Brüder von Mono-chan (das letzte Kapitel ist da) ================================================================================ Kapitel 24: Narkose ------------------- Der Regen war in Hagel übergegangen. Das Prasseln der feinen Eiskörner mischte sich mit dem Trommeln der Regentropfen auf der Fensterscheibe. Der Himmel war immer noch bedrohlich grau, es donnerte und blitzte in kurzen Abständen, die Bäume bogen sich heftig im Wind. Es war reines Glück, dass das Unwetter sich erst jetzt so zuspitzte. Taro stand mit verschränkten Armen auf dem Gang der Notaufnahme und starrte nach draußen. Im Moment war er mit Kojiro, Ryo, Yukari und Izawa alleine. Eine halbe Stunde nach dem Vorfall hatten sie alle sich auf dem alten Fußballplatz getroffen, waren aber vor dem Gewitter hierher in die Klinik geflüchtet und hatten dort in der Cafeteria das nötigste besprochen. Kojiro hatte bisher eine Erklärung verweigert, warum er so plötzlich am Strand aufgetaucht war und was er von dem Schuss mitbekommen hatte, er wollte erst darüber sprechen, wenn Tsubasa dabei war. Die Polizei, die direkt nach den Sanitätern an Ort und Stelle gewesen war und Tsubasas Transport ins Krankenhaus noch mitbekommen hatten, hatten den Platz, an dem er angeschossen worden war, kurz inspiziert, die Personalien von Taro und Kojiro aufgenommen und waren dann nach einer kurzen Befragung wieder gegangen, allerdings nicht ohne die beiden für den nächsten Vormittag ins Revier zu bestellen. Auch hier war Kojiro sehr wortkarg gewesen und hatte darauf bestanden, zufällig vorbei gekommen zu sein. Taro glaubte davon kein Wort. Vermutlich hatte Kojiro auf seiner Rolle als Bodyguard beharrt und war Tsubasa von zuhause aus gefolgt, aber warum weigerte er sich, darüber zu sprechen, bevor Tsubasa dabei war? Taro seufzte und rieb sich mit den Händen über das Gesicht, bevor er den Blick schweifen ließ. Die Notaufnahme war leer heute, außer ihnen und Tsubasas Eltern, die ganz in der Nähe saßen, war kein Mensch mehr da. Mittlerweile ging es bereits auf neun Uhr abends zu, und es gab immer noch keine neuen Nachrichten von Tsubasa. Taro blickte wieder zu seinen Freunden hinüber, von denen jeder seinen eigenen Gedanken nachzuhängen schien. Auch Herr und Frau Ozora sprachen nicht miteinander, sie sahen sehr bleich und besorgt aus –was kein Wunder war. Herr Ozora wirkte noch blässer als seine Frau, aber auch das war nicht verwunderlich. Offensichtlich hatte Tsubasa sehr viel Blut verloren, es hatte nicht lange gedauert, bis ein Arzt hektisch ein paar Worte mit seinen Eltern gewechselt hatte. Daraufhin war Herr Ozora dem Mediziner den Gang hinunter gefolgt und erst nach gut einer Stunde wieder zurück gekommen, den linken Arm von der Blutabnahme immer noch angewinkelt. Taro wusste nicht, wie viel sie genommen hatten – offensichtlich wenig genug, um ihn nach einer gewissen Beobachtungszeit wieder zu seiner Familie zurück zu lassen. Frau Ozora saß auf einem Stuhl neben ihrem Mann und wiegte Daichi abwesend hin und her. Dieses Mal hatten sie offenbar keinen Babysitter auftreiben können und hatten den Kleinen daher zwangsweise mitgebracht. Die erste Zeit hatte er in seinem Kinderwagen gesessen und hatte geschlafen, aber dann war er wach geworden und hatte begonnen zu quengeln. Mittlerweile schlief er wohl wieder, aber seine Mutter machte keine Anstalten, ihn zurück in den Kinderwagen zu setzen. Taro seufzte und warf zum hundertsten Mal ein Blick auf Tsubasas Handy, das er immer noch bei sich trug – und zu seinem Erstaunen war tatsächlich ein kleiner Briefumschlag auf dem Display zu sehen. Hektisch rief er die Nachricht auf. Wir haben was! Machen uns jetzt auf den Rückweg! Die SMS kam von Kisugi Taro atmete erleichtert auf und gab Kojiro einen kleinen Stoß in die Seite, bevor er ihm das Handy reichte. Er nickte grimmig, nachdem er die Nachricht überflogen hatte. „Wenigstens etwas.“, war sein einziger Kommentar, während er ihm das Handy zurück gab. „Wir reden nachher darüber.“ Taro nickte und schaltete das Handy aus. Er hatte eh kein gutes Gefühl gehabt, es die ganze Zeit hier im Krankenhaus anzulassen, aber immerhin handelte es sich um einen Notfall. Die Anderen waren trotz des Unwetters zurück zum Strand gegangen und hatten nach irgendetwas gesucht, dass ihnen – und er Polizei – weiterhelfen konnte. Besonders gründlich waren die Polizisten bei ihrer Inspektion anscheinend nicht gewesen. „Ich frage mich, wie lange das noch dauert.“, brach Ryo plötzlich das Schweigen. „So schlimm kann es doch gar nicht gewesen sein!“ „Na ja…. Solche Sachen brauchen häufig ihre Zeit.“, meinte Yukari leise. Sie saß ebenfalls auf einem der Besucherstühle, die Hände so fest in ihrem Schoß verschränkt, dass die Knöchel weiß hervortraten. Auch sie war bleich, tiefe Ringe lagen unter ihrem Augen. Es war offensichtlich, dass sie die letzten Tage extrem wenig geschlafen hatte, und das war kein Wunder. Sie verbrachte jede Minute bei Sanae, die Tsubasa oder Sanaes Eltern nicht bei ihr sein konnten und die die Ärzte erlaubten. „Schon, aber….“ Ryo brach hilflos ab, und Taro konnte gut nachvollziehen, wie er sich fühlte. „Es ist ein Stück weit unsere Schuld.“, meinte Izawa finster. „Wir hätten ihn nicht aus den Augen lassen dürfen….“ „Schwachsinn! Das haben wir doch schon ausdiskutiert! Tsubasa war nicht alleine, als es passiert ist, außerdem hätte das niemand verhindern können.“, meinte Kojiro entschieden. „Wenn überhaupt, dann ist es meine Schuld, weil ich den Kerl gesehen habe….“ „Was?“ Die Anderen starrten ihn entgeistert an. „Du hast ihn gesehen? Warum hast du das nicht der Polizei gesagt?“ „Das werde ich noch, keine Sorge. Aber erst, wenn ich mit Tsubasa geredet habe!“ Die Anderen setzten zu einer Erwiderung an, aber in diesem Moment sahen sie den Arzt von vorhin, der entschieden an ihnen vorbei und auf Tsubasas Eltern zuging. *** Herr Ozora zuckte unwillkürlich zusammen, als er Schritte hörte, und blickte auf, dann erhob er sich hastig, ohne auf den Schwindel zu achten, der ihn einen Moment lang befiel. Seine Frau folgte seinem Beispiel „Und?“, wollte Herr Ozora sofort wissen, ohne dem Arzt eine Chance zu lassen, etwas zu sagen. „Wie geht es Tsubasa? Haben Sie die Blutung endlich stoppen können? Der Arzt nickte und schenkte Tsubasas Eltern ein aufmunterndes Lächeln. „Ja, wir haben die Blutung gestoppt, es geht Ihrem Sohn den Umständen entsprechend gut. Er hatte Glück im Unglück, es war ein glatter Durchschuss, der Knochen wurde nicht verletzt. Wenn Sie möchten, kann ich Sie in ein paar Minuten zu ihm bringen, ich würde vorher nur kurz gerne ein paar Worte mit Ihnen beiden sprechen. Folgen Sie mir am besten in mein Büro.“ Herr Ozora tauschte einen kurzen Blick mit seiner Frau aus, die Daichi bereits vorsichtig zurück in den Kinderwagen setzte, um ihn nicht aufzuwecken. Dann folgten sie beide dem Arzt den Gang entlang, den Kinderwagen vor sich herschiebend. Es dauerte nicht, lange bis sie ihr Ziel erreichten. Der Arzt ließ sie eintreten und deutete auf zwei Besucherstühle, die vor dem großen, aufgeräumten Schreibtisch saßen. „Nehmen Sie doch bitte Platz.“ „Was ist denn jetzt genau mit Tsubasa?“, wollte Frau Ozora ungeduldig wissen, während sie der Aufforderung Folge leistete. „Warum hat die Behandlung so lange gedauert? Ist es was Ernstes?“ „Nun ja, mit einer Schusswunde ist sicher nicht zu spaßen.“ Der Arzt ließ sich ebenfalls hinter seinem Schreibtisch nieder. „Das wichtigste habe ich Ihnen ja bereits gesagt. Tsubasa hatte Glück im Unglück, die Kugel ist glatt durch seinen Oberschenkel geschlagen und hat dabei keinen größeren Schaden eingerichtet. Ein paar Zentimeter tiefer, und es hätte das Knie erwischt. Wir mussten operieren, um die Blutung zu stoppen, aber im Moment ist das alles auch dank Ihrer Blutspende wieder im grünen Bereich. Er liegt noch in der Narkose, ich denke, dass er innerhalb der nächsten Stunde wieder zu sich kommt – vermutlich wird er dann aber noch ziemlich benommen sein.“ „Wird er bleibende Schäden zurückbehalten?“, wollte Herr Ozora besorgt wissen, und seine Frau zuckte leicht zusammen. Diese Frage hatte sie bis jetzt erfolgreich verdrängt. Der Arzt wurde ernst. „Deswegen wollte ich auch mit Ihnen sprechen. Wenn ich richtig informiert bin, hat er gute Chancen auf eine Fußballkarriere in Brasilien?“ Seine Eltern nickten, und der Arzt seufzte. „Nun ja, aus rein ärztlicher Sicht denke ich, dass keine Schäden zurückbleiben werden, wie gesagt, er hatte Glück. Rein theoretisch müsste er also wieder spielen können. Allerdings hängt das auch ein wenig von Tsubasa ab. Er muss sich unbedingt mindestens zwei Monate schonen, das Bein braucht die Chance, vollständig zu verheilen. Im Idealfall hütet er die nächsten zwei Wochen erst mal das Bett und läuft so wenig wie möglich.“ Tsubasas Eltern tauschten einen besorgten Blick aus. Bei Tsubasa würde das ein hartes Stück Arbeit werden. „Und wenn er sich nicht schont?“, meinte Frau Ozora schließlich zaghaft. „Dann kann ich für nichts garantieren. Wie gesagt, mit einer Schusswunde ist nicht zu spaßen.“ Ein paar Sekunden herrschte Schweigen, bevor sich der Arzt schließlich räusperte und fortfuhr. „Wir würden ihn auch gerne noch ein paar Tage zur Beobachtung hierbehalten. Wir wollen sicher gehen, dass er die Narkose vertragen hat und die Wunde problemlos verheilt – und auch mit Hinblick auf den Blutverlust ist es besser, wenn er die nächsten Stunden unter ärztlicher Aufsicht bleibt.“ „Natürlich, das versteht sich von selbst.“ „Gut, ich habe gehofft, dass Sie in der Hinsicht mit mir einer Meinung sind.“ Der Arzt lächelte leicht. „Ich wollte Sie bitten, mit Tsubasa darüber zu sprechen und ihm auch klar zu machen, was auf dem Spiel steht, wenn er sich nicht an unsere Anweisungen hält. Ihr Sohn hat – einen gewissen Ruf, was die Rücksicht auf seine Gesundheit angeht.“ Frau Ozora nickte. „Den hat er leider nicht umsonst.“, meinte sie niedergeschlagen. „Aber die letzten Jahre ist er in der Hinsicht etwas vernünftiger und erwachsener geworden – wir werden auf alle Fälle unser Bestes versuchen.“ Dabei schoss ihr durch den Kopf, dass es immer Sanaes Einfluss gewesen war, der Tsubasa in letzter Zeit zur Vernunft gebracht hatte…. „Können Sie uns jetzt zu Tsubasa bringen? Ich wäre gern bei ihm, wenn er aufwacht.“, meinte sie leise. Herr Ozora griff unwillkürlich nach ihrer Hand und drückte sie. Der Arzt nickte. „Selbstverständlich. Folgen Sie mir bitte….und erschrecken Sie nicht, es sieht auf den ersten Blick vermutlich schlimmer aus als es ist. Den Kleinen können Sie solange im Schwesternzimmer lassen, wenn Sie möchten, eine der Schwestern ist bestimmt bereit, sich um ihn zu kümmern.“ Frau Ozora nickte erleichtert, ihr war nicht wohl bei dem Gedanken gewesen, Daichi mitzunehmen. „Ich komme gleich nach, ich sage kurz Taro und den Anderen Bescheid – sie werden sicher wissen wollen, was los ist.“, meinte ihr Mann leise. „Geh du ruhig schon vor…..“ Frau Ozora nickte erneut. „In Ordnung.“ *** „Hey! Aufwachen!“ Tsubasa zuckte zusammen, als er von etwas weichem am Kopf getroffen wurde, und öffnete perplex die Augen. Sanae blickte ihn vorwurfsvoll an. „Das ist so typisch! Der erste freie Tag, den wir seit langem haben, und was machst du? Du schläfst ein! Ich hoffe, du schämst dich wenigstens!“ „Ein bisschen.“ Tsubasa lächelte leicht und richtete sich auf. „Ich habe halt wenig geschlafen in letzter Zeit….“ „Trotzdem! Schlafen kannst du zuhause!“ Sanae sammelte das Kissen ein, dass sie vorhin nach ihm geworfen hatte, und setzte sich damit neben ihn auf die Decke. „Dafür will ich eine Entschädigung!“ „Und was schwebt dir da vor?“ „Hm….“ Sanae blickte sich suchend um, dann hellte sich ihre Miene auf, als sie einen Eiswagen in der Nähe entdeckte. „Du könntest mir ein Eis spendieren. Ich glaube, das wäre ein guter Anfang.“ „Ein Anfang?“ Tsubasa zog die Augenbrauen nach oben. „Was erwartet mich denn noch alles?“ „Das erfährst du, wenn du mit dem Eis wieder da bist.“, grinste Sanae und gab ihm einen Kuss. „Beeil dich – ich hab Hunger.“ „So groß kann der Hunger ja nicht sein, vom Picknickkorb hast du noch nicht viel angerührt.“ „Da ist ja auch kein Eis drin.“ „Verstehe.“ Tsubasa lächelte leicht und suchte den Geldbeutel aus seinem Rucksack, bevor er aufstand. „Dann bleibt mir wohl keine Wahl.“ „Richtig.“, meinte Sanae zufrieden und streckte sich auf der Decke aus. „Zwei Kugeln mindestens – mit Schokolade. Ich warte hier.“ „Zu Befehl.“ Sanae streckte ihm die Zunge heraus, aber das sah Tsubasa schon nicht mehr, er machte sich auf den Weg Richtung Eiswagen. Es war interessant zuzusehen, dass Sanae hier in Brasilien mehr und mehr ihr altes Temperament zurück gewann. Es war fast so, als müsste sie die Tatsache, dass es hier keinen Ryo gab, mit dem sie sich streiten konnte, auf Tsubasa übertragen. Nicht, dass es ihn gestört hätte, im Gegenteil. Auf diese Art gab es fast immer etwas zu lachen – und indirekt war es fast so, als wäre Ryo auch hier. Ein Stück Zuhause, sozusagen….. Fünf Monate waren sie bereits in Sao Paolo, zwei davon gemeinsam, und mittlerweile hatten sie sich ganz gut eingelebt, wenn man von der Tatsache absah, dass Tsubasa an manchen Tagen durchaus 10 Stunden auf dem Fußballplatz verbrachte und abends dann völlig erledigt nach Hause kam. Obwohl er die Auswahlspiele erfolgreich überstanden hatte, bestand Roberto darauf, ihn zumindest in der Anfangszeit täglich einige Stunden extra zu trainieren. Es war Sanaes Idee gewesen, den ersten wirklichen freien Tag für einen Ausflug zu nutzen, und so hatten sie am Morgen ihre Sachen gepackt und waren mit dem Zug an diesen Badesee gefahren. Das Wetter war perfekt dafür – strahlend blauer Himmel und Sonnenschein, aber nicht so heiß, dass man es mittags draußen nicht ausgehalten hätte. Mittlerweile hatte Tsubasa das Eis erstanden und machte sich auf den Weg zurück. Er blickte sich kurz um, als er meinte, seinen Namen zu hören, und schüttelte über sich selbst den Kopf. Wer sollte ihn hier kennen? Als er die Picknickdecke erreichte, blieb er verdattert stehen. Sanae war weg…. „Sanae?“ Er blickte sich erneut um, aber auch in der Nähe konnte er sie nirgends sehen. Er bekam ein ungutes Gefühl. Mit einem Mal war es totenstill geworden, nicht mal die Vögel waren mehr zu hören. Als sich Tsubasa ein weiteres Mal umsah, bemerkte er zu seinem Entsetzen, dass auch alle anderen Menschen plötzlich verschwunden waren. Sogar die beiden Eiswaffeln, die er gerade noch gehalten hatte, waren nicht mehr da. Verdattert starrte er seine leeren Hände an –und hörte in diesem Moment noch einmal seinen Namen. Jemand rief nach ihm…. Mit wachsender Panik blickte er sich erneut um, konnte aber niemanden sehen. Was ging hier vor….? Plötzlich knallte ein Schuss. Tsubasa wusste sofort, dass er getroffen worden war, spürte aber zu seinem eigenen Erstaunen keine Schmerzen. Im Gegenteil, sein linkes Bein wurde komplett taub…… „Tsubasa!“ Jetzt hörte er die Stimme sehr deutlich. Es war ein Mann…. „Tsubasa? Hörst du mich?“ Zwei leuchtende Punkte tauchten direkt über ihm auf. Tsubasa blinzelte benommen. Der See war weg – er lag irgendwo, es fühlte sich fremd an und roch steril. Das taube Gefühl in seinem Bein war immer noch da….. „So ist es gut.“, meinte der Mann wieder. Langsam formte sich ein Gesicht zu der fremden Stimme. Das Licht flackerte noch einmal über seine Augen. „Jetzt hast du das schlimmste geschafft.“ Tsubasa blinzelte wieder und realisierte langsam endlich, wo er war. Der Mann, der sich über ihn gebeugt hatte, steckte die kleine Taschenlampe zurück in die Brusttasche und lächelte ihn aufmunternd an. „Willkommen zurück.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)