Behind the obvious von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 2: Kapitel 1 - 1863 --------------------------- Kapitel I ~~~~~~~~~~ Wüsste ich, woher die Gedichte kommen, ich würde dorthin gehen Michael Longley ~~~~~~~~~ London, 02. März 1863 Liebste Anne, es tut mir schrecklich Leid, dass ich unsere Korrespondenz nun für über ein halbes Jahr unterbrochen habe – unterbrechen musste! Um deiner Frage vorzubeugen: Ja, liebste Freundin, es geht mir gut. Wenn auch etwas anders, als du dir vorstellen magst. Ich hoffe, dass auch bei dir alles in Ordnung ist und dass dein Edward sich immer noch mit Heiratsgedanken trägt? Oh, wie freue ich mich für dich, denn mittlerweile verstehe ich deine Gefühle. Welch Glück, aus Liebe heiraten zu können! Ich sehe dein Stirnrunzeln, deine gehobenen Augenbrauen und ich weiß was du denkst, da du diese Zeilen liest. Und du hast Recht, ich höre mich an wie ein verliebtes Mädchen, schlimmer, wie ein verliebtes Straßenmädchen. Glaub mir, in letzter Zeit verhalte ich mich meinem Stand sehr unangebracht und das alles wegen des Gefühls, das nur Liebe sein kann. Doch ich greife vor! Ich möchte dir ja nicht die Überraschung verderben. Ich werde dir nun erzählen, warum ich dir so lange nicht schrieb und warum meine Briefe vor dieser Zeit einen „seltsamen Unterton der Bedrückung und Angst“ enthielten, wie du so treffend meintest. Es ist eine lange und seltsame Geschichte, und ich werde sie dir kaum in einem einzigen Brief wiedergeben können. Deshalb gedulde dich, Anne, und freue dich. In den nächsten Monaten werde ich dir ein dutzend Briefe schicken. So hast kannst du dir jedes Mal den Fortgang der Geschichte ausmalen, mit deiner Fantasie, die so üppig blüht wie die Rosen im Garten der Dame Harding (erinnerst du dich an sie? Sie ist noch immer genau so konservativ und altmodisch wie vor drei Jahren!) Und so wirst du auch an mich denken, nicht nur in Sorge hoffe ich. Herrje, ich schweife schon wieder ab. Ach Anne, die Liebe ist ein schrecklicher Zustand. Ich kann mich einfach nicht auf das konzentrieren was ich tue, und jetzt da ich mir den Anfang des Briefes durchlese, scheint alles so zusammenhanglos und bruchstückhaft! Aber ich will es versuchen, denn ich vertraue dir und du bist die einzige Person, der ich in dieser Welt alles erzählen kann. Deshalb möchte ich mich zusammenreisen und dir endlich erzählen, was mir so fantastisches und unglaubliches widerfuhr. Wie ich dir schon früher schrieb, war ich schrecklich einsam und deprimiert, nachdem du mit deinen Eltern nach York gezogen warst. Geographisch so nah und für Mädchen wie uns doch so weit entfernt! Oh, damals war ich schrecklich wütend auf dich und deine Familie, vor allem aber auf Edward, als du mir die ersten paar Male von ihm schriebst! Heute lache ich über diese kindlichen Gemütsregungen, doch zu der Zeit, vor etwas über drei Jahren, waren sie sehr real und bestimmten mein Denken und Handeln. Ich fürchte, meine Briefe aus jener Zeit waren sehr kurz angebunden und barsch. Dafür möchte ich mich nochmals entschuldigen, denn deine Freundschaft ist das teuerste, was mir auf dieser Welt bleibt. In manchen Momenten ist mir das nicht bewusst, doch immer wenn ich im Garten sitze oder den Trafalgar Square überquere, überkommen mich die Gedanken an früher. Ich hoffe du weißt das. Wie dem auch sei, die verregneten Sommer und kalten Winter waren sehr unangenehm ohne dich. Du kennst ja meinen Herrn Vater, er ist sehr stolz auf die Familie und war und ist der Ansicht, dass ich es mir nicht leisten könne mit jungen Damen unter meinem Stand zu verkehren. Er ist ja so übervorsichtig und ängstlich, als würden ein oder zwei Freundinnen aus weniger gutem Hause den Familiennamen beschmutzen! So kam es, dass ich ständig nur mit langweiligen Damen der upper class zum Tee zusammen saß und mich krampfhaft in Konversation üben musste. Es war so schrecklich langweilig, dass ich es dir in wohl keiner Sprache der Welt beschreiben könnte. Die Unterhaltungen drehten sich in der Regel um das ohnehin monotone und langweilige englische Wetter, um Männer, die eine gute Partie sein könnten und um die Pflichten der Frau. Es machte mich wahnsinnig! Wunderst du dich, warum ich dir nie davon schrieb? Ich hielt es für zu belanglos um dafür die begrenzte Menge Papier zu verschwenden, die mir zur Verfügung stand. Es war ohnehin schwer genug meiner Frau Mutter das Papier abzufragen, denn sie wurde sehr streng erzogen und kann weder lesen noch schreiben, weshalb sie es für unnötig erachtet, mich ebendies tun zu lassen. Nun, diese langweiligen und allzu gehorsamen Damen ödeten mich so sehr an, dass ich nur selten auf Einladungen zum Tee antwortete und noch seltener und dann auch nur unter Zwang, selbst solche verschickte. Du kannst dir sicher denken, dass mein Freundeskreis deshalb sehr, nun ja, begrenzt war. Ich hatte mich mit zwei der Dienstmädchen im Hause angefreundet, doch mein Vater schickte die zwei (Betty und Marie) fort als er davon erfuhr. Wie wütend ich doch darüber war! Aber gegen meinen Vater traute ich nicht das Wort zu erheben, denn er erwartet stets absoluten Gehorsam und ein demütiges Verhalten der Frau. Die aufgeklärte, gebildete Frau ist ihm ein Gräuel und er beäugt Lady Herbert wie ein gefährliches Insekt. Das alles wäre ja noch nicht so schlimm gewesen, wenn er nicht an meinem siebzehnten Geburtstag angefangen hätte mich gewissen Herren vorzustellen. Zu Beginn dachte ich mir noch nicht viel dabei, doch die Herrenbesuche wurden immer häufiger und es kam vor, dass ich allein mit drei oder vier jungen Männern und meiner Mutter oder einer anderen weiblichen Aufsichtsperson den Nachmittagstee zu mir nahm. Du musst ganz bestimmt gerade schrecklich lachen, nicht wahr? Nun, damals, vor zwei Jahren, war mir überhaupt nicht nach Lachen zu Mute, als ich endlich hinter die Absichten meines Vaters kam. Er wollte mich, natürlich, verheiraten. Die jungen Herren, die uns besuchten waren alle sehr nett und charmant, allesamt echte Gentlemen der Oberschicht. Doch sie hielten alle keiner genaueren Probe stand, zumindest nicht nach meinen Maßstäben. Alle hatten sie ein ungeheuer konservatives, strenges Weltbild, in welches ich ganz sicher nicht passen wollte. Die liebe, stille Ehefrau, mit einem Kindermädchen, das sich um die verzogenen Bengel kümmert. Den ganzen Tag stricken, Tee trinken, die Familie repräsentieren und den Mund halten. Kannst du dir das vorstellen? Ich nicht. Deshalb beneidete ich dich auch so um Edward, denn aus deinen Briefen sprachen nicht nur Liebe und Glück sondern auch Freiheit. Ich dagegen fühlte mich eingeengt und unterdrückt. Meine einzigen Freuden zu dieser Zeit waren meine ausgiebigen Spaziergänge, die häufig aber durch das Wetter sabotiert wurden, und meine Tiere. In diesen drei Jahren bin ich so viel mit den Hunden und Katzen und Vögeln zusammen gewesen wie sonst in den restlichen sechzehn Jahren meines Lebens nicht! Lache nicht Anne, es ist wahr! Vater wurde irgendwann schrecklich wütend, weil viele der Männer um meine Hand anhielten (sogar ein 38 Jähriger Witwer!) aber ich keinerlei Interesse zeigte und alle abwies. Er beschloss, das war vor gut einem Jahr, mich nach seinem Ermessen zu verheiraten. Zwangsheirat – ein unschönes Wort, in der feinen englischen Gesellschaft verpönt. Deshalb spricht man auch von einer „arrangierten Ehe“. Ein ansehlicher Begriff, doch das Resultat ist genau so hässlich und unterdrückend wie das einer Zwangsheirat. Zwei Wörter für dieselbe Sache. Ungefähr zu dieser Zeit begannen auch meine Briefe seltener zu werden, und ich fürchte sie waren tatsächlich ängstlich und beunruhigt. Das lag zum einen an der Situation, welche ich dir soeben geschildert habe, zum anderen aber auch an einigen anderen Dingen, die ganz London in Aufruhr und Panik versetzten und mich direkt betrafen. Anne, ich vertraue darauf, dass du keiner Menschenseele etwas von dem erzählst, was ich dir in diesem und in den folgenden Briefen offenbaren werde! Es könnte den Tod bedeuten, für mich und für den, den ich liebe. All die Dinge, die mir in deiner Abwesenheit bis zu diesem Punkt widerfuhren ließen mich damals eine folgenschwere Entscheidung treffen. Nachdem mein Herr Vater mir mitteilte, dass er mir einen geeigneten Ehemann suchen würde, war das Maß voll. Es war der Tropfen gewesen, der das übervolle Fass zum Überlaufen brachte. An jenem Abend erschien ich nicht zum Abendessen, obwohl mein Vater es ausdrücklich befohlen hatte. Ich dachte an Lady Herbert, ihre große Indienreise und wie gebildet und selbstständig sie doch ist. Sie, so sagte ich mir, würde sich bestimmt nicht in eine Heirat zwingen lassen. Sie würde aufstehen, das stolze Kinn vorrecken und einfach nur „Nein“ sagen, sich umdrehen und gehen. Die Dienstmädchen versuchten mich davon zu überzeugen doch nach unten zu gehen um mit meinen Eltern zu speisen. Ich ignorierte sie, etwas was ich zuvor noch nie getan hatte. Es war ein seltsames Gefühl, erschreckend und befriedigend zugleich. Schließlich erschien meine Frau Mutter vor meiner Tür, die ich leider vergessen hatte abzusperren. Sie bat mich eindringlich und mit angstgeweiteten Augen, doch dem Befehl meines Vaters Folge zu leisten. Sie liebte mich sehr und wollt mich schützen, auch wenn es nicht in ihrer Macht stand. Ich sah sie an und sah all das, was ich nicht werden wollte. Von ihrem Vater bevormundet, in eine „arrangierte Ehe“ gezwängt und in Korsetts gesellschaftlicher Maßregeln gezwungen, waren ihre Persönlichkeit, ihr Temperament und ihre Lebenslust fast vollkommen verkrüppelt. Nur manchmal, ganz selten und in Abwesenheit meines Vater konnte man diese Züge ihres Wesens noch erahnen, und dies auch nur sehr kurz. Oh Anne, ich hatte solche Angst zu werden wie sie! Ich war so in Gedanken, dass ich meinen Herrn Vater gar nicht kommen hörte, erst als er vor mir stand nahm ich ihn wahr. Groß und bedrohlich wie ein dunkler Turm baute er sich vor mir auf, das breite Gesicht mit den schmalen, grauen Augen vor Wut ganz rot. Er forderte mich auf ihn nach unten zu begleiten und bot mir seinen Arm, wie es sich gehört. Da wurde ich zu Lady Herbert. Ich reckte mein Kinn vor, stellte mich ganz aufrecht hin und sagte fest: „Nein!“ Ich weiß selbst nicht, woher ich den Mut dazu nahm, Anne, ich weiß es nicht. Im Nachhinein betrachtet, war es wohl einfach nur dumm gewesen, doch es fühlte sich so herrlich an. Auf jeden Fall so lange, bis seine Hand mit meiner Wange kollidierte. Schau nicht so entsetzt, es ist schon ein Jahr her und meinem Gesicht geht es wieder hervorragend! Damals schmerzte es allerdings höllisch. Was ich dann tat, kam eigentlich einem Selbstmordversuch gleich. Ich schlug dem Vater die Tür vor der Nase zu und drehte den Schlüssel im Loch herum. Er tobte wie ein Stier und brüllte, dass es bestimmt noch der taube Mister Phillips von gegenüber gehört haben musste. Ich fühlte mich elend und benutzt und dann fasste ich den Entschluss, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Ich war wohl sehr verwirrt und aufgeregt durch das Geschehene, denn ohne nachzudenken, ja ohne auch nur einen Mantel oder einen Schal mitzunehmen kletterte ich aus dem Fenster. Dabei zerriss ich mir den Rock und die Strümpfe, aber in jenem Moment hätte mir nichts gleichgültiger sein können. Alles was ich wollte war Freiheit, Freiheit und möglichst viele Meilen zwischen mir und meinem verfluchten Elternhaus. Ich rannte durch die Straßen, ohne Ziel und ohne Orientierung, bis ich schließlich beim Tower of London herauskam. Du kannst dir nicht denken, wie unheimlich und bedrohlich das Ding nachts ausschaut! Vor lauter Angst rannte ich einfach weiter, immer weiter und schließlich, schließlich als ich schon nicht mehr konnte und meine Beine und Lungen brannten, da rannte ich direkt in ihn hinein… Wer er ist, mag ich dir ein andermal erzählen, diesmal habe ich dir die gesamte Vorgeschichte erzählt. Was ich bisher schrieb, ist nur der Auftakt zu dem, was mir tatsächlich solche Angst einjagte und zu dem, was in den folgenden Monaten geschehen sollte. Ach Anne, wie sehr wünsche ich mir, du könntest neben mir vor dem warmen Kaminfeuer sitzen und mir zuhören. Dann würde alles so viel leichter gehen. Aber jetzt fordert die späte Stunde ihren Tribut und die Schreibarbeit macht meine kalten Finger schmerzen. Ich denke an dich, und werde dir sobald es mir möglich ist den Fortgang der Geschichte erzählen. Antworte mir bald, liebste Freundin, und sorge dich nicht zu sehr. In tiefer Freundschaft Emily Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)