Das letzte Ritual von ayami ================================================================================ Kapitel 4: Das Ende vom Anfang ------------------------------ 1 Helles Licht. Glas. Ein Fenster? Ja, es war ein Fenster. Und dahinter? Was war das? Grün. Vielleicht Rasen. Eine Wiese vielleicht. Ja, es war eine Wiese. Und das Harte, Kalte unter seinem Kopf? Ein Tisch. Aus Stein. Nein! Ed riss den Kopf hoch und die Augen auf. Er spürte, dass sein Herz bis zum Hals schlug. Es zerbarst fast in seiner Brust. Er spürte einen Schrei in sich aufsteigen und er wusste, dass er ihn nicht unterdrücken konnte. Also schrie er. Ed schrie aus Leibeskräften. Er schrie, er brüllte. Die Panik fasste ihn und trug ihn fort. Er gab sich ihr hin, weil das allemal besser war, als die reale Erkenntnis, die sich in den sachlichen Gedanken unter der irren Panik verbarg. Schließlich stand die Hecke grün und groß vor Ed. Er rannte einfach weiter. Das wütende Schnauben und die dröhnenden Schritte der Männer hinter sich. Dann, als er wusste, dass er nicht mehr weiter rennen konnte, sprang Ed einfach drauf los. Er sprang, sprang über die Hecke und fiel. Auf der anderen Seite fiel die Böschung vier Meter tief steil ab. Darunter lag die Straße. Ed konnte nur fallen. Fallen und hart aufschlagen. Er sah den Asphalt und ein Schrei blieb in seiner Kehle stecken. Er würde auf die Straße knallen und ein Auto würde ihn überfahren. Ed kniff die Augen zusammen, so fest er konnte. Er breitete die Arme aus und flog einfach. Ja, er stellte sich vor, er würde einfach fliegen. Den Männern davonfliegen. Dann fiel er. Er landete hart auf dem Gras der Böschung und rollte durch die Erde hinunter. Unten an der Straße blieb er liegen und keuchte vor Schmerz und Angst. Als er versuchte, aufzustehen, durchzuckte ihn ein heftiger Schmerz in der Brust. Ed sank auf die Knie und presste seine Hände in seine Seiten. Es half ein wenig, aber er konnte unmöglich wieder aufstehen. Dann kamen sie, die Männer. Sie durchbrachen die Hecke und rutschten und sprangen die Böschung hinunter. Sie packten Ed, trugen ihn zu zweit den Abhang wieder hinauf und brachten ihn zurück in die Burg. Da war der Direktor. Er lachte, als Ed weinend vor ihn gestellt wurde. Er zitterte und Tränen liefen über seine Wange. Die automatische Glastür schloss sich und wurde verriegelt. Die Jungen wurden in den Großen Saal gebracht und der Direktor hielt Ed einen Vertrag unter die Nase. Den Betreuungsvertrag, den seine Mutter unterschrieben hatte. Ed blinzelte, aber der Schmerz verschleierte seinen Blick. Der Direktor las ihm vor, was auf dem Blatt stand. Dass seine Mutter einverstanden war, dass er an dem Gewinnspiel teilnahm, dessen Gewinn ihm sein Leben, dessen Verlust ihm seinen Tod bringen sollte. Ed schrie den Direktor an, dass seine Mutter so etwas niemals unterschreiben würde und der Direktor lachte. Seine Mutter hatte sich noch nicht einmal durchgelesen, was sie unterschrieben hatte. Sie hatte es einfach getan. Und ihn dem Spiel überlassen. Ab jetzt würde er mit den anderen um sein Leben kämpfen. Er wurde ins Klassenzimmer gebracht, auf einen Stuhl gesetzt und wartete, was geschehen würde. Seine Schmerzen ließen im Lauf des Tages nach, seine Panik allerdings wuchs und wuchs. Bis er glaubte, sie würde ihn vollends verschlingen, aber das war nicht geschehen. Er wurde das erste Mal an die Tafel gerufen und er bestand die Aufgabe. Er gewann. Mehr durch Glück, als durch Verstand, aber er gewann. Dann wählte er und sein Verstand wurde auf eine harte Probe gestellt. Aber wieder wurde er nicht verrückt. Nein, er wurde sogar besser. Er fand die Wege. Er gewann und gewann und gewann. Fünf Tage lang. Bald war die Frist verstrichen. Nur noch zwei Tage. Nur noch zwei Tage. Er hatte geträumt. Nur geträumt. Seine Flucht, dieses großartige Meisterwerk. Er hatte es nur geträumt. Nein, er konnte nicht fliegen. Er hatte keine Flügel. Er hatte niemals welche gehabt und er würde niemals welche haben. Stattdessen würde er wahrscheinlich hier sterben. Vielleicht heute. Aber vielleicht konnte er es tatsächlich schaffen. Nur noch zwei Tage. 2 „Ed! Nach vorn!“ Ed zuckte zusammen. Nein. Bitte nicht. Er stand auf und ging langsam nach vorn. Er hatte nicht mehr viel Kraft. Aber er schaffte es, ohne zu stürzen. Er fühlte sich, als sei er wirklich durch den zähen Sirup geflogen, aber er wusste, es war nur die Anstrengung. Und die andauernde Angst. Man wusste nie, wann man aufgerufen wurde. Sie machten einen mürbe, überraschten einen. Und dann machten sie einen fertig. „Zehn Sekunden. Drei Jäger. Mindestens vier Gänge. Los.“ Ed wollte schreien, aber es gab es auf. Keine Kraft vergeuden. Er lief los. Er rannte aus dem Zimmer und schlug auf den ersten Stein. Er hörte schon die Jäger, sie liefen den langen Korridor entlang. Nur einen Gang Vorsprung, weil er schon fünf Tage durchgehalten hatte. Aber die Öffnung glitt auf und Ed schlüpfte hinein, bevor sie sehen konnten, welchen Gang er benutzte. „Eins!“, schrie er aus voller Kehle. Dann lief er den Gang entlang und schlüpfte am anderen Ende hinaus. Er wartete nicht, bis die Öffnung wieder verschlossen war, sondern rannte nach links. Er sprintete die Treppe hinauf und lauschte im Laufen. Nichts. Er wandte sich nach rechts zum Kleinen Turm und drückte einen Stein. Er schlüpfte durch die Öffnung und rannte die Treppe hinauf, ohne sich umzusehen. „Zwei!“, schrie er und keuchte. Das Schreien war das Schlimmste. Es durchbrach die Konzentration und raubte mehr Kraft, als alles andere. Sogar mehr, als die Panik. Am oberen Ende der Treppe rannte Ed nach links und hörte die Jäger. Sie hatten ihn gehört. Er sah sich um und kletterte aus dem Fenster. Sie liefen nach oben, er würde nach unten klettern. Er klammerte sich an die Steine mit den tiefen Furchen und kletterte ein Stockwerk tiefer. Seine Fingerspitzen protestierten schmerzhaft gegen die Anstrengung. Sie drohten, zu verkrampfen, aber Ed schlug mit jeder Hand einmal so fest er konnte flach auf die Mauer und es ging wieder. Dann unten durch die Fensteröffnung. Da vorne war er, der nächste Gang. Er drückte den Stein und krabbelte hinein. Tunnel. „Drei!“, rief er und es schallte unangenehm um ihn herum. Die Jäger hörten es, das wusste er. Aber er hatte ein Stockwerk Vorsprung. In den letzten zwei Tagen war er fast unschlagbar geworden. Der Steinboden des Tunnels schürfte Eds Knie auf, aber er störte sich nicht daran. Es tat kaum weh. Am Ende stieß er atemlos gegen den Stein und quetschte sich durch die Öffnung, bevor sie ganz offen war. Dann wandte er sich nach links, bog um eine Ecke und sprang auf einen Kaminsims. Den dort oben kannte nur er. Er hatte ihn keinem der anderen Kinder verraten. Das war nicht fair, sie hatten ihm auch oft geholfen. Aber er musste überleben. Er drückte den Stein und kroch durch den Tunnel. Von den Jägern war nichts zu hören. „Vier!“ Ed kroch und lief das letzte Stück aufrecht, schräg hinunter. Der Gang endete eine Biegung vom Klassenzimmer entfernt und Ed stürzte keuchend durch die Eichentür nach vorn an die Tafel. Er schlug mit flacher Hand auf das Lehrerpult. „Gewonnen!“, rief er und ließ sich zu Boden fallen. Dort blieb er liegen, bis er kein Herzstechen mehr hatte. Auch die Seitenstiche verschwanden rasch. „In Ordnung. In den Großen.“ Alle, die noch an ihren Tischen saßen, erhoben sich und stellten sich in einer Reihe auf. Ed rappelte sich auf und wartete, bis die Schlange an ihm vorüber gezogen war. Alle Augen starrten ihn flehend an, aber Ed wappnete sich rechtzeitig gegen die flehenden Blicke. Sein Herz war hart geworden in der letzten Zeit. Er hatte nicht einmal geahnt, dass er ein solch hartes Herz haben konnte. Dann schloss er sich der Schlange an und sie gingen im Gänsemarsch durch die Korridore in die dritte Etage und zogen in den Großen Saal. Dort setzten sie sich an den langen Tafeltisch. 3 „Ed. Vier Gänge, gewonnen. Sprich.“, erklang eine laute Stimme und der Direktor trat in den Saal. Er setzte sich ans Kopfende des Tisches und sah Ed an. Etwas wie Wohlgefallen lag in seinem Blick. Er betrachtete seinen besten Läufer. Seinen jüngsten und zugleich seinen besten. Nacheinander traten die Jäger ein und reihten sich neben dem Stuhl des Direktors auf. Ed stand auf und hielt sich am Tisch fest, um nicht in Ohnmacht zu fallen. „Kay.“, sagte er und sah auf die Tischplatte. „Das Letzte Ritual für Kay. Aufstehen.“ Kay begann, zu schreien, aber niemanden störte es. Nur Ed. Er spürte einen schmerzhaften Stich in der Brust. Aber so ging das Spiel nun einmal. Einer gewinnt, einer verliert. „Wähle.“ Ed biss sich auf die Lippe. Dann richtete er seinen Blick mit einem Ruck hinauf und sah Kay an. Der starrte ihm in die Augen, als könnte er ihn allein mit seinem Blick töten. Ed versuchte, ihn mit seinen Augen um Vergebung zu bitten. Kay war sein größter Konkurrent, das wusste er. Er hatte noch nicht verloren und war seit drei Tagen im Spiel. Nur zwei weniger, als Ed. Und er kannte bereits elf Gänge. Nicht schlecht. Sogar gut. Zu gut. „Leber.“, sagte Ed gequält und senkte den Blick wieder. Kay schrie, als steckte er bereits am Spieß. Einer der Jäger legte ihn eine Hand auf den Mund und die Nase. Kay wurde still. Ein anderer Jäger trat heran und zog sein Messer. Alle sahen zu Boden. Niemand sah Kay an. Dann war es vorbei. Für Kay schnell genug. Leber war schwer zu sagen, aber gut zu ertragen. Der Jäger reichte Ed seine Trophäe und Ed schluckte das kleine Stück auf einmal. Dann wurde ihm schlecht. Er bat darum, auf die Toilette gehen zu dürfen. Der Direktor erlaubte es ihm und gab ihm drei Minuten. 4 Die Toilette lag direkt neben dem Großen Saal. Ed rannte hinein und schaffte es gerade noch. Er übergab sich und spülte ab. Dann spülte er sich den Mund aus und stand einen Augenblick keuchend am Waschbecken. Gott, Kay. Ed weinte und hielt sich den schmerzenden Bauch. Jetzt waren noch fünf Kinder und er da. Ed glaubte nicht, dass sie alle überleben würden. Am Anfang waren es achtundzwanzig gewesen. Acht waren am zweiten Tag ausgeschieden, als es losging. Fünf am dritten. Am vierten Tag zehn. Und heute einer. Es würden noch mehr werden. Da sah Ed das Fenster. 5 Es sah verlockend aus. Ed sah sich um, aber es war niemand zu sehen. Er trat ans Fenster und sah hinaus. Es waren über zehn Meter bis zum Boden, aber das machte nichts. Da war ein Vorsprung, schräg unter dem Fenster. Dann ein Sims. Dann fiel das Vordach schräg ab, bis fast hinunter zum Boden. Ed wusste, er konnte es schaffen. Er konnte sich durch den Spalt quetschen, sich auf den Vorsprung gleiten lassen, auf den Sims springen und das Vordach hinunter rutschen. Er würde zwei oder drei Meter weit hinunter springen müssen, aber das konnte man überleben. Ed beschloss, es zu versuchen. Wenn er es nicht tat, würde er vielleicht sterben. Wenn er nicht jetzt den Versuch wagte, würde er vielleicht ins Klassenzimmer zurückkehren, die nächste Runde mitmachen und erwischt werden. Er kannte einfach keine neuen Geheimgänge mehr. Und er war zu müde. Jetzt, oder nie. Ed öffnete das Fenster soweit, wie möglich. Dann stieg er auf die Toilettenschüssel und schwang ein Bein zum Fenster. Er schaffte es. Dann stieß er sich von der Toilette ab und stieß schmerzhaft mit dem Kopf gegen den Fensterrahmen. Aber er hielt sich und schwang auch das zweite Bein aus dem Fenster. Dann ließ er sich langsam nach unten gleiten. 6 Der Rahmen schrappte scharf über Eds Rücken und riss ihm die Haut auf, aber er gab nicht auf. Jetzt oder nie. Er rutschte weiter, hing dann nur noch mit den Achseln fest. Da zog er erst den einen, dann den anderen Arm durchs Fenster und flutschte mit einem Ruck hindurch und direkt bis hinunter auf den Vorsprung. Dort kauerte er sich zusammen und wartete, bis er nicht mehr zitterte. Oh Gott, er musste weiter, sonst kamen sie und sahen ihn und dann würden sie ihn einfach unten erwarten. Er musste nach ganz unten und über die Wiese zu dem bewachsenen Hügel rennen. Noch eine Minute, dann würden sie nach ihm suchen. Er hatte nur drei Minuten gehabt. Schnell. Schnell! Ed wischte sich seine Haare aus der Stirn und dann sprang er einfach. Er erwischte den Sims perfekt und atmete tief durch. Er klammerte sich fest und spähte zum Vordach und auf den Boden. So nah. Die Freiheit. Das Leben. Er würde über die Wiese laufen, sich durch das turmhohe Gestrüpp kämpfen und irgendwo wieder hinaus kommen. Dort würden ihn die Jäger nicht finden. Weil sie ihn dort nicht suchen würden. Sie würden denken, dass er links herum, weg von der Burg zum Parkplatz laufen würde. Sie würden ihn verpassen und er würde überleben. Ja. Ed ließ sich das Vordach hinunter gleiten und überlegte nicht lange. Er sprang direkt und landete auf dem Boden. Dann landete noch jemand neben ihm und Ed schrie auf vor Entsetzen. Es war Jo. Nur Jo! Ed lachte und merkte, wie hysterisch es klang, da ließ er es bleiben. „Was zum Teufel machst du hier?!“, schalt er den schmalen, dunkelhäutigen Jungen und Jo zuckte zusammen. Ihm lief der Schweiß über die Augen und er zitterte am ganzen Körper. Ed wurde wütend. Er würde ihm alles verderben. „Bitte, nimm mich mit. Ich will nicht sterben. Ich hab dich gesehen, wie du abgehauen bist und da bin ich einfach hinterher. Bitte, lass mich nicht hier.“ Ed schnaubte. „Lauf alleine los, du Blödmann. Ich muss mich um mich selbst kümmern. Lauf mir nicht hinterher!“ Jo zuckte zusammen und wurde leichenblass. Er begann, zu weinen, aber Ed kümmerte sich nicht um ihn. Er lief einfach los. Jo rannte ihm nach. Ed hörte seine Füße über die Wiese trampeln. Auf halbem Weg zu dem Wald aus Gestrüpp blieb er stehen und packte Jo an den Armen. „Lauf da lang!“, brüllte Ed und schüttelte Jo, dass dessen Kopf zur Seite flog. „Da lang, zum Parkplatz!“, schrie er und drehte Jo in diese Richtung. Der nickte bloß, schwieg und rannte weiter. Ed kümmerte sich nicht mehr um ihn und rannte weiter. Er wusste, dass Jo den Jägern direkt in die Arme laufen würde, aber darum konnte er sich einfach nicht kümmern. Er warf einen Blick zurück und sah plötzlich drei Schatten aus der Burg kommen. Sie kamen aus einem der Seitentunnels. Ed spürte den dicken Kloß zurück in seinem Hals. Die Panik. Aber da sah er plötzlich, dass sie sich nicht um ihn kümmerten, sondern Jo folgten. Ja, sie würden Jo kriegen und nicht ihn. Sehr gut. Ed lief, flog beinahe über die grünen Halme und erreichte den Wall, der zum Gestrüppwald hinaufführte. Er kletterte hinauf, ohne inne zu halten. Er geriet außer Atem, schnappte nach Luft, aber er trieb sich weiter. Er strauchelte, fiel auf die Knie, aber er sprang wieder auf die Füße. Ja, er schaffte es und stand nun oben. Kurz warf er einen Blick zurück. Sie hatten Jo erwischt. Sie standen dort hinten am Rand des Parkplatzes. Sie hielten Jo fest, aber mehr konnte Ed nicht erkennen. Sie waren zu weit weg. Dann wandte er sich ab, schlug sich durch das Gestrüpp und sprang den Abhang hinunter, der darunter steil abfiel. 7 Erst bemerkte Ed nicht, worauf er gelandet war. Er geriet ins Straucheln und fiel. Er kugelte einmal um sich selbst, dann lag er still. Und dann bemerkte er es. Langsam. Er rappelte sich auf und spürte, dass die Erde unter seinen Händen merkwürdig war. Sie war weich, gleichzeitig hart und irgendwie kalt und glitschig. Ed hob die Hände und sah sie an. Sie sahen ganz normal aus. Dann sah er auf die Erde. Und da war er wieder, der Schrei. Die Panik. Aber diesmal war das Entsetzen so groß, dass er nicht schreien konnte. Jetzt wusste er, was mit all den Kindern passiert war. Jetzt wusste er, wie viele es gewesen waren. In hunderten von Jahren. So viele Kinder! Ed keuchte und übergab sich. Er übergab sich mitten auf all die Leichen. Auf den Berg aus Leichen. Berg aus toten Kindern. Arme, Beine, Köpfe, Leiber. Überall. Ed rang nach Atem, der Gestank war unglaublich. Ed erbrach sich noch einmal. Dann hörte er das Geräusch. Es war hinter ihm und es waren die Jäger. Und da wusste Ed, dass Jo ihn verraten hatte. Und er wusste, dass er jetzt nicht mehr brechen durfte. Er musste über die Leichen laufen, als wäre es eine Wiese. Nicht nach unten sehen und laufen, so schnell er nur konnte. Ed heulte. Er heulte Rotz und Wasser, während er sich seinen Weg durch die Massen stinkender Leiber bahnte. Sie klebten an ihm, schienen ihn nach unten zu ziehen. Augen starrten ihn leblos an, während er um sein Leben kämpfte. So viel Angst und Leid und Schmerz in den toten Augen. Sie hatten alle dasselbe erlebt, wie er. Sie hatten alle gekämpft, Gänge gesucht und verloren. Gott, er durfte nicht verlieren! Schließlich hörte Ed die Jäger ganz nah. Er würde es nicht schaffen. Nein, er konnte nicht mehr weiter gehen. Er musste etwas anderes tun. 8 Ed hielt inne und schloss die Augen. Er schloss sie, kniff sie zusammen und hielt sie geschlossen. Dann begann er, zu graben. Er hob, zog und zerrte. Leib für Leib, Kind für Kind. Er grub ein Loch und legte sich hinein. Rollte sich zusammen und heulte und heulte. Aber lautlos. Dann zog und zerrte er, deckte sich zu mit den Körpern der Toten und als er die ersten Kinder über seinen Kopf zog, hielt er die Luft an. Er betete, dass er dort drinnen nicht würde atmen müssen. Dann war Ed verschwunden. Nur noch die Leichen lagen dort. Ein Meer aus Leibern war das. Hügel und Täler bildeten die toten Körper, während sie in der Witterung verrotteten. Die Jäger sprangen, ohne zu zögern, den Abhang der Toten hinunter. Die trampelten über die Kinderleichen, als wären sie nur Erde. Sie schrieen, dann schwiegen sie und suchten. Ed hörte sie reden und schnüffeln. Sie lachten hin und wieder und er musste Luft holen. Er tat es. Er atmete. Den Geruch von totem, verwesendem Fleisch. Er übergab sich auf die Leiber um ihn herum und er glaubte, er musste sterben, aber er tat es nicht. Er war sicher unter der Masse der toten Kinder und die Jäger gingen vorbei. Nein, hier konnte er nicht sein. Kein Kind konnte hier durchlaufen und solange durchhalten, dass es jetzt schon weg sein konnte. Jedes Kind, das das hier sah, musste verrückt werden. Und schreien. Die Jäger kehrten um. 9 Nach einer Ewigkeit grub Ed sich aus dem toten Fleisch heraus. Er steckte den Kopf heraus und atmete frische Luft. Bis er bemerkte, dass auch die nach Toten stank. Gott, er konnte das nicht mehr aushalten. Er musste verrückt werden. All die toten Kinder. Es waren ja hunderte. Tausende! Ed keuchte, japste und schluchzte gleichzeitig. Er verschluckte sich und heulte und heulte. Dann hatte er sich aus seinem Leichenloch heraus gegraben und lag obenauf. In diesem Moment wurde er am Kragen gepackt und mit einem lauten Auflachen hoch in die Luft gehoben. Ende „Nein! Nein!“ Ed schrie aus voller Kehle. Immer wieder. Alles, was in ihm steckte, alle Angst, aller Ekel, alles Entsetzen brach in diesem Schreien aus ihm heraus. Er konnte nicht mehr aufhören, zu schreien. Der Jäger lachte nur. Lachte und lud ihn sich auf die Schulter. Nein, so dumm waren sie nicht gewesen. Sie hatten ihn hierher laufen sehen und er musste hier gewesen sein. Und sie hatten einfach nur zu warten gebraucht. Sie waren schlau. Die anderen Jäger kamen zusammen. Sie umringten Ed und schoben Jo zu ihm in die Mitte. Jetzt begann es. Ihr Letztes Ritual. Oh Gott, Ed wollte nicht, dass es begann. Er war noch nicht dran. Er hatte keine Letzte Jagd gehabt. Keine Auswahl. Das war gegen die Regeln. „Nein! Nein!“, schrie er noch immer, doch niemand achtete darauf. Der große Jäger mit den blonden Haaren kniete sich nieder und fuhr sich mit seinen schmutzigen Händen durchs Haar. Er winkte dem Jäger zu, der Ed trug und der ließ Ed auf die Leichen gleiten. „Komm her, Ed. Zu mir. Das ist dein Letztes Ritual.“, begann er und Ed kreischte. Wehrte sich, mit aller Kraft, die er noch hatte. Aber der Jäger hielt ihn fest. Auch Jo wurde jetzt festgehalten. Er schrie nicht, er schwieg und starrte mit leerem Blick auf die Kinderleichen zu seinen Füßen. „Hier Ed, wähle.“, sagte der Jäger und hielt Ed eine Schachtel hin. Ed sah nicht hinein. Er konnte es nicht. Er konnte es nicht. Dann schaute er hin. „Gott!“, rief er verzweifelt und wurde von Weinkrämpfen geschüttelt. Der Jäger lächelte. „Du solltest es genießen. Wirklich, Ed. Es wird dir gut tun.“ Ed schluchzte, dann hörte er plötzlich auf. Und wurde still. Alles war vorbei. Ed lachte. Dann schwieg er. Er wusste, sein Verstand hatte ihn verlassen. Da war sie, die wogende Welle des Wahnsinns. Es musste Wahnsinn sein, der ihn so sanft davontrug und alles erträglicher machte. Was sonst? „Ich möchte doch eine.“, sagte er und der Jäger reichte ihm lächelnd die Schachtel. Da war Sams Ohr und Bos Ohr und herrliche Schokolade. So viele köstliche Pralinen. „Einen Käfer.“, sagte Ed ruhig und der Jäger reichte ihm die Praline in Form eines Käfers. Dunkle Schokolade mit Streifen aus weißer Schokolade. Ed biss hinein. Nougat. Er mochte Nougat gern. Er sah die Ohren an, die in der Schachtel lagen. Dann überlegte er in Ruhe und schloss die Augen. „Zunge.“, sagte er dann und spürte, dass heiße, aber stille Tränen über seine Wangen liefen. Der Jäger lächelte. „Gute Wahl. Du bist clever. In Ordnung.“ Ed bekam nicht mit, wie Jo seine Wahl traf. Aber er traf sie ebenso ruhig, wie Ed seine getroffen hatte. Er war sicher auch verrückt geworden. Sie hatten ja lange durchgehalten, aber letztendlich war auch das sicher nur Teil des Spiels. Sie hatten nie eine Chance gehabt. Ed kniete sich auf die toten Leiber, die Augen sicher geschlossen. Er streckte die Zunge heraus. Dann spürte er nur den kurzen, scharfen Schmerz, als der Jäger sie ihm abschnitt. Er schrie, aber es kam nur ein Gurgeln heraus. Dann ließ Ed sich auf die tröstenden Leiber sinken und wartete, bis das Blut, das aus der Wunde an seiner Zunge lief ihn in den Schlaf wiegte. Es dauerte nicht lange. Ed glitt hinüber, ohne Angst und Furcht. Es war ja nur ein Traum. So wie der von den Flügeln. Alles nur ein Traum. Oder doch nicht? Etwas in Ed regte sich, das ihm sagen wollte, dass es Wirklichkeit war. Etwas unter dem Wahnsinn, der sein Gehirn im Griff hielt. Aber bevor das Etwas wirklich zu ihm durchdrang, fiel Ed gnädigerweise in Ohnmacht. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)