The Resurrection of Hyperion von Phantom (Final Fantasy Ⅷ –) ================================================================================ Kapitel 2: Black Rose --------------------- „Cifer?“ Rai-Jin drehte sich um und sah seine Schwester an der Tür zum Schlafzimmer stehen, eben erst erwacht und doch mit akkurat glattem Haar, das im ersten Sonnenlicht silbern glänzte. Sie trug ihre Augenklappe noch nicht; stattdessen verhehlten breite Strähnen ihre linke Gesichtshälfte. Das rechte Auge visierte ihn scharf an, wie er am Tisch saß und den gestrigen Abend Revue passieren ließ. Die Platte war spärlich zum Frühstück gedeckt mit der für Rai-Jin unverwechselbaren chaotischen Liebenswürdigkeit. „Willst du mal ein Brötchen?“ „Cifer“, wiederholte Fu-Jin sich, und sie wiederholte sich ungerne. Rai-Jin wurde nervös. Mit einem unmerklichen Kraftaufwand riss er das Brötchen in zwei Hälften. Es war ein Versehen, dass er dabei beide Teile zerquetschte und sie in seinen großen Fäusten förmlich zu Staub zerfielen. Ihm graute davor, ihr die Wahrheit ins Gesicht zu sagen, aber es war nun einmal seine Art, es doch zu tun: „Wir haben uns mal ziemlich heftig gestritten. Da habe ich ihn mal vor die Tür gesetzt.“ Fu-Jins rote Iris blitzte. „Wann?“ „Gestern Abend! Es tut mir mal ehrlich Leid, aber er hat mich wirklich mal ganz schön aufgeregt!“, verteidigte er sich ängstlich, als sie mit entschlossenen Schritten auf ihn zuschritt und ihm ins Schienbein trat. „Suchen!“ „S-sofort!“ Ohne sich überhaupt gewaschen zu haben, flitzte Rai-Jin aus der Wohnung. Sekundenlang hörte man ihn noch die Hauptstraße entlangstampfen. Fu-Jin verfolgte seinen Weg durch das Fenster über dem Bett, auf welchem Cifer gestern noch gelegen hatte. Als er nicht mehr zu sehen war, schüttelte sie Decke und Kissen aus. Aufgrund ihrer Art war es ihr verwehrt, es in Worte zu kleiden, aber die Sorgen um ihren Kameraden ließen ihr Innerstes vor Schmerz brennen. Cifer war jetzt nicht in der Verfassung, allein gelassen werden zu können. Fu-Jin war geübt darin, dem Chef des Ordnungsdienstes abzulesen, was immer er versuchte, selbst vor seinen beiden Freunden geheim zu halten. Menschen zu durchschauen, um sie zu brechen, hatte sie in frühen Jahren – lange bevor sie den damaligen SEED-Anwärter getroffen hatte – gelernt wie den Umgang mit ihrem Shuriken. Nicht einmal ihrem Bruder erklärte sie, was Cifers blassgrüne Augen ihr oft mitteilten – es genügte, dass sie es kannte und dementsprechend – auf ihre eigentümliche, aber funktionierende Weise – auf ihn einwirken konnte. Und weil Fu-Jin manchmal sogar besser als Cifer selbst wusste, wie es ihm wirklich ging, hätte sie auch das triumphierende Lächeln, das er gerade auf den Lippen trug, da er mit dem ersten Sonneneinfall die Fassade der Stadt bereits ausmachen konnte, nicht beruhigen können. „Da vorne ist Balamb.“ Hinter sich vernahm er keine Antwort, aber ein dumpfes Geräusch, und als er sich dem zuwandte, kniete Ellione sichtlich ermüdet auf dem Gras. „Sag nicht, dass du jetzt schlapp machst.“ „Es tut mir Leid“, hauchte sie. „Es ist nicht mehr weit“, versuchte er sie zu motivieren. „Ich weiß. Können wir trotzdem eine kurze Pause einlegen?“ „Muss das echt sein?“ „Bitte.“ Und wieder waren es 5001 Gründe, die dafür sorgten, dass er letztlich doch nachgab. Ein Thrust Avis flog mit einem schrillen Schrei über die Ebene hinweg, deren Millionen Gräser im goldenen Morgenlicht Tropfen weißen Glanzes trugen. Cifer ließ sich an Ort und Stelle nieder und fixierte sein Gegenüber unhöflich, das abwesend das Grün unter sich musterte. Schemenhaft erinnerte er sich daran, dass es einmal sein Traum gewesen war, Frauen wie sie zu beschützen, bis er erkennen musste, dass Hexen-Ritter sein nichts anderes bedeutet als schamlos von den Hexen ausgenutzt zu werden. Er war ziemlich verblendet gewesen. „Ist da eigentlich was dran?“, fragte er nach einer Weile des Schweigens, und Ellione sah auf. „An deiner Fähigkeit, die Gedanken in die Vergangenheit schicken zu können, meine ich.“ „Glaubst du es nicht?“ „Schwer zu glauben, wenn man es selber nie erlebt hat. Aber Artemisia wusste wohl, was sie an dir hatte.“ „Ja, es ist wahr. Ich weiß nicht, warum ich das kann, aber es ist möglich.“ „Und wie soll das funktionieren?“, hakte er nach. „Ich kann es nicht erklären. Für mich ist es so selbstverständlich wie das Schreiben und Lesen. Aber so, wie man jemandem, der Buchstaben nicht kennt, das Schreiben allein durch Worte nicht erklären kann, so kann ich dir nicht sagen, wie genau es funktioniert.“ „Und die Vergangenheit ist dadurch beeinflussbar?“ „Ich kann nicht den Körper übertragen, sondern nur die Gedanken mit einer Person aus der Vergangenheit [verbinden], aus deren Sicht der Verbundene die Vergangenheit dann erlebt, ohne aber aktiv eingreifen zu können. Manchmal passiert es, dass die Person, die jemanden aus unserer Zeit empfängt, dessen [Gedanken wahrnehmen] kann. Artemisia ist es gelungen, ihre Gedanken in ihrem eigenen Körper zu materialisieren. Sie ist tatsächlich durch die Zeit gereist. Bevor Squall mir das erzählt hatte, wusste ich nicht, dass so etwas möglich ist. Ein sehr inniger Wunsch muss sie verleitet haben…“ Cifer war nie jemand gewesen, der seine zurückliegenden Entscheidungen reflektieren musste. Wo Squall Leonhart in der Vergangenheit des Nachdenkens und Abwägens stecken geblieben war, lief er dem Einklang seines Herzens und seines Verstandes nach: Seinem Traum. Nun allerdings erwischte er sich, wie er über eine andere Gegenwart sinnierte, über die Folgen anderer – veränderter – Entschlüsse. Er könnte sich selbst vor der Hexe warnen. Und er würde es mit der Einsicht bezahlen, falsch gehandelt zu haben. Gereizt stieß er die Spitze der Hyperion in den Humus. „Schwachsinn! Wer seine Vergangenheit ändern will, der verleugnet sich doch nur selbst!“ Ellione sah ihn interessiert an. „Ob man das Geschehene verändert oder nicht: In der Gegenwart hat man’s doch wieder mit sich selbst zu tun.“ „Ich wollte mich nicht verändern“, wehrte sie sich besonnen. „Alles, was ich wollte, war, eine Familie zusammenzuführen.“ Dann senkte sie das Haupt. „Raine wäre bestimmt nicht gestorben, wenn Onkel Laguna sie nicht verlassen hätte, um mich zu suchen.“ „Und? Hast du deinen Onkel vorher mal gefragt, ob er mit einer neuen Vergangenheit einverstanden gewesen wäre?“ Ihre verwunderten Augen verrieten, dass sie nichts dergleichen getan hatte. „Hältst du es für notwendig, danach zu fragen? Ich ging natürlich davon aus, dass er glücklicher sein würde, wenn er mit seiner Familie vereint gewesen wäre.“ „Ach so, du "gehst davon aus"“, betonte er mit gespieltem Verständnis und erhob sich. „Und damit ist ja alles klar, wie? Deine schlichte Annahme ist über jede Tatsache erhaben. Dass du aber gar keinen Schimmer hast, was die gegenwärtige Vergangenheit ist, was sie bewirkt hat und was sie bedeutet, daran hast du eher weniger Gedanken verschwendet, hm? Ich sag’ dir eines, Kopplungsmaschine: Bleib bloß aus meinem Gehirn raus! Wenn ich merke, dass du an mir herumexperimentierst, hast du den Krieg erst vor dir. Da verstehe ich keinen Spaß, verstanden?“ Beschwichtigend führte Ellione eine Hand in den großzügigen Freiraum zwischen ihnen. „Ich habe verstanden, dass ich nicht mehr in das Geschehene eingreifen sollte, und diese Überzeugung trage ich seit sechs Monaten, Cifer. Ich möchte meine Fähigkeit nicht mehr nutzen müssen. Deshalb bin ich hier.“ Er schnaubte und wanderte mit fragwürdiger Motivation ohne Ziel umher. „Ich habe Angst… Angst, dass ich jemandem, den ich liebe, durch meine Fähigkeit Schaden zufüge. Die Reise an sich ist nicht gefährlich. Aber manchmal geraten Dinge ans Licht, die… besser im Schatten verweilen sollten.“ Das Knistern zerknickender Halme unter festen Sohlen setzte so plötzlich aus, wie es angefangen hatte. „Andererseits machte ich hin und wieder von der Möglichkeit Gebrauch, den Menschen diese unverfälschte, selbst zu erlebende Wahrheit vor Augen zu führen, damit sie verstehen. Oft sind es Missverständnisse, die zu Auseinandersetzungen führen. Wenn ich versuche, ihnen diese zu verdeutlichen, indem ich nichts anderes unternehme als es ihnen zu zeigen, und auf diese Weise große oder kleine Kriege verhindern kann, ist es dann falsch?“ Er vermied es, sie anzuschauen. „Fragst du mich, was falsch ist? In euren Augen bin ich doch der bedauernswerte Idiot, der sich von der Hexe hat über den Tisch ziehen lassen. Quistis lässt sicher keine Gelegenheit aus, jedem feierlich zu verkünden, wie furchtbar schlecht ich bin.“ Ohne, dass er es sah, wusste Cifer, dass sie lächelte. „Es gibt vieles, das du missverstanden hast. Du lässt nicht los. Das ist der Grund, aus dem du noch hier bist. Wann wirst du aufwachen, Cifer? Wann?“ „Was redest du da?“ Er schwang herum und fasste sie für eine Sekunde verärgert ins Bild, doch sein Sichtfeld hörte nicht auf, sich zu drehen. Die sie umgebende Wiese stellte sich hochkant, schoss scheinbar in die Höhe, ehe die Gräser seinen Blick verdunkelten. Er realisierte, mit dem Kopf auf den Boden geschlagen zu sein. Ein hoher Ton dröhnte in seinem Verstand. Hatte ihn jemand niedergeschlagen? Einen Lidschlag später konnte er nicht mehr denken. Sein Körper wehrte sich. Doch er war hilflos. Unvermittelt nahm es ihm das Bewusstsein. «Die SEEDs Selphie Tilmitt, Xell Dincht und Quistis Trepe, bitte umgehend ins Direktorat. Ich wiederhole: Selphie Tilmitt, Xell Dincht und Quistis Trepe, bitte ins Direktorat.» Auf Quistis, die auf gutes Zureden ihrer Freundin Shou wieder als Ausbilderin tätig war, aber gleichzeitig zu Squalls besten SEEDs zählte, musste der Schulsprecher des Balamb-Gardens nicht lange warten. Selphie und Xell hingegen, die gestern Abend beide sehr tief ins Glas geblickt hatten, benötigten Zeit, die sie in der aktuellen Notlage nicht hatten, sodass Squall versucht war, zwei Hast-Zauber über die Flure und ihnen entgegen zu jagen und – als sie ihm schließlich doch noch gegenüberstanden – gleich zweimal Erzengel auf sie anzuwenden. Sie machten einen fürchterlichen Eindruck, wie zwei Zombies. Eventuell erst einmal etwas Weihwasser? „Selphie, Xell. Seid ihr wach?“ Squall tadelte ihre fehlende Disziplin kurz, aber er bezweifelte, dass die Standpauke überhaupt durch ihre Ohren drang. Danach legte er ihnen die Sachlage dar. Als sie hörten, dass Ellione nicht aufzufinden war, waren sie mit einem Mal hellwach. Niida und Shou bestätigten ihnen noch einmal, dass sie sich weder in der Übungshalle noch in irgendeinem der zahlreichen Quartiere aufgehalten hatte, und auch Ward wusste lediglich den Kopf zu schütteln, als er von der Überprüfung ihres Luftschiffes zurückkehrte. „Meinst du, sie ist wieder entführt worden?“, äußerte Xell seine Vermutung. „Ausschließen können wir es nicht. Es ist eigentlich nicht Ells Art, einfach abzuhauen.“ „Nicht einmal Laguna scheint sie etwas gesagt zu haben“, wandte sich Kiros mit finsterer Miene an den Anführer. Der nickte. „Unsere Mission ist es, sie aufzuspüren und zurück in den Garden zu bringen. Dafür werden wir Teams bilden, denen dann verschiedene Areale zugeteilt werden. Der Präsident wird hier auf unsere hoffentlich erfolgreiche Rückkehr warten.“ Und auf einen dezenten Hinweis seitens seiner ehemaligen Ausbilderin: „Ach, und vergesst eure Funkgeräte nicht. Verstanden?“ „Verstanden“, bestätigte Quistis. „Verstanden!“, bestätigte Xell. „Ayyye, ayyye!“, bestätigte Selphie. „Wieeeee sehen die Teams aus?“ Gerade in dem Moment hörten sie das Summen des Aufzugs und das Klingen, als sich die automatische Tür öffnete. Fertig zum Ausschwärmen eilten Irvine Kinneas, der Scharfschütze aus Galbadia, und Rinoa Heartilly, Squalls Freundin, über den Flur. „Irviiiiiiiiiiine!“, kreischte Selphie frenetisch und machte aufgeregte Sprünge auf der Stelle. Rinoa überfiel Squall mit einem Begrüßungskuss und lächelte ihn danach mit erhobener Augenbraue an. „Wir sind keine SEEDs, aber für ein kleines Abenteuer sind wir uns trotzdem nicht zu schade.“ „Yup, yup!“, bestätigte Irvine. Squall schlug sich die Handfläche an die Stirn, ehe er wieder zum Thema kam: „Ellione ist seit gestern Nacht unauffindbar. Es ist durchaus möglich, dass sie entführt wurde. Deshalb werden wir jetzt Teams bilden und nach ihr suchen. Verstanden?“ „Verstanden…“, bestätigte Quistis. „Verstanden…“, bestätigte Xell. „Veeeerstanden…“, bestätigte Selphie. „Yup, yup!“, bestätigte Irvine. „Wir beide bilden das erste Team, Squall!“, bestätigte Rinoa und warf sich um seinen Hals. Er zeigte sich genervt, aber alle Anwesenden wussten, dass er sich sein Team genauso gewünscht hatte, und gönnten es ihm. „Gut. Die nächste Gruppe besteht aus…“ Es war eines jener nobel eingerichteten Zimmer einer galbadianischen Villa. Nichts Ungewöhnliches. Und doch fremdartig, bedenklich, einschüchternd. Den Griff der Gun-Blade fest umklammernd, wartete er auf das Hervorschnellen lauernder Krallen aus den Wänden, den Möbeln. Alles schien er durch einen dunklen Schleier zu sehen, in dem gleichen schwärzlichen Violett wie dem ihres Kleides. Von ihren süßen Worten eingelullt, war er einfach mitgegangen, ohne über die Folgen nachzudenken, genauso wie er es in der praktischen SEED-Prüfung getan hatte, als er – jeglichem Befehl zum Trotz – hinauf zum Sendeturm gestürmt war. Es hatte ihn ums Bestehen und eine Ausgangssperre eingebracht, an welche er sich natürlich auch nicht gehalten hatte, sonst wäre er jetzt nicht hier. Vielleicht wäre es besser gewesen. Oft brachte er sich selbst in die schwierigsten Situationen, aber in der Regel hatte er diese im Griff. Diesmal war das anders. Er wusste nicht, was mit ihm passieren würde. Die Aussicht, nach der Realisierung seines romantischen Traums greifen zu können, ließ ihn dieses Mal nicht einem wütenden Ausbilder, keinem Archeodinos gegenüberstehen, sondern inmitten der Politik- und Machtgeschäfte Galbadias. [Macht]… War es nicht das, was er schon immer erlangen wollte? Zu welchem Preis? Wenn etwas schief lief, hatte er sich mit der Gun-Blade stets verteidigen können. Aber war die Hyperion stark genug, einer aus der Vergessenheit emporsteigenden Kraft standzuhalten, von der sich ihr Führer bisher keine Skizze eines Bildes hatte machen können? Aus der leichten Neigung des Hauptes beobachteten seine Augen die schmale Silhouette jener Person, welcher er sein Schwert unterworfen hatte. In Eleganz einer Schlange in nichts nachstehend, schritt sie lautlos, als würden ihre Füße den Boden gar nicht berühren, auf einen hohen Spiegel zu, um sich selbst darin zu bewundern. Er wollte den Blick in eine andere Richtung reißen, aber als würde sie ihre geheimnisvollen Fähigkeiten bereits wirken lassen, hing er wie gebannt an ihrem Rücken. Dass es keine Magie war, die ihn zwang, hinzusehen, die seinen Instinkt faszinierte, die sein Herzklopfen heiß in seinem Verstand widerhallen und für jeden anderen Gedanken bald keinen Platz mehr ließ, war eine Erkenntnis, von welcher er niemals erwartet hätte, so vernichtend zu sein. Er war achtzehn Jahre alt… Kein Junge. Doch als die Hexe in jedem Sinne, den diese Bezeichnung zuließ, ihr Kleid wie verflüssigte schwarze Seide an ihrer makellosen Gestalt hinabgleiten ließ, fühlte er sich nicht bereit, schon Mann zu sein. Der dünne Stoff fiel zu Boden und umsäumte ihre Füße wie eine verdorbene Rose. „Wovor scheust du dich?“, sprach ihre raue Stimme wie aus einer anderen Dimension. „Hängst du doch zu sehr an deiner Jugend?“ Ihre Hände streiften über den eigenen Körper, als hätten sie einen persönlichen Willen, der nicht minder gefangen war von ihrem Zauber als er. „Die Jugend… verfliegt so rasch“, begann sie auf einmal zu erzählen, und er meinte, ein Gefühl der Wehmut in ihrer ansonsten eiskalten Stimme zu hören. „Das Erwachsensein… bleibt uns für die Dauer einer menschlichen Ewigkeit, bis zu unserem Tod. Nüchternheit tötet Träume. Die Freiheit unterwirft sich der Pflicht. Du magst die Jugend festhalten, doch du kannst sie dir nicht bewahren. Ziehst du zu stark, zerbricht sie… und nicht einmal die Erinnerung erhält sich dir. Die Zeit fließt wie Wasser. Sie wird stets einen Ausweg finden, wenn du versuchst, sie für dich einzusperren. Du möchtest erwachsen sein, weil du dich nach Unabhängigkeit und Verantwortung sehnst… Aber auch du wirst erkennen, dass erwachsen sein schon bedeutet, tot zu sein.“ Er schloss die Augen und fand darin eine Möglichkeit, der Situation zu entfliehen. Tatsächlich kehrte hinter seinen schweren Atemzügen Stille ein, als wäre die Hexe nur Teil eines Traums und er im Begriff, daraus zu erwachen. Doch er hatte seinen Traum träumen wollen und würde fortan nicht mehr imstande sein, ihn zu verlassen. Ihre feingliedrigen Finger legten sich auf seine erhitzte Wange und zogen ihn zurück in ihre Welt, die sich nun auch ihn einverleiben wollte. Ihm graute davor, die Augen zu öffnen, ihre goldenen Katzenaugen und ihren purpurnen Mund nur Zentimeter vor seinem Gesicht realisieren zu müssen. „Wieso schaust du mich nicht an?“, hauchte sie. „Bin ich nicht schön? Bin ich nicht schön, weil ich eine Hexe bin? Können Hexen nicht schön sein? Lasst ihr alle Hexen in euren Fantasien hässlich sein, weil ihr sie hasst?!“ Ihre winzigen Pupillen drangen durch seine geschlossenen Lider und trafen ihn wie zwei scharfe Eissplitter. Er verstand, dass sie gefährlich war, äußerst gefährlich, und dass er sie besser nicht erzürnen sollte. „Meine Vergangenheit ist mir egal. Alles, was ich will, ist, dein Ritter sein zu dürfen.“ „Der Letzte, der das war, brach sein Versprechen und ließ mich allein“, offenbarte sie ihm. „Ich habe immer für die Erfüllung meines Traums gelebt. Es gibt nichts anderes in meinem Leben. Lass mich dein Ritter sein.“ „Ja“, seufzte sie förmlich und ließ ihre Hand hinabfahren. „Ich spüre, wie ein ungewöhnlicher Wille in dir wallt. Du möchtest mein Ritter sein. Du möchtest mich vor den schlechten Menschen beschützen, die mich diskriminieren und jagen. Denn du weißt, dass Hexen keine bösartigen Kreaturen sind.“ „Ja.“ „Du willst ein Mann sein, du willst Gerechtigkeit in diese von Egoismus und Machtbesessenheit bestimmte Welt bringen und keine Regeln und Gesetze scheuen, um dein Ziel zu erreichen. Du verlangst, dass jene Aufmerksamkeit und Beachtung empfangen, die es verdienen.“ „Ja.“ „Du verlierst deine Jugend und wirst zusammen mit mir leiden.“ „Ja.“ „Du willst mein Ritter sein.“ „Ja, verdammt! Dreht dir dein Faschingshelm das Gehör ab oder willst du’s vielleicht noch schriftlich mit Stempel?“ Eine einzelne kleine Zornesfalte irritierte die Unantastbarkeit ihres wie von Eis überzogenen Antlitzes. „Ich will deine unbedingte Loyalität. Ich will, dass du dir deiner großen Verantwortung gewahr wirst und dessen, dass ein Traum immer etwas [Illusionäres] hat. Ich will…“ Unerwartet langte sie nach seinem Arm, der die Gun-Blade hielt, zog den Ärmel zurück und riss eine lange Wunde in das Fleisch, indes die Waffe klimpernd zu Boden fiel. „Scheiße!“ „…dass du bereit bist, für mich zu sterben“, beendete sie ihren Satz. Das Blut beeilte sich, an sein Handgelenk zu reichen, um von dort aus auf den Teppich zu tropfen, der es gierig verschlang, flüchtend vor dem einzigen Wink ihrer Hand über die Versehrung, die den Fluss stoppte und nicht einmal eine Narbe zurückließ. „Es liegt jenseits meiner Macht, jene Wunden zu heilen, die andere dir im Kampf gegen mich zufügen werden“, schien sie zu bedauern, den Ärmel wieder hinabschiebend. „Die Schlechtigkeit ihrer Absichten ist zu stark, als dass mein guter Zauber ihre Auswirkungen zu kurieren vermag. Doch dein Schwert, gesegnet durch meine Magie, wird die Traurigkeit des Heilens unnötig machen, wenn du wirklich bereit bist, als mein ehrenvoller Ritter an meiner Seite zu verbleiben.“ „…Ich werde es, Edea.“ Und wie manipuliert begab er sich auf die Knie. Zu ihren Füßen erst konnte er die Augen wieder öffnen. „Heute Abend wird es zu meinen Ehren eine Parade geben. Sei bis dahin ein braver Junge, hörst du? Wenn du brav bist, werde ich dich belohnen…“ Wenn du brav bist, werde ich dich belohnen… Und er war brav. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)