. Dass sein Mantel an diversen Stellen nur noch aus Fetzen bestand, war natürlich auch ein Hinweis. Ja, Xigbar sah wirklich fertig aus. Aber auf seinen Lippen lag dieses ganz spezielle Lächeln und in seinem verbleibenden Auge loderte der Glanz, der sagte, dass alles gut gelaufen war. Demyx überbrückte die kurze Distanz zwischen ihnen und strich dem Schützen über die linke Wange. „Muss ich überhaupt fragen, wie es gelaufen ist?“ „Ich könnte dir Geschichten erzählen, die dich vor Ehrfurcht erstarren lassen“, meinte Xigbar grinsend und zuckte mit den Schultern. „Aber erst später.“ „Musst du dir die Lügengeschichten erst ausdenken?“ „Musst du immer so frech zu einem armen, alten Mann sein?“ Das war eine von Xigbars vielen Eigenheiten: Nannte ihn einer der anderen ‚alt’, konnte man sich auf Mord und Totschlag einstellen. Tat er es jedoch selbst, dann nur, wenn er versuchte, Mitleid und Sympathien zu erhaschen. Natürlich zog diese Masche bei Demyx nicht mehr. „Vielleicht sollte der alte Mann endlich über seinen Ruhestand nachdenken und der Jugend das Feld überlassen?“ Dafür wurde er am linken Ohr gezogen. „Vielleicht sollte der alte Mann dem unverschämten Knirps den Hintern versohlen?“ „Und vielleicht“, sagte Demyx, während er sich das Ohr rieb, „sollten beide erst einmal duschen und sich umziehen, bevor sie sie sich über Dinge unterhalten, die im Endeffekt dazu führen, dass sie hinterher nochmal duschen müssen.“ Das brachte den Schützen dann dazu, so breit zu grinsen, dass ihm der Zigarettenstummel beinahe aus dem Mund fiel. „Vielleicht solltest du einfach sagen, dass du flachgelegt werden willst. Das würde uns viel Zeit ersparen!“ „Vielleicht solltest du aufhören, das Wort ‚vielleicht’ zu benutzen.“ „Aber auch nur vielleicht!“ Jetzt war Demyx stolz auf sich. Er hatte Xigbar als Reaktion darauf nicht vors Schienbein getreten. Sondern nur auf den Fuß. Und während Xigbar noch dabei war, ihn zu beschimpfen und ihm Schläge anzudrohen und Hey, wo wollte er denn hin?, war Demyx schon längst lauthals lachend in einem Portal verschwunden. ~*~ Es gab Dinge, die Demyx in seinem Zimmer wirklich mochte. Die Dusche zum Beispiel. Vor allem dann, wenn er von einer Mission wie dieser zurückkehrte. Schließlich hatte er hier warmes Wasser. Warmes Wasser, mit dessen Hilfe er den Dreck und den salzigen Geschmack des Meeres abspülen konnte. Warmes Wasser, beruhigend, sanft. Die einzelnen Tropfen liebkosten seine Haut, wuschen ihn rein von dem Blut, das indirekt an seinen Händen klebte. Jedes Mal, wenn er die Augen schloss, sah er das Gesicht Colóns vor sich, sah den entschlossenen Ausdruck, mit dem er den Tod wählte. Er selbst wäre nicht so mutig gewesen. Daraus machte er keinen Hehl. Wenn er nicht das gewesen wäre, was er nun einmal war – ein Wesen, das dem Tod bereits näher stand als dem Leben; das eigentlich schon tot war, wenn man es genau nahm, schließlich war er schon einmal gestorben oder nicht? –, hätte er eine Existenz auf Jones’ Schiff gewählt? Immerhin hätte Davy Jones dir eine Wahl gelassen, flüsterte eine Stimme in seinem Hinterkopf. Hier hatte ich auch eine Wahl. Es war meine Entscheidung, meinen Zustand zu akzeptieren oder dagegen anzukämpfen. Hier kann ich mein Herz zurückgewinnen. Für Jones wäre er nur ein Sklave gewesen, der den Befehlen seines Meisters Folge zu leisten hätte bis in alle Ewigkeit. Für Xemnas war er zwar auch nicht viel mehr, aber hier hatte er wenigstens die Möglichkeit, wieder zu einem Menschen zu werden. Außerdem bin ich hier nicht alleine. Dieser Gedanke war es, der Demyx in den letzten Monaten immer wieder Kraft gegeben hatte, ihm Mut und Hoffnung machte, wann immer er fürchtete, dass der Druck zuviel für ihn wurde. Er war nicht alleine … Er hatte Xigbar. Und Xigbar saß mit Sicherheit in genau diesem Moment in seinem Quartier und regte sich darüber auf, dass Demyx sich so lange Zeit ließ und nicht schon längst in seinen Armen lag … oder zumindest in seinem Bett. Als er das Wasser abstellte und sich abtrocknete, lachte der Musiker leise vor sich hin, und als er neue Kleidung aus seinem Schrank holte, stellte er sich das verdutzte Gesicht des Schützen vor, das dieser aufsetzen würde, sobald Demyx ihm eröffnet hätte, dass es dieses Mal nicht so ablaufen würde. Möglicherweise würde er auch auf die Vorwarnung protestieren – so hätte Xigbar weniger Gelegenheit zu protestieren. Und es war ja nicht so, als hätte der Schütze keinen Spaß daran … Er regte sich einfach nur gerne unnötig auf. Manchmal behauptete Demyx scherzhaft, dass Xigbar zu den Leuten gehörte, die gerne erobert werden wollten, aber je länger er darüber nachdachte, umso unwahrscheinlicher erschien es ihm. Viel eher gehörte sein Freund zu den Leuten, die man zu ihrem Glück zwingen, niederschlagen, fesseln und knebeln musste, damit sie endlich die Klappe hielten. Und genau das würde Demyx jetzt auch tun, wenn es nötig sein sollte. Überraschenderweise hatte Xigbar noch nicht auf ihn gewartet. Das leise Rauschen des Wassers zeigte, dass der Schütze selbst noch nicht fertig war. Lächelnd setzte Demyx sich aufs Bett und faltete die Hände hinter dem Kopf, summte ein leises Lied vor sich hin. Erst als das Wasser abgestellt wurde und Xigbar neben ihm stand, das Handtuch heute nicht um die Hüfte geschlungen, sondern in den Händen, um sich die Haare abzutrocknen, sah Demyx auf und grinste. „Wartest du schon lange?“, fragte sein Gegenüber entschuldigend und strich sie die nassen Haare aus dem Gesicht. „Nicht der Rede wert“, entgegnete Demyx und winkte ab. „Ist ja nicht deine Schuld, dass du alt und langsam geworden bist.“ Er lachte nur, als das nasse Handtuch mitten in seinem Gesicht landete, und als es bedrohlich in Xigbars linkem Auge glitzerte. Ehe der Schütze jetzt aber einen säuerlichen Kommentar von sich geben konnte, hatte Demyx ihn bereits an den Haaren zu sich heruntergezogen und küsste ihn. Lächelte. „Außerdem hat es einen Vorteil, dass du so langsam bist.“ Xigbars linke Augenbraue schoss in die Höhe und Demyx’ Lächeln verbreiterte sich nur. „Ich muss dich nicht einmal ausziehen.“ Sie taten es oft auf diese Weise. Meist, aber nicht ausschließlich, wenn Demyx von einer Mission zurückgekehrt war und das Adrenalin durch seine Adern strömte wie flüssiges Feuer. Er genoss diese Momente, in denen sein ehemaliger Mentor sich ihm auslieferte und ihm zeigte, dass wahrlich in allen Punkten ihrer Beziehung vollkommene Gleichberechtigung herrschte; sie berauschten ihn, machten ihn trunken vor Glück und Erregung. Dabei tauschten sie nicht immer Zärtlichkeiten aus. Häufig gingen sie grob miteinander um, wobei Demyx alte Narben öffnete und Xigbars Körper mit neuen verzierte. Ebenso häufig ließ er den Schützen Geschichten von seinen vergangenen Missionen erzählen, während er dessen Körper liebkoste, die prominenteren Narben mit der Zungenspitze nachzeichnete und dabei gleichzeitig mit zwei Fingern in ihn stieß und gnadenlos den Punkt reizte, der Xigbar um den klaren Verstand brachte. Xigbars Ungeduld und die Art, wie er stotterte und den Faden verlor, sobald man ihn nur an den richtigen Stellen berührte, brachten Demyx immer wieder zum Lächeln, genau wie die Laute, die er von sich gab, und die sonst so untypisch für jemanden wie den Schützen waren: Zufriedenes Seufzen, wenn man seinen Hals küsste, oder an seinem Ohrläppchen knabberte. Abgehacktes Keuchen, wenn man seine Brustwarzen zwischen den Fingern rollte oder mit der Zunge umspielte. Geräuschvolle Atemzüge, sobald man über seine Rippen strich. Frustriertes Wimmern, wenn man ihn überall berührte, nur nicht dort, wo er es am sehnlichsten benötigte, welches in leises Flehen überging, mit dem Xigbar ihn bat, ihn nicht weiter zu quälen, sondern endlich etwas zu tun, irgendetwas, egal was, nur bitte … Und schließlich das lang gezogene Stöhnen, wenn sich die langen Beine des Schützen um seine Hüften legten und ihn tiefer in sich zogen. Gepaart mit Demyx’ eigenen Geräuschen komponierten sie sie ihre ganz persönlichen Melodien, Arietten, deren Harmonien sich nur ihnen beiden offenbarten. Sie bewegten sich im Gleichklang, tanzten leidenschaftliche Sarabanden, verrucht wie obszön, lasziv wie erotisch. Und mit jeder Berührung, jedem Kuss, jedem Moment der Nähe webten sie den unsichtbaren Faden des Schicksals weiter, der sie in jenem Moment miteinander verbunden hatte, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren. ~*~ Selig lächelnd lag Demyx in Xigbars Arm, den Kopf an seine Schulter gelehnt, während Xigbars Finger durch seine Haare strichen. Lange Zeit sagen sie nichts, genossen einfach nur die Nähe des anderen. „Ich darf annehmen, dass die Mission gut gelaufen ist?“, fragte Xigbar irgendwann und zündete sich eine Zigarette an. „Perfekt … “, meinte er knapp, wollte nicht darüber reden, was er gesehen, erlebt und vor allem getan hatte. Er sah dem stinkenden Rauch missbilligend hinterher und grinste dann spöttisch. „Die Zigarette danach? Du bist doch sonst nicht so klischeehaft.“ Ihm wurde ein Klaps gegen den Hinterkopf versetzt. „Bin ich auch heut nicht. Ich hab nur meine Schachtel verloren und bin jetzt eben um jede Zigarette dankbar.“ Demyx sah ihn fragend an. Das war ungewöhnlich. Der Schütze würde eher seinen Hintern verlieren als seine Kippen. „Hattest du Probleme?“ „Wie man’s nimmt.“ Xigbar betrachtete nachdenklich die Decke und zählte an den Fingern einer Hand ab: „Ein durchgedrehter Dämonenjäger mit furchtbarem Humor. Sein ebenso durchgedrehter Zwillingsbruder, dem der Humor gänzlich fehlt. Ein fanatischer Priester, der das Tor zur Hölle öffnen wollte. Oh, und natürlich Larxene und Luxord, die sich ständig gestritten und Wetten abgeschlossen haben, wer mehr Monster umbringt“, schloss er mit einem Kopfschütteln. „Worauf du dich natürlich nicht eingelassen hast“, meinte Demyx ironisch. „Natürlich nicht!“ Xigbar setzte seine beste Unschuldmiene auf. „Du kennst mich doch!“ „Grad deshalb bin ich skeptisch.“ Lachend malte er kleine Kreise auf Xigbars Brust, lächelte, als sein Freund zufrieden seufzend die Augen schloss. „Xigbar?“ „Hmm?“ „Kann ich eine Katze haben?“ Er hatte mit vielem gerechnet. Dass Xigbar ihm einen Vogel zeigte. Ihn ungläubig oder entsetzt ansah. Ihn für verrückt erklärte. Aber nicht damit, dass der Schütze in schallendes Gelächter ausbrach. „Vergiss das ganz schnell.“ „Aber wieso?“ „Weil Marluxia sie an seine Pflanzen verfüttern würde.“ Mit einem Schaudern dachte Demyx an den Assassinen. Er war ihm unsympathisch, erinnerte ihn mit seiner ironischen Art und dem ständig grausamen Lächeln viel zu sehr an Saix. Ihm wäre eine solche Tierquälerei durchaus zuzutrauen. Schade. „Ich hätte trotzdem gern ein Haustier. Also außer dir.“ „Freches Gör!“ „Mieses Vorbild!“ „Nervensäge!“ „Alter Mann!“ „Hey“, kommentierte Xigbar empört, „jetzt wirst du beleidigend!“ So ging es immer zwischen ihnen. Sie neckten sich, warfen sich nicht ernstzunehmende Beleidigungen an den Kopf, zeigten sich auf ihre eigene verquere Weise, wie wichtig sie einander waren. Und sie konnten und wollten sich ein Leben ohne den jeweils anderen überhaupt nicht mehr vorstellen. Stepping Closer to the End of the Tale -------------------------------------- Chapter 11/12 - Stepping Closer to the End of the Tale In der Unterwelt war es kalt. Kalt und dunkel. Und natürlich tot. Automatisch zog Demyx den Mantel enger um seinen Körper, fröstelte, bewegte sich – hoffentlich unauffällig – auf leisen Sohlen durch das Reich des Todesgottes. Zwischendurch fragte er sich natürlich immer wieder, warum ausgerechnet er diese Mission übernehmen musste, warum man glaubte, dass er der Richtige für diesen Auftrag war. Überraschung, Überraschung – das stimmte nämlich nicht. Nicht, dass Xemnas das interessierte. Nicht, dass Demyx an diesem 'Trip' ganz unschuldig war. Nicht, dass sich nicht vieles zum Schlechten verändert hätte. Aber das waren Dinge, für die man etwas weiter ausholen und die Zeit ein Jahr zurückdrehen musste … ~*~ Ungeduldig trommelte Xigbar mit den Fingern auf die Lehne seines Sitzes. Er schlug ein Bein über das andere, ließ den Blick durch die Runde schweifen. „Was soll das?“, fragte er mit hörbarer Missbilligung in der Stimme. „Warum lässt er uns so lange warten, wenn er doch extra ein ach so wichtiges Meeting einberuft?“ „Alles zu seiner Zeit, Xigbar.“ Dass so ein Ausspruch ausgerechnet von Luxord kam, hätte Xigbar unter anderen Umständen zum Lachen oder wenigstens zum Schmunzeln gebracht – des Klischees wegen. Heute jedoch fehlte ihm der Humor. „Gedulde dich gefälligst. Der Superior wird schon seine Gründe haben. Er weiß, was er tut.“ Nicht einmal die Götter wissen, was Xemnas tut, schoss es ihm durch den Kopf, aber auch dieses Mal schwieg er. Es wäre sinnlos, jetzt mit Saïx einen Streit anzufangen und ihn wegen seiner grenzenlosen Loyalität, die nicht nur beinahe schon an Naivität und Dummheit grenzte, aufzuziehen. Sonst jederzeit gerne, aber nicht heute, wo seine Nerven sowieso schon blank lagen. Schließlich war es sein Job gewesen, Xemnas' Herzlosen und somit das Schlüsselbalg zu beobachten, und gerade als es spannend wurde, kam der verdammte Dusk mit dem Rückzugsbefehl. Seufzend verschränkte er die Arme vor der Brust. Dabei hätte er doch so gerne gesehen, wie Sora im ehemaligen Radiant Garden auf seinen von der Dunkelheit besetzen Freund getroffen wäre. Aber hey, es war typisch, dass ihm der ganze Spaß genommen wurde, oder? Xigbar seufzte und lehnte sich in seinem Sitz zurück, und dann, gerade als er kurz davor war, das Meeting sein zu lassen und sich in Radiant Garden zu amüsieren, war das leise, unscheinbare Geräusch eines Portals zu hören – und keine Sekunde später saß ihr hochwohlgeborener Chef an seinem Platz und blickte auf sie herab. Verdammt. Nächstes Mal – so schwor sich Xigbar – würde er gleich verschwinden und behaupten, er hätte nicht bemerkt, wie ein Dusk um ihn herum hüpfte und einen Zettel in dem hielt, was man wohl gemeinhin als 'Hand' bezeichnen würde – aber das auch nur mit viel Liebe, die der Schütze ja sowieso nicht besaß. „Meine Freunde“, sagte ihr ach so geliebter Anführer und breitete die Arme aus, während Xigbar nur leise schnaubte. Sie waren nicht Xemnas' Freunde. Keiner von ihnen. Selbst Saïx nicht – der war sein Schoßhund, aber das galt nicht. „Meine Freunde“, sagte Xemnas einmal mehr, „dies ist ein glorreicher Tag für die Organisation. Das dreizehnte, das letzte Mitglied wurde endlich in unsere Reihen integriert.“ Man konnte beinahe hören, wie die Anwesenden den Atem anhielten. Sie waren komplett. Zumindest in diesem Sinne. Dann musste ihr neues Mitglied aber etwas ganz Besonderes sein. Sie hatten nämlich in den vergangenen Jahren, in der Zeit seit der Zwangsgründung der Organisation viele Anwärter gehabt, Nobodies, die ihresgleichen gesucht hatten, um ihr Herz zurückzugewinnen. Keiner von ihnen hatte überlebt. Keiner von ihnen hatte als Mensch ein Herz besessen, das stark genug war, um die Verwandlung in einen Nobody zu überstehen. Sie alle waren zu Dusks geworden oder in ihrer Nichtexistenz komplett ausgelöscht. Xigbar beugte sich nach vorn und legte die Hände auf seine Knie. „Also? Wo ist Nummer Dreizehn?“, fragte er neugierig. „Axel bringt ihn gerade her.“ Und tatsächlich, keine zwei Sekunden später öffnete sich ein Portal und Axel trat heraus. Hinter ihm wankte eine kleine Gestalt aus den violetten Schatten. Ein Kind. Ein Junge. Er stand wackelig auf seinen Beinen und Axel packte ihn an den Schultern, hielt ihn aufrecht, verhinderte, dass er vor ihnen allen zu Boden ging. Xigbar hob verwundert die sichtbare Augenbraue. Ungewöhnlich, überaus ungewöhnlich, dass ausgerechnet ein Kind in ihre Reihen eintreten sollte. Doch er bezweifelte, dass der Junge lange überleben würde – ein Blick in seine Augen verriet alles, was er wissen musste, was er an zahllosen anderen Anwärtern gesehen hatte: Die Augen des Jungen waren leer, leblos. Tot. Dass er kaum ohne Hilfe gehen konnte und selbst dann schwankte, wenn er auf der Stelle stand, sprach ebenfalls für sich. „Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist“, meinte Saïx langsam und bedächtig und sprach genau das aus, was Xigbar auch dachte. „Er ist zu jung. Sein Herz konnte nicht stark genug gewesen sein. Auch wenn es beachtlich ist, dass er seine menschliche Form überhaupt noch beibehalten hat.“ Xemnas schüttelte den Kopf. „Er bleibt“, war alles, was er noch dazu sagte, dann sah er zu dem Jungen herunter und lächelte eines dieser seltenen Lächeln, bei denen in seinen Augen ein Hauch von Emotion aufblitzte. „Willkommen in deinem neuen Zuhause, Nummer Dreizehn. Willkommen -“ Hier machte er eine kurze Pause, wohl der Dramaturgie wegen. „- Roxas, du, der du das Schlüsselschwert führst.“ Xigbar blinzelte und starrte zu dem Kind, ging in Gedanken die möglichen Anagramme durch. Und dann dachte er daran, wie irreal dieser Moment doch war. Dass ausgerechnet Sora, das Schlüsselbalg, sich ihnen anschließen würde – wenn nun einmal auch in anderer Form – war einfach eine zu wundervolle Ironie des Schicksals. Also war offensichtlich klar, wie der Kampf des Schlüsselträgers gegen seinen Freund Riku ausgegangen war. Und dann? Dann begann Xigbar lauthals zu lachen. ~*~ Nun, so einfach war es aber natürlich nicht. Es war nie so einfach. Denn der Schlüsselträger Sora lebte weiterhin. Und Roxas blieb. Und wer hätte es gedacht? Nach einigen Tagen ging es ihm sogar verhältnismäßig gut. Er konnte reden, gehen, das Schlüsselschwert führen – und mehr war doch auch nicht nötig. Zumindest nicht, wenn es nach der Organisation ging. Auch, wenn etwas an ihm merkwürdig war. Er erinnerte die ersten Sechs an jemanden, an einen Schatten ihrer Vergangenheit – oder eher der Vergangenheit ihrer anderen Hälften. „Warum sieht er Ventus so ähnlich?“, das war die Frage, die sie alle beschäftigte. Und wenn sie sich gegenseitig in die Augen sahen, wussten sie, dass Roxas noch mehr war, als er jetzt schon zu sein glaubte. Doch sie hatten keine Zeit, sich darum zu kümmern. Das Mädchen, das sie in Oblivion gefunden hatten – Naminé – bedurfte ihrer ungeteilten Aufmerksamkeit. Weshalb? Nun … das war offensichtlich, oder? „Wir dürfen das Risiko nicht eingehen!“, bemerkte Vexen zum mindestens hundertsten Male in der kurzen Zeit, die sich die sechs Gründerväter der Organisation sowie Saïx – in seiner Rolle als persönlicher Arschkriecher von Xemnas – in dem kleinen Raum befanden, den sie für die Konferenzen ausgewählt hatten, die nicht jedes der Mitglieder etwas angingen. „Der Schlüsselträger darf nicht auf seinen Nobody treffen! Das wäre fatal für unsere Pläne!“ „Ja, Vexen“, sagte Lexaeus gedehnt, „das hattest du bereits erwähnt. Mehrmals. Wir hatten es schon beim ersten Mal verstanden.“ Vexen verzog verächtlich einen Mundwinkel. „Es ist nun einmal wichtig, dass wir uns die Dringlichkeit der Situation vor Augen halten!“ „Indem du dich ständig wiederholst und uns und dir nicht die Möglichkeit gibst, einen klaren Gedanken zu fassen?“ Lexaeus lächelte nur und zuckte mit den Schultern. „Sollte das dein Plan sein, funktioniert er sehr gut.“ Vexen schnaubte und Xaldin seufzte laut. „Könnten die Herren sich bitte wieder auf das Problem konzentrieren? Wie werden wir Sora los?“ Schweigen. Xigbar hatte sich auf das lange, weiße Sofa gefläzt und die Arme hinter dem Nacken verschränkt, starrte an die Decke, als ob sie ihm einen Geistesblitz verschaffen könnte. Xemnas wirkte erstaunlich unbeteiligt. Und Vexen plapperte nur etwas davon, dass ihr Meeting schon längst zu einem Schluss gekommen wäre, wenn er und sein brillanter Geist sich nicht so furchtbar von dem Neophyten – dabei blickte er zu Saïx – abgelenkt fühlen würden. Saïx lächelte daraufhin nur und entblößte seine spitzen Eckzähne, was dazu führte, dass Vexen auf seinem Sessel ein klein wenig schrumpfte und von Saïx wegrückte. „Erinnerungen“, kam es schließlich von Zexion, der überaus nachdenklich dreinblickte. „Erinnerungen sind der Schlüssel zu allem. Besäße Roxas die seinen noch, hätte er uns schon längst verlassen, um sein Gegenstück zu suchen. Dafür vereint Naminé die Erinnerungen der Prinzessin und die des Helden in sich. Gelingt es uns nun, uns das zunutze zu machen ...“ Er hob den Blick und strich sich kurz durchs Haar, betrachtete seine Kollegen eingehend. „Gelingt es uns, ihn vergessen zu lassen, wer er ist und welche Waffe er führt, so haben wir leichtes Spiel mit ihm.“ „Benutzt die Hexe Naminé, um den Helden Sora zu vernichten“, wiederholte Xemnas lächelnd und nickte bestätigend, so, als wäre die Idee auf seinem Mist gewachsen. „Lockt ihn nach Oblivion.“ „Wer soll diese Mission übernehmen, Lord Xemnas?“, fragte Saïx, der froh sein konnte, dass er gerade saß, sonst wäre er – zumindest nach Xigbars Meinung – auf seiner Schleimspur ausgerutscht. „Drei Gründer, drei Neophyten. Das sollte ausreichend sein.“ Xemnas schenkte Vexen ein Nicken und sprach weiter: „Du, Lexaeus und Zexion seht zu, dass alles mit rechten Dingen zugeht.“ Bei diesen Worten schlich sich ein triumphierendes Grinsen auf Vexens Lippen, aber Xigbar würde darauf wetten, dass er sich zu früh freute. „Axel, Marluxia und Larxene übernehmen die Operation an sich.“ Da! Was hatte Xigbar gesagt? Der Satz schlug Vexen das Lächeln geradezu aus dem Gesicht, und man konnte ihm ansehen, dass er protestieren wollte, doch ein vielsagender Blick von Zexion und Lexaeus brachte ihn um Schweigen. Doch Xemnas war noch nicht fertig: „Das Kommando untersteht Nummer Elf.“ Oh, das war ein Treffer in Vexens Magengrube, das war offensichtlich. Aber hey, Befehle waren Befehle. Und solange Xigbar dort nicht hin musste und solange Demyx mit dem Job auch nicht gestraft wurde, sollte es ihm Recht sein. „Viel Spaß“, wünschte er seinen drei Kollegen grinsend und erhob sich, streckte sich und scherte sich nicht um die Abdrücke der Stiefel, die er in dem weißen Polster hinterlassen hatte. „Ich freu' mich, euch lange Zeit nicht mehr an der Backe kleben zu haben. Und ich wette, dem Rest geht es genauso.“ Er grinste scherzhaft. „Also seht zu, dass ihr erfolgreich zurückkommt, sonst müsst ihr euch gar nicht mehr her trauen, eh?“ Wenn er gewusst hätte, was geschehen würde, hätte er sich diese Abschiedsworte verkniffen. ~*~ Keine zwei Wochen später war aus der Organisation Dreizehn eine Organisation Acht geworden. Das Oblivion-Team war tot, ausgelöscht bis auf Axel, welcher es auf wundersame Weise geschafft hatte, dem Wüten des Schlüsselträgers zu entkommen. Auf äußerst wundersame Weise. So wundersam nämlich, dass Xigbar nicht der einzige war, der diese spektakuläre Flucht, dieses elende Glück anzweifelte. Das Glück war Luxords Metier, nicht das von Axel. Und wenn der Schütze in die Mienen seiner Kollegen blickte, konnte er genau die gleichen Zweifel erkennen, von denen er sicher war, dass sie sich auch auf seinen eigenen Gesichtszügen spiegelten. Demyx merkte davon natürlich nichts. Wenn man ehrlich wäre, müsste man zugeben, dass Demyx noch nie eine ausgeprägte Menschenkenntnis besessen hatte. Schließlich hatte er Xigbar von Anfang an für einen netten Kerl gehalten – das sagte doch schon alles! Auch mit der Fähigkeit, in den Gesichtern der Menschen um ihn herum auf deren Gedanken schließen zu können, war er leider nicht ausgestattet. Und zuhören tat er auch nur, wenn er es wollte. Sehr zu Xigbars Verdruss. Denn so verstand er nicht – oder es war ihm einfach egal –, dass sie durch ihren unfreiwilligen Mitgliederverlust mehr zu tun, mehr Arbeiten zu erledigen, mehr Missionen zu absolvieren hatten. Noch dazu war Xemnas, der schon vorher nicht gerade viel für ihr aller Wohl getan hatte, inzwischen vollkommen unbrauchbar geworden, da er nur noch auf dem Dach des Schlosses stand und Kingdom Hearts anstarrte. Wahrscheinlich rezitierte er schwülstige Liebesgedichte und sprach dem Ding seine unendliche Verehrung aus. Und Saïx stand einfach nur im Aufenthaltsraum herum wie bestellt und nicht abgeholt, und drückte jedem, der sie nicht haben wollte, Missionen aufs Auge. Oder, um es kurz auszudrücken: Xigbar hatte die ganze Arbeit am Hals. Die Missionen, die Demyx eigentlich ausführen sollte, vor denen er sich aber überaus geschickt drückte; den Papierkram, den Saïx eigentlich zu erledigen hatte; und natürlich auch noch seine eigenen Aufträge. Konnte man es ihm also verübeln, dass seine Laune auf dem relativen Nullpunkt lag? Eigentlich nicht, oder? Nur irgendwie schien das keiner seiner Kollegen zu verstehen, wahrscheinlich erwarteten sie, dass Xigbar sich breit grinsend und fröhliche Lieder singend in die Arbeit stürzte. Wobei … wenn er das jemals täte, würden sie ihn für verrückt halten. Und das wollte man auch nicht. Seufzend lehnte er sich in seinem Schreibtischstuhl zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf, betrachtete die vielen Stapel, die Papierberge, die vor ihm aufragten wie ein Monster, das es zu bezwingen galt. Einen Teil davon hatte er, der strahlende Ritter mit dem Rotstift, auch schon besiegt. Aus dem Rest waren Türmchen gebaut oder Papierflieger gefaltet worden. Ein paar ansehnliche Kaffeeflecken hatte Xigbar auf ihnen auch schon hinterlassen und seinen Aschenbecher, den er vor einigen Tagen Luxord hinterher geworfen hatte, als jener von Saïx geschickt worden war, um zu fragen, ob Xigbar mit 'dem bisschen Zeug' denn schon fertig wäre, hatte er gekonnt durch einige der Unterlagen ersetzt, in denen sich nun kleine bis mittelgroße Brandflecken befanden Nein, Xigbar war nicht genervt oder überfordert. Er tat nur so. In Wirklichkeit machte ihm das Ganze einen unendlichen Spaß, den er nie wieder missen wollte. Die Ironie in dieser Aussage war klar erkennbar, oder? Ein Klopfen an seiner Zimmertür riss ihn aus seiner wohlverdienten Lethargie und er erhob sich seufzend, öffnete die Tür. „Nein, Demyx, ich kann heute nicht für dich -“, begann er bereits und brach dann mit einem leisen „Oh“ ab, als er den Blick nicht geradeaus, sondern ein Stück nach oben richten musste, um seinem Gegenüber in die Augen zu sehen. „Hallo, Saïx.“ Der lächelte ihn nur an und drückte ihm einen Aktenordner in die Hand. Einen von denen, die die Größe eines ausgewachsenen Mammuts besaßen. „Hallo, Nummer Zwei. Es wird dir doch sicher nichts ausmachen, dich schnell durch diese kurze Abhandlung zu arbeiten, oder?“ Kurz? Kurz?! Das Teil wog eine Tonne. Mindestens! „Doch, eigentlich habe ich etwas dagegen, mir auch noch -“ Erst jetzt warf er überhaupt einen Blick auf den Titel der Akte, dann stutzte er und hob die sichtbare Augenbraue. „Vexens Notizen über das Replikaprojekt? Was soll ich damit? Wir wissen, warum die Replika in Oblivion versagt hat. Axel hat es uns doch geschildert.“ Saïx sah ihn nur vielsagend an und nickte dann. „Korrekt. Axel hat es uns gesagt.“ Oh. Oh. Jetzt verstand er. „Du zweifelst seine Version der Geschichte also an?“ Als Saïx schwieg und das Kinn nur ein wenig in die Höhe reckte, lachte Xigbar amüsiert. „So, so“, meinte er und neigte den Kopf zur Seite. „Was ist denn aus eurer wundervollen Freundschaft geworden?“ Wieder schwieg Saïx, doch in seinen Augen blitzte es wütend auf. Schließlich öffnete er die Lippen und zischte ungehalten:„Ich wüsste nicht, was dich das anginge.“ „Es geht mich vieles etwas an.“ Wieder lachte der Schütze und klemmte sich die Akte unter den Arm. „Als Nummer Zwei der Organisation muss ich über alles informiert sein.“ „Du informierst dich bereits auf eigene Faust mehr als genug. Schließlich belauschst du ja jegliche Gespräche, die der Superior so führt.“ Er hob belehrend den Zeigefinger. „Ah. Und was sagt uns das?“ „Dass ich dir noch mehr Arbeit auferlegen muss, damit du dafür keine Zeit mehr hast?“ Xigbar verzog das Gesicht und ließ den Zeigefinger wieder sinken. „Nein, eigentlich heißt es, dass du uns beiden viel Arbeit ersparen könntest, wenn du mich mal von selbst einweihen würdest.“ Saïx lächelte ihn nur an und zuckte mit den Schultern. „Ich erwarte die Zusammenfassung der Akte bis morgen Früh. Und die Berichte, die du mir schuldest, natürlich auch. Gute Nacht, Nummer Zwei“, meinte er noch gehässig und verschwand in einem Portal, ehe ihn die Akte, die Xigbar nach ihm warf, am Kopf treffen konnte. Oh, wie er Saïx hasste! Und den Superior auch! Und Roxas erst Recht! ~*~ Xigbar und Roxas wurden wahrlich keine Freunde. Natürlich konnte Roxas nichts für Xigbars Unmut, und der Schütze gab sich auch alle Mühe, Roxas nicht allzu sehr spüren zu lassen, wie sehr ihn seine Anwesenheit nervte, doch die allgemeine Grundstimmung war durchweg negativ. Zwar begleitete Xigbar ihn auf Missionen und scherzte immer mal wieder mit ihm, beziehungsweise … er machte Scherze auf Roxas' Kosten. Aber da es Xigbar war, sollte das eigentlich klar und kein Grund zur Verwunderung sein. Erst, wenn er einmal keine spöttischen Bemerkungen machte, dann sollte man sich um seine Gesundheit sorgen, denn dann war man entweder todkrank und Xigbar war einfach so pietätvoll, einen wenigstens dann in Ruhe zu lassen – aber das war unwahrscheinlich, es handelte sich schließlich immer noch um Xigbar – oder aber man würde sogleich durch eine gezielte Kugel im Kopf das Lebenslicht aushauchen. Nun ja … ansonsten hatte er mit Roxas nicht viel zu tun, und es war ihm auch lieber so. Demyx, der nicht wusste, dass Xigbars Schreibtischjob durch Roxas' Erscheinen zustande gekommen war – er dachte, es läge einfach daran, dass Saïx ein Arschloch war –, fragte einmal ganz konkret danach, warum Xigbar mit dem Jungen nicht zurecht kam, und die Antwort, die er erhielt, sagte eigentlich schon alles: „Ich mag einfach kein Kinder. Es sei denn, sie werden mir in süßsaurer Soße auf einem silbernen Tablett serviert.“ Und das war für Demyx Anlass genug, angewidert dreinzuschauen und ihnen beiden den Gefallen zu tun und die Sache auf sich beruhen zu lassen. Also war es kein Wunder, dass Xigbar über Roxas' Verschwinden zwar empört war – genau wie der Rest der Organisation, denn wie konnte es wagen? Sie waren es doch, die ihm einen Sinn gegeben hatten, eine Bestimmung, eine Aufgabe. Und vor allem ein Zuhause, einen Ort, an dem er bleiben konnte –, war er dennoch nicht allzu traurig darüber. Es bedeutete schließlich nur, dass er weniger zu tun haben würde, da Saïx seinen eigentlichen Pflichten endlich wieder nachkommen würde. Dummerweise überschlugen sich die Ereignisse: Die Organisation wollte verhindern, dass Roxas seine andere Hälfte traf. Sie entsendete Axel, um den Jungen ein für allemal zu vernichten. Schön blöd von ihnen. Jeder hätte den Auftrag besser und schneller erledigt als Axel, aber nein, sie mussten das ja unbedingt Roxas' 'bestem Freund' überlassen. Hätte man auf Xigbar gehört, hätte der ihnen sagen können, dass die ganze Aktion von Vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen war. Aber ihm hörte ja niemand zu. Und so nahm die Geschichte ihren Lauf. Sora war zurück – mitsamt seinen beiden Gefährten und einer nicht zu unterschätzenden, wenn auch unfreiwilligen Beihilfe von Roxas – und beschloss erst einmal, dass es eine gute Idee wäre, spontan bei seinen Freunden vorbei zu schauen, um zu sehen, wie es ihnen denn ging. Natürlich musste die Organisation diesen Zeitpunkt nutzen, um sich vorzustellen. Und wenn sie schon einmal dabei waren, konnten sie ja auch gleich über den Knirps lästern und ihm zeigen, dass sie die Bösen waren. Die richtig Bösen. Die, vor denen man weglaufen und sich unter irgendeinem Tisch verstecken sollte. Nein, wirklich, ihr Auftritt war filmreif. Sie waren sogar gleichzeitig in gehässiges Gelächter ausgebrochen – bis auf Demyx, aber Demyx konnte einfach nicht böse klingen, nicht einmal, wenn sein Leben davon abhängen würde. Xigbar blieb noch ein wenig länger als die anderen, besah sich den Jungen, dem die Macht, das Schlüsselschwert zu führen, mindestens zehn Jahre zu früh in den Schoß gefallen war, genau. Und als er ins Schloss zurückkehrte, wo Demyx ihn bereits erwartete, lachte er nur zufrieden. „Was ist so lustig?“, wollte Demyx wissen und setzte sich auf Xigbars Bett, legte den Kopf schief, sah ihn fragend an. „Ach, nichts.“ Der Schütze grinste und zog seinen Mantel aus, warf ihn über den Schreibtischstuhl. „Ich finde es nur amüsant, dass auch der Knirps mich so ansieht.“ „Wie? Als wäre er scharf auf dich?“ Demyx täuschte Empörung vor. „Dabei darf das doch nur ich.“ Er lächelte, als Xigbar ihm durchs Haar strich und ihn auf die Stirn küsste, zog ihn am Kragen zu sich herunter, legte seine Lippen auf die seines Freundes. „Ich sollte ihm mal die Meinung sagen“, nuschelte er gegen Xigbars Lippen. Der lachte nur wieder, warm und zärtlich, küsste Demyx noch einmal. „Nein, du Idiot“, meinte er, „so, als hätte ich seinen Goldfisch ertränkt.“ Demyx blinzelte. „Xigbar, du weißt, dass man keinen Goldfisch -“ „Das war ironisch gemeint, Kurzer!“ „Bei dir weiß man ja nie.“ Demyx kicherte über Xigbars betont abwertenden Gesichtsausdruck und packte ihn wieder am Kragen, zog ihn zu sich aufs Bett und strich ihm über die Brust. „Jetzt sei doch nicht verärgert“, hauchte er ihm zu und zwinkerte. „Oder doch, sei verärgert … dann kann ich es wieder gutmachen.“ Xigbar hob nur die sichtbare Augenbraue. „Versuchst du gerade, mich zu verführen?“ „Funktioniert es denn?“, fragte Demyx hoffnungsvoll. „Kein bisschen.“ Demyx seufzte leise und verschränkte die Arme vor der Brust, schob schmollend die Unterlippe nach vorn. „Das funktioniert übrigens auch nicht, als lass es, ehe ich über dich lache.“ Man konnte die Frustration in Demyx' Blick erkennen, als er sich nach hinten auf das Bett fallen ließ und die Arme von sich streckte, als er die Augen verdrehte, als er einen missmutigen Laut von sich gab. „Weißt du eigentlich, wie lange wir schon keinen Sex mehr miteinander hatten?“ Xigbars linker Mundwinkel zuckte amüsiert und er legte übertrieben nachdenklich einen Finger ans Kinn. „Deiner Meinung nach zu lange?“ „Ja!“ Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen und wurde mit so viel Ernsthaftigkeit vorgetragen, dass sich nun doch ein Lächeln auf die Lippen des Schützen legte. Dann seufzte er nur. „Dafür haben wir im Moment beide keine Zeit,“ „Du hattest das ganze letzte Jahr kaum Zeit für mich!“ Als wäre das meine Schuld gewesen. „Hättest du Wert auf Sex gelegt, hättest du deine Arbeit selbst erledigt und sie nicht mir aufgehalst.“ Demyx setzte einen unschuldigen Blick auf, woraufhin Xigbar nur noch einmal seufzte und dann mit den Schultern zuckte. „Und jetzt muss ich gleich in ein Meeting.“ Demyx' Aufmerksamkeit wurde nun doch geweckt, denn er setzte sich auf und neigte den Kopf zur Seite. „Von einem Meeting hab ich gar nichts mitbekommen.“ „Du bekommst nie was mit, Kurzer“, sagte der Schütze nur grinsend und strich Demyx durchs Haar, lachte über dessen übertrieben beleidigten Blick „Nein“, meinte er dann, „das wird eine Sache zwischen Xemnas, Xaldin und mir. Und wahrscheinlich Saïx, aber der zählt ja nicht.“ „Dann warte ich hier auf dich und wir haben nach deinem Meeting Sex, ja?“ „Ich dachte, es wäre mein Job, in unserer Beziehung, notgeil zu sein.“ In Xigbars Stimme lag unverhohlenes Amüsement. Kopfschüttelnd verschränkte er die Arme vor der Brust. „Ich sag dir, wie es abläuft: Ich gehe in mein Meeting und du auf die Mission, vor der du dich schon seit gestern drücken willst.“ „Ich will da aber nicht hin! Saïx hat sie doch nicht mehr alle, ausgerechnet mich in die Unterwelt zu schicken! Für den Auftrag bin ich -“ „- nicht der Richtige, ja, ja“, vollendete Xigbar den Satz und winkte nur ab. Grinste dann wieder. „Aber stell dir doch nur mal folgendes vor: Du kommst aus der Unterwelt zurück, siegreich, voller Adrenalin, die Anspannung lässt deinen ganzen Körper vibrieren. Du öffnest die Tür, willst mir mitteilen, dass du zurück bist und erst duschen und dann vor Erschöpfung sterben willst und … findest mich auf dem Bett liegend. Nackt, an den Bettpfosten gefesselt, eine schwarze Augenbinde verstärkt die Hilflosigkeit nur noch. Und natürlich habe ich die Beine bereits weit gespreizt und warte nur noch auf dich.“ Demyx schluckte einmal hart, leckte sich über die plötzlich trockenen Lippen und biss sich auf die Unterlippe. „Du versuchst gerade, mich zu bestechen, oder?“ „Funktioniert es denn?“ ~*~ Natürlich tat es das. Und wie es das tat. Und das war der Grund, aus dem sich Demyx nun hier befand, in der unheimlichen Atmosphäre des überall lauernden Todes. Kein Wunder, dass der Tod hier lauerte, dachte er sich dann allerdings, es war schließlich sein Reich. Aber nicht mehr lange. Zumindest hoffte er das. Seine Mission war es nämlich, ihn auf ihr Seite zu ziehen oder ihm das Herz zu stehlen, je nachdem, was schneller und effektiver war. Seine Schritte lenkten ihn tiefer in die Düsternis hinein. Fackeln säumten seinen Weg, deren blaues, kalt wirkendes Licht ihm unheimlich erschien, so, als würde sie alles Leben absorbieren. Demyx gab sich die größte Mühe, dem Licht nicht näher zu kommen als unbedingt nötig. Tiefer, noch tiefer hinein, immer weiter wagte er sich und schließlich stand er vor der langen, hohen Brücke, die zu Hades' Gemächern führte. Er schluckte einmal hart und blickte unsicher auf das schmutzig grüne Wasser hinab, welches sich in einigen Metern Tiefe unter der Brücke befand. Davon hatte er bereits gehört: Selbst in Mydes Welt erzählte man sich die Geschichte, die Legende vom See der Seelen, dem Styx, in welchem die Toten ihr Dasein fristeten, bis sie gerichtet wurden, bis entschieden wurde, ob sie ihre Sünden büßen mussten oder ob sie so reinen Herzens gewesen waren, dass sie in eine Art von Paradies eintreten durften. Natürlich stellte sich ihm die unausweichliche Frage, wie es ihm ergehen würde, wenn er in diese Position kommen sollte. Aber jemand wie er, ein Wesen ohne Herz, hätte wohl keine Möglichkeit, ein Paradies zu erreichen. Und selbst, wenn er sein Herz zurückbekommen sollte, die Morde, die er begangen hatte, hatten sich sicherlich negativ auf seine Reputation ausgewirkt. Das war – um ehrlich zu sein – auch der Grund, aus dem er sich das ganze letzte Jahr über vor Missionen gedrückt hatte. Die Angst, wieder jemanden töten zu müssen, war zu groß. Das wollte er einfach nicht. Und … er war auch ein wenig wütend auf Xigbar, denn der hatte ihm doch einst versprochen, dass er nichts tun müsste, das ihm zuwider war. Natürlich verstand Demyx, weshalb es Xigbar für nötig gehalten hatte, zu lügen – um Demyx in der Organisation zu behalten, weil er es selbst nicht besser wusste, weil es ja nicht er war, der die Missionen verteilte – aber trotzdem hinterließ es einen schalen Nachgeschmack. Er hoffte nur, Hades wäre leicht von ihrer Sache zu überzeugen. ~*~ Natürlich war dem nicht so. Er hatte Hades ihr Anliegen vorgebracht und war auf taube Ohren gestoßen. Und er hatte die Nerven verloren, als Hades lachte, laut und schallend, hatte sich nicht ernst genommen gefühlt, hatte seine Sitar beschwören wollen … und blickte jetzt panisch drein, als nichts geschah. Hades lachte wieder und lehnte sich in seinem Thron zurück: „Du hast zehn Sekunden.“ „Wofür?“, fragte Demyx mit leicht zitternder Stimme und trat einen Schritt zurück, blickte in die Hades nun deutete. Und er erstarrte. Drei Mäuler, sabbernd, geifernd, voller Spitzer Zähne erschienen in seinem Sichtfeld; sechs Augen gafften ihn an, drei übergroße Nasen bliesen heißen Atem gegen die Scheibe, ließen sie beschlagen. Ach du Scheiße! „Jetzt sind es übrigens nur noch sechs Sekunden“, sagte Hades gelassen. „Fünf, vier ...“ Demyx drehte sich auf dem Absatz um. Und er rannte. Er durchquerte die Unterwelt in Windeseile, vergeudete keine Zeit damit, über seine Schulter zu sehen und sich zu vergewissern, dass das Vieh ihm noch folgte. Er war sicher, dass er den heißen Atem in seinem Nacken spüren – und vor allem riechen – konnte. Die Gefahr, von diesem … ja, diesem Höllenhund in einem Bissen verschluckt zu werden, war zu groß. Diese Angst verlieh ihm Flügel und er versuchte immer wieder vergeblich, ein Portal zu beschwören, was ihn nur noch schneller rennen ließ. Er achtete nicht einmal darauf, wer die Gestalten waren, die ihm auf seiner Flucht entgegenkamen – es war auch zu dunkel, um sie zu erkennen – er rief ihnen nur ein warnendes „Lauft! Lauft weg!“ zu. Und dann? Dann öffnete sich endlich – wohl durch die Nähe zur Oberwelt – ein Portal, durch das er hindurch rannte, beinahe hindurch sprang. ~*~ Durch ihre Dezimierung wirkte der Raum nur noch größer. Obwohl keiner von ihnen darüber auch nur ein Wort verlor, war Xigbar sicher, dass dieser Umstand nicht nur ihm, sondern auch den anderen einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Bis auf Xemnas vielleicht, aber Xemnas hatte schon lange gezeigt, dass ihm das Schicksal seiner Mitstreiter scheißegal war. Seufzend ließ er sich einmal mehr auf dem weißen Sofa nieder und schlug ein Bein über das andere, legte die Arme auf die Sofalehne. „Also“, fragte er, „worum geht’s heute?“ „Radiant Garden“, sprach Xemnas gemächlich und lächelte selbst zufrieden. Eine kurze Pause entstand, die Xigbar genervt durchbrach: „Ja. Toll. Radiant Garden. Was ist mit Radiant Garden?“ Das Lächeln gefror auf Xemnas' Lippen und er sah pointiert in die Runde. „Ich will Radiant Garden fallen sehen.“ So … So war das also. Xaldin sah zu dem Schützen und der erwiderte den Blick vielsagend. Sie dachten beide das Gleiche. Sie dachten an früher, als sie noch Ansems Lehrlinge gewesen waren, als sie durch ihre eigene Dummheit, ihre eigene Enttäuschung und Verbitterung gefallen waren … Sie konnten durchaus nachvollziehen, dass Xemnas … dass Xehanort jedes Monument jener Vergangenheit auslöschen wollte. Dass Xemnas sie beide dazu nicht nach ihrer Meinung fragte, war typisch, aber nicht unwillkommen. Wie hätten sie ihm auch erklären sollen, dass sie noch immer an diesem Ort hingen? Immerhin hatten sie dort ihre Kindheit verbracht, ihr ganzes Leben. „Wer soll sich darum kümmern?“, fragte Xaldin stattdessen tonlos. Xemnas deutete auf Xigbar. „Das sollte für dich eine Leichtigkeit darstellen.“ Als Xigbar grimmig nickte, fuhr er fort: „Saïx und ich werden zugegen sein und dich – falls nötig – unterstützen.“ Xemnas tat etwas. Das war ja mal was ganz Neues. Gleichzeitig, so sagte ihr Superior weiterhin, würde mehrere Ablenkungen stattfinden, die den Schlüsseljungen von Radiant Garden fernhalten sollten, und von denen Xaldin eine übernehmen sollte. „Wann soll die Mission beginnen, Superior?“, fragte Saïx, der von dieser extremen Eigeninitiative seines Herrchens … Verzeihung … seines Vorgesetzten ebenso überrascht schien wie die anderen beiden auch. „So bald wie möglich.“ ~*~ Schwer atmend blieb Demyx stehen, beuge sich nach vorn, stützte die Hände auf de Knie. Er würde nicht zurückgehen! Nicht zu diesem Monstrum! Das konnte Xemnas nicht von ihm verlangen! Und das würde er ihm auch sagen! Ja. Genau. Nachdem er nun genug mentale Ausrufezeichen verbraucht hatte, nahm Demyx allen Mut zusammen und öffnete ein Portal, das nach Hause führen würde, stapfte darauf zu. Dabei steckte er die Hände in die Manteltaschen und … blieb stehen. Was war denn das? Zwei zusammengefaltete Zettel kamen zum Vorschein. Verwundert entfaltete er den ersten und nickte. Den kannte er schon. Es war eine Instruktion von Saïx, die ihm erklärte, was er tun sollte, falls er auf Roxas traf. Nun ja, das konnte er wohl vergessen. Roxas hatte er nicht gesehen und selbst, wenn ihr ehemaliges dreizehntes Mitglied jetzt dort unten auftauchte, würde Demyx es niemals mitbekommen. Schließlich würde er ja nicht … oh. Oh, Mist. Der zweite Zettel war von Xigbar. Oi, Kurzer. Kleiner Tipp am Rande: Bevor du dich in die Unterwelt stürzt und dich mit Hades prügelst, tu dir selbst den Gefallen, erst einmal im Olymp vorbei zu schauen und dir das Olympus-Steinchen unter den Nagel zu reißen. Sonst wischt Hades mit dir den Boden auf. ~ Xigbar. Toll. Hätte er das nicht einfach sagen können? Arsch. Oh, hey, da stand noch etwas. PS. Schwing deinen Hintern und beeil dich! Schließlich warte ich auf dich! Oh. Oh … das klang vielversprechend. Okay, jetzt hatte er wohl doch einen Grund, die Mission zu Ende zu bringen. Seufzend schloss er das Portal zum Schloss und öffnete eines, das in die entgegengesetzte Richtung führte – und trat mit frischem Enthusiasmus hindurch. Als er den ersten Schritt aus dem Portal heraustrat, und noch ehe er sich überhaupt umsehen konnte … versank sein Fuß in einer weichen Substanz und er legte sich auf die Nase. Zum Glück für ihn war der Oberfläche jedoch auch an dieser Stelle recht weich, sodass er ohne größere Schäden davon kam. Es wäre ja auch überaus peinlich gewesen, wenn er sich hier die Nase gebrochen hätte oder ähnliches … wobei Xigbar sicher seine helle Freude daran gehabt hätte, ihn damit bis an sein Lebensende aufzuziehen. Er würde wohl aufpassen müssen, wohin er trat. Vorsichtig, zögerlich und langsam, aber immerhin überhaupt bewegte er sich weiter voran, tippte mit der Fußspitze immer wieder auf jeweils angrenzende Wolken, um herauszufinden, ob er darauf stehen konnte oder nicht. Einige Schritte und diverse Hüpfer später erreichte er das nächste Hindernis: das mit viel Liebe und Mühe geschmiedete, goldene Tor. Na wunderbar. Wie sollte er denn dort hindurch kommen? Wenn die Götter nicht spontan Lust darauf hatten, einen Tag der offenen Tür zu veranstalten, hätte er wohl keine andere Wahl, als darüber zu klettern oder ein weiteres Portal zu beschwören. Er seufzte leise und lehnte sich dem Rücken dagegen, wollte noch kurz überlegen, welche Möglichkeit er jetzt ausführen sollte … und verlor an diesem Tag um zweiten Male das Gleichgewicht, landete auf dem Hosenboden, als sich das Tor quietschend öffnete. Murrend erhob er sich wieder, klopfte sich die weißen Flecken vom Mantel und ging weiter, stapfte auf den riesigen Palast zu, dessen Flügeltüren weit offen standen. Heh. Da hatte er wohl doch den Tag der offenen Tür erwischt. Langsam und vorsichtig schlich er ins Innere des Palastes und versteckte sich hinter der erstbesten Säule, lugte dahinter hervor, um sich umzusehen. Und er sah einiges. Zum Beispiel diverse Gänge, die sich zu beiden Seiten erstreckten. Oder reichlich verzierte Vasen, Amphoren, Mosaike an den Wänden. Wahrlich ein Ort für Götter. Als Demyx gerade überlegen wollte, wohin er zuerst gehen sollte, schreckte er auf. Jemand hatte ihm an die Schulter getippt. Verdammt. Er war erwischt worden. Und das so schnell! Unsicher warf er einen Blick über seine linke Schulter und sah … dieses Mal nichts. Hatte er sich das eingebildet? Wahrscheinlich. Er war wohl nur nervös … „Kann man dir weiterhelfen, junger Mann?“ Demyx zuckte sichtbar zusammen und wirbelte herum. Vor ihm stand ein alter Mann mit schlohweißem Bart und gütigen grauen Augen, der in purpurne Gewänder gehüllt war und einen edlen Stab in der rechten Hand hielt, um den sich ineinander geschlungene Ranken wanden. Oh, verdammt. „Ich … hab nur die falsche Abzweigung genommen“, sagte Demyx schnell und wich rückwärts in Richtung Ausgang. „Ich sollte auch schon wieder gehen“, meinte er weiterhin und wollte sich gerade umdrehen und wegrennen, da fiel er zum dritten Mal an diesem Tage über irgendetwas. Oder über jemanden. Oder doch über etwas, so sicher war er sich da nicht – konnte man ein Wesen, das halb Mensch, halb Ziege war, als 'Jemanden' bezeichnen? Ehe er jedoch zu Boden gehen konnte, packte ihn der alte Mann am Handgelenk und hielt ihn fest. Was erstaunlich war, wenn man das wahrscheinliche Alter des Greises bedachte. Aber nun ja, der Alte war wohl ein Gott und Götter hatten es mit dem Altern nicht so. „Nicht so voreilig, mein junger Freund“, sprach der Alte, „du möchtest dich noch nicht etwa schon verabschieden, ehe du dich vorgestellt hast, oder?“ Demyx linker Mundwinkel zuckte. „Äh, nein. Wie unhöflich von mir. Ich bin Demyx.“ Und damit war er eigentlich der Meinung, dass der Höflichkeit Genüge getan war, doch sein Gegenüber fand das offensichtlich nicht. Demyx wurde nämlich immer noch festgehalten. „Schön, dich kennen zu lernen, Demyx. Mein Name ist Dionysos. Und das -“ Er deutete auf das Mischwesen. „- ist Phineas, der Satyr.“ Das Wesen lächelte, als es seinen Namen hörte, und packte Demyx bei der anderen Hand. „Willst du nicht mit uns feiern?“, fragte es mit jugendlicher Stimme. „Feiern?“, wiederholte Demyx verwirrt. „Was denn feiern?“ „Jeder Tag hat etwas, das man feiern kann“, kam es vom dem Kleinen. „Aber ich habe gar keine Zeit zum Feiern!“ „Unsinn“, sprach Dionysos. „Man hat immer die Zeit zum Feiern.“ Und schon wurde Demyx unter halbherzigen Protesten mitgeschleift. An die allermeisten Sachen er nächsten Stunden konnte er sich gar nicht mehr erinnern. Er war nämlich ziemlich schnell betrunken gewesen. Er wusste nur noch, dass er der Venus zugeprostet und mit ihr über die Auslöschung Trojas diskutiert hatte, ohne zu wissen, wo Troja eigentlich lag und ob es überhaupt eine Stadt war. Weiterhin konnte er sich noch daran erinnern, dass Xigbar auf ihn wartete und ihn umbringen würde, wenn er nicht bald auftauchen würde. Also stand er schwankend auf und nuschelte ein paar Worte des Abschieds und dummerweise rutschte ihm dabei auch heraus, dass er den Olympus-Stein finden musste. Dionysos betrachtete ihn nur kurz und lächelte dann, bedeutete ihm zu warten. Dann beugte er sich zu dem Phineas und flüsterte ihm etwas zu. Der Satyr steckte seine Panflöte weg und lief in Richtung Palast. „Was tut er jetzt?“, fragte Demyx, während er versuchte, fest auf beiden Beinen stehen zu bleiben. „Er bringt dir ein Geschenk“, war die rätselhafte Antwort. Ah. Das half ihm wirklich weiter. Oder eben auch nicht. Die paar Minuten, die der Satyr zur Rückkehr brauchte, beschäftigte sich Demyx damit, der Welt zu befehlen, sich nicht mehr zu drehen. Und schließlich wurde ihm etwas in die Hand gedrückt, das sich bei näherem Besehen als genau das herausstellte, das er gesucht hatte. Moment … als Geschenk? Im Ernst? „Aber ...“ „Kein aber“, sagte Dionysos freundlich, aber bestimmt. „Zeus benutzt ihn sowieso nie, ihm wird überhaupt nicht auffallen, dass er verschwunden ist. Und ein so ausgezeichneter Trinker wie du verdient einfach eine Belohnung.“ Na, wenn das so war ... Demyx betrachtete den Stein von allen Seiten. Er sah … so unscheinbar aus; eine recht flache, runde Scheibe, auf der ein Symbol eingraviert war. In Anbetracht dessen, dass jenes Zeichen überall am Olymp angebracht war, riet Demyx einfach mal ins Blaue hinein und vermutete, dass es sich hierbei um das Zeichen der Götter handelte. War er nicht ein Genie? Lächelnd verabschiedete sich von Dionysos und dem kleinen Satyr, steckte den Stein in seine Manteltasche und begab sich frohen Mutes in Richtung Unterwelt. Jetzt war er unbesiegbar! ~*~ Oder eben auch nicht. Roxas hatte ihn … nun ja, verprügelt wäre das falsche Wort … brutal zusammengeschlagen traf es wohl eher. Und als Dieb beschimpft hatte er ihn auch noch. So eine Frechheit! Natürlich hatte Demyx ihm erklären wollen, dass er den Stein nicht gestohlen, sondern geschenkt bekommen hatte. Aber hörte ihm jemand zu? Nein. Natürlich nicht. Und durch die Prügel war er auch wieder nüchtern geworden. So ein Mist. Demyx murrte leise. Diesen Tag wollte er so schnell wie möglich vergessen. Er würde nämlich auch weiterhin keine positiven Seiten aufziehen, denn Demyx wusste, dass er – sobald er sein Zimmer betrat – von Xigbar erst einmal ausgelacht werden und sich anhören dürfen würde, wie bescheuert es doch von ihm war, anzunehmen, dass Xigbar ausgerechnet auf ihn warten würde. Und dann auch noch nackt. Wovon träumte Demyx denn bitte nachts? Also nahm sich Demyx vor, ihn nicht zu beachten, zu duschen, Xemnas seinen Bericht vorzubringen … und dann würde er bis ins nächste Jahrhundert schlafen. Ein guter Plan, wie er fand. Doch er kam nicht dazu, diesen Plan in die Tat umzusetzen, denn als er die Tür öffnete, erstarrte er sogleich wieder. Xigbar hatte ausnahmsweise einmal sein Wort gehalten. Oh, und wie er das hatte. Sein nackter, gebräunter Körper bildete einen starken Kontrast zu dem weißen Laken, auf welchem er lag, seine goldenen Augen wurden durch ein schwarzes Tuch verdeckt. Seine Brust hob und senkte sich langsam, gemächlich. Die feinen Härchen auf seinen Armen hatten sich aufgestellt – wohl eine Gänsehaut durch den Luftzug, der entstanden war, als Demyx die Tür geöffnet hatte oder war es etwa die freudige Erwartung, die Xigbar diesen sichtbaren Schauer über den Rücken jagte? Wie versprochen – oder viel eher angedroht – waren seine Hände mit Handschellen an den Bettpfosten gekettet, wie versprochen hatte er die Beine angewinkelt und gespreizt. War er die ganze Zeit über so verblieben? Was, wenn zufälligerweise einer der anderen das Zimmer betreten hätte? Was hätte er dann gesagt? Gut, zugegeben, gesagt hätte er nicht viel … das verhinderte der runde Knebel in seinem Mund. Demyx … schluckte. Hart. Und als Xigbars Mundwinkel zuckte, als würde er trotz des Knebels zu grinsen versuchen, beschloss Demyx zwei Dinge. Erstens wäre es doch überaus unhöflich von ihm, den armen Schützen so alleine dort liegen zu lassen. Ganz der Gentleman, der er eigentlich nicht war, aber das interessierte jetzt nicht, schloss er die Tür hinter sich und lächelte, leckte sich voll Vorfreude über die Lippen. Und zweitens? Zweitens würde er Xemnas später Bericht erstatten. Viel später. ___________ tbc ... ___________ Wir sind fast fertig, Leute. Noch ein Kapitel und ein Epilog, dann seid ihr mich los. ;) The Final Clash --------------- Chapter 12/12 – The Final Clash Einige Zeit später – es war viel Zeit später, wenn man es genau nahm. Demyx wollte schließlich seine Belohnung für die mehr oder weniger abgeschlossene Mission einheimsen. Dass er geflohen war, erzählte er Xigbar übrigens erst nach dem Sex – saßen sie alle im großen Konferenzraum und warteten. Warteten auf Xemnas' neuste Anweisungen. Sie sprachen nicht noch einmal über die geheime Sitzung, die sie vor wenigen Stunden gehabt hatten, ließen Demyx und Luxord somit im Unklaren. Die beiden mussten nicht alles wissen. Vor allem nicht, wenn es um persönliche Dinge ging. Das bisschen an eingeschworener Gemeinschaft, das sie noch besaßen, würden sie nicht aufgeben. "Also", meinte Luxord und mischte seine Karten, "wenn ich das richtig verstanden habe, sollen Demyx und ich in zwei Welten gleichzeitig unser Glück versuchen?" Er wartete keine Antwort ab, sondern zog eine der Karten aus seinem Deck und lächelte sie an, steckte sie zurück und mischte wieder. "Das könnte amüsant werden." "Hey! Zieh für mich auch 'ne gute Karte!", meinte Demyx grinsend und beugte sich auf seinem Sitz vor, versuchte quer durch den Raum hindurch Luxords Blatt zu erkennen. "Und sag mir, dass alles für uns gut laufen wird, ja?" Xigbar verdrehte das linke Auge. Glaubte der Kurze etwa immer noch diesen Unsinn mit den Tarotkarten? Gut ... zugegeben ... für Demyx war ja damals auch alles gut verlaufen. Er selbst jedoch ... "Alles gut laufen?", fragte er nur schnippisch, als er die Erinnerung in den hintersten Winkel seines Gedächtnisses verdrängte. "Sag bloß, du willst dieses Mal auch kämpfen und nicht wieder nur abhauen?" Ja. Ja, Xigbar war leicht ungehalten wegen der Sache aus der Unterwelt. Wer wäre das nicht? Wenn man bedachte, dass Demyx sich – als er zurückgekommen war – aufgeführt hatte wie der große Held, der den Drachen bezwang, um seine holde Maid durchzuvögeln, wo er doch in Wahrheit schreiend vor dem Drachen weggelaufen war und die holde Maid getäuscht hatte. Das nahm Xigbar ihm doch ein wenig sehr übel. Er blinzelte, legte die Stirn in Falten. Er sollte aufhören, von sich selbst als holde Maid zu denken. Das ... erschuf vor seinem geistigen Auge nur ein ekliges Bild. Als Demyx jedoch den Kopf hängen ließ und auf dem Stuhl in sich zusammensackte, tat es ihm schon wieder Leid. Er würde sich nach dem Meeting dafür entschuldigen. "Wie auch immer", sagte Xemnas gedehnt und beugte sich nach vorn. "Da Nummer Neun seinen bisherigen Auftrag noch nicht ausgeführt hat, wird er das nachholen, während Nummer Zehn sich nach Port Royal aufmacht, um die Welt endgültig zu vernichten." Demyx zuckte zusammen. Xigbar ebenfalls. Beide starrten sie zu Xemnas herüber, der ihren Blick entweder nicht bemerkte oder ignorierte. Schließlich sahen sich der Schütze und Demyx nur gegenseitig an. Wahrscheinlich hatten sie die gleichen Gedanken. Port Royal. Dort hatte alles begonnen. Für sie beide zumindest. Sollte es wirklich so sein, dass diese Welt für immer in die Dunkelheit stürzen musste? Xigbar ... sah Demyx' verzweifelten Blick. Xigbar wusste, wovor der Junge sich fürchtete. Was, wenn er sein Herz zurück erhielt? Was, wenn er wieder ein Mensch wurde? Dann hätte er kein Zuhause mehr, keinen Ort, an den er zurückkehren könnte. Und sie beide erinnerten sich an ihr gemeinsames Versprechen, eines Tages die Meere dieser Welt zu erkunden. Daraus würde wohl nichts mehr werden, denn Luxord nickte zufrieden grinsend und ließ verlauten, dass er in Port Royal sehr viel Spaß haben würde. Das bezweifelte Xigbar nicht. Er kannte den Spieler gut genug, um zu wissen, dass Luxord sich mit den billigen Huren und den anderen Spielern, den Piraten und Vollidioten, die sich von ihm zu einer Partie überreden ließen, sehr gut amüsieren würde. Aber er wusste auch, dass Port Royal über kurz oder lang dem Untergang geweiht war. Er bedauerte es. Um Demyx' Willen. Denn der sah aus wie am Boden zerstört, hatte den Blick gesenkt, war in sich zusammengeschrumpft. Armer Junge ... "Und schließlich ...", sprach Xemnas weiter, "wird Nummer Neun ins Land der Drachen reisen, und die Herzlosen auch dort freisetzen." "Was?", kam es von Xigbar und Demyx gleichzeitig, von dem einen verwirrt und überrascht, von dem anderen entsetzt. Der Schütze sah, wie Saix grinste. So ... so war das also. Das ganze großartige Ablenkungsmanöver, um Radiant Garden zum Fall zu bringen, sollte noch mehr darstellen ... eine Strafmission für sie beide. Natürlich wurde Xigbar nicht nach Port Royal geschickt, da er schon einmal 'bewiesen' hatte, dass er nicht in der Lage gewesen war, die Welt auszulöschen. Diese Strafe führte an seiner Stelle Luxord aus. Höchstwahrscheinlich unwissentlich. "Aber ich will nicht ins Land der Drachen!", lamentierte Demyx mit zittriger Stimme, wobei er immer wieder unauffällige Seitenblick zu Xigbar warf. "Ich war heute schon auf Mission! Und wenn ich da jetzt noch einmal hin muss, mag ich hinterher nicht noch einmal losgehen!" Saix schürzte die Lippen, bleckte die Zähne. Er war offensichtlich kurz davor, auf den Musiker loszugehen. Doch Xigbar kam ihm zuvor. "Ich gehe." "Was?", ertönte es wieder aus zwei Kehlen, dieses Mal von Saix und Demyx. Xigbar nickte kühl. "Er will doch nicht. Und es dauert viel zu lange, ihn in zwei Welten zu schicken. Ich erledige das. Ich werde nicht lange brauchen." Er lächelte überheblich, breitete einladend die Arme aus. "Und hinterher schließe ich mit euch in Radiant Garden auf, einverstanden?" Schweigen. Stille herrschte im Raum. Keiner sprach ein Wort. Und Demyx sah unsicher zu ihm herüber. Und schließlich … Schließlich stimmte Xemnas zu. ~*~ Nach dem Meeting, als sie alle sich für ihre jeweiligen Missionen bereit machten, wartete Demyx auf Xigbar, fing ihn in dessen Zimmer ab. In seinen Augen spiegelte sich die Angst, die sie doch angeblich nicht verspüren konnten. Seine Hände zitterten, weswegen er sie zu Fäusten ballte. Er schwieg, denn täte er es nicht, so würde er – so vermutete Xigbar zumindest – den letzten Rest seiner Selbstbeherrschung verlieren und zu weinen beginnen. Xigbar verstand ihn nur zu gut. Ihm ging es ähnlich. So schwieg auch er nur, setzte sich zusammen mit Demyx auf sein Bett, zog ihn auf seinen Schoß. Er hielt den Jungen fest an sich gedrückt, streichelte ihm über den Rücken, ließ zu, dass Demyx' Finger sich in seine Schultern, seine Haare, seinen Nacken krallten. Und als sein Freund schließlich doch nicht mehr an sich halten konnte, als leises Schluchzen aus seiner Kehle drang und als er das Gesicht in Xigbars Halsbeuge vergrub, als die ersten Tränen dessen Haut benetzten … da war Xigbar für ihn da und teilte mit ihm den Schmerz, der sie beide aus ganz unterschiedlichen und doch so ähnlichen Gründen ereilen würde. „Sie nehmen mir alles weg“, brachte Demyx irgendwann unter ersticktem Schluchzen hervor. „Sie nehmen mir mein Zuhause weg.“ Nicht nur dir, dachte Xigbar, doch er sagte weiterhin kein Wort, denn es war nicht der Moment für ihn, Schwäche zu zeigen. Nicht, wenn Demyx ihn brauchte … „Was sollen wir jetzt tun? Wo können wir denn noch hin? Was ...“ Er stockte einen Moment und hob schließlich den Kopf, blickte Xigbar aus diesen unendlich grünen, unendlich ehrlichen Augen an, die ihn schon bei ihrer ersten Begegnung so fasziniert hatten. Ehrlichkeit war etwas gewesen, das er schon viele Jahre zuvor abgelegt hatte; von dem er nicht einmal mehr gewusst hatte, dass er sie noch besaß. Doch jetzt antwortete er mit einem leisen „Ich weiß es nicht“ und war damit so ehrlich wie noch nie zuvor in seinem Leben. „Was bleibt jetzt noch für uns?“, hauchte Demyx so leise, dass Xigbar ihn kaum verstand. „Ich weiß es nicht“, sagte er nur wieder. Und dann, nach ein paar Sekunden, setzte er hinzu: „Aber wir werden schon etwas finden. Und wenn wir uns eine Welt erschaffen müssen.“ „Eine Welt für dich und mich?“ Demyx klang zweifelnd, skeptisch, sah Xigbar fragend an. So nickte der nur schnell. „Und das glaubst du wirklich?“ „Ich glaube es nicht nur. Ich verspreche es dir.“ Und so sehr es ihn selbst verwunderte, so sehr glaubte er tatsächlich an eine gemeinsame Zukunft mit ihnen beiden in irgendeiner Welt, die sie zu ihrer eigenen machen konnten. Und zum ersten Mal in seinem Leben betete er stumm darum, dass ein Wunsch in Erfüllung gehen mochte. Ein Wunsch, der von ganzem Herzen kam. ~*~ Noch bevor er das Portal komplett durchschritten hatte, stach ihm die kalte, klare Luft in die Nase und er lächelte schwach, als er die verschneiten Hänge und Gipfel betrachtete. Seit seinem letzten Besuch hatte sich wirklich nichts verändert. Diese Welt war so simpel, so friedlich und idyllisch. Es tat ihm weh, ihr Ende herbeizuführen. Wen Radiant Garden seine Heimat war, so war das Land der Drachen sein Zuhause; der Ort, an den er sich zurückziehen konnte, der ihm schon immer am liebsten gewesen war. Hier hatte er immer vergessen, wer er war, was er war. Hatte nur immer die Stunden in Freude und Glücksseligkeit verbracht. Nun … das würde sich bald ändern. Langsam schritt er die verschneiten Trampelpfade hinab, wobei der Schnee unter seinen Stiefeln knirschte, und dachte nach. Was wäre wohl … imposant genug, um den kleinen Schlüsseljungen so sehr zu beeindrucken, dass er alles stehen und liegen ließ? Was würde ihn lange genug aufhalten, damit er ihnen in Radiant Garden nicht in die Quere kam, damit sie die Welt in aller Ruhe endgültig vernichten und einen Schlussstrich unter ihre alte Existenz setzen konnten? Er sah sich um, ließ den Blick über die Hügel und Felder, die kleinen Städte und schließlich über die Hauptstadt selbst schweifen, die sich in weiter Ferne am Horizont abzeichnete. Dort würde sich seine kleine Showeinlage abspielen, das war klar. Es wäre unsinnig, ein kleines Dörfchen zu bedrohen. Damit würde das Schlüsselkind viel zu schnell fertig werden. Und da … da hörte er etwas. Das Brüllen des Wesens, das in dieser Welt heiliger war als der Kaiser von China selbst. Und er lachte gehässig, denn die Idee, die sich in seinem Kopf formte, gefiel ihm sehr ... ~*~ Man konnte sich wohl vorstellen, dass Demyx alles andere amüsiert war, noch einmal in die Unterwelt zurückzukehren. Er hatte nämlich inzwischen eine 'leichte' Paranoia entwickelt und befürchtete, hinter jeder Biegung der vernebelten Gänge auf ein gewisses dreiköpfiges Monsterschoßhündchen zu treffen. Also schlich er langsam und zögerlich voran, schielte um jede Ecke und seufzte immer wieder erleichtert auf, weil er in kein triefendes Maul – beziehungsweise derer drei – starren müssen durfte. Natürlich hatte er jetzt auch den Olympusstein. Das sollte ihn eigentlich etwas beruhigen. Dummerweise tat es das nicht. Verdammt. Und wenn er so die Wege betrachtete, die sich zu seinen Füßen erstreckten, dann würde er auch sagen, er hatte sich verlaufen. Verdammt. Er seufzte leise und kratzte sich am Hinterkopf. Okay. Noch einmal nachdenken. An welcher Gabelung war er falsch abgebogen? Ein leises Räuspern riss ihn aus seinen Gedanken und er drehte sich um, blinzelte verwirrt, als vor ihm eine Ente, ein Hund und ein Junge standen. Moment … eine Ente, ein Hund und ein Junge? Dieses Gespann hatte er doch erst vor Kurzem noch gesehen … in Hollow Bastion … „Roxas!“, rief er erfreut, als er sich erinnerte und machte einen Schritt auf den Jungen zu. Als der jedoch nicht auf seinen Namen reagierte, sondern ihn nur verwirrt und skeptisch betrachtete, seufzte Demyx wieder einmal. So viel also zu ihrer glücklichen Reunion. Aber … einen Moment! Er hatte doch noch den Zettel von Saix. Vielleicht stand da etwas Nützliches darauf. Schließlich hieß es doch, das wären seine Anweisungen, falls er auf Roxas treffen sollte … Unter dem misstrauischen Blick des ungleichen Trios kramte er in seiner Mantelasche, holte schließlich das Schriftstück hervor und entfaltete es. „Sollte das Subjekt keine Reaktionen zeigen“, murmelte er leise zu sich selbst, als er die fein geschwungene Linien der peniblen und übersorgfältigen Handschrift, die wirklich eindeutig genauso war wie Saix selbst, mit den Augen nachzeichnete, „verwende Gewalt, um sein wahres Wesen frei zu setzen.“ Na toll. Demyx schüttelte nur den Kopf und streckte Saix' Zettel wieder ein. „Und ich hab' noch gesagt, dass ich für solche Aufgaben nicht geeignet bin.“ Aber gut, Befehle waren Befehle. Auch, wenn er Roxas nur ungerne wehtat. Seine Finger schlossen sich um den runden Stein der Götter und er konzentrierte sich darauf, seine Sitar zu beschwören. Und wurde jäh unterbrochen, als Roxas ihn anschrie, anklagend mit dem Finger auf ihn zeigte und ihn beschuldigte, ein Dieb zu sein. „Hey! Das ist jetzt aber unhöflich!“, erwiderte er und murrte leise, vergaß für einen Moment, was er tun wollte. Oh. Ach ja. Sitar. Eine Sekunde später erschien sie in seiner Hand und er machte sich zum Kampf bereit. ~*~ Natürlich. Das war typisch. Egal, wie knapp der eigene Zeitplan war, und egal, wie gut man geplant hatte, irgendetwas ging immer schief. Irgendetwas war in diesem Falle der Spion, der sich schon vor Wochen in die Organisation eingeschlichen hatte, um ihre Pläne auszuhorchen. Sie hatten ihn so oft verfolgt, so oft versucht, ihn zu schnappen, doch er war ihnen immer durch die Lappen gegangen. Und ausgerechnet jetzt hielt der Pisser es für nötig, direkt vor Xigbar aufzutauchen, sein Schwert zu ziehen und ihn zum Zweikampf herauszufordern. Xigbar verdrehte nur genervt das gesunde Auge. "Oh komm schon, was soll das?“, fragte er und breitete die Arme aus, gestikulierte leicht. "Du stehst mir im Weg. Toll. Und was bringt uns das? Gar nichts." "Im Gegenteil!, fauchte der Spion unter den Tiefen seiner Kapuze, brachte Xigbar für einen Augenblick zum Zögern, denn er kannte die Stimme – aber das konnte nicht sein, denn Xehanorts Herzlosen gab es nicht mehr, den hatte der Schlüsseljunge erledigt – und hob das Schwert, nahm eine Kampfposition ein. "Ich weiß, was du vorhast!" "Schön für dich. Dann weißt du sicher auch, dass ich nicht die Zeit habe, mit dir zu spielen." "Ich lasse nicht zu, dass du den Leuten in dieser Welt Schaden zufügst!" Hatte der Typ ihm überhaupt zugehört? Er hatte nicht die Zeit für diesen Scheiß! Er musste sich beeilen, damit er rechtzeitig nach Radiant Garden kam, seinen Job erledigte und später zusammen mit Demyx seinen Frust darüber, das Land der Drachen in die Dunkelheit gestürzt zu haben, in Alkohol zu ertränken. "Du kommst an mir nicht vorbei!", knurrte der Spion weiter und ... stürzte sich auf Xigbar. Was ihm relativ wenig brachte, denn dort, wo der Schütze noch vor einer Sekunde gestanden hatte, an der Stelle, an der das Schwert jetzt niedersauste, zerteilte es nicht weiter als kalte Luft. Xigbar selbst hatte sich teleportiert, stand nun hinter dem anderen und gab einen Stoßseufzer von sich. "Erstens sagen sie das alle", meinte er nur, "zweitens bin ich - wie du siehst - noch überall vorbeigekommen, und drittens ..." Für drittens blieb dummerweise keine Zeit mehr, denn Xigbar musste sich ducken, als der andere wieder zum Schlag ausholte und das Schwert so nahe am Kopf des Schützen vorbei glitt, dass der das zischende Geräusch des Schwertes laut und deutlich und bedrohlich vernehmen konnte. Na gut. Dann ging es eben nicht anders. Wer nicht hören wollte, musste fühlen. ~*~ Demyx' Finger glitten über das Laken, über das Kissen, das Lager, das er und Xigbar noch vor einigen Stunden miteinander geteilt hatten. Und er seufzte. Irgendwie hatte er bei der ganzen Sache ein schlechtes Gefühl. Und obwohl Xigbar ihm gesagt hatte, dass alles in Ordnung sei, hatte er ein schlechtes Gewissen. Er hatte sich vor der Mission im Land der Drachen gedrückt, hatte die Arbeit auf Xigbar abgewälzt – mal wieder. Aber er hatte nicht damit gerechnet, dass der Schütze sich dazu bereit erklärte, die Welt selbst zu vernichten. Er hatte gedacht, er müsste nur lange genug protestieren, damit Xemnas wenigstens diese Welt in Ruhe ließ. Es war nicht fair, dass sie beide die Orte verlieren sollten, an die sie sich zurückziehen konnten, wenn sie sich nicht gut fühlten. Es war nicht fair, dass sie bestraft wurden. Sie hatten ihre Arbeit doch immer erledigt! Fast immer. Meistens. Oft. Und es war nicht fair, dass das alles nur geschah, weil keiner in der Lage gewesen war, Roxas zu erledigen, bevor er sich mit seiner anderen Hälfte wieder verband. Heute hatte er wirklich begonnen, Roxas zu hassen. Und dazu hatte er auch allen Grund, wenn er sein blaues Auge und seine schmerzenden Glieder bedachte. Roxas hatte ihn … zusammengeschlagen. Ihm den Stein der Götter abgenommen, ihn in die Flucht geschlagen und seine Laune auf den Tiefpunkt sinken lassen. Er seufzte und ließ sich nach hinten auf die Matratze fallen, atmete zufrieden den Geruch ein, der noch immer in den Laken steckte. Xigbars Geruch. Sein eigener ebenfalls. Und der von Sex. Eine sehr gute Mischung, wenn man ihn fragte. Dummerweise tat das gerade niemand. Ein paar Minuten verweilte Demyx so, dann erhob er sich langsam und öffnete das Fenster, machte schließlich das Bett. Vielleicht - so überlegte er - sollte er irgendetwas tun, um Xigbar eine Freude zu machen. Ein Dankeschön dafür, dass er seine Mission übernahm. Aber was? Leider blieben seine Überlegungen nicht lange ungestört - aber eigentlich war das nicht schlimm, das einzige, von dem er wirklich wusste, dass Xigbar sich darüber freuen würde, war Sex. Verdammt. All die Zeit hatten sie bereits zusammen verbracht, und dennoch kannte er seinen Schützen kaum. Das mussten sie unbedingt ändern, wenn Xigbar zurück kam. Sie mussten ... reden. Über alles. Es würde Zeit werden, dass nicht nur Demyx seine Lebensgeschichte mit dem anderen teilte. Es klopfte an der Tür und Saix trat, ohne auf Antwort zu warten, ein. Und kurz darauf rümpfte er die Nase, wobei er das Gesicht zu einer angewiderten Grimasse verzog. Obgleich Demyx eigentlich wütend darüber sein sollte, dass Saix seine Privatsphäre nicht respektierte und seine Abscheu so offen zeigte – Herrgott, nur weil Saix keinen Sex hatte, musste er nicht allen anderen den Spaß daran verderben –, spürte er, wie ich eine leichte Röte auf seine Wangen legte und er unsicher die Arme vor der Brust verschränkte und das Kinn in die Höhe reckte. Eine der vielen Posen, die er sich von Xigbar abgeschaut hatte. Doch was bei dem Schützen arrogant und überheblich wirkte, das – so wusste Demyx selbst, denn er hatte oft genug vor dem Spiegel geübt, um zu wissen, dass seine Technik noch nicht ausgereift war – ließ ihn selbst nur wie ein trotziges Kleinkind aussehen. "Was platzt du hier einfach so herein?", wollte er wissen, und gab sich alle Mühe, böse drein zu blicken. "Du hast eine Mission", sagte Saix nur kühl und musterte Demyx' Haltung, verzog die Lippen zu einem Grinsen, entblößte dabei seine spitzen Eckzähne. "Wir haben beschlossen, dass wir auf Nummer Zweis Rückkehr nicht warten können." "Inwiefern?" Wieso klang das nicht gut? Wieso klang das gar nicht gut? "Du hast die große Ehre, uns bei unserem Sturm auf Radiant Garden zu begleiten und eine Schlüsselrolle darin zu spielen." Oh. Deshalb klang das nicht gut. Weil es ein großer Haufen Scheiße war, in den er mit der Nase voran gestoßen wurde. Verdammt. ~*~ Es stellte sich als nicht allzu schwer heraus, den Spion hinter sich zu lassen. Ein gezielter Schuss in die rechte Hand, um ihn handlungsunfähig zu machen und ihn abzulenken. Dann ein Schlag mit dem Lauf seiner Waffe gegen den Hinterkopf des anderen. Und schon hörte der Spion die Engel singen. Zu gerne hätte Xigbar sich weiterhin mit ihm beschäftigt und ihn ausgefragt – wenn er ehrlich war, machte es ihm nichts aus, Blut an seinen Händen kleben zu haben. Das wäre für ihn nichts Neues –, doch ihm fehlte die Zeit dazu. Radiant Garden wartete auf ihn. So beschloss er, dass sich andere mit dem Typen beschäftigen konnten, und lief weiter. Zu jenen höchsten Höhen, in denen die Luft so dünn wurde, dass einem das Atmen Schmerzen bereitete. Zu dem Ort, an dem sie residierten, ruhten, über diese Welt wachten. Sie, die Drachen. Majestätische Wesen, erhaben und so alt und weise wie die Zeit an sich. Größte Vorsicht war im Hinblick auf den Umgang mit ihnen geboten; eine falsche Bewegung, eine unkluge Tat und man würde ihren Zorn auf sich ziehen. Xigbar betrachtete sie einem Moment lang, sah zu, wie sie flammende Malereien an den Horizont zeichneten, während sein Blick sich verfinsterte, als er daran dachte, dass er eines seiner Versprechen brechen musste. Denn sobald dieser Tag sich dem Ende neigte, würde es keine Drachen mehr geben, die er Demyx zeigen könnte. ~*~ Radiant Garden. Hollow Bastion. Die Überreste der Stadt des Lichts. Demyx fand, dass von diesem Licht wirklich nicht mehr viel übrig geblieben war. Xigbar hatte ihm nie erzählt, wie genau diese Welt zugrunde gegangen war, und Demyx hatte nie nachgefragt. Er wollte nie wissen, was genau die ersten Sechs getan hatten. Ihre Sünden waren nichts, das ihn etwas anginge. Er hoffte jedoch, dass er selbst nicht für ihre Fehltritte zu büßen hatte und dass sich dieser Auftrag nicht als allzu kompliziert herausstellte. Leider wurden seine Hoffnungen wie so häufig enttäuscht, als er einmal mehr ein Räuspern hinter sich vernahm. Verdammt! Demyx schluckte und drehte sich langsam zu Roxas – beziehungsweise Sora. Beziehungsweise Roxas. Ach, egal, anderer Name, gleicher mieser Charakter – und seinen zwei Haustieren um, zwang ein Lächeln auf seine Lippe. „Du schon wieder“, sagte Roxas und verschränkte die Arme vor der Brust. „Du willst also Hollow Bastion zerstören. Ist das ein Witz?“ „Äh ...“ Demyx zögerte, zuckte mit den Schultern. „Hört mal“, begann er langsam, „ich bin nicht hier, um mich mit euch anzulegen.“ „Stimmt.“ Roxas nickte. „Dass du dazu nicht in der Lage bist, hast du ja bewiesen.“ Okay, das tat weh. Aber es war nicht schlecht. Wenn Roxas ihn für unfähig hielt, würde er ihn vielleicht in Ruhe lassen. Doch Roxas musterte ihn abfällig. „Wie ist so einer wie du überhaupt in die Organisation aufgenommen worden? Dein Herz kann doch gar nicht stark genug gewesen sein – so wie du kämpft.“ „Hey, das ist jetzt unnötig gemein!“ „Oh, komm schon. Du hat nicht das Herz, um beleidigt zu sein!“ „Das ist nicht wahr!“, fauchte Demyx. „Wir haben auch Herzen!“ Dessen war er sich nach all den Jahren noch immer gewiss, denn seines schlug ihm gerade bis zum Hals, sorgte dafür, dass dutzende verschiedener Emotionen auf ihn herein brachen und sein Denken vernebelten. Wenn er Roxas jetzt tötete … dann gab es keinen Grund, seine Heimat zu vernichten. Dann musste er sich nicht mehr darum sorgen, ob er und Xigbar gesund von einer Mission zurückkehrten oder nicht. Dann würden sie ihr Ziel auf alle Fälle erreichen. Dann könnten sie endlich glücklich sein. „Du? Ein Herz? Du bist ein Nobody – ihr habt keine Herzen. Ihr könnt nicht fühlen. Ihr solltet nicht einmal existieren!“, sprach Roxas überheblich, bewies endgültig, dass er seine eigene kurzzeitige Nichtexistenz sowie seine ehemaligen Kollegen vergessen hatte, dass er nicht mehr der Roxas war, den Demyx gekannt hatte. Jetzt war er nur noch ein Hindernis, das es auszulöschen galt. „Sei still, Verräter!“, rief Demyx ihm zu, während er seine Sitar beschwor, während seine Augen vor Entschlossenheit blitzten wie das Meer kurz vor einem verheerenden Sturm. Er würde es beenden. Ein für allem Mal. Seine Bewegungen kamen einem Tanz gleich; perfekt choreographiert, perfekt einstudiert. Sein ganzes Wesen legte er in diesen Kampf, als er auswich, sich vor den Angriffen duckte, sich hinter einer schützenden Wand aus Wasser verbarg. Wasser, das seinen Rufen folgte, das er aus dem Boden zog oder aus dem Nichts erschuf. Demyx atmete schwer, sackte immer wieder leicht in sich zusammen. Er biss die Zähne aufeinander, sammelte seine Kräfte wieder, leckte sich über die trockenen Lippen. So funktionierte es nicht. Er konnte sich nicht nur verteidigen. Er musste zurückschlagen. Der Griff um seine Sitar festigte sich, als er nach vorne preschte, als er das Surren des Luftzugs spürte, den das Schlüsselschwert verursachte, während es um Haaresbreite an seinem linken Ohr vorbei zischte, als er mit der Sitar ausholte und sie dem Schlüsselträger – nicht mehr Roxas, jetzt endgültig nicht mehr Roxas – gegen den Schädel schlug. Der Junge schrie auf und fiel zur Seite, hielt sich den Kopf. Blut lief aus seinem Ohr und seinen Hals hinab, er krümmte sich auf dem Boden , hatte offensichtliche Orientierungsprobleme. Demyx lächelte schwach und schritt auf ihn zu, rief bereits das Wasser in den Zellen des Jungen zu sich, lauschte seinen gequälten Schreien mit unverhohlenem Genuss. „Auf Wiedersehen, Roxas“, raunte er leise und wollte gerade zum finalen Schlag ansetzen – – da durchzuckte Strom seinen Körper, brachte ihn zum Schrein, dazu, auf die Knie zu sacken. Jede seiner Zellen fühlte sich an wie flüssiges Feuer, quälte ihn bei jedem Atemzug. Er zitterte unkontrolliert, knirschte hörbar mit den Zähnen. Er hatte die Ente vergessen. Verdammt! Langsam und unter Schmerzen rappelte er sich auf. Seine Glieder erschienen ihm wie Blei. Und er war nicht in der Lage, schnell genug auszuweichen, als die stumpfe Klinge des Schlüsselschwertes mit voller Wucht auf seinen Rücken traf – und als Demyx hören, spüren, fühlen konnte, wie seine Rippen brachen. Oh Gott. Gott, es schmerzte. Der Schlag schickte ihn mit dem Gesicht voran zu Boden und er biss die Zähne zusammen. Tränen stiegen ihm in die Augen. Er krallte sich in den Steinboden, zwang sich, wieder auf die Beine zu kommen, schwankte. Er brauchte einen Moment, um Luft zu holen, wieder zu Atem zu kommen – und jeder Atemzug schmerzte wie die Hölle –, doch … dieser Moment sollte sein letzter sein. Heiliges Licht, pures Licht, stärkere Magie als er jemals gesehen hatte, fraß sich durch seinen Körper, löste die Dunkelheit in ihm auf. Löste ihn auf. Und er schrie, flehte um sein Leben, seine Existenz … flehte um sein Glück. Und noch während er sich in demselben Nichts auflöste, aus dem er selbst bestand, bat er Xigbar um Verzeihung. Er konnte ihr Versprechen nicht einhalten. Und er betete für eine zweite Chance, eine letzte Möglichkeit, Xigbar noch einmal zu sehen. Alles, was von ihm verblieb, war eine Träne. Eine Träne, die aus einem Wunsch entstanden war. ~*~ Gelbe, von der Dunkelheit getünchte und getrübte Augen blickten leer umher. Von der Weisheit, der Intelligenz und Ruhe war nichts mehr geblieben. Auf seine eigene Art und Weise tat es Xigbar Leid, eines der stolzen Wesen seines Herzens zu berauben. Doch es war nötig gewesen. Außerdem war dieser Drache nur der erste von vielen, die noch folgen würden, wenn diese Welt zersplitterte. Sein Weg führte ihn durch Peking; vorbei an den Plätzen, die er so gerne besucht, den Läden, die er so gerne durchstöbert hatte. Heute fand sich nichts mehr von der fröhlichen Grundstimmung der Menschen, die diese Welt so auszeichnete. Heute flohen die Menschen vor den Herzlosen, die durch die Straßen schlichen, sich aber auch offen und aggressiv zeigten. Ihm selbst taten sie natürlich nichts. Ihm fehlte, wonach sie instinktiv gierten. Er besaß das, wonach sie und er sich am meisten sehnten, nicht. Ungehindert schritt er die vielen Treppen zum Palast hinauf, während hoch über dem Gebäude der riesige Herzlose kreiste. Xigbar müsste nicht mehr hier sein. Er hatte getan, was zu tun war. Er hatte den Herzlosen den Weg in diese Welt geebnet. Doch … er wollte, dass diese, dass seine Welt mit einem großen Knall ausgelöscht wurde. Und was wäre wohl imposanter als ein herzloser Kaiser höchstselbst? Er stand vor dem großen Flügeltor und atmete noch einmal tief durch. Und gerade, als er den nächsten Schritt tun wollte, hörte er, wie Sora hinter ihm auftauchte. Xigbar zuckte überrascht zusammen, fluchte innerlich. „Riku?“ Die Stimme des Kindes – denn für Xigbar war er nicht mehr als ein Kind – klang flehend, unsicher. Der Schütze grinste unter der Kapuze, drehte sich herum – und erstarrte. Blut. Getrocknetes Blut klebte an Soras Kleidung. Xigbars Atem stockte und er hatte plötzlich ein unendlich schlechtes Gefühl. Schnell zwang er ein überhebliches Grinsen auf seine Lippen und nahm die Kapuze ab. „Keine Ahnung, wen du da meinst“, sagte er – und das war sogar die Wahrheit – und nutzte den Moment der Überraschung, der Erschütterung und der Enttäuschung auf Soras Gesicht, um sich an ihm vorbei zu drängen und in einem mit einer Handbewegung erschaffenen Portal zu verschwinden. Er musste unbedingt zurück zum Schloss. Irgendetwas – so fürchtete er – war da ganz furchtbar schief gelaufen. ~*~ Xigbar war die Ruhe in Person. Er regte sich nicht auf. Er blieb vollkommen ruhig. So unendlich ruhig, wie man eben sein konnte, wenn man Xemnas am Kragen gepackt hatte und ihn wutentbrannt anschrie. „Wie konntest du das zulassen?“ Seine Finger ließen von Xemnas' Kragen ab und legten sich um die Kehle des Superiors, drückten langsam zu. „Wie konntest du? Wir hatten eine Abmachung! Warum konntest du dich nicht daran halten?“ Und warum zum Teufel blieb er so unendlich gelassen, warum lächelte er nur, obwohl Xigbar ihm gerade die Atmung abschnürte? Nur wie durch einen Nebel nahm er wahr, wie Luxord ihn an den Schultern packte, ihn bat, sich zu beruhigen. „Ich bin ruhig!“, schrie Xigbar nur weiter. Und es brauchte die vereinte Kraft von Luxord und Xaldin, um ihn von Xemnas zu lösen, ihn festzuhalten, ihn daran zu hindern, einen Mord zu begehen. Saix, der genauso unbeteiligt tat wie der Superior, schüttelte nur sanft lächelnd den Kopf. Und als er den Mund öffnete, sprach er mit Xigbar wie mit einem Kind, das zu jung war, um zu verstehen, warum seine Eltern sein Haustier weggegeben hatten. „Du solltest dankbar sein. Jetzt gibt es nichts mehr, das dich von unserem Ziel ablenkt.“ Xigbar musste ihn nicht einmal berühren, musste ihn nicht einmal ansehen, seine Präsenz nicht einmal wirklich anerkennen, um ihn mit einem gebündelten Schlag seiner Magie, seiner Kräfte nach hinten zu schleudern. Saix prallte gegen die Wand und Xigbar hörte Knochen bersten, vernahm den Schmerzensschrei. Doch es befriedigte ihn nicht. Nichts, was Xigbar Saix antun könnte, würde dem Berserker jemals das Ausmaß an Schmerzen erleben lassen, das Xigbar in diesem Moment selbst verspürte. „Lasst uns alleine.“ Es waren die ersten Worte, die Xemnas seit dem Beginn von Xigbars Wutanfall sprach, und es waren Worte, die Verwirrung auslösten. Doch schließlich reagierten Luxord und Xaldin auf diesen Befehl, und als sie Xigbar losließen, sackte der kraftlos auf die Knie. „Du auch“, befahl Xemnas mit einem Seitenblick zu Saix, der sich gerade aufgerappelt hatte, seinen linken Arm hielt, der in einem unnatürlichen Winkel von seinem Körper abstand. Geschah ihm ganz recht, fand zumindest Xigbar. Als auch Saix den Rum verlassen hatte – wenn auch widerwillig –, betrachtete Xemnas Xigbar einen Augenblick lang, ehe er vor ihm in die Knie ging. „Sieh mich an“, sprach er leise, tonlos, legte eine Hand auf Xigbars vernarbte Wange, um ihn dazu zu bringen, diese Bitte – diese Order – auch zu befolgen. „Ich weiß, wie du dich jetzt fühlst.“ „Einen Scheißdreck weißt du!“ Xigbars Stimme war schwach und brüchig. Doch er weinte nicht. Er hatte das Weinen schon vor langer Zeit verlernt. „Ich weiß, dass du glaubst, ein Gefühl zu verspüren. Dass du glaubst, mich zu hassen.“ Xigbar wollte sagen, dass er das nicht nur glaubte. Er hasste Xemnas mit jeder Faser seines Körpers. „Doch nicht ich bin es, gegen den sich dieser Hass richten sollte“, raunte Xemnas ihm zu, verschwörerisch, sanft und zärtlich. „Es war er, Roxas, der Demyx getötet, ihn ermordet hat. Richte deinen Hass auf ihn, mein treuer Freund, denn er verdient es.“ Und Xigbar sah ihn lange an, starrte in die orangen Augen, ließ die Worte auf sich einprasseln. Und er glaubte. ~*~ Die nächsten Tage – oder Wochen, er hatte jegliches Zeitgefühl verloren – verbrachte er ausschließlich damit, am Zeugnis ihrer Nichtexistenz vor dem Grab des Jungen zu knien, das rote, schwache Leuchten der Grabplatte zu betrachten, und bittere Rache zu schwören. Keiner der anderen störte ihn mehr. Anfangs hatte Luxord versucht, ihn abzulenken, ihn zu einem Spielchen oder einer Flasche Alkohol zu überreden. Doch er hatte schnell begriffen, dass es für Xigbar nichts mehr gab. Nicht, solange Demyx' Mörder noch lebte. Auch Xaldin hatte ihm seine Ruhe gelassen. Er war vor einiger Zeit selbst zu der Mission aufgebrochen, die er bereits hätte erledigen sollen, die sich durch die vergeblichen Versuche, Xigbar aus seiner Tristesse heraus zu locken, jedoch verzögert hatte. Selbst Saix hatte einmal nach ihm gesehen, als seine Wut auf den Schütze verraucht und sein gebrochener Arm durch ein, zwei Potions verheilt war. Xigbar … wusste nicht, ob sein Verhalten ihnen gegenüber richtig gewesen war. Er hatte sie mit Nichtbeachtung gestraft, sie ignoriert, keinen ihrer Ratschläge hören wollen. In dem kleinen Teil seines Gehirns, der nicht mit Wut und Hass und der Gier nach Rache ausgefüllt war, tat es ihm ein wenig Leid. Und er nahm sich vor, sich bei ihnen allen zu entschuldigen, sobald Xaldin zurückkehrte. Ein Knacken zerriss seine Überlegungen. Das Ächzen von Metall, das Splittern von Glas. Unter Xigbars entsetztem Blick zerbarst Xaldins letztes Lebenszeichen und das vitale Blau der Grabplatte färbte sich in ein unglückseliges Rot. Ein Scherbenhaufen war alles, was von dem stolzen Lanzenträger noch geblieben war. Und als Xigbar begriff, was das bedeutete – für ihn, für Xaldin, für ihre gemeinsamen Jahre, ihre Freundschaft –, da vernahm man im gesamten Schloss den Schrei seiner gequälten Seele. ~*~ „Er ist hier.“ „Ich weiß.“ „Was wirst du tun?“ „Was für eine Frage ist das denn bitte? Ich mach den kleinen Scheißer platt, das werde ich tun!“ Luxords Mundwinkel umspielte ein grimmiges Lächeln, als er die Härte im Blick seines Kollegen, seines Freundes sah. Sie wussten beide, dass Luxord nicht viel von Xigbars ungestümer Art hielt, obgleich er sie nachvollziehen konnte. Er hielt auch nicht viel davon, sich jetzt aufzuteilen und Sora die Gelegenheit zu geben, sie einzeln zu erwischen, sich zwischen den Kämpfen auszuruhen und seine Kräfte zu sammeln. Das hatte er Xigbar auch gesagt. Aber auf ihn hörte man nicht. Und als der Schütze mit hoch erhobenem Haupt an ihm vorbeiging, konnte er nichts weiter tun, als ihm gutes Gelingen zu wünschen und zu hoffen, dass die Dame des Glücks auf seiner Seite stand. Früher war es die Halle der Melodien gewesen, in der man Demyx' Sitarspiel am deutlichsten hatte vernehmen können. Die Akustik des Raumes war so aufgebaut, dass alle Klänge des gesamten Schlosses hier gebündelt wurden. Seit Demyx … nicht mehr bei ihnen war, gab es keine Klänge mehr, die es wert waren, dass man ihnen lauschte. Der Ort war leer. Eine leere Halle voller Erinnerungen an Melodien, die nur noch als Schatten in Xigbars Gedächtnis existierten. Er hielt es nur für passend, Soras Leben hier ein Ende zu setzen. Er atmete tief durch, ballte die Fäusten und schritt voran. Saix hatte dem Kind den Rest ihrer Pläne verraten und die Herzlosen auf ihn gehetzt. Wohl in der Hoffnung, ihn zu schwächen, damit sie später leichteres Spiel mit ihm hatten. Aber so funktionierte es nicht. Das war nicht richtig – Xigbar wollte, dass Sora seine ganze Kraft im Kampf gegen ihn freisetzte, denn nur so wäre seine Rache auch befriedigend genug. „Was denkst du, was du hier tust?“, fragte Saix, der sich von der Szenerie der vielen Herzlosen abgewendet hatte und sich gerade auf den Weg zurück zu ihrem gemeinsamen Treffpunkt machen wollte. „Du weißt, dass du hier nichts verloren hast.“ Xigbar schwieg kurze Zeit, richtete den Blick zu Boden und schloss das verbleibende Auge einige Sekunden lang. Dann legte er den Kopf schief und betrachtete Saix zum ersten Mal in ihrer gemeinsamen Zeit ohne Spott und Arroganz, ohne Wut und Hass. Diese Gefühle hatte er komplett auf jemand anderen gerichtet. „Geh mir aus dem Weg“, sagte er leise. „Xigbar“, begann Saix ungehalten und schürzte unwirsch die Lippen, erwiderte den Blick des Schützen gereizt. „Du wirst dich gefälligst an unsere Absprachen halten!“ „Geh mir aus dem Weg“, wiederholte Xigbar nur ruhig. „Sonst töte ich dich zuerst.“ Das brachte Saix zum Schweigen. Seine Gesichtszüge verloren ein wenig an Schärfe und er bedachte Xigbar mit einem langen Blick. „Es ist dir wirklich wichtig, oder?“, fragte er. Überflüssigerweise. Die Antwort war so klar erkennbar, dass selbst Saix sie problemlos in Xigbars Gesicht lesen konnte. Langsam ging er auf den anderen zu und so sehr Xigbar sich schon versteifte, damit rechnete, wirklich mit Saix kämpfen zu müssen, so sehr überraschte es ihn, als Saix ihm nur eine Hand auf die Schulter legte und ihm zunickte. „Viel Glück“, war alles, was er sagte. Xigbar lächelte ihn an, nickte ebenfalls, bedankte sich. Und er wusste, dass es der erste und der wahrscheinlich letzte Augenblick war, in dem sie beide sich wirklich gegenseitig zu schätzen lernten. Und während Saix seinen Weg ging, beschritt Xigbar den seinen, nutzte seine Macht, um die Herzlosen in der Halle zu vernichten. Denn Sora gehörte nur ihm. „Na“, rief er in die Tiefe hinab, „biste auch ein braver Junge gewesen?“ Es war eine rhetorische Frage. Natürlich lautete die Antwort Nein. Natürlich war das kleine Stück Scheiße nicht brav gewesen, hatte sie nicht ihrer Wege ziehen lassen, hatte sich ja unbedingt in ihre Angelegenheiten einmischen müssen. Er lachte humorlos, beantwortete seine eigene Frage mit einem bitteren „Nein. Das warst du wirklich ganz und gar nicht.“ und begab sich in Sichtweite, blickte hasserfüllt zu dem Schlüsseljungen hinab. Und für einen Moment, bevor er ihm sagte, dass er ihn in Stücke reißen, ihn endgültig erledigen würde, kam es ihm so vor, als hörte er die leisen Klänge einer Sitar. ~*~ Drei gegen einen war natürlich nichts, das man auch nur ansatzweise als gerecht bezeichnen konnte. Doch das machte Xigbar nichts. Solange er in sicherer Distanz blieb, würde ihm nichts passieren. Solange er den Schlägen auswich, nie lange am selben Standpunkt verweilte, solange er aus dem Hinterhalt angriff – was natürlich auch nicht sonderlich gerecht war, aber das war ein unnötiges Detail, um das Xigbar sich nicht weiter kümmerte –, so lange würde alles gut gehen. Und es sah auch lange Zeit so aus, als würde er endlich die Rache bekommen, nach der sich sein Innerstes so sehr verzehrte. Er genoss es, wie Sora schwer atmete, wie die Panik in seinen Augen glänzte, wie er sich umsah und abzuschätzen versuchte, von wo aus genau der Schütze seinen nächsten Angriff startete. Er lachte über die Wut des Jungen – ehrlich, was wusste er denn schon von Wut? –, als Xigbar ihn verhöhnte, ihn reizte, ihn dazu anstachelte, mehr zu geben, damit der Kampf nicht ganz so einfach wäre. Leider reichte es ihm irgendwann nicht, aus der Ferne zu kämpfen. Die Schüsse, die er abfeuerte, trafen zwar meist ins Schwarze – und oh, er genoss den Anblick von frischem Blut. Vor allem, wenn es Sora gehörte –, doch jegliche Wunden die er zufügte, wurden sofort geheilt und immer erschien es, als hätten Xigbars Angriffe nie stattgefunden. Er musste näher an ihn heran. Er tauchte vor dem Jungen auf, parierte den nächsten Hieb des Schlüsselschwertes mit dem Lauf seiner eigenen Waffe und trat nach Sora, traf seine Magengrube. Sora ließ das Schwert sinken, Schmerz zierte seine Miene, und Xigbar grinste überheblich, als er dem Jungen mir der Faust ins Gesicht schlug, ihn dazu brachte, zurück zu taumeln. Und schließlich ging er zu Boden, als der nächste Schlag ihn so hart traf, dass selbst Xigbars eigene Fingerknöchel schmerzten. Er würde ihn töten. Langsam. Qualvoll. Er würde ihm die Haut abziehen, ihm jeden Knochen einzelnen brechen, würde ihm das Herz herausreißen und es zwischen seinen Fingern zerquetschen. Diese und andere Verheißungen raunte er Sora zu, während er ihn betrachtete, während er immer wieder in seine Magengrube trat, während er eine seiner Waffen auf ihn richtete. Genau zwischen die Augen. Es würde ihn nicht umbringen. Noch nicht. Dafür würde Xigbar schon sorgen. Aber es würde der wundervolle Beginn einer langen Reihe von Qualen werden. Das versprach er ihnen beiden. Und als er schließlich abdrückte, liebte er den Geruch von nackter Angst, der den Schlüsseljungen umgab. Dummerweise hielt das allerdings nicht lange an, denn statt dem erhofften Nachhall eines Schusses hörte man nur ein leises Klicken. Xigbar verzog das Gesicht. Er hatte nicht nachgeladen. Verdammt. Nun gut, dann eben alles noch einmal von vorne … Zumindest nahm er sich das vor, als er hinter sich ein Geräusch vernahm und schnell zur Seite wich, ehe einer der vielen Zauber des Erpels ihn treffen konnte. Sein Blick verfinsterte sich und er bündelt seine Kraft, lud nach, um allem ein Ende zu bereiten – und musste erkennen, dass er einmal, ein einziges Mal in seinem Leben nicht schnell genug gewesen war, dass der Hass und die Wut seine Konzentration gestört hatten. Er hörte einen Schrei. Und es dauerte einen Augenblick, bis er begriff, dass dieser Laut aus seiner eigenen Kehle gedrungen war. Sein Blick richtete sich nach unten zu seiner Brust. Richtete sich auf die gesamte Klinge des Schlüsselschwertes, die aus seinem Körper ragte. Ein Monument seiner Unachtsamkeit. Leises, ungläubiges Lachen kam ihm über die Lippen und er spuckte Blut, als ihm klar wurde, dass er auf genau diesen Trick schon einmal hereingefallen war. Damals, als er dem anderen Schlüsselträger und seinem Freund gegenübergestanden war. Was für ein Narr er doch gewesen war … zu glauben, dass er Gerechtigkeit einfordern konnte, während er selbst es war, der all die Jahre Unrecht begangen hatte … Die Klinge wurde aus seinem Körper gezogen, und obwohl Xigbar keinen Schmerz verspürte, schrie er noch einmal. Diesmal jedoch … aus reiner Verärgerung über sich selbst. Wieder klickte es, als seine Waffe zu Boden fiel, sich auflöste, in schwarzem Nebel verschwand. Xigbar folge ihr, sackte auf die Knie, hob schwach die rechte Hand und führte sie an die Stelle, an der das Loch in seiner Brust klaffte. Die Stelle, an der sich sein Herz befinden sollte. Er lachte leise, bitter und zynisch, als er daran dachte, dass Demyx sich wohl doch geirrt hatte. Niemande besaßen keine Herzen. Der Gedanke an Demyx schnürte ihm die Kehle zu. Und noch während er sich in demselben Nichts auflöste, aus dem er selbst bestand, bat er Demyx um Verzeihung. Er konnte ihr Versprechen nicht einhalten. Keines ihrer Versprechen. Doch er weinte auch jetzt nicht. Das Weinen hatte er bereits vor langer Zeit verlernt. Und alles, was von ihm verblieb, war der Wusch eines alten, törichten Mannes, der sich nach einer zweiten Chance sehnte, von der er wusste, dass er sie nicht verdiente. ____ Ende Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)