Das letzte Ritual von ayami ================================================================================ Kapitel 3: Der Anfang vom Ende ------------------------------ 1 Ed sah seiner Mutter nach, bis er sie nicht mehr ausmachen konnte. Dann wand er sich um und trat an den Empfangstresen. Dort stand Herr May und sprach mit zwei Wachleuten. Sie trugen blaue Uniformen. Ed hatte sie schon oft in der Burg gesehen. Sie liefen herum und passten auf, dass niemand die verbotenen Bereiche betrat. „Ist er das?“, fragte der eine gerade und Herr May nickte. „Ziemlich jung. Ist das nicht etwas zu jung?“ Herr May schüttelte den Kopf. Ed trat näher an den Tresen und stellte sich auf die Zehenspitzen. „Hallo.“, sagte er und lächelte den dreien freundlich zu. Herr May sah ihn an und lächelte ein wenig. Dann kam er um den Tresen herum und hob Ed darauf. „Cool.“, entfleuchte es dem und er grinste. Wenn man auf dem Tresen saß, konnte man durch die Glastür auf den Parkplatz sehen. Einer der Blauen winkte kurz und verschwand dann. „Ich hol eben die anderen beiden.“, sagte er und grinste. Ed runzelte die Stirn. Dann fiel es ihm ein. Klar, die Experten, die ihm und dem Direktor bei der Suche nach den Gängen helfen sollten. Herr May sah Ed die ganze Zeit an und er lächelte jetzt nicht mehr. „Sind sie traurig, weil sie nicht mitsuchen dürfen?“, fragte Ed einfühlsam und lächelte Herrn May aufmunternd zu. Der schüttelte den Kopf. In dem Moment kam der zweite Blaue mit zwei Jungen zurück. Er hatte je einen an jeder Hand. Die beiden wirkten etwas verwirrt. Aber als sie Ed sahen, winkten sie ihm zu. „Hast du auch sonen Geheimgang gefunden?“, fragte der rechte. Er war blond, ebenso, wie der linke. Allerdings waren seine Haare lang, fielen ihm bis auf die Schultern. Die Haare des anderen Jungen waren kurz. Sie trugen beide Jeans. Der eine einen roten, der andere einen schwarzen Pullover. Ed glaubte, dass der linke älter war. Aber was hatte er ihn gerade gefragt? „Was?“ „Ob du auch sonen Geheimgang gefunden hast. Wir haben beide einen gefunden. Heut morgen. Wir waren mit unseren Eltern hier und dann durften wir bei dem Gewinnspiel mitmachen.“ Ed runzelte die Stirn. Das verstand er jetzt nicht. „Welches Gewinnspiel denn?“, fragte er nach und lächelte zaghaft. Der Ältere der beiden lachte und ließ den Blauen los. „Na das, wer die meisten Gänge findet.“ „Ja, wir machen beide mit. Wir kennen zwei Stück und du?“ Ed bemerkte, dass sein Mund offen stand und er ließ ihn zuklappen. „Der Direktor hat mir gesagt, dass ich der Erste bin, der einen gefunden hat. Warum hat er gelogen?“ Die beiden zuckten mit den Schultern. Herr May unterhielt sich mit den beiden Wachleuten und Ed stellte plötzlich fest, dass außer ihnen kein Mensch mehr hier war. Der große Saal und die angrenzenden Korridore waren leer. Es war auch nichts zu hören, außer der gedämpften Unterhaltung, die in dem Gewölbe ein wenig hallte. Ed legte den Kopf schief und versuchte, zu lauschen. „Hoffentlich dauert es diesmal nicht so lange.“ „Ich glaube nicht. Sie sind ziemlich jung. Schade, dass nur so wenige die Gänge finden, was?“ Lachen. Dann… „Ja, drei Monate keine Neuen, das ist echt lange.“ „Was machen wir jetzt mit ihnen?“ „Ist doch egal, die sind eh bald tot.“ „Glaubst du? Vielleicht sind sie cleverer, als wir glauben.“ Ed riss die Augen auf, als ihm klar wurde, was er da gerade gehört hatte. Ist doch egal, die sind eh bald tot. Aber das konnte er nicht gehört haben. „Entschuldigung.“, sagte er laut und die drei Männer sahen ihn an. „Ja?“, sagte Herr May und lächelte sein kleines Lächeln. „Was haben sie gerade gesagt?“, fragte Ed und sah den Blauen an, der das mit dem tot sein gesagt hatte. Der runzelte fragend die Stirn und schüttelte den Kopf. „Was meinst du?“ Ed rutschte vom Tresen und sah kurz zu den beiden Jungen. Sie schwiegen inzwischen und sahen ebenfalls zu den drei Männern. „Wieso sollen wir bald tot sein?“ Der Blaue hob eine Augenbraue, dann lachte er. Als er sich wieder eingekriegt hatte, wischte er sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Ed sah ihn mit gerunzelter Stirn an. „Wieso sollte ich so etwas sagen? Du hast dich verhört, Kleiner.“ Ed schwieg, aber er nickte nicht. Er wusste, was er gehört hatte. Aber offensichtlich hatte er es nicht hören sollen. Er sah die beiden Jungen an, die die Schultern zuckten und sich weiter unterhielten. Über das Gewinnspiel, die Gänge und den großen Preis. Ed sah zu den drei Männern. Auch sie unterhielten sich. Ed sah zu der Glastür und beschloss, zu verschwinden. Er wollte nicht bald tot sein. Und obwohl niemand sonst es gehört hatte, er hatte es verstanden. Und obwohl niemand sich weiter darum kümmerte, Ed wusste einfach, dass er sich nicht vertan hatte. Etwas Schlimmes würde passieren und wenn er nicht ganz schnell verschwand, würde es ihm auch passieren. Er konnte die beiden Jungen nicht warnen, die Männer würden es bemerken. Und Ed war sich plötzlich sicher, wenn sie wussten, dass er es wusste, dann würden sie ihn nicht gehen lassen. Also sah Ed unentwegt zu den Männern, um zu sehen, wenn sie zu ihm sahen. Gleichzeitig schlich er um den Tresen herum und ging langsam auf die Glastür zu. Sobald sie automatisch auf glitt, würden die Männer es hören und er würde rennen müssen. Aber er musste soweit kommen, wie möglich, bevor sie es merkten. Er war sicher nicht so schnell, wie sie und er brauchte einen Vorsprung. Er schaffte es bis zur Tür. Sie glitt auf und die Blicke der drei Männer sprangen herum und fixierten ihn mit einem Ausdruck, der Ed dazu brachte, sofort loszurennen, so schnell er konnte. 2 Ed rannte und er sah sich nicht um. Herr May blieb zurück und sperrte die Automatik der Tür, nachdem die beiden Blauen hindurch gerannt waren. Die beiden anderen Jungen starrten verwirrt hinter Ed her und begriffen gar nichts. „Bleib stehen!“, schrie der eine Mann hinter Ed her, aber der ließ sich nicht beirren. Er lief über den Parkplatz. Die Autos standen rechts und links neben ihm und Ed lief und lief und lief. Am Ende des Parkplatzes stand eine hohe Hecke. Ed wusste, dass er nicht darüber springen konnte, aber er wusste nicht, wohin er sonst laufen sollte. Er wusste, dass hinter der Hecke die Straße lag. Vielleicht konnte er sich hindurch zwängen und ein Auto anhalten. Wenn er sich einfach auf die Straße stellte, mussten sie anhalten. „Verdammt noch mal, du wirst sofort stehen bleiben!“ Ed ließ sich nicht aufhalten. Er wusste, dass er verloren war, wenn er stehen blieb. Wenn die ihn bekamen. Er wusste nicht, was passieren würde, aber es musste etwas Schreckliches sein. Er rannte an grünen, roten und silbernen Autos vorbei. Kombis, Smarts, Landrover. Ed sah die Sonne auf den Blechdächern glitzern. Oh man, er konnte nicht mehr. Seine Lungen stachen schon. Er hatte einfach zu viel Angst. Eigentlich konnte er schnell rennen und auch lange. Aber er atmete zu schnell, panisch und bekam Seitenstiche. „Bleib stehen! Sofort!“ Die Stimme war wütend, der Atem hastig. Die Schritte wurden lauten, als die beiden Männer aufholten. Ed war fast bei der Hecke und stellte erschrocken fest, dass sie so dicht war, dass er nicht hindurchpassen würde. Er musste versuchen, darüber zu springen. Es war unmöglich, aber vielleicht konnte er so hoch springen, dass er den Rest klettern konnte. 3 Schließlich stand die Hecke grün und groß vor Ed. Er rannte einfach weiter. Das wütende Schnauben und die dröhnenden Schritte der Männer hinter sich. Dann, als er wusste, dass er nicht mehr weiter rennen konnte, sprang Ed einfach drauf los. Er sprang, sprang über die Hecke und fiel. Auf der anderen Seite fiel die Böschung vier Meter tief steil ab. Darunter lag die Straße. Ed konnte nur fallen. Fallen und hart aufschlagen. Er sah den Asphalt und ein Schrei blieb in seiner Kehle stecken. Er würde auf die Straße knallen und ein Auto würde ihn überfahren. 4 Ed kniff die Augen zusammen, so fest er konnte. Er breitete die Arme aus und flog einfach. Ja, er stellte sich vor, er würde einfach fliegen. Den Männern davonfliegen. Und dann tat er es. Ed spürte, wie etwas mit seinem Rücken geschah. Da war etwas Großes, Schweres. Er konnte es bewegen und er tat es. Es war ungeheuer anstrengend, aber es ging. Er tat es mit ganzer Kraft und spürte, dass die Richtung, in der er sich bewegte, sich geändert hatte. Er fiel nicht mehr. Er stieg. Er flog. Hoch hinauf. 5 Ed schlug mit den Flügeln und sauste über der Straße dahin. Er hatte noch nie Flügel gehabt, aber er wusste einfach, wie es ging. Er bog vom Straßenverlauf ab und überflog die ersten Hochhäuser der Stadt. Die Flügel glitten schwerfällig durch die Luft, als hingen sie in zähem Leim fest. Ed wusste nicht, warum das so war, aber er kämpfte trotzdem weiter. Er stieg höher und die Luft brauste ihm um die Ohren. Schließlich hatte er keine Kraft mehr und landete auf einem der flachen Dächer. Er ließ sich auf die Knie sinken und fiel beinahe in Ohnmacht, so geschafft war er. Plötzlich waren die Flügel wieder verschwunden. Er versuchte, sie zu bewegen, aber da war nichts mehr. Ed schloss die Augen und beruhigte seinen Atem. Er hatte es wirklich geschafft. Er war den Männern entkommen. 6 Als er wieder bei Atem war, stand er auf und lief an den Rand des Daches. Er beugte sich hinüber und sah auf die Straße herunter. Dort fuhren Autos und winzig, winzig klein konnte er Menschen erkennen. Ed lief wieder zurück, auf das Dach und suchte eine Tür, durch die er vom Dach weg ins Gebäude kommen konnte. Schließlich fand er eine und sie war offen. Er ging hindurch und lief die Treppe hinunter, die dahinter lag. Er öffnete die erste Tür, die vom Treppenhaus abging und landete in der zwölften Etage. Er suchte den Fahrstuhl. Gerade, als er um eine Ecke bog, sah er sie. Es waren vier und sie kamen direkt auf ihn zu. „Bleib stehen, Kleiner. Dann tun wir dir auch nicht weh.“ Ed riss erschrocken die Augen auf und machte auf dem Absatz kehrt. Er sah sich hastig um, wusste aber nicht, wohin er laufen sollte. Also rannte er einfach den Gang entlang, bog um die Ecke und saß in der Falle. Die Männer trampelten bereits näher und Ed konnte nicht weiter. Der Gang endete in einer Sackgasse. Ed warf den Kopf hin und her, um einen Ausweg zu finden, aber da war keiner. Dann sah er das Fenster. Es war groß. Größer, als er selbst. Und dann beschloss er, es einfach noch mal zu machen. Das Fliegen. Und so nahm Ed Anlauf und sprang einfach durch das geschlossene Fenster hindurch nach draußen. Er hatte befürchtet, dass er einfach vom Glas abprallen würde, aber die Scheibe zersprang und Ed flog durch die Luft. Er kniff mit aller Macht die Augen zusammen und stellte sich vor, wie er flog. Und dann spürte er die schweren, schwerfälligen Flügel wieder auf dem Rücken. Wow, das war toll! Er schlug mit aller Kraft mit den großen Schwingen und spürte, wie er an Höhe gewann. Die Männer standen am Fenster und Ed flog eine Schleife. Sie hoben etwas Blitzendes hoch und plötzlich knallte es. Ed zuckte zusammen, dann spürte er etwas Kaltes an seinem Ohr. Danach tat sein Ohr kurz so weh, dass er vergaß, mit den Flügeln zu schlagen. Er sackte ein Stück hinunter, dann fing er sich wieder. So schnell er konnte, flog er über die Dächer und landete einige Straßen weiter. Wieder verließ ihn die Kraft. Warum das so anstrengend war, verstand er nicht. Es war, als schnitten die Flügel nicht durch Luft, sondern durch Sirup. Ed ließ sich auf den Rücken sinken und gönnte sich eine Pause. Doch da waren sie schon wieder, die Männer! Ed sprang auf die Füße. Wie konnten sie ihn immer so schnell finden? Ed rannte, ohne nachzudenken und sprang, ebenfalls ohne nachzudenken, vom Dach. Er breitete die Flügel aus und schlug kraftvoll mit ihnen. Einer der Männer war ihm bis dicht zum Rand auf den Fersen und erwischte eine Feder. Ed zuckte zusammen, als er sie aus seinem rechten Flügel riss. Es tat weh. 7 Ed flog und strauchelte hin und wieder, weil er so kaputt war. Er flog von Gebäude zu Gebäude, von Dach zu Dach. Aber egal, wohin er flog, immer waren die Männer schon da. Sie schienen immer und überall auf ihn zu warten. Ed konnte ihnen nicht entkommen. Er rannte über Flure, sprang durch Fenster, er flog sogar mitten durch die Straßenschluchten. Die Menschen schrieen vor Ungläubigkeit und Entsetzen. Sie stoben auseinander, wie Kaninchen, die vor einem Fuchs fliehen. Aber es half nichts, die Männer waren immer da. Schließlich flog Ed, ohne nochmals zu landen. Er nutzte seine Kräfte aus, bis sein Herz in der Brust zu zerspringen drohte. Er schlug mit den Flügeln, so fest er nur konnte, aber das Gefühl, durch Sirup zu fliegen, ließ nicht nach. Stattdessen wurde Ed müde. Er spürte, dass sein Körper immer schwerer und die Flügel immer müder wurden. Trotzdem kämpfte er weiter. Als er schließlich merkte, wie ihm schwarz vor Augen wurde, schloss er die Augen und ließ sich einfach fallen. Die Luft wirbelte angenehm kühl um seinen Kopf und beruhigte seinen geschundenen Körper, während er stürzte. Ed spürte, wie der Schweiß, den die Anstrengung auf seinen Rücken getrieben hatte, trocknete. Die Haut spannte ein wenig, aber es war ein gutes Gefühl. Ed öffnete die Augen nicht, bis sie ihm mit aller Macht aufgezwungen wurden. Das war der Moment, als er auf dem Asphalt aufschlug. Seine Augen wurden von der Wucht des Aufpralls aufgerissen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)