Abyssus Vanitatis von Ned ================================================================================ Puppenherz ---------- Kalt und grau war der Himmel, leer und wie von künstlichem Licht erhellt. Die Sonne stand schon lange im Zenit, doch Kain war tot, nichts konnte sich mehr von ihren einst so wärmenden Strahlen ernähren. Es war farblos geworden in Vanitas, hier noch weitaus schlimmer als sonst irgendwie auf diesem Kontinenten oder gar überhaupt auf der Welt jenseits von Tellus – Ah... Lynn verzog das Gesicht und zog ihre Hand zurück, deren Finger soeben auf Kains leblosen Leib gedeutet hatten. Das nützte doch alles nichts, es wurde Zeit, wieder zur Arbeit zu gehen. Nachdem sie so lange fort war... Mercenaries wurden von dieser dreckigen Militärherrschaft als noch minderwertiger angesehen als die niedrigsten Fußsoldaten und nur weil... Gedanken zu verschwenden nützte nun auch nichts, strich sie sich eine Strähne des tiefroten Haars aus dem Gesicht. Es war ziemlich gewachsen seit damals, wenn auch ziemlich ungleichmäßig. Das ein oder andere Bisschen ging in einem Kampf nun einmal drauf; ein Geräusch ließ sie aufhorchen. Diese abgewrackten Gasthäuser am Rande der Stadt waren billig, aber gefährlich und niemanden kannte sie mehr hier. Acht Jahre waren eine sehr lange Zeit; der fremde, undefinierbare Klang wiederholte sich. Verdammt, ihre Ohren waren noch nie gut gewesen, da nützte nur die Offensive: „Wer da?“ Eine Hand legte sich an den Schwertknauf ohne Klinge, der an ihrem Gürtel befestigt war, man musste immer auf Nummer sicher gehen. Eine Antwort, wo blieb die Antwort? Alles nur Einbildung. Im Laufe der Zeit, da – „Verzeiht die Störung, Mercenary Crimson.“ Ah, das war ihr Deckname. Es war gefährlich, den richtigen Namen zu verwenden, seitdem so viele dieser seltsamen Typen umherstreiften, Magie war ihr ein lästiges Übel, etwas für Reiche und Intellektuelle und Feiglinge! Kannte so ein Hexer jemandes Namen, erhielt er absolute Kontrolle – das hatte Lynn jedenfalls einmal aufgeschnappt. Das war auf Scytha, bevor sie sich entschieden hatte, zurück auf den Hauptkontinenten zu gehen. „Was wollt Ihr?“ Hatte sie zu lange gezögert, bevor sie antwortete? Und wenn schon, bereits vor ihrem Verschwinden hatte sie den Ruf, merkwürdig zu sein. Merkwürdig, mit Konzentrationsschwäche und allem drum und dran; sie musste ein dümmliches Kichern unterdrücken. „In Eurer Eigenschaft als Söldnerin wollte ich Euch um die Annahme einer kleinen... Tätigkeit bitten.“ Erst jetzt drehte sie sich direkt zu dem Störenfried, dem Fremden, dem zukünftigen oder schon gegenwärtigen Auftraggeber und weiße Augen trafen Himmelblaue. Langweilig. „Worum geht es?“, zwang sie sich zu fragen, bevor sie auch nur den Hauch einer Ablehnung versprühen konnte. Dies war ihr erster Tag in Vanitas. Der erste nach acht Jahren auf der Insel im Süden; bei diesem Aufenthalt war sie doch wohl nicht schwächer geworden? „Ihr wisst sicher von der Vorstadt Abyssus?“ Der Fremde setzte etwas voraus, was bei ihr nicht vorauszusetzen war, doch diesen Umstand ignorierte sie. Sie kannte den Mann mit seinen kunststoffartigen, blauen Augen und dem starren, puppenhaften Gesicht nicht; sein zerzaustes Haar war wie lebendig. „Jedenfalls wünsche ich, dass Ihr mir ein Relikt aus Abyssus beschafft. Ich bezahle die Hälfte im Voraus, was meint Ihr dazu, Mercenary Crimson?“ In der bleichen Reflektion ihrer Selbst konnte sie nicht erkennen, warum sie angenommen hatte. Abyssus gab es noch gar nicht, als sie Vanitas verlassen hatte und sie wusste nicht, wo das sein sollte. Auch hatte man ihr nur vage Informationen bezüglich des Zielobjektes gegeben. Aber das Geld konnte sie wirklich brauchen, von den sechstausend Dan, die sie für die Annahme bekommen hatte, würde sie imstande sein, Fahrkarten und dergleichen auf ihrem Weg in jene Vorstadt zu bezahlen. Müde starrte sie ihr Spiegelbild im Fensterglas an, dahinter klaffte die schwarze, sternenlose Nacht wie eine Wunde im schäbigen Licht ihres Zimmers. Dieser Tag war an ihr vorbeigezogen, als hätte sie ihn gar nicht bewusst erlebt, viel zu viele Gedanken hielten sie vom Leben fern. Weiße Augen starrten auf das Glas und schwarze Augen blickten zurück. „Es ist immer das selbe mit dir“, sprach das Spiegelbild, ehe es zu einer leblosen Kopie ihres Äußeren wurde. Oh nein, es begann schon wieder, dabei hatte sie doch gedacht, es sei vorbei! Vorsichtig beäugte sie sich. Rot war, wo Rot sein sollte und Weiß war nicht Schwarz, alles war so, wie es wirklich war. Im Laufe der Zeit, da begann man Dinge zu sehen und zu hören, die gar nicht da waren, nicht? Der Besitzer der Kneipe war ein richtiger Wandschrank. Nein, dazu fehlten die Türen, doch Lynn fand den Vergleich durchaus passend. Der Mann war groß, mit breiten Schultern, er trug eine fleckige Schürze und war schlecht rasiert. Aber er stank nicht, gut so, denn sie musste mit ihm reden. Man hatte ihn empfohlen, Neunfinger-Speedy, ihr namenloser, puppenartiger Auftraggeber hatte behauptet, dieser schrankhafte Kettenraucher mit dem hellblauen Putzlappen wisse über alles Bescheid, was in Vanitas vor sich ging. Ob ihr Unwissen durchschaut wurde, wusste sie nicht, wahrscheinlich hatte der Puppenmann mit dem schwarzen und lebendigen Fransenhaar nur nicht genug Zeit gehabt, ihr mehr zu erklären. Das wäre nicht das erste Mal, vor etwas mehr als acht Jahren, als sie noch sehr jung war, schickte man sie schon einmal zu einem Informanten; darum würde sie gleich wissen, wo Abyssus lag. Sie selbst stand schon ein Weilchen am Tresen und musste sich zusammennehmen, damit sie überhaupt einen Ton heraus bekam. „Speedy, nehme ich an?“ Ein kurzer Blick, ja, ihm fehlte der kleine Finger an der linken Hand; es war verdammt schwer, mit fremden Menschen zu reden. Der Barkeeper zündete sich gerade die nächste Zigarette an und blies ihr bläulichgrauen Qualm entgegen, der ihr im Hals kratzte. Die Formenspiele des Dunstes waren interessant; Speedy beäugte sie misstrauisch. „Mit wem hab’ ich die Ehre?“, fragte er in einem Tonfall, den man wohl trocken oder spöttisch nennen konnte, Lynn aber war sich da nicht ganz so sicher. Die Zeit auf Scytha war anders gewesen, sprechen musste sie dort nie. „Mercenary Crimson.“ Rang und Name, die Miene des Schrankes hellte sich ein wenig auf. „Ich hörte, Ihr wärt über alles informiert.“ Ihre Stimme war fest, glaubte sie, fest und sicher, eine perfekte Maskerade und er hob das Brett zur Seite. Es war also keine richtige Theke, ein dünnes Holzbrett auf zwei aufrecht stehenden Weinfässern und er klappte es nicht gänzlich hoch, sondern nur einen kleinen Abschnitt, auf dem weder Becher noch Gläser waren. „Kommt mit nach hinten, kleine Söldnerin. Hier sind mir zu viele Ohren.“ Lynn nickte nach einem kurzen Blick durch den Schankraum. Ohren sah sie nur hier und da, aber Menschen gab es hier viel zu viele, überraschenderweise auch eine Menge reich aussehende davon in dieser Baracke. Sie folgte, es ging Stufen hinab, Erleuchtet wurde der dunkle Gang nur von vereinzelten, dilettantisch montierten nackten Glühbirnen, die nur stark genug waren, um die schimmernden Spinnenfäden zählen zu können – und nicht zu stolpern. Das war der Vorratsraum, nicht? So viele Fässer, gefüllte Regale, Gläser, Flaschen und zwei Türen oder aber zwei Wände, die aussahen wie Türen. „So, Mercenary Crimson, was möchtet Ihr wissen?“ Speedy warf die Kippe auf den Betonfußboden und trat sie aus. Langsam hatten sich ihre Augen an diese Lichtverhältnisse gewöhnen können, sodass sie einfach von Beton ausging. Nur ein paar Worte, wieder musste sie sich zusammenreißen; es roch nach billigem Alkohol und geräuchertem Schinken, eine seltsame Mixtur. „Ich brauche Informationen über ein ominöses Relikt, das ‚Puppenherz’ genannt wird und eine Wegbeschreibung nach Abyssus.“ Was sie sagte, stellte so oft einen Kontrast zu ihren unsteten, andauernd springenden Gedanken dar, aber sie durfte nie zu lange reden, das ging nie gut, Konzentration war nie ihre Stärke gewesen. In den Flaschen sah sie eine Reflektion ihrer Selbst mit schwarzen Augen, die ihr zuzwinkerten, da hörte sie auch schon die angeschlagene Stimme des Wirts. „Glaubt mir, Ihr wollt nicht nach Abyssus, kleine Söldnerin.“ Warum nicht? Sie musste dorthin, um ihrem Beruf nachgehen zu können, ein paar Dan zu verdienen, damit ihr Leben in Vanitas besser aussehen konnte als damals, als sie nach Scytha musste. „Niemand will dorthin.“ Wenn Niemand dorthin wollte, sollte Niemand eben dorthin. Wer sonst in dieser Vorstadt war, brauchte sie nicht zu interessieren; ein roter Fleck war auf dem Boden, vielleicht von einer zerbrochenen Weinflasche? „Und was ist mit dem ‚Puppenherz’?“ Darüber hatte er noch gar nichts gesagt, er war wohl viel zu sehr damit beschäftigt, ihr Abyssus madig zu machen. „Davon habe ich noch nie gehört, tut mir leid. Aber ich rate Euch, den Auftrag zum Teufel zu jagen, Abyssus ist kein guter Ort.“ „Keine Stadt ist ein guter Ort“, hörte sie sich noch selbst sagen. Es roch nach billigem Alkohol, geräuchertem Schinken und als alles langsam schwarz wurde, vergrößerte sich der rote Fleck und glänzte im künstlichen Licht schwacher Glühbirnen. Die Dämmerung war die schönste Stunde des Tages, wenn Kains trübes Licht endlich Farbe hatte und die ganze Welt in goldenem Schimmer versank. In dieser einen Stunde, jeden Morgen, jeden Abend, war selbst die tote Sonne in der Lage, alles lebendig funkeln zu lassen, als hätte sie noch die selbe Kraft wie vor vielen Jahren, Jahrhunderten, konnte man den Erzählungen Glauben schenken. Sogar der Staub, der in der Luft hing, glitzerte wie feinstes Geschmeide, als sie die lange Straße nach Außerhalb beschritt. Nach vielen Befragungen diverser Passanten, von denen keiner um das „Puppenherz“ wusste, hatte sie endlich in Erfahrung bringen können, wie sie nach Abyssus kam, jedoch zusätzlich mit der Information, dass kein Bus, keines der öffentlichen Verkehrsmittel und erstrecht kein Mensch dorthin fahren würde. Und wieder wollte man sie von einem Besuch dort abhalten – aber sie musste ihren Auftrag ausführen. Anders wäre sie es nicht wert, eine Mercenary zu sein und könnte gleich das nächste Schiff zurück nach Scytha nehmen. Sie hustete, Staub und Sand waren hier nicht selten, Staub und Einöde, obwohl es hier nirgendwo Wüste geben durfte, und jeder neue Windstoß trieb ihr die feinen Körnchen in Augen und Lunge. Arbeit war hart; alles war golden und bald in Dunkelheit gehüllt, denn wenn es Nacht wurde in Vanitas, verwandelte sich der Himmel in reinstes Schwarz, Kain schien nur am Tag. Bis dahin, innerhalb dieser einen Stunde, musste sie möglichst viel Weg hinter sich gebracht haben, im Dunkeln ließen Relikte sich nicht gut finden, vor allem nicht solche, die von niemandem gekannt wurden. Die Dämmerung folgte der Vorangegangenen nach Stunden der Finsternis und von Weitem war die Silhouette der gemiedenen Vorstadt zu erkennen, verborgen vom morgendlichen Dunst. Es war windstill und die Luft roch sauber und frisch, Kain war uninteressant, wo sie doch sonst begeistert ihr Augenmerk auf das Gestirn richtete, das trotz seiner Leblosigkeit noch imstande war, Leben zu erhalten; ein Surren begleitete das monotone Stapfen ihrer Stiefel, wo auch immer es herkommen mochte. Es war einfach da und hielt ihre Gedanken gefangen, keine Abschweifungen nach Scytha mehr, zu der Schweigsamkeit und den Soldaten in ihren blauen Wächteruniformen und den silbernen Ohrsteckern. Es war schwierig, sich auf eine Sache zu konzentrieren und der hohe Zopf, zu dem sie ihr Haar gebunden trug, schien bei jedem Schritt in die andere Richtung zu wippen, als in die, entgegen der er zuvor noch schwang. Details. Alte Reifenspuren glänzten auf der Straße, ein Ortsschild fesselte ihren Blick, bis sie nahe genug heran war, dass sie direkt davor stehen bleiben konnte. „A.“ Lynn war noch nie sehr gut im Lesen gewesen – glaubte sie zumindest – ihr Talent lag bei den Waffen und nicht bei dem Bildungskram, denn dann hätte sie ja gleich Wissenschaftler oder Magier werden können. „Ab..?“ Aber Menschen wie ihr blieb nur der Ausweg Richtung Militär oder Söldnertum. „Abu, nein Abv?“ Aber die Armee hatte Eignungstests, nach denen sie es nicht einmal zum Sergeant, dem untersten Grad über dem Fußsoldaten auf Tellus, geschafft hätte. Nein, dass war ein „y“. „Aby.“ Das nächste, war das ein „f“? Also wurde sie zum Mercenary und ihren Decknamen bekam sie auch schnell von ihrem ersten Auftraggeber. „Abyffyf?“ Ihr Verstand sagte ihr, das war inkorrekt, sie musste sich mehr anstrengen! Nach ihrem ersten Auftrag war ihr weißer Umhang, all ihre weiße Kleidung, die ungefärbt am Billigsten war, komplett rot, so wie ihr Haar. Das musste ein „s“ sein und das andere sah dem „y“ nur ähnlich! Mercenary Crimson war sie von da an, da war sie elf Jahre alt gewesen, zwei, drei Jahre bevor sie nach Scytha kam – und plötzlich wurden die Buchstaben auf dem verstaubten Schild klarer: „Abyssus. Vorsicht: Lebensgefahr.“ Dies war die reinste Geisterstadt. Alles voller Sand, manche Häuser waren nicht mehr als Ruinen, manchen fehlten die Dächer oder sie hatten einfach nur demolierte Briefkästen. Seit sie Abyssus betreten hatte, fühlte sie, dass sie ihrem Ziel nahe war, auch wenn sie sich nicht mehr ganz sicher sein konnte, was genau das war. Tausende von Blicken schienen wie Nadeln auf sie einzustechen, doch wenn sie sich umdrehte und einen Blick über die verlassene Stadt warf, konnte sie niemanden erkennen. Verfolgte man sie? Langsam legte sich ihre Hand um den Schwertgriff ohne Klinge, der in ihrem Gürtel steckte, so ein nutzloses Ding, mochte man denken; Spiegelscherben glitzerten im grauen Licht und sie fühlte sich gezwungen, sich darüber zu beugen. Scherben brächten Glück, hatten die blau uniformierten Männer immer gesagt, wenn sie die Schweigsame verspotteten und ihren Teller mit der winzigen Ration zertrümmerten, anstatt ihn zu übergeben. Mercenaries wurden von dieser dreckigen Militärherrschaft als noch minderwertiger angesehen als die niedrigsten Fußsoldaten und das nur, weil sie keine Kontrolle über die freien Söldner hatten. Crimson. Ihre weiße Kleidung war einst karmesinrot und Jahre später musste sie nach Scytha, der künstlichen Insel im Süden. Karmesin-, nein, gar scharlachrot! Vom Blut des Generals und dann jagte man sie, um sie ins Militärgefängnis zu sperren, sie zu verspotten! „Es ist immer das selbe mit dir“, sprach ihr Spiegelbild mit den schwarzen Augen, es war zerbrochen wie der einstige Spiegel. Ja, immer das Selbe, doch Lynn schüttelte den Kopf. Sie musste weiter gehen. Weiter vorn, da machte die Straße einen Knick nach rechts und dort hinten, nur da, sahen die Wolken ein wenig anders aus als die anderen, dunkler, bedrohlicher, leer und weiß, als wären sie nicht da. Sie wusste, dass sie dorthin musste und störte sich nicht mehr an den vermeintlichen Blicken, die sie in ihrem Rücken vermutete. Die roten und weißen Augen, die aus dem Schatten der Hauseingänge aufglimmten, waren nur Einbildung, die langen, spitzen Zähne an langem, schwarzen Hals nur ein Hirngespinst, Vanitas’ Vorstadt war verlassen und frei von allem Lebendigen jenseits von ihr. Dennoch zog sie den Schwertgriff ruckartig aus dem Gürtel, als sie um die Ecke bog, ein lautes Schnalzen zerriss die Luft, als die drei Peitschenschnüre durch den fliegenden Staub sausten. Schwarzes Leder, Metall war eingearbeitet, eine Spezialanfertigung für irgendjemanden, an den sie sich nicht mehr erinnern konnte; sollten sie nur kommen! Das Surren, das sie seit irgendwann vor dem Ortsschild verfolgt hatte, an das sie sich unlängst gewöhnt hatte, wurde intensiver, fast schon ein Kreischen und es kam von vorn. Die Häuser hier wurden immer schäbiger, je weiter sie voraus blickte, wo Anfangs nur schiefe Briefkästen hingen, fehlten Türen, Dächer, fast das gesamte Gebäude; Blutlachen glänzten in Hauseingängen und immer noch sah sie Augen und Zähne schattenhafter Kreaturen, wann auch immer ihre schwarzen Augen dorthin wanderten. Sie wusste, dass sie schwarz waren seit dem Blick in jene Scherben, und es war auch nicht verwunderlich angesichts diesen Nichts’, das am Ende der Straße auf sie wartete. Das Surren steigerte sich mit jedem Schritt, hier irgendwo war ihr Ziel, ihr „Puppenherz“, mit dem sie ihren ersten Auftrag seit ihrer Rückkehr abschließen konnte – das glaubte sie und abrupt endete jedes Geräusch. Nur ein, zwei Meter trennten sie von der Schwärze, doch sie war bereit, was auch immer da kommen würde, dem gegenüberzutreten. Sollte sie reingehen? Sie roch Blut und Staub und noch mehr Blut und als ihre dreischwänzige Peitsche erneut die Stille mit Klang füllte, wirkte die Schwärze greifbar. „Abyssus Vanitatis. Der Abgrund der Nichtigkeit, des Scheins, der Eitelkeit, der Lüge.“ Das war ihre Stimme, ohne dass sie gesprochen hätte oder ein Spiegel da gewesen wäre. Sie spürte die körperlosen Schatten mit ihren etlichen Augen und spitzen Zähnen, ihrem Blutdurst und zahllosen Armen, wie sie von ihnen angestarrt wurde, wie sie näher kamen. Breitbeinig und bereit zum Kampf, gegen was auch immer, war sie und herausfordernd, trotzig war ihr Blick ins Nichts, als der Wind aufkam. „Gib zurück, was mir gehört.“ Das war eine andere Stimme, aber Lynn kannte sie, irgendwann hatte sie sie einmal gehört. Sie holte tief Luft, es war so schwer! „Ich muss zuerst meinen Auftrag erledigen und das ‚Puppenherz’ finden.“ Ja, zumindest einen Auftrag musste sie eigenständig bewältigen können, sonst hätte das alles keinen Sinn. Irgendwo hinter ihr splitterte Glas. Scherben brächten Glück, hatten die blau uniformierten Männer immer gesagt, wenn sie die Stumme verspotteten. Ohne Stimme war man nichts und dann hatte sie endlich eine, war fähig zu fliehen und wollte von vorn beginnen. Alles lief so gut, bis der Puppenmann kam. Seltsam, ihre Gedanken fühlten sich für ihre Verhältnisse ruhig, geordnet an. Und die Schwärze war anziehend, doch sie musste auf der Hut sein; wieder klirrte es, als platzten die übrig gebliebenen Fenster der Geisterstadt ob des Windes. Ein leichter, schwerer Wind, er kam aus dem Nichts. „Das hast du bereits.“ Wieder die Stimme, jemand trat aus diesem Riss in der Wirklichkeit, jemand mit blauen Plastikaugen und einem puppenhaften Porzellangesicht, das zerzauste schwarze Haar wirkte lebendig und wand sich ihr entgegen. Ihr Auftraggeber war es, die Bedingung für die schwarze Stimme war das Erledigen eines Auftrags. „Und nun“, fuhr er fort, als das Haar sich sanft um ihren Hals legte, die Augen und Zähne kamen immer näher, ihre Hand am Schwertgriff verkrampfte sich. „Hole ich mir zurück, was mein ist.“ Immer, wenn sie schwarz waren, brannten ihre Augen und jedes Mal starb jemand. Das war auch eine Bedingung für die schwarze Stimme, zu wem auch immer sie sprach, dessen Blut sollte fließen. Die Soldaten, die Matrosen, Speedy, die Passanten in den Gassen der Stadt. Eiskalt waren die Finger des Puppenmannes, die sich an ihr Kinn legten, ihre Augen brannten und tränten, etwas drückte von Innen gegen ihren Hals und wollte raus. War das Angst, das sich langsam, von Kopf und Herz und Bauch ausstrahlend in ihrem Körper verbreitete? Ihr Puls klang so schnell, oder war das nur die Aufregung? Der Auftrag sei beendet, dabei hatte sie das „Puppenherz“ gar nicht gefunden. Ah... Es war ihr Herz, das gegen den Hals drückte und das andere Gefühl war Rot; der Auftraggeber lächelte und strich ihr durchs Haar. Von den Augen und Schatten geschoben, gefesselt von lebendigen Strähnen, blutend und stumm zog der Puppenmann sie in die Schwärze, alles wurde dunkel, taub und die war glücklich. Die Einsamkeit hatte ein Ende. Im Laufe der Zeit, da beginnt man Dinge zu sehen und zu hören, die gar nicht da sind. Einfach nur, weil man es will, bis man nicht mehr differenzieren kann, was Realität und was Wahn ist. Abyssus Vanitatis, das Refugium des Nichts mit seinem puppenhaften Herrscher und der scharlachroten Wächterin mit den schwarzen und weißen Augen. Abyssus Vanitatis. Das Nichts ist die Realität. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)