Das letzte Ritual von ayami ================================================================================ Kapitel 1: Ein spannender Fund ------------------------------ 1 „Mama! Komm schon, Mama! Beeil dich doch mal!“ „Ich komm ja schon, Ed. Meine Güte, jetzt hör bitte mal auf, zu schreien.“ Die junge Frau, mit den auffallend rot gefärbten Haaren, schlängelte sich geschickt durch die Menge. Sie wich einer älteren Dame aus, die sich gerade ihre Stola um den Hals warf. Sie hieß natürlich nicht wirklich ‚Mama’. Ihr Name war Fee. Ed, der bereits um die nächste Ecke verschwunden war, hatte kohlrabenschwarze Haare, die ihm in unordentlichen Locken vom Kopf abstanden. Seine Mutter bat ihn immer wieder, sie sich doch mal ordentlich schneiden zu lassen. Aber Ed widersetzte sich geduldig. Er war sieben Jahre alt, ging seit einem Jahr zur Schule und war ein äußerst lebhaftes Kind. Er hatte seinen eigenen Kopf. Als Fee ebenfalls um die Ecke bog, sah sie ihren Sohn vor sich. Er strahlte erwartungsvoll zu ihr hinauf. Fee sah den Korridor hinauf und wieder zu ihrem Sohn zurück. Hier war keine Menschenseele unterwegs. Sie und Ed hatten sich ein klassisches Konzert in der alten Burg angehört. Ed liebte sie noch tausendmal mehr, als ohnehin schon, wenn sie ihn zu diesen Konzerten mitnahm. Er mochte keine klassische Musik, aber er liebte die Burg. Und jedes Mal, wenn er zu einem Konzert mitkam, erlaubte Fee ihm, danach durch die Burg zu streifen. Sie war für Besucher offen zugänglich, bis auf einige Teile, die durch schwere, geschlossene Holztüren mit deutlichen Kennzeichnungen gesperrt waren. Die Burg war beinahe vollständig erhalten. Die oberen Stockwerke waren restauriert, aber nicht renoviert worden, sodass man den Eindruck hatte, eine Zeitreise zu machen, sobald man die Tür ins Innere durchschritt. Das Kellergewölbe war teilweise verfallen und nur soweit restauriert worden, das keine Einsturzgefahr bestand. Es fanden dort oft Führungen statt, bei denen man sich vom Führer in Angst und Schrecken versetzen lassen konnte. Er erzählte von den vielen Gefangenen, die in den drei Verliesen, im Lauf der Jahrhunderte, ihr Ende gefunden hatten. Die gesamte Burganlage war so originalgetreu erhalten worden, wie es möglich gewesen war. Und selbst Fee, die sich sonst nicht für vergangene Zeiten interessierte, durchlief ein kalter Schauer, wenn sie mit ihrem Sohn durch die alten Mauern schlich. Ed liebte die Burg. Er lief stundenlang durch die alten Gänge, wenn er durfte. Er erforschte alle Winkel und Ecken und Fee wusste, dass er alles, was öffentlich zugänglich war, kannte. Vielleicht sogar einiges mehr. Er wagte sich sogar ins Dämmerdunkel des Kellers hinunter. Keine Biegung, kein Tunnel, keine Nische blieb vor ihm verschont. Und immer, wenn er dann am vereinbarten Treffpunkt erschien, berichtete er Fee voller Stolz, was er wieder Neues entdeckt hatte. Auch diesmal war eine seiner Entdeckungen der Grund, weshalb er seine Mutter schon seit Beginn des Konzerts drängte, er müsse ihr unbedingt etwas zeigen. Am Vortag hatte Fee die Karten für das Konzert abgeholt und Ed hatte zwei Stunden auf Streifzug durch die Burg verbracht. Die Schlange war sehr lang gewesen und Fee war mit den Karten in der Tasche noch einen Tee trinken gegangen. Als Ed zurückgekommen war, war er ganz aufgeregt gewesen, aber sie hatten nach Hause gemusst. Ed hatte ganz geheimnisvoll getan und ihr das Versprechen abgenommen, sie mit zu dem Konzert zu nehmen. Da waren sie nun also. Fee sah auf ihren Sohn hinunter und lächelte. Sie liebte ihren kleinen Abenteurer über alles. „In Ordnung, hier bin ich.“, sagte sie. Ed deutete ans Ende des Korridors. „Da müssen wir her.“, sagte er und zog sie mit sich. Fee ließ sich ziehen, bis Ed durch die Tür gehen wollte. Auf einem alten, metallenen Türschild prangten deutlich die Worte ‚Zutritt verboten’. „Das geht nicht, Ed. Da darf man nicht einfach durchgehen.“ „Das weiß ich, aber ich hab’s gemacht und jetzt muss ich dir da drinnen was zeigen. Ehrlich, das musst du sehen.“ Ihr Sohn sprach mit so eindringlicher Stimme, dass Fee nicht widersprach. Es war schließlich nicht allzu schlimm, einmal hinter die Tür zu schauen. Danach würde sie Ed erklären, dass er das nie wieder tun durfte. „In Ordnung. Aber du zeigst es mir nur und dann verschwinden wir wieder. Das ist nämlich eigentlich wirklich nicht in Ordnung, Ed.“ Ed nickte und öffnete die Tür. Sie war nicht verschlossen, was Fee etwas wunderte. Wahrscheinlich hatte es jemand vergessen. Sie gingen hindurch und Ed schloss die Tür wieder. Sie standen auf einem weiteren Korridor und zum hundertsten Mal fragte Fee sich, wie groß die Burg eigentlich wirklich war. Ed kniete sich hin und deutete auf die Wand vor sich. „OK, Mama. Jetzt zeig ich dir was absolut Tolles. Das kannst du gar nicht glauben!“ Fee lächelte und sah gespannt zu, was Ed tat. Er legte seine Hand flach auf einen der Steine in der Mauer und drückte. Fee hob erstaunt die Augenbrauen, als sie es knacken hörte. Erst dachte sie, Ed hätte etwas zerbrochen und bekam einen Schreck. Doch dann glitt der Stein plötzlich nach hinten, etwa fünf Zentimeter. Dann knackte und knirschte es und rund um den Stein bewegten sich noch andere Steine. Etwa zwanzig Steine rückten zurück und glitten dann zur Seite. Ed wies strahlend auf die dunkle Öffnung, die nun sichtbar war und zog Fee am Ärmel. „Hast du das gesehen, Mama? Ist das nicht echt cool?“ Fee starrte fassungslos auf das ovale Loch und schüttelte den Kopf. Ihr fehlten die Worte. „Das ist eine Geheimtür, Mama! Echt! Ich bin gestern durchgegangen und da ist ne Treppe und wenn man oben wieder rauskommt, ist man an einem großen Turm! Echt cool! Komm, ich zeig’s dir!“ Ed war nicht zu bremsen. Er war bereits halb durch die Öffnung und zerrte Fee mit sich. Doch Fee riss sich aus ihrer Starre und hielt ihren Sohn zurück. „Warte, Ed. Hör mal, das ist sicher gefährlich. Ich glaube nicht, dass jemand den Gang hier kennt und er ist sicher nicht restauriert worden. Was, wenn die Decke auf einmal einstürzt?“ Ed hielt inne und steckte den Kopf wieder in den Korridor, um seine Mutter vorwurfsvoll anzusehen. „Oh, Mama! Jetzt komm schon! Ich bin schon einmal durchgegangen, es ist gar nicht gruselig!“ Fee musste lachen. Es war niedlich, wie ihr Sohn sich um sie sorgte. Sie fürchtete sich nicht im Dunklen, aber er. Und deshalb dachte er immer, auch sie müsste Angst vor der Dunkelheit haben. Wenn sie hindurchgingen, würde sie ihn beschützen müssen und nicht umgekehrt. Fee seufzte. Ed hatte ja Recht, es war ein Abenteuer. Und wenn man sieben Jahre alt war, dann störte man sich nicht an einstürzenden Decken. Jedenfalls nicht, wenn man einen Geheimgang entdeckt hatte. „In Ordnung.“ Fee nickte und Ed strahlte bis über beide Ohren. Fee hob warnend den Zeigefinger. „Aber du bleibst an meiner Hand und wenn ich sage, wir gehen zurück, gehen wir zurück.“ Ed nickte heftig und Fee kroch hinter ihm her, ins Dunkel. 2 Der Gang war höher, als Fee vermutet hatte. Aufgrund der kleinen Öffnung hatte sie gedacht, sie würde die Treppe hinauf gebückt gehen müssen. Doch die gewölbte Decke, die die Treppe überspannte, war hoch genug, sodass Fee aufrecht gehen konnte. „Bist du wirklich schon mal hier hinauf gegangen?“, fragte sie zaghaft und erschrak, als ihre Stimme durch den Gang hallte. Ed lachte und es hallte wieder. „Ja, gestern! Warte, ich mach zu.“, sagte er fröhlich und hockte sich nieder. Er legte seine Hand auf einen der Steine in der Wand neben der Treppe und die Steine, die die Öffnung gebildet hatten, schlossen sich wieder. Fee staunte nicht schlecht. Schließlich war das Loch wieder verschwunden und Fee sah gar nichts mehr. „Wie sollen wir die Stufen sehen, es ist ja völlig duster.“, sagte sie und stellte fest, dass sie automatisch geflüstert hatte. Ed nahm ihre Hand. „Gar nicht. Du musst nur kurz warten, dann siehst du wieder was.“, behauptete er. Fee wartete einige Augenblicke und bemerkte kleine Ritzen im Gestein der Wände, durch die ein wenig Licht fiel. Sie atmete tief durch. Irgendwie war ihr Gefühl merkwürdig. Die Vorstellung, dass sie und Ed vielleicht seit hunderten Jahren die Ersten waren, die wieder durch diesen Gang gingen, verlieh dem Geschehen einen atmosphärischen Schimmer. „OK, gehen wir.“, sagte sie leise und Ed zog sie hinter sich her, die Stufen hinauf. Die Treppe hatte dreiundvierzig Stufen, die viel niedriger waren, als die normalen Stufen, die Fee kannte. Sie und Ed hatten nebeneinander keinen Platz und Fee vermutete, dass die geheime Treppe durch eine der dicken Wände verlief. Als sie oben ankamen, musste sie sich eingestehen, dass sie es auch aufregend fand. So etwas hatte sie noch nie erlebt und als sie ihre Hand auf die Mauer am oberen Treppenabsatz legte, durchfuhr sie ein gespanntes Kribbeln. „Wie geht sie auf?“, fragte sie Ed und der nahm ihre Hand und legte sie auf einen Stein. „Hier drücken. Fest, aber ganz vorsichtig. Dann knackt es wieder.“ Fee tat es und es knackte. Dann glitten die Steine beiseite, wie bereits unten und eine Öffnung tat sich auf. Fee schlüpfte gespannt hindurch und Ed krabbelte hinterher. Sie standen tatsächlich am Aufgang zu einem Turm. Das war unglaublich. Fee kannte diesen Teil der Burg nicht. Es musste auch hier eigentlich für Besucher verboten sein. Fee sah zu Ed. Der hatte vor Stolz und Aufregung ganz rote Wangen und strahlte sie an. „Ist das nicht echt cool?“, fragte er atemlos und Fee nickte. Sie lächelte. „Ja, das ist es. Wirst du es dem Direktor des Burgmuseums erzählen? Er wird das sicherlich auch ganz toll finden.“ Ed schüttelte erschrocken den Kopf. Er schien entrüstet. „Nein, ganz bestimmt nicht! Das ist doch unser Geheimnis, Mama!“, rief er empört und verschränkte die Arme vor der Brust. Fee lachte. „OK, OK! Ich werd es ihm bestimmt nicht sagen. Es war deine Entdeckung. Aber irgendwann kannst du es ihm ja vielleicht sagen, hm?“ Ed legte den Kopf ein wenig auf die Seite und überlegte. Dann nickte er. „Na gut. Aber erst, wenn ich schon ganz groß bin. Wenn ich alle anderen Gänge gefunden hab und es mir langweilig wird. Dann vielleicht.“ Fee hob die Augenbrauen. Die anderen Gänge? „Sag mal, Ed, willst du etwa sagen, dass es noch mehr solcher Gänge in der Burg gibt?“ Ed lachte laut und drehte sich kichernd einmal um sich selbst. Das machte er immer, wenn er etwas zum Brüllen komisch fand. „Es gibt bestimmt Myrrionen Gänge! Ich hab schon sechs gefunden gestern! Man muss nur einmal wissen, wie die Steine aussehen, dann ist es ganz leicht!“ Fee keuchte. Oh Gott. Ihr Sohn war gestern zwei Stunden lang durch Geheimgänge gekrochen, die vielleicht jeden Augenblick über ihm zusammenfallen konnten? In dem verbotenen Teil der Burg? Sie kniete sich hin und zog Ed zu sich. „Hör mal, ich möchte das eigentlich nicht, weißt du.“, sagte sie sanft und spürte, wie Ed sich gegen sie sträubte. Er wollte sein Abenteuer nicht einfach fallen lassen. „Aber Mama! Ich bin wirklich ganz vorsichtig. Die Gänge sind kein bisschen kaputt, ich pass doch auf! In den Keller bin ich gar nicht gegangen, weil der doch noch nicht resauriert ist, oder wie das heißt.“ „Restauriert. Aber trotzdem. Es könnte ganz gefährlich sein, Schatz. Ich hab doch bloß Angst um dich.“ Fee sah Ed in die Augen und spürte, wie sein Widerstand schmolz. Er wusste, dass sie ihm nichts ohne Grund verbot. Und wenn sie sagte, dass es gefährlich sein konnte, dann war das die Wahrheit. Fee hatte ihren Sohn noch niemals angelogen, damit er genau das immer wusste. „Mama, und wenn ich dem Direktor das mit dem Gang erzähle? Vielleicht lässt er mich dann suchen helfen bei den anderen. Weil ich ihn doch entdeckt hab. Das wäre doch nicht so gefährlich. Da wären doch dann Erwachsene dabei, die passen auf.“ Fee lächelte. Dann ließ sie sich den Gedanken durch den Kopf gehen. Sie fand, dass es gut wäre, wenn der Museumsdirektor von den Gängen wüsste. Sie glaubte auch, dass sie nach weiteren Gängen suchen würden, allerdings glaubte sie kaum, dass sie Ed dabei mitnehmen würden. Sie würden es ihm verbieten, weil es gefährlich war. Trotzdem war die Idee, wenigstens an ein betreutes Abenteuer zu kommen für einen Siebenjährigen ziemlich clever. „In Ordnung. Du darfst es dem Direktor sagen und du darfst ihn auch fragen, ob du mitsuchen darfst. Aber ich glaube nicht, dass er es erlauben wird und wenn er es verbietet, dann gehorchst du. In Ordnung?“ Ed nickte und strahlte stolz. „Gehen wir gleich hin?“, fragte er voll Tatendrang und Fee seufzte. „Na schön. Wir gehen runter und fragen am Empfang, ob wir den Direktor sprechen können. Wenn es geht, dann kannst du es ihm ja erzählen. Aber vielleicht müssen wir auch ein andermal wieder kommen.“ Ed seufzte ebenfalls und nickte dann. Natürlich wollte er wenn dann gleich alles loswerden und mit der Suche beginnen. Kapitel 2: Ein verlockendes Angebot ----------------------------------- 1 Ed lief neben Fee her und sie spürte, dass seine Hand heiß und schwitzig war. Er war sehr aufgeregt und vielleicht auch ein bisschen nervös, weil es immerhin um ein Gespräch mit dem Direktor ging. Sie stiegen die geheime Treppe hinunter, zurück ins Erdgeschoss und schritten zum Empfang. Dort saß der immer gleiche, grauhaarige Mann in seinem schwarzen Anzug und lächelte ihnen bereits entgegen. Er kannte Fee. Sie war die einzige Frau, die die klassischen Konzerte besuchte und dazu ihren kleinen Sohn mitnahm. Einmal hatte er ihr gesagt, wie toll sie es fand, dass sie das tat. Und zu Ed hatte er gesagt, dass er es toll fand, wie sehr er sich für die alte Burg interessierte. Das hatte Ed vor Stolz die Brust schwellen lassen. „Guten Abend, Herr May.“, grüßte Fee höflich und schob dann Ed nach vorn. Jetzt, wo es um die Wurst ging, war er doch etwas schüchtern. Aber er kniff nicht. „Ja, guten Abend, Herr May.“, grüßte auch er höflich und der alte Mann lachte freundlich. „Guten Abend, die Herrschaften. Womit kann ich dienlich sein?“ Fee lächelte und strich Ed übers Haar. „Mein Sohn würde gerne den Museumsdirektor sprechen.“ Ed nickte heftig. „Am besten gleich, aber zur Not können wir auch morgen.“ Herr May lachte schallend und einige der verbliebenen Konzertbesucher drehten ihre Köpfe in Richtung der ungewöhnlichen Geräuschquelle. „Na, kleiner Ed, da muss ich den Direktor aber erst mal fragen, wann er denn Zeit hat. Was hast du ihm denn so Wichtiges zu erzählen?“ Ed strahlte wieder sein gewinnendes Abenteurerstrahlen. Er stellte sich auf die Zehenspitzen und reckte seinen Kopf, damit er über den Empfangstresen schauen konnte. „Ich hab Geheimgänge gefunden, ganz viele. Und ich möchte mit dem Direktor zusammen die anderen suchen. Weil alleine ist das meiner Mutter zu gefährlich.“ Herr May wirkte einen Augenblick lang sehr merkwürdig, fand Fee. Er zwinkerte mit einem Auge und schnappte kurz nach Luft. Dann war der Eindruck wieder verflogen und er lachte. „Na wirklich? Und, wohin haben dich die Gänge geführt?“, fragte er und Fee runzelte die Stirn. „Wissen sie denn davon?“, fragte sie erstaunt und Herr May lächelte. „Sicher wissen wir davon. Oder auch nicht, wie man es nimmt. Wir wissen, dass die Gänge existieren, aber bisher ist es niemandem gelungen, einen zu finden. Außer dem kleinen Ed hier.“ Er sah Ed an und zwinkerte ihm fröhlich zu. „Ich bin sicher, wenn ich den Direktor anrufe und ihm sage, was du gefunden hast, wird er sofort für dich Zeit haben. Was meinst du, ist das eine gute Nachricht?“ Ed nickte heftig und hüpfte aufgeregt neben Fee auf und nieder. Sie schmunzelte. „In Ordnung, dann rufe ich ihn gleich an. Ihr könnt ja solange hier warten, ich bin in einer Minute zurück.“ Herr May verschwand hinter der schmalen Tür, die in sein Büro führte. Einmal war Ed dort drinnen gewesen, Herr May hatte es ihm gezeigt. Weil er es so toll fand, dass Ed sich so für die Burg interessierte. Das Büro war ein kleiner Raum mit hoher Decke. Ohne Fenster. Herr May hatte Ed erklärt, dass man früher allerlei Zeug darin verwahrt hatte, was nicht schön aussah, aber regelmäßig gebraucht wurde. Eine Art mittelalterlicher Besenschrank eben. Ed fand es toll, dass Herr May in einem mittelalterlichen Besenschrank arbeiten durfte. 2 Als Herr May drei Minuten später zurückkam, lag ein Lächeln auf seinen Lippen. Er beugte sich über den Empfangstresen und zwinkerte Ed zu. „Der Direktor möchte dich gleich sehen. Er ist in seinem Büro, im Nebenflügel. Magst du mich mit deiner Mutter zu ihm begleiten?“ Ed nickte und sah dann fragend zu Fee. Als auch sie nickte, sprang er vor Freude in die Luft und fasste sie dann bei der Hand. Sie folgten Herrn May durch den langen Korridor, der Haupt- und Nebenflügel verband. Am Ende des Korridors befand sich das Büro des Museumsdirektors. Ed tapste von einem Fuß auf den anderen, während Herr May klopfte und sie warteten. Dann öffnete der Direktor persönlich die Tür und bat sie herein. Herr May verabschiedete sich mit einem Nicken und verschwand wieder in Richtung des Empfangs. „Nun, dann setz dich doch mal hierher, Ed. Und sie nehmen doch auch Platz.“ Ed und Fee setzten sich in die beiden Ledersessel, die vor dem großen Schreibtisch des Direktors standen. Fee sah sich verstohlen um. Das Büro war mittelalterlich eingerichtet. Eine alte Rüstung, dunkle Holzdielen, blanker, alter Stein an den Wänden. Schreibtisch und Sessel standen auf einem großen, dunkelbraunen Fellteppich. Es wirkte gemütlich und irgendwie würdevoll. „Nun, Ed, erzähl mir doch einmal von deiner Entdeckung.“, bat der Direktor und Ed erzählte von seinen Streifzügen. Von dem ersten Gang, den er entdeckt hatte und von den anderen. Dann fragte er auch direkt, ob er helfen durfte, die anderen Gänge zu suchen. Fee verkniff sich ein Grinsen über die Vorwitzigkeit ihres Sohnes. Der Direktor störte sich offensichtlich nicht daran. Im Gegenteil, ihm schien der forsche junge Mann zu gefallen. „Ed, ich würde mich freuen, wenn du uns helfen würdest. In der Tat planen wir schon lange eine ausführliche Suche nach den unbekannten Gängen in diesen alten Mauern. Aber um einfach drauflos zu suchen, haben wir zu wenig Geld. Das könnte ewig dauern. Nun, da du uns einige Anhaltspunkte geboten hast, wissen wir, wo wir beginnen können.“ Ed strahlte stolz und drückte die Hand seiner Mutter. Fee drückte sanft zurück und nickte ihm aufmunternd zu. „Wenn deine Mutter es erlaubt, starten wir sofort. Du würdest hier bleiben und mich und die bereits anwesenden Experten führen. Bis morgen sind die anderen Experten da und wir würden unsere groß angelegte Suche beginnen. Ich würde mir eine Woche ausbedingen, um die ersten Erfolge verzeichnen zu können. Was meinst du?“ Eds Augen waren groß und größer geworden, während er dem Direktor lauschte. Fees Augen dagegen hatten sich verdunkelt. Sie wollten ihren Sohn hier behalten? Eine ganze Woche, einfach so? Nein, das war ihr nicht recht. „Und wenn wir tatsächlich weitere Gänge finden, bekommst du natürlich eine angemessene Belohnung für deine Hilfe.“ Nun wurden auch Fees Augen groß. Eds fielen beinahe heraus, so riesig wurden sie. „Sie meinen Geld?!“, rief er fasziniert und Fee stieß ihren unhöflichen Sohn leicht in die Seite. „Was denn?“, beschwerte Ed sich empört bei Fee. Der Direktor lachte. „Na, na. Er hat doch Recht, sich zu freuen. Diese Entdeckung ist uns schon etwas wert. Sollten sich seine Angaben bestätigen, wäre uns das fünfhundert Euro wert. Plus hundert Euro für jeden weiteren Gang, den wir finden. Na, wie finden sie das?“ Fee keuchte. So viel Geld. Ed lachte und sprang seiner Mutter auf den Schoß. „Oh ja, Mama! So viel Geld! Sag schon ja!“ Fee schüttelte wortlos den Kopf. Das war unglaublich. Und fast wie ein Wink des Himmels. Erst vor einer Woche war ihre Waschmaschine kaputt gegangen. Dann hatte sie vor zwei Tagen ihren Job verloren. Personalkürzungen. Sie mussten sich noch keine Sorgen machen, aber es kam auch nicht gerade zur falschen Zeit. So viel Geld. Das würde locker reichen, für eine neue Maschine und Zeit. Zeit genug, um sich einen ordentlichen Job zu suchen. Fee konnte es nicht glauben. Aber konnte sie deshalb ihren Sohn hier lassen? Einfach so? Der Direktor schien ihre Fragen zu ahnen. Er lachte. „Machen sie sich keine Sorgen um ihn. Unsere Museumspädagogin würde an der Suche teilnehmen und ihren Sohn betreuen. Es würde ihm eine Menge Spaß machen und es sind doch sowieso Ferien. Sagen sie ja! Es ist gutes Geld und mit Spaß verdient.“ Fee lachte. „Wo ist der Haken?“ „Es gibt keinen. Nun, vielleicht doch. Sie müssten eine Woche ohne ihren Sohn auskommen. Wir würden das Museum solange schließen und niemandem Zutritt gewähren, um die Suche nicht zu stören. Und um die Öffentlichkeit nicht zu früh einzuweihen. Aber ansonsten – nein, kein Haken.“ Fee starrte den Direktor an und schüttelte ungläubig den Kopf. Dann sah sie Ed an, der sie erwartungsvoll ansah. Dann zuckte sie mit den Schultern und lachte. „Wenn sie mir dafür garantieren, dass meinem Sohn nichts passiert – warum nicht?“, sagte sie und lächelte ihrem Großen zu. Er war wirklich Feuer und Flamme für diese Sache. „Das geht in Ordnung. Ich habe hier einen Betreuungsvertrag. Den Standardvertrag für die Kinderführungen, nur etwas abgewandelt. Wegen der längeren Zeit. Sollte ihm hier etwas zustoßen, übernehmen wir die volle Verantwortung. Unsere Betreuung ist wirklich gut, sie haben sie doch bereits einige Male in Anspruch genommen, nicht wahr?“ Fee nickte und lächelte. Ja, die Museumspädagogin war wirklich eine wunderbare Person. Ed war in den Ferien oft im Museum und nahm an den Angeboten für Kinder teil. Er mochte die junge, engagierte Frau sehr. Sie arbeitete ehrenamtlich im Museum, während sie Semesterferien hatte. Sie war ausgebildete Erzieherin und studierte nun Antike Geschichte. „In Ordnung. Wo muss ich unterschreiben?“, fragte Fee lachend und schlang ihre Arme um Ed. Der klatschte vor Freude in die Hände. „Einen Moment. Ich suche den Vertrag heraus.“, sagte der Direktor nachdenklich, während er in einer Schublade herumsuchte. Dann zog er ein Blatt heraus und legte es auf den Schreibtisch. Er drehte es zu Fee herum und reichte ihr einen Kugelschreiber. „Dort unten, auf der gestrichelten Linie.“, sagte er und lächelte freundlich. Fee unterschrieb und reichte den Kugelschreiber zurück. Der Direktor stempelte den Vertrag und legte ihn in die Schublade zurück. „Vielen Dank.“, sagte er und erhob sich. „Dann werde ich sie nun zum Ausgang begleiten und sie verabschieden. Wir haben alles, was Ed brauchen wird, hier. Machen sie sich keine Sorgen. Wenn etwas passiert, oder wenn er sie sprechen möchte, wird er sie anrufen. Du kennst doch die Telefonnummer von deiner Mama, oder?“ Ed nickte und schob die Brust vor. Fee grinste still in sich hinein. Ihr Kleiner wurde langsam groß. Er hatte wirklich seinen eigenen Kopf. Eine ganze Woche allein im Museum. Ohne seine Mama. Das war wirklich mutig. Fee war stolz auf ihren Sohn. Sie beschloss, ihm gleich heute einen Brief zu schreiben, das würde ihn freuen. Er liebte Briefe und seit er einigermaßen lesen konnte umso mehr. Zu dritt gingen sie zurück zum Eingang und Ed winkte seiner Mutter zu, als diese durch die moderne, automatische Glastür nach draußen auf den Parkplatz ging. Fee drehte sich noch zweimal um, dann stieg sie in der Ferne in ihr Auto und fuhr davon. Ihr war ein wenig mulmig zumute, aber sie schluckte das Gefühl herunter. Sie wusste, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte. Ihr Sohn war gut aufgehoben und Fee wusste, dass sie das Geld wirklich gut gebrauchen konnten. Also überließ sie ihren Sohn seinem großen Abenteuer. Eine Woche, dann würde sie ihn wieder abholen. Und er würde viel zu erzählen haben. Wahrscheinlich würde das Fernsehen kommen. Oh Gott, vielleicht würde er eine lokale Berühmtheit. Fee grinste sich im Rückspiegel zu, bei dem Gedanken. Öffentlicher Rummel würde gut zu ihrem kleinen Wirbelwind passen. Sie beschloss, sich keine Sorgen zu machen, sondern sich für Ed zu freuen. Manchmal gab es schon verrückte Zufälle im Leben. Kapitel 3: Der Anfang vom Ende ------------------------------ 1 Ed sah seiner Mutter nach, bis er sie nicht mehr ausmachen konnte. Dann wand er sich um und trat an den Empfangstresen. Dort stand Herr May und sprach mit zwei Wachleuten. Sie trugen blaue Uniformen. Ed hatte sie schon oft in der Burg gesehen. Sie liefen herum und passten auf, dass niemand die verbotenen Bereiche betrat. „Ist er das?“, fragte der eine gerade und Herr May nickte. „Ziemlich jung. Ist das nicht etwas zu jung?“ Herr May schüttelte den Kopf. Ed trat näher an den Tresen und stellte sich auf die Zehenspitzen. „Hallo.“, sagte er und lächelte den dreien freundlich zu. Herr May sah ihn an und lächelte ein wenig. Dann kam er um den Tresen herum und hob Ed darauf. „Cool.“, entfleuchte es dem und er grinste. Wenn man auf dem Tresen saß, konnte man durch die Glastür auf den Parkplatz sehen. Einer der Blauen winkte kurz und verschwand dann. „Ich hol eben die anderen beiden.“, sagte er und grinste. Ed runzelte die Stirn. Dann fiel es ihm ein. Klar, die Experten, die ihm und dem Direktor bei der Suche nach den Gängen helfen sollten. Herr May sah Ed die ganze Zeit an und er lächelte jetzt nicht mehr. „Sind sie traurig, weil sie nicht mitsuchen dürfen?“, fragte Ed einfühlsam und lächelte Herrn May aufmunternd zu. Der schüttelte den Kopf. In dem Moment kam der zweite Blaue mit zwei Jungen zurück. Er hatte je einen an jeder Hand. Die beiden wirkten etwas verwirrt. Aber als sie Ed sahen, winkten sie ihm zu. „Hast du auch sonen Geheimgang gefunden?“, fragte der rechte. Er war blond, ebenso, wie der linke. Allerdings waren seine Haare lang, fielen ihm bis auf die Schultern. Die Haare des anderen Jungen waren kurz. Sie trugen beide Jeans. Der eine einen roten, der andere einen schwarzen Pullover. Ed glaubte, dass der linke älter war. Aber was hatte er ihn gerade gefragt? „Was?“ „Ob du auch sonen Geheimgang gefunden hast. Wir haben beide einen gefunden. Heut morgen. Wir waren mit unseren Eltern hier und dann durften wir bei dem Gewinnspiel mitmachen.“ Ed runzelte die Stirn. Das verstand er jetzt nicht. „Welches Gewinnspiel denn?“, fragte er nach und lächelte zaghaft. Der Ältere der beiden lachte und ließ den Blauen los. „Na das, wer die meisten Gänge findet.“ „Ja, wir machen beide mit. Wir kennen zwei Stück und du?“ Ed bemerkte, dass sein Mund offen stand und er ließ ihn zuklappen. „Der Direktor hat mir gesagt, dass ich der Erste bin, der einen gefunden hat. Warum hat er gelogen?“ Die beiden zuckten mit den Schultern. Herr May unterhielt sich mit den beiden Wachleuten und Ed stellte plötzlich fest, dass außer ihnen kein Mensch mehr hier war. Der große Saal und die angrenzenden Korridore waren leer. Es war auch nichts zu hören, außer der gedämpften Unterhaltung, die in dem Gewölbe ein wenig hallte. Ed legte den Kopf schief und versuchte, zu lauschen. „Hoffentlich dauert es diesmal nicht so lange.“ „Ich glaube nicht. Sie sind ziemlich jung. Schade, dass nur so wenige die Gänge finden, was?“ Lachen. Dann… „Ja, drei Monate keine Neuen, das ist echt lange.“ „Was machen wir jetzt mit ihnen?“ „Ist doch egal, die sind eh bald tot.“ „Glaubst du? Vielleicht sind sie cleverer, als wir glauben.“ Ed riss die Augen auf, als ihm klar wurde, was er da gerade gehört hatte. Ist doch egal, die sind eh bald tot. Aber das konnte er nicht gehört haben. „Entschuldigung.“, sagte er laut und die drei Männer sahen ihn an. „Ja?“, sagte Herr May und lächelte sein kleines Lächeln. „Was haben sie gerade gesagt?“, fragte Ed und sah den Blauen an, der das mit dem tot sein gesagt hatte. Der runzelte fragend die Stirn und schüttelte den Kopf. „Was meinst du?“ Ed rutschte vom Tresen und sah kurz zu den beiden Jungen. Sie schwiegen inzwischen und sahen ebenfalls zu den drei Männern. „Wieso sollen wir bald tot sein?“ Der Blaue hob eine Augenbraue, dann lachte er. Als er sich wieder eingekriegt hatte, wischte er sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Ed sah ihn mit gerunzelter Stirn an. „Wieso sollte ich so etwas sagen? Du hast dich verhört, Kleiner.“ Ed schwieg, aber er nickte nicht. Er wusste, was er gehört hatte. Aber offensichtlich hatte er es nicht hören sollen. Er sah die beiden Jungen an, die die Schultern zuckten und sich weiter unterhielten. Über das Gewinnspiel, die Gänge und den großen Preis. Ed sah zu den drei Männern. Auch sie unterhielten sich. Ed sah zu der Glastür und beschloss, zu verschwinden. Er wollte nicht bald tot sein. Und obwohl niemand sonst es gehört hatte, er hatte es verstanden. Und obwohl niemand sich weiter darum kümmerte, Ed wusste einfach, dass er sich nicht vertan hatte. Etwas Schlimmes würde passieren und wenn er nicht ganz schnell verschwand, würde es ihm auch passieren. Er konnte die beiden Jungen nicht warnen, die Männer würden es bemerken. Und Ed war sich plötzlich sicher, wenn sie wussten, dass er es wusste, dann würden sie ihn nicht gehen lassen. Also sah Ed unentwegt zu den Männern, um zu sehen, wenn sie zu ihm sahen. Gleichzeitig schlich er um den Tresen herum und ging langsam auf die Glastür zu. Sobald sie automatisch auf glitt, würden die Männer es hören und er würde rennen müssen. Aber er musste soweit kommen, wie möglich, bevor sie es merkten. Er war sicher nicht so schnell, wie sie und er brauchte einen Vorsprung. Er schaffte es bis zur Tür. Sie glitt auf und die Blicke der drei Männer sprangen herum und fixierten ihn mit einem Ausdruck, der Ed dazu brachte, sofort loszurennen, so schnell er konnte. 2 Ed rannte und er sah sich nicht um. Herr May blieb zurück und sperrte die Automatik der Tür, nachdem die beiden Blauen hindurch gerannt waren. Die beiden anderen Jungen starrten verwirrt hinter Ed her und begriffen gar nichts. „Bleib stehen!“, schrie der eine Mann hinter Ed her, aber der ließ sich nicht beirren. Er lief über den Parkplatz. Die Autos standen rechts und links neben ihm und Ed lief und lief und lief. Am Ende des Parkplatzes stand eine hohe Hecke. Ed wusste, dass er nicht darüber springen konnte, aber er wusste nicht, wohin er sonst laufen sollte. Er wusste, dass hinter der Hecke die Straße lag. Vielleicht konnte er sich hindurch zwängen und ein Auto anhalten. Wenn er sich einfach auf die Straße stellte, mussten sie anhalten. „Verdammt noch mal, du wirst sofort stehen bleiben!“ Ed ließ sich nicht aufhalten. Er wusste, dass er verloren war, wenn er stehen blieb. Wenn die ihn bekamen. Er wusste nicht, was passieren würde, aber es musste etwas Schreckliches sein. Er rannte an grünen, roten und silbernen Autos vorbei. Kombis, Smarts, Landrover. Ed sah die Sonne auf den Blechdächern glitzern. Oh man, er konnte nicht mehr. Seine Lungen stachen schon. Er hatte einfach zu viel Angst. Eigentlich konnte er schnell rennen und auch lange. Aber er atmete zu schnell, panisch und bekam Seitenstiche. „Bleib stehen! Sofort!“ Die Stimme war wütend, der Atem hastig. Die Schritte wurden lauten, als die beiden Männer aufholten. Ed war fast bei der Hecke und stellte erschrocken fest, dass sie so dicht war, dass er nicht hindurchpassen würde. Er musste versuchen, darüber zu springen. Es war unmöglich, aber vielleicht konnte er so hoch springen, dass er den Rest klettern konnte. 3 Schließlich stand die Hecke grün und groß vor Ed. Er rannte einfach weiter. Das wütende Schnauben und die dröhnenden Schritte der Männer hinter sich. Dann, als er wusste, dass er nicht mehr weiter rennen konnte, sprang Ed einfach drauf los. Er sprang, sprang über die Hecke und fiel. Auf der anderen Seite fiel die Böschung vier Meter tief steil ab. Darunter lag die Straße. Ed konnte nur fallen. Fallen und hart aufschlagen. Er sah den Asphalt und ein Schrei blieb in seiner Kehle stecken. Er würde auf die Straße knallen und ein Auto würde ihn überfahren. 4 Ed kniff die Augen zusammen, so fest er konnte. Er breitete die Arme aus und flog einfach. Ja, er stellte sich vor, er würde einfach fliegen. Den Männern davonfliegen. Und dann tat er es. Ed spürte, wie etwas mit seinem Rücken geschah. Da war etwas Großes, Schweres. Er konnte es bewegen und er tat es. Es war ungeheuer anstrengend, aber es ging. Er tat es mit ganzer Kraft und spürte, dass die Richtung, in der er sich bewegte, sich geändert hatte. Er fiel nicht mehr. Er stieg. Er flog. Hoch hinauf. 5 Ed schlug mit den Flügeln und sauste über der Straße dahin. Er hatte noch nie Flügel gehabt, aber er wusste einfach, wie es ging. Er bog vom Straßenverlauf ab und überflog die ersten Hochhäuser der Stadt. Die Flügel glitten schwerfällig durch die Luft, als hingen sie in zähem Leim fest. Ed wusste nicht, warum das so war, aber er kämpfte trotzdem weiter. Er stieg höher und die Luft brauste ihm um die Ohren. Schließlich hatte er keine Kraft mehr und landete auf einem der flachen Dächer. Er ließ sich auf die Knie sinken und fiel beinahe in Ohnmacht, so geschafft war er. Plötzlich waren die Flügel wieder verschwunden. Er versuchte, sie zu bewegen, aber da war nichts mehr. Ed schloss die Augen und beruhigte seinen Atem. Er hatte es wirklich geschafft. Er war den Männern entkommen. 6 Als er wieder bei Atem war, stand er auf und lief an den Rand des Daches. Er beugte sich hinüber und sah auf die Straße herunter. Dort fuhren Autos und winzig, winzig klein konnte er Menschen erkennen. Ed lief wieder zurück, auf das Dach und suchte eine Tür, durch die er vom Dach weg ins Gebäude kommen konnte. Schließlich fand er eine und sie war offen. Er ging hindurch und lief die Treppe hinunter, die dahinter lag. Er öffnete die erste Tür, die vom Treppenhaus abging und landete in der zwölften Etage. Er suchte den Fahrstuhl. Gerade, als er um eine Ecke bog, sah er sie. Es waren vier und sie kamen direkt auf ihn zu. „Bleib stehen, Kleiner. Dann tun wir dir auch nicht weh.“ Ed riss erschrocken die Augen auf und machte auf dem Absatz kehrt. Er sah sich hastig um, wusste aber nicht, wohin er laufen sollte. Also rannte er einfach den Gang entlang, bog um die Ecke und saß in der Falle. Die Männer trampelten bereits näher und Ed konnte nicht weiter. Der Gang endete in einer Sackgasse. Ed warf den Kopf hin und her, um einen Ausweg zu finden, aber da war keiner. Dann sah er das Fenster. Es war groß. Größer, als er selbst. Und dann beschloss er, es einfach noch mal zu machen. Das Fliegen. Und so nahm Ed Anlauf und sprang einfach durch das geschlossene Fenster hindurch nach draußen. Er hatte befürchtet, dass er einfach vom Glas abprallen würde, aber die Scheibe zersprang und Ed flog durch die Luft. Er kniff mit aller Macht die Augen zusammen und stellte sich vor, wie er flog. Und dann spürte er die schweren, schwerfälligen Flügel wieder auf dem Rücken. Wow, das war toll! Er schlug mit aller Kraft mit den großen Schwingen und spürte, wie er an Höhe gewann. Die Männer standen am Fenster und Ed flog eine Schleife. Sie hoben etwas Blitzendes hoch und plötzlich knallte es. Ed zuckte zusammen, dann spürte er etwas Kaltes an seinem Ohr. Danach tat sein Ohr kurz so weh, dass er vergaß, mit den Flügeln zu schlagen. Er sackte ein Stück hinunter, dann fing er sich wieder. So schnell er konnte, flog er über die Dächer und landete einige Straßen weiter. Wieder verließ ihn die Kraft. Warum das so anstrengend war, verstand er nicht. Es war, als schnitten die Flügel nicht durch Luft, sondern durch Sirup. Ed ließ sich auf den Rücken sinken und gönnte sich eine Pause. Doch da waren sie schon wieder, die Männer! Ed sprang auf die Füße. Wie konnten sie ihn immer so schnell finden? Ed rannte, ohne nachzudenken und sprang, ebenfalls ohne nachzudenken, vom Dach. Er breitete die Flügel aus und schlug kraftvoll mit ihnen. Einer der Männer war ihm bis dicht zum Rand auf den Fersen und erwischte eine Feder. Ed zuckte zusammen, als er sie aus seinem rechten Flügel riss. Es tat weh. 7 Ed flog und strauchelte hin und wieder, weil er so kaputt war. Er flog von Gebäude zu Gebäude, von Dach zu Dach. Aber egal, wohin er flog, immer waren die Männer schon da. Sie schienen immer und überall auf ihn zu warten. Ed konnte ihnen nicht entkommen. Er rannte über Flure, sprang durch Fenster, er flog sogar mitten durch die Straßenschluchten. Die Menschen schrieen vor Ungläubigkeit und Entsetzen. Sie stoben auseinander, wie Kaninchen, die vor einem Fuchs fliehen. Aber es half nichts, die Männer waren immer da. Schließlich flog Ed, ohne nochmals zu landen. Er nutzte seine Kräfte aus, bis sein Herz in der Brust zu zerspringen drohte. Er schlug mit den Flügeln, so fest er nur konnte, aber das Gefühl, durch Sirup zu fliegen, ließ nicht nach. Stattdessen wurde Ed müde. Er spürte, dass sein Körper immer schwerer und die Flügel immer müder wurden. Trotzdem kämpfte er weiter. Als er schließlich merkte, wie ihm schwarz vor Augen wurde, schloss er die Augen und ließ sich einfach fallen. Die Luft wirbelte angenehm kühl um seinen Kopf und beruhigte seinen geschundenen Körper, während er stürzte. Ed spürte, wie der Schweiß, den die Anstrengung auf seinen Rücken getrieben hatte, trocknete. Die Haut spannte ein wenig, aber es war ein gutes Gefühl. Ed öffnete die Augen nicht, bis sie ihm mit aller Macht aufgezwungen wurden. Das war der Moment, als er auf dem Asphalt aufschlug. Seine Augen wurden von der Wucht des Aufpralls aufgerissen. Kapitel 4: Das Ende vom Anfang ------------------------------ 1 Helles Licht. Glas. Ein Fenster? Ja, es war ein Fenster. Und dahinter? Was war das? Grün. Vielleicht Rasen. Eine Wiese vielleicht. Ja, es war eine Wiese. Und das Harte, Kalte unter seinem Kopf? Ein Tisch. Aus Stein. Nein! Ed riss den Kopf hoch und die Augen auf. Er spürte, dass sein Herz bis zum Hals schlug. Es zerbarst fast in seiner Brust. Er spürte einen Schrei in sich aufsteigen und er wusste, dass er ihn nicht unterdrücken konnte. Also schrie er. Ed schrie aus Leibeskräften. Er schrie, er brüllte. Die Panik fasste ihn und trug ihn fort. Er gab sich ihr hin, weil das allemal besser war, als die reale Erkenntnis, die sich in den sachlichen Gedanken unter der irren Panik verbarg. Schließlich stand die Hecke grün und groß vor Ed. Er rannte einfach weiter. Das wütende Schnauben und die dröhnenden Schritte der Männer hinter sich. Dann, als er wusste, dass er nicht mehr weiter rennen konnte, sprang Ed einfach drauf los. Er sprang, sprang über die Hecke und fiel. Auf der anderen Seite fiel die Böschung vier Meter tief steil ab. Darunter lag die Straße. Ed konnte nur fallen. Fallen und hart aufschlagen. Er sah den Asphalt und ein Schrei blieb in seiner Kehle stecken. Er würde auf die Straße knallen und ein Auto würde ihn überfahren. Ed kniff die Augen zusammen, so fest er konnte. Er breitete die Arme aus und flog einfach. Ja, er stellte sich vor, er würde einfach fliegen. Den Männern davonfliegen. Dann fiel er. Er landete hart auf dem Gras der Böschung und rollte durch die Erde hinunter. Unten an der Straße blieb er liegen und keuchte vor Schmerz und Angst. Als er versuchte, aufzustehen, durchzuckte ihn ein heftiger Schmerz in der Brust. Ed sank auf die Knie und presste seine Hände in seine Seiten. Es half ein wenig, aber er konnte unmöglich wieder aufstehen. Dann kamen sie, die Männer. Sie durchbrachen die Hecke und rutschten und sprangen die Böschung hinunter. Sie packten Ed, trugen ihn zu zweit den Abhang wieder hinauf und brachten ihn zurück in die Burg. Da war der Direktor. Er lachte, als Ed weinend vor ihn gestellt wurde. Er zitterte und Tränen liefen über seine Wange. Die automatische Glastür schloss sich und wurde verriegelt. Die Jungen wurden in den Großen Saal gebracht und der Direktor hielt Ed einen Vertrag unter die Nase. Den Betreuungsvertrag, den seine Mutter unterschrieben hatte. Ed blinzelte, aber der Schmerz verschleierte seinen Blick. Der Direktor las ihm vor, was auf dem Blatt stand. Dass seine Mutter einverstanden war, dass er an dem Gewinnspiel teilnahm, dessen Gewinn ihm sein Leben, dessen Verlust ihm seinen Tod bringen sollte. Ed schrie den Direktor an, dass seine Mutter so etwas niemals unterschreiben würde und der Direktor lachte. Seine Mutter hatte sich noch nicht einmal durchgelesen, was sie unterschrieben hatte. Sie hatte es einfach getan. Und ihn dem Spiel überlassen. Ab jetzt würde er mit den anderen um sein Leben kämpfen. Er wurde ins Klassenzimmer gebracht, auf einen Stuhl gesetzt und wartete, was geschehen würde. Seine Schmerzen ließen im Lauf des Tages nach, seine Panik allerdings wuchs und wuchs. Bis er glaubte, sie würde ihn vollends verschlingen, aber das war nicht geschehen. Er wurde das erste Mal an die Tafel gerufen und er bestand die Aufgabe. Er gewann. Mehr durch Glück, als durch Verstand, aber er gewann. Dann wählte er und sein Verstand wurde auf eine harte Probe gestellt. Aber wieder wurde er nicht verrückt. Nein, er wurde sogar besser. Er fand die Wege. Er gewann und gewann und gewann. Fünf Tage lang. Bald war die Frist verstrichen. Nur noch zwei Tage. Nur noch zwei Tage. Er hatte geträumt. Nur geträumt. Seine Flucht, dieses großartige Meisterwerk. Er hatte es nur geträumt. Nein, er konnte nicht fliegen. Er hatte keine Flügel. Er hatte niemals welche gehabt und er würde niemals welche haben. Stattdessen würde er wahrscheinlich hier sterben. Vielleicht heute. Aber vielleicht konnte er es tatsächlich schaffen. Nur noch zwei Tage. 2 „Ed! Nach vorn!“ Ed zuckte zusammen. Nein. Bitte nicht. Er stand auf und ging langsam nach vorn. Er hatte nicht mehr viel Kraft. Aber er schaffte es, ohne zu stürzen. Er fühlte sich, als sei er wirklich durch den zähen Sirup geflogen, aber er wusste, es war nur die Anstrengung. Und die andauernde Angst. Man wusste nie, wann man aufgerufen wurde. Sie machten einen mürbe, überraschten einen. Und dann machten sie einen fertig. „Zehn Sekunden. Drei Jäger. Mindestens vier Gänge. Los.“ Ed wollte schreien, aber es gab es auf. Keine Kraft vergeuden. Er lief los. Er rannte aus dem Zimmer und schlug auf den ersten Stein. Er hörte schon die Jäger, sie liefen den langen Korridor entlang. Nur einen Gang Vorsprung, weil er schon fünf Tage durchgehalten hatte. Aber die Öffnung glitt auf und Ed schlüpfte hinein, bevor sie sehen konnten, welchen Gang er benutzte. „Eins!“, schrie er aus voller Kehle. Dann lief er den Gang entlang und schlüpfte am anderen Ende hinaus. Er wartete nicht, bis die Öffnung wieder verschlossen war, sondern rannte nach links. Er sprintete die Treppe hinauf und lauschte im Laufen. Nichts. Er wandte sich nach rechts zum Kleinen Turm und drückte einen Stein. Er schlüpfte durch die Öffnung und rannte die Treppe hinauf, ohne sich umzusehen. „Zwei!“, schrie er und keuchte. Das Schreien war das Schlimmste. Es durchbrach die Konzentration und raubte mehr Kraft, als alles andere. Sogar mehr, als die Panik. Am oberen Ende der Treppe rannte Ed nach links und hörte die Jäger. Sie hatten ihn gehört. Er sah sich um und kletterte aus dem Fenster. Sie liefen nach oben, er würde nach unten klettern. Er klammerte sich an die Steine mit den tiefen Furchen und kletterte ein Stockwerk tiefer. Seine Fingerspitzen protestierten schmerzhaft gegen die Anstrengung. Sie drohten, zu verkrampfen, aber Ed schlug mit jeder Hand einmal so fest er konnte flach auf die Mauer und es ging wieder. Dann unten durch die Fensteröffnung. Da vorne war er, der nächste Gang. Er drückte den Stein und krabbelte hinein. Tunnel. „Drei!“, rief er und es schallte unangenehm um ihn herum. Die Jäger hörten es, das wusste er. Aber er hatte ein Stockwerk Vorsprung. In den letzten zwei Tagen war er fast unschlagbar geworden. Der Steinboden des Tunnels schürfte Eds Knie auf, aber er störte sich nicht daran. Es tat kaum weh. Am Ende stieß er atemlos gegen den Stein und quetschte sich durch die Öffnung, bevor sie ganz offen war. Dann wandte er sich nach links, bog um eine Ecke und sprang auf einen Kaminsims. Den dort oben kannte nur er. Er hatte ihn keinem der anderen Kinder verraten. Das war nicht fair, sie hatten ihm auch oft geholfen. Aber er musste überleben. Er drückte den Stein und kroch durch den Tunnel. Von den Jägern war nichts zu hören. „Vier!“ Ed kroch und lief das letzte Stück aufrecht, schräg hinunter. Der Gang endete eine Biegung vom Klassenzimmer entfernt und Ed stürzte keuchend durch die Eichentür nach vorn an die Tafel. Er schlug mit flacher Hand auf das Lehrerpult. „Gewonnen!“, rief er und ließ sich zu Boden fallen. Dort blieb er liegen, bis er kein Herzstechen mehr hatte. Auch die Seitenstiche verschwanden rasch. „In Ordnung. In den Großen.“ Alle, die noch an ihren Tischen saßen, erhoben sich und stellten sich in einer Reihe auf. Ed rappelte sich auf und wartete, bis die Schlange an ihm vorüber gezogen war. Alle Augen starrten ihn flehend an, aber Ed wappnete sich rechtzeitig gegen die flehenden Blicke. Sein Herz war hart geworden in der letzten Zeit. Er hatte nicht einmal geahnt, dass er ein solch hartes Herz haben konnte. Dann schloss er sich der Schlange an und sie gingen im Gänsemarsch durch die Korridore in die dritte Etage und zogen in den Großen Saal. Dort setzten sie sich an den langen Tafeltisch. 3 „Ed. Vier Gänge, gewonnen. Sprich.“, erklang eine laute Stimme und der Direktor trat in den Saal. Er setzte sich ans Kopfende des Tisches und sah Ed an. Etwas wie Wohlgefallen lag in seinem Blick. Er betrachtete seinen besten Läufer. Seinen jüngsten und zugleich seinen besten. Nacheinander traten die Jäger ein und reihten sich neben dem Stuhl des Direktors auf. Ed stand auf und hielt sich am Tisch fest, um nicht in Ohnmacht zu fallen. „Kay.“, sagte er und sah auf die Tischplatte. „Das Letzte Ritual für Kay. Aufstehen.“ Kay begann, zu schreien, aber niemanden störte es. Nur Ed. Er spürte einen schmerzhaften Stich in der Brust. Aber so ging das Spiel nun einmal. Einer gewinnt, einer verliert. „Wähle.“ Ed biss sich auf die Lippe. Dann richtete er seinen Blick mit einem Ruck hinauf und sah Kay an. Der starrte ihm in die Augen, als könnte er ihn allein mit seinem Blick töten. Ed versuchte, ihn mit seinen Augen um Vergebung zu bitten. Kay war sein größter Konkurrent, das wusste er. Er hatte noch nicht verloren und war seit drei Tagen im Spiel. Nur zwei weniger, als Ed. Und er kannte bereits elf Gänge. Nicht schlecht. Sogar gut. Zu gut. „Leber.“, sagte Ed gequält und senkte den Blick wieder. Kay schrie, als steckte er bereits am Spieß. Einer der Jäger legte ihn eine Hand auf den Mund und die Nase. Kay wurde still. Ein anderer Jäger trat heran und zog sein Messer. Alle sahen zu Boden. Niemand sah Kay an. Dann war es vorbei. Für Kay schnell genug. Leber war schwer zu sagen, aber gut zu ertragen. Der Jäger reichte Ed seine Trophäe und Ed schluckte das kleine Stück auf einmal. Dann wurde ihm schlecht. Er bat darum, auf die Toilette gehen zu dürfen. Der Direktor erlaubte es ihm und gab ihm drei Minuten. 4 Die Toilette lag direkt neben dem Großen Saal. Ed rannte hinein und schaffte es gerade noch. Er übergab sich und spülte ab. Dann spülte er sich den Mund aus und stand einen Augenblick keuchend am Waschbecken. Gott, Kay. Ed weinte und hielt sich den schmerzenden Bauch. Jetzt waren noch fünf Kinder und er da. Ed glaubte nicht, dass sie alle überleben würden. Am Anfang waren es achtundzwanzig gewesen. Acht waren am zweiten Tag ausgeschieden, als es losging. Fünf am dritten. Am vierten Tag zehn. Und heute einer. Es würden noch mehr werden. Da sah Ed das Fenster. 5 Es sah verlockend aus. Ed sah sich um, aber es war niemand zu sehen. Er trat ans Fenster und sah hinaus. Es waren über zehn Meter bis zum Boden, aber das machte nichts. Da war ein Vorsprung, schräg unter dem Fenster. Dann ein Sims. Dann fiel das Vordach schräg ab, bis fast hinunter zum Boden. Ed wusste, er konnte es schaffen. Er konnte sich durch den Spalt quetschen, sich auf den Vorsprung gleiten lassen, auf den Sims springen und das Vordach hinunter rutschen. Er würde zwei oder drei Meter weit hinunter springen müssen, aber das konnte man überleben. Ed beschloss, es zu versuchen. Wenn er es nicht tat, würde er vielleicht sterben. Wenn er nicht jetzt den Versuch wagte, würde er vielleicht ins Klassenzimmer zurückkehren, die nächste Runde mitmachen und erwischt werden. Er kannte einfach keine neuen Geheimgänge mehr. Und er war zu müde. Jetzt, oder nie. Ed öffnete das Fenster soweit, wie möglich. Dann stieg er auf die Toilettenschüssel und schwang ein Bein zum Fenster. Er schaffte es. Dann stieß er sich von der Toilette ab und stieß schmerzhaft mit dem Kopf gegen den Fensterrahmen. Aber er hielt sich und schwang auch das zweite Bein aus dem Fenster. Dann ließ er sich langsam nach unten gleiten. 6 Der Rahmen schrappte scharf über Eds Rücken und riss ihm die Haut auf, aber er gab nicht auf. Jetzt oder nie. Er rutschte weiter, hing dann nur noch mit den Achseln fest. Da zog er erst den einen, dann den anderen Arm durchs Fenster und flutschte mit einem Ruck hindurch und direkt bis hinunter auf den Vorsprung. Dort kauerte er sich zusammen und wartete, bis er nicht mehr zitterte. Oh Gott, er musste weiter, sonst kamen sie und sahen ihn und dann würden sie ihn einfach unten erwarten. Er musste nach ganz unten und über die Wiese zu dem bewachsenen Hügel rennen. Noch eine Minute, dann würden sie nach ihm suchen. Er hatte nur drei Minuten gehabt. Schnell. Schnell! Ed wischte sich seine Haare aus der Stirn und dann sprang er einfach. Er erwischte den Sims perfekt und atmete tief durch. Er klammerte sich fest und spähte zum Vordach und auf den Boden. So nah. Die Freiheit. Das Leben. Er würde über die Wiese laufen, sich durch das turmhohe Gestrüpp kämpfen und irgendwo wieder hinaus kommen. Dort würden ihn die Jäger nicht finden. Weil sie ihn dort nicht suchen würden. Sie würden denken, dass er links herum, weg von der Burg zum Parkplatz laufen würde. Sie würden ihn verpassen und er würde überleben. Ja. Ed ließ sich das Vordach hinunter gleiten und überlegte nicht lange. Er sprang direkt und landete auf dem Boden. Dann landete noch jemand neben ihm und Ed schrie auf vor Entsetzen. Es war Jo. Nur Jo! Ed lachte und merkte, wie hysterisch es klang, da ließ er es bleiben. „Was zum Teufel machst du hier?!“, schalt er den schmalen, dunkelhäutigen Jungen und Jo zuckte zusammen. Ihm lief der Schweiß über die Augen und er zitterte am ganzen Körper. Ed wurde wütend. Er würde ihm alles verderben. „Bitte, nimm mich mit. Ich will nicht sterben. Ich hab dich gesehen, wie du abgehauen bist und da bin ich einfach hinterher. Bitte, lass mich nicht hier.“ Ed schnaubte. „Lauf alleine los, du Blödmann. Ich muss mich um mich selbst kümmern. Lauf mir nicht hinterher!“ Jo zuckte zusammen und wurde leichenblass. Er begann, zu weinen, aber Ed kümmerte sich nicht um ihn. Er lief einfach los. Jo rannte ihm nach. Ed hörte seine Füße über die Wiese trampeln. Auf halbem Weg zu dem Wald aus Gestrüpp blieb er stehen und packte Jo an den Armen. „Lauf da lang!“, brüllte Ed und schüttelte Jo, dass dessen Kopf zur Seite flog. „Da lang, zum Parkplatz!“, schrie er und drehte Jo in diese Richtung. Der nickte bloß, schwieg und rannte weiter. Ed kümmerte sich nicht mehr um ihn und rannte weiter. Er wusste, dass Jo den Jägern direkt in die Arme laufen würde, aber darum konnte er sich einfach nicht kümmern. Er warf einen Blick zurück und sah plötzlich drei Schatten aus der Burg kommen. Sie kamen aus einem der Seitentunnels. Ed spürte den dicken Kloß zurück in seinem Hals. Die Panik. Aber da sah er plötzlich, dass sie sich nicht um ihn kümmerten, sondern Jo folgten. Ja, sie würden Jo kriegen und nicht ihn. Sehr gut. Ed lief, flog beinahe über die grünen Halme und erreichte den Wall, der zum Gestrüppwald hinaufführte. Er kletterte hinauf, ohne inne zu halten. Er geriet außer Atem, schnappte nach Luft, aber er trieb sich weiter. Er strauchelte, fiel auf die Knie, aber er sprang wieder auf die Füße. Ja, er schaffte es und stand nun oben. Kurz warf er einen Blick zurück. Sie hatten Jo erwischt. Sie standen dort hinten am Rand des Parkplatzes. Sie hielten Jo fest, aber mehr konnte Ed nicht erkennen. Sie waren zu weit weg. Dann wandte er sich ab, schlug sich durch das Gestrüpp und sprang den Abhang hinunter, der darunter steil abfiel. 7 Erst bemerkte Ed nicht, worauf er gelandet war. Er geriet ins Straucheln und fiel. Er kugelte einmal um sich selbst, dann lag er still. Und dann bemerkte er es. Langsam. Er rappelte sich auf und spürte, dass die Erde unter seinen Händen merkwürdig war. Sie war weich, gleichzeitig hart und irgendwie kalt und glitschig. Ed hob die Hände und sah sie an. Sie sahen ganz normal aus. Dann sah er auf die Erde. Und da war er wieder, der Schrei. Die Panik. Aber diesmal war das Entsetzen so groß, dass er nicht schreien konnte. Jetzt wusste er, was mit all den Kindern passiert war. Jetzt wusste er, wie viele es gewesen waren. In hunderten von Jahren. So viele Kinder! Ed keuchte und übergab sich. Er übergab sich mitten auf all die Leichen. Auf den Berg aus Leichen. Berg aus toten Kindern. Arme, Beine, Köpfe, Leiber. Überall. Ed rang nach Atem, der Gestank war unglaublich. Ed erbrach sich noch einmal. Dann hörte er das Geräusch. Es war hinter ihm und es waren die Jäger. Und da wusste Ed, dass Jo ihn verraten hatte. Und er wusste, dass er jetzt nicht mehr brechen durfte. Er musste über die Leichen laufen, als wäre es eine Wiese. Nicht nach unten sehen und laufen, so schnell er nur konnte. Ed heulte. Er heulte Rotz und Wasser, während er sich seinen Weg durch die Massen stinkender Leiber bahnte. Sie klebten an ihm, schienen ihn nach unten zu ziehen. Augen starrten ihn leblos an, während er um sein Leben kämpfte. So viel Angst und Leid und Schmerz in den toten Augen. Sie hatten alle dasselbe erlebt, wie er. Sie hatten alle gekämpft, Gänge gesucht und verloren. Gott, er durfte nicht verlieren! Schließlich hörte Ed die Jäger ganz nah. Er würde es nicht schaffen. Nein, er konnte nicht mehr weiter gehen. Er musste etwas anderes tun. 8 Ed hielt inne und schloss die Augen. Er schloss sie, kniff sie zusammen und hielt sie geschlossen. Dann begann er, zu graben. Er hob, zog und zerrte. Leib für Leib, Kind für Kind. Er grub ein Loch und legte sich hinein. Rollte sich zusammen und heulte und heulte. Aber lautlos. Dann zog und zerrte er, deckte sich zu mit den Körpern der Toten und als er die ersten Kinder über seinen Kopf zog, hielt er die Luft an. Er betete, dass er dort drinnen nicht würde atmen müssen. Dann war Ed verschwunden. Nur noch die Leichen lagen dort. Ein Meer aus Leibern war das. Hügel und Täler bildeten die toten Körper, während sie in der Witterung verrotteten. Die Jäger sprangen, ohne zu zögern, den Abhang der Toten hinunter. Die trampelten über die Kinderleichen, als wären sie nur Erde. Sie schrieen, dann schwiegen sie und suchten. Ed hörte sie reden und schnüffeln. Sie lachten hin und wieder und er musste Luft holen. Er tat es. Er atmete. Den Geruch von totem, verwesendem Fleisch. Er übergab sich auf die Leiber um ihn herum und er glaubte, er musste sterben, aber er tat es nicht. Er war sicher unter der Masse der toten Kinder und die Jäger gingen vorbei. Nein, hier konnte er nicht sein. Kein Kind konnte hier durchlaufen und solange durchhalten, dass es jetzt schon weg sein konnte. Jedes Kind, das das hier sah, musste verrückt werden. Und schreien. Die Jäger kehrten um. 9 Nach einer Ewigkeit grub Ed sich aus dem toten Fleisch heraus. Er steckte den Kopf heraus und atmete frische Luft. Bis er bemerkte, dass auch die nach Toten stank. Gott, er konnte das nicht mehr aushalten. Er musste verrückt werden. All die toten Kinder. Es waren ja hunderte. Tausende! Ed keuchte, japste und schluchzte gleichzeitig. Er verschluckte sich und heulte und heulte. Dann hatte er sich aus seinem Leichenloch heraus gegraben und lag obenauf. In diesem Moment wurde er am Kragen gepackt und mit einem lauten Auflachen hoch in die Luft gehoben. Ende „Nein! Nein!“ Ed schrie aus voller Kehle. Immer wieder. Alles, was in ihm steckte, alle Angst, aller Ekel, alles Entsetzen brach in diesem Schreien aus ihm heraus. Er konnte nicht mehr aufhören, zu schreien. Der Jäger lachte nur. Lachte und lud ihn sich auf die Schulter. Nein, so dumm waren sie nicht gewesen. Sie hatten ihn hierher laufen sehen und er musste hier gewesen sein. Und sie hatten einfach nur zu warten gebraucht. Sie waren schlau. Die anderen Jäger kamen zusammen. Sie umringten Ed und schoben Jo zu ihm in die Mitte. Jetzt begann es. Ihr Letztes Ritual. Oh Gott, Ed wollte nicht, dass es begann. Er war noch nicht dran. Er hatte keine Letzte Jagd gehabt. Keine Auswahl. Das war gegen die Regeln. „Nein! Nein!“, schrie er noch immer, doch niemand achtete darauf. Der große Jäger mit den blonden Haaren kniete sich nieder und fuhr sich mit seinen schmutzigen Händen durchs Haar. Er winkte dem Jäger zu, der Ed trug und der ließ Ed auf die Leichen gleiten. „Komm her, Ed. Zu mir. Das ist dein Letztes Ritual.“, begann er und Ed kreischte. Wehrte sich, mit aller Kraft, die er noch hatte. Aber der Jäger hielt ihn fest. Auch Jo wurde jetzt festgehalten. Er schrie nicht, er schwieg und starrte mit leerem Blick auf die Kinderleichen zu seinen Füßen. „Hier Ed, wähle.“, sagte der Jäger und hielt Ed eine Schachtel hin. Ed sah nicht hinein. Er konnte es nicht. Er konnte es nicht. Dann schaute er hin. „Gott!“, rief er verzweifelt und wurde von Weinkrämpfen geschüttelt. Der Jäger lächelte. „Du solltest es genießen. Wirklich, Ed. Es wird dir gut tun.“ Ed schluchzte, dann hörte er plötzlich auf. Und wurde still. Alles war vorbei. Ed lachte. Dann schwieg er. Er wusste, sein Verstand hatte ihn verlassen. Da war sie, die wogende Welle des Wahnsinns. Es musste Wahnsinn sein, der ihn so sanft davontrug und alles erträglicher machte. Was sonst? „Ich möchte doch eine.“, sagte er und der Jäger reichte ihm lächelnd die Schachtel. Da war Sams Ohr und Bos Ohr und herrliche Schokolade. So viele köstliche Pralinen. „Einen Käfer.“, sagte Ed ruhig und der Jäger reichte ihm die Praline in Form eines Käfers. Dunkle Schokolade mit Streifen aus weißer Schokolade. Ed biss hinein. Nougat. Er mochte Nougat gern. Er sah die Ohren an, die in der Schachtel lagen. Dann überlegte er in Ruhe und schloss die Augen. „Zunge.“, sagte er dann und spürte, dass heiße, aber stille Tränen über seine Wangen liefen. Der Jäger lächelte. „Gute Wahl. Du bist clever. In Ordnung.“ Ed bekam nicht mit, wie Jo seine Wahl traf. Aber er traf sie ebenso ruhig, wie Ed seine getroffen hatte. Er war sicher auch verrückt geworden. Sie hatten ja lange durchgehalten, aber letztendlich war auch das sicher nur Teil des Spiels. Sie hatten nie eine Chance gehabt. Ed kniete sich auf die toten Leiber, die Augen sicher geschlossen. Er streckte die Zunge heraus. Dann spürte er nur den kurzen, scharfen Schmerz, als der Jäger sie ihm abschnitt. Er schrie, aber es kam nur ein Gurgeln heraus. Dann ließ Ed sich auf die tröstenden Leiber sinken und wartete, bis das Blut, das aus der Wunde an seiner Zunge lief ihn in den Schlaf wiegte. Es dauerte nicht lange. Ed glitt hinüber, ohne Angst und Furcht. Es war ja nur ein Traum. So wie der von den Flügeln. Alles nur ein Traum. Oder doch nicht? Etwas in Ed regte sich, das ihm sagen wollte, dass es Wirklichkeit war. Etwas unter dem Wahnsinn, der sein Gehirn im Griff hielt. Aber bevor das Etwas wirklich zu ihm durchdrang, fiel Ed gnädigerweise in Ohnmacht. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)