Brüder von Mono-chan (das letzte Kapitel ist da) ================================================================================ Kapitel 37: Kampf ----------------- Unter normalen Umständen hätte Tsubasa keine Chance gehabt. Aber der Überraschungseffekt war auf seiner Seite – Hideo hatte offensichtlich nicht mit Gegenwehr gerechnet. Als die Waffe aus seiner Hand geschlagen wurde und sie beide auf den Boden stürzten, setzte Tsubasas Wahrnehmung für ein paar Sekunden aus. Sein Körper reagierte jedoch offensichtlich völlig automatisch, weil das nächste, was er bewusst registrierte, war der kalte Pistolengriff in seiner Hand und die Tatsache, dass die Mündung genau auf Hideo gerichtet war. Hideo rührte sich nicht, aber seine Körperhaltung sprach Bände, genauso wie seine Mimik, in dem Wut und Hass so deutlich abzulesen waren wie in einem Buch. Blut rann ihm aus der Nase, und er war außer Atem. Auch Tsubasas Puls raste, und er versuchte, das dumpfe, protestierende Pochen in seinem Bein zu ignorieren. Ob Hideo ihn während des kurzen Kampfes anderweitig noch verletzt hatte, konnte er im Moment nicht sagen, es interessierte ihn aber auch nicht. Seine Hand mit der Pistole zitterte leicht, es kostete beinahe seine ganze Konzentration, sie weiter auf Hideo gerichtet zu halten. Kurze Zeit herrschte eisiges Schweigen, nur unterbrochen durch Daichis Wimmern. Tsubasa konnte seinen Bruder im Augenblick nicht sehen, aber er hoffte, dass der Kleine die Chance genutzt hatte und in Deckung gegangen war. Aus Hideos Reichweite. „Und?“, fragte Hideo schließlich nach einigen weiteren Sekunden. Seine Stimme war gefährlich leise. „Worauf wartest du?“ Tsubasa gab keine Antwort. Kurz, für den winzigen Bruchteil eines Augenblicks, schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, tatsächlich abzudrücken. Aber der Moment verschwand schnell. Zurück blieben eine leichte Übelkeit und der Gedanke an Sanaes entsetzten Gesichtsausdruck. Er zwang sich in eine halbwegs aufrechte Position, ohne Hideo aus den Augen zu lassen. „Z…zurück. An die Wand…“ Hideo starrte ihn für einen weiteren, endlosen kurzen Augenblick an, dann lächelte er abfällig. „Was soll das jetzt werden? Nicht mutig genug, oder wie?“ „Zurück an die Wand! Und halt die Klappe…..“ Hideo grinste jetzt. Aber er wich tatsächlich zurück, bis er mit dem Rücken an die Wand stieß. „Glaubst du ernsthaft, das ändert irgendwas?“ „Du…sollst die Klappe halten….“ Tsubasa biss die Zähne zusammen und schaffte es mit einiger Mühe zurück zu der Stelle, an die Hideo ihn vor einer gefühlten Ewigkeit gegen die Wand gestoßen hatte. Und – wie ihm jetzt bewusst wurde – an der vor fünf Jahren die alte Matratze gelegen hatte, als Kenji den Raum zum Gefängnis umfunktioniert hatte. Rasch schob er den Gedanken wieder zur Seite. Jetzt lag der komplette Raum zwischen ihm und Hideo. Immerhin eine große Verbesserung…. Oder? Hideo grinste noch breiter, als hätte er seine Gedanken erraten. „So wie ich die Sache sehe, hast du immer noch ein großes Problem. Mit dem kaputten Bein kommst du hier nicht raus, nicht ohne mich. Und so wie es aussieht, muss ich nur warten.“ Er deutete mit dem Kinn in Tsubasas Richtung. „Ich habe jede Menge Zeit, ganz im Gegensatz zu dir.“ Tsubasa wurde sich mehr denn je dem brennenden Schmerz in seinem Oberschenkel bewusst, und richtete unwillkürlich den Blick auf die Verletzung. Prompt verstärkte sich die Übelkeit. Durch den kurzen Kampf war die Wunde anscheinend endgültig wieder aufgebrochen und blutete stark. Sehr stark. Dank der Medikamente hielt sich der Schmerz wenigstens immer noch in der erträglichen Grenze, das war die gute Nachricht, aber wenn er nicht irgendwas fand, mit dem er die Wunde abbinden konnte…. Und selbst wenn, mit nur einer Hand war das absolut unmöglich…. Tsubasa schloss die Augen für den Bruchteil einer Sekunde, dann zwang er sich, seine Konzentration wieder auf die Waffe zu richten. Er musste nur durchhalten, bis jemand Hideos Spiel durchschaute und zum Haus zurückkam. Ganz einfach. Hideo grinste immer noch. „Sicher, dass ich dir nicht mit einem Druckverband helfen soll? Wenn du lieb bitte sagst, mache ich das vielleicht sogar.“ „I…ich hab dir vorhin schon gesagt, dass du die Klappe halten sollst….Setz dich hin und rühr dich nicht von der Stelle, verstanden?“ Hideo kicherte in sich hinein, gehorchte aber. Nach dem ersten Schock schien er die Situation richtig zu genießen. Tsubasa biss die Zähne zusammen und presste unwillkürlich die freie Hand gegen die Wunde, bevor er sich suchend nach Daichi umsah. Der Kleine hatte sich in der Tat hinter einem Stapel Getränkekisten versteckt und kauerte dort jetzt als zitterndes kleines Bündel, den Kopf unter den Armen vergraben. Immerhin schien er weiterhin unverletzt zu sein. Tsubasa atmete unwillkürlich auf. „H…hey. Daichi…. Kleiner…“ Daichi reagierte nicht sofort, aber als Tsubasa ihn ein weiteres Mal ansprach, hob er abrupt den Kopf und blickte sich verstört um. Tsubasa löste die Hand von seinem Bein und streckte sie nach seinem kleinen Bruder aus, ohne Hideo aus den Augen zu lassen. „Komm her… na los, komm….“ Daichi warf einen ängstlichen Blick auf die andere Seite des Raums, wo Hideo an die Wand gelehnt saß, dann rappelte er sich jedoch auf und rannte so schnell zu seinem großen Bruder hinüber, dass er über seine eigenen Füße stolperte und prompt mit Tsubasa zusammenprallte. Die neue Schmerzwelle, die daraufhin durch sein malträtiertes Bein schoss, ließ ihn zusammenzucken, aber er ignorierte es so gut es ging und legte stattdessen den Arm um Daichis immer noch heftig zitternden Körper. Nur am Rande registrierte er dabei die roten Flecken, die seine blutige Hand auf Daichis Haut und Kleidung hinterließ. „Schon gut…. Alles ist gut…“ Daichi wimmerte wieder leise und krallte die Hände fest in Tsubasas T-Shirt. Hideo verzog abfällig das Gesicht. „Wie rührend. Und wie lange glaubst du, dass du ihn schützen kannst? Hm? Zehn Minuten? Ich wette, in spätestens fünf wird dir schon schwindelig.“ „Zum letzten Mal… halt den Mund…“ „Sonst? Wenn du abdrückst, hast du erst recht ein Problem. Ohne mich verblutest du hier unten.“ „Da du mir eh nicht helfen wirst, ist es für mich völlig egal, ob ich abdrücke oder nicht. Du kommst Daichi und mir nicht mehr zu nahe, dafür sorge ich, so oder so…..“ Tsubasa war selbst überrascht darüber, wie abgebrüht das klang – und erleichtert. Hideo runzelte zum ersten Mal leicht die Stirn und schwieg. Tsubasas Finger klammerten sich fester um die Pistole, der Griff wurde zusehends rutschig von seinem eigenen Schweiß, und er musste sich konzentrieren, um das heftiger werdende Zittern seiner Hand zu unterdrücken. Das Adrenalin des Kampfes ebbte ab und hinterließ ein zunehmendes Gefühl der Schwäche. Daichi klammerte sich immer noch an ihm fest, und das war gut so. Der Griff seiner kleinen Finger, die sich in seine Kleidung krallten, half ihm, seine Gedanken zu ordnen. Er konnte niemals so lange durchhalten, bis seine Eltern und Freunde von alleine darauf kamen, dass etwas nicht stimmte. Damit hatte Hideo Recht. Aber wie....? In der nächsten Sekunde hätte er beinahe gelacht, als ihm die Lösung einfiel. Natürlich….. „Dein Handy.“ Hideo runzelte erneut die Stirn. „Hä?“ „Dein Handy. Ich weiß, dass du eins hast, sonst hättest du mir ja nicht die netten SMS schreiben können heute Abend. Schieb es über den Fußboden hier rüber.“ Hideos Blick verfinsterte sich, und Tsubasa wertete es als ein Zeichen dafür, dass er ins Schwarze getroffen hatte. „Her damit.“, wiederholte er ein drittes Mal. „Sofort!“ „Und wenn nicht? Holst du es dir dann selbst?“ „Willst du es rausfinden?“ Tsubasas Griff um die Waffe verstärkte sich erneut. „Her mit dem Handy.“ Das Zucken in Hideos Gesichtsmuskulatur war wieder da. Langsam, quälend langsam, griff er in die Brusttasche seines Hemdes und holte ein kleines, schwarzes Mobiltelefon hervor. Er legte es auf den Boden und gab ihm einen Schubs, so dass es über den Fußboden in Tsubasas Richtung rutschte. Zum Glück landete es in Reichweite. Die Pistole schien bereits Zentner zu wiegen, aber er zwang sich, sie weiter auf Hideo gerichtet zu halten, und griff mit der anderen Hand nach dem Handy. Seine Finger zitterten mittlerweile so sehr, dass er zwei Versuche brauchte, bis er die einzige Nummer gewählt hatte, an die er sich gerade erinnern konnte. Hideo beobachtete ihn mit einem verächtlichen Zug um den Mund. „Und du glaubst ernsthaft, dass irgendjemand rechtzeitig hier ist? Mach dem Knirps nicht unnötig Hoffnung.“ Tsubasa sparte sich die Antwort. Gut möglich, dass Hideo Recht hatte und weder seine Eltern noch seine Freunde rechtzeitig hier sein würden, aber einen Versuch war es allemal wert. Besser, als hier herumzusitzen und nichts zu tun. Schon allein deshalb, weil Hideo nicht damit gerechnet hatte – alles, was sein Konzept durcheinander brachte, war hilfreich. In dem Moment, als er die Ruftaste drücken wollte, war auf einmal ein Geräusch zu hören, dass ihn mitten in der Bewegung erstarren ließ. Waren das….? Unwillkürlich hob er den Kopf zum Fenster, das ihm Unterschied zum letzten Mal nicht mit schwarzen Stoffen verhängt war und einen Blick auf den Rasen draußen vor dem Haus ermöglichte. Auch Hideo rührte sich nicht und lauschte offenbar angestrengt, das Zucken in seinem Gesicht stärker denn je. Sirenen. Und sie kamen rasend schnell näher…. Tsubasa hatte keine Ahnung, wie und warum, aber dem Anschein nach war die Polizei hierher unterwegs! Vor Erleichterung hätte er beinahe gelacht, wenn er nicht bereits so verdammt müde gewesen wäre. Die Polizei war unterwegs…. Und dem Klang der sich rasant nähernden Sirenen nach war sie jeden Augenblick hier. Er ließ das Handy sinken und legte den Arm wieder um Daichi, der sich immer noch zitternd an ihn schmiegte. „Hörst du das?“, meinte er matt, obwohl Daichi ihn hundertprozentig nicht verstand. „Es dauert nur noch…ein paar Minuten….“ Hideos ganzer Körper war nun angespannt vor Wut, während draußen die ersten Fahrzeuge mit quietschenden Bremsen zum Stehen kamen. Durch das kleine Fenster konnte man sogar zum Teil die Reifen erkennen. Die Sirenen verstummten, dafür wurden Türen aufgerissen, hastige Schritte trampelten über den Rasen in Richtung Haustür, kurz darauf waren sie bereits im Haus. Stimmen riefen durcheinander, und noch bevor Tsubasa darüber nachdenken konnte, sich durch Rufen bemerkbar zu machen, hämmerte es bereits laut gegen die Kellertür. „Tsubasa? Tsubasa, hörst du mich?!“ Sein Vater….. Da draußen stand tatsächlich sein Vater….. Vor Erleichterung wäre ihm beinahe die Waffe aus der Hand gerutscht, er verhinderte das gerade noch. „J….ja….. Ich bin hier…. Und Daichi auch….“ Eine Sekunde lang herrschte Stille hinter der Tür. Als Herr Ozora weitersprach, klang auch er erleichtert. „Gott sei Dank… Wir haben so gebetet, dass wir Recht haben…. Seid ihr in Ordnung? Ist dieser Mistkerl bei euch?“ Tsubasa blickte wieder zu Hideo hinüber, dessen Gesicht vor Wut, Hass und Enttäuschung kalkweiß geworden war. „Ja….. Er hat die Tür abgeschlossen von innen….. Ich komme nicht an den Schlüssel….“ „Die Polizei kann die Tür aufbrechen. Haltet Abstand und bleib noch ein paar Augenblicke ganz ruhig, wir sind gleich da.“ Jetzt schien auch zu Daichi durchgedrungen zu sein, dass die Stimme zu seinem Vater gehörte. Er hob sein tränenverschmiertes Gesicht und machte Anstalten, sich aus Tsubasas Griff zu lösen und zur Tür zu laufen. Tsubasa konnte ihn gerade noch festhalten, und allein diese Bewegung schien mit einem Mal unglaublich anstrengend zu sein. Daichi wehrte sich und begann wieder zu weinen, aber Tsubasa schaffte es trotzdem, ihn zurück zu ziehen. „Du… du musst hierbleiben… sonst können die Polizisten die Tür nicht aufmachen….Papa ist gleich da, keine Sorge…..“, meinte er matt, und Daichi wimmerte wieder, machte aber keine Anstalten, sich ein zweites Mal aus Tsubasas Griff zu befreien. Anscheinend hatte er zumindest den letzten Teil des Satzes verstanden. Draußen waren wieder Stimmen zu hören, dieses Mal fremde, die wild durcheinander redeten. Dann schälte sich eine besonders autoritär klingende heraus. „Auf drei. Achtung – eins, zwei – drei!“ Die Tür erbebte unter einem heftigen Stoß. Daichi zuckte zusammen und schmiegte sich wieder eng an Tsubasas Oberkörper. Noch ein Schlag gegen die Tür, ein dritter, ein vierter….. Dann ging es mit einem Mal sehr schnell. Im selben Moment, in dem Hideo endgültig die Beherrschung verlor und mit einem wilden Schrei nach vorne schnellte, flog die Kellertür aus den Angeln und der Raum war plötzlich voll mit Menschen. Noch bevor Tsubasa irgendwie reagieren konnte, hatten sich bereits zwei Polizisten auf Hideo gestürzt und rissen ihn äußerst unsanft zu Boden, noch bevor er überhaupt in Tsubasas und Daichis Nähe gekommen war. Er schrie und fluchte, trat wild um sich, aber nichts davon nützte ihm etwas. Ein dritter Polizist tauchte auf einmal in Tsubasas Blickfeld auf, so dass er nicht mehr sehen konnte, was mit Hideo passierte. Der Beamte rief irgendwas von Sanitätern, die gefälligst hier runter kommen sollten, während er bereits die Waffe aus Tsubasas Fingern löste. Es kostete ihn keine Mühe – um genau zu sein, registrierte Tsubasa erst mit einigen Sekunden Verzögerung, dass er die Pistole nicht mehr in der Hand hielt. Daichi begann wieder zu weinen. Tsubasa hätte ihn gerne irgendwie beruhigt, aber er konnte nicht. Es war, als wäre mit dem Aufbrechen der Tür und dem Abfallen der Spannung endgültig das letzte bisschen Kraft verschwunden, dass er noch hatte aufbringen können…. Es grenzte an ein Wunder, dass er noch aufrecht sitzen konnte. Der Polizist ging bei ihm in die Knie und packte ihn an der Schulter, rüttelte ihn vorsichtig. „Hey. Verstehst du mich?“ „J…ja….“ „Sehr gut. Dann arbeitest du jetzt mit mir zusammen und bleibst wach, verstanden? Die Sanitäter sind jeden Moment da. Ist der Kleine auch verletzt?“ „N…nein….aber … Taro liegt oben….“ „Wer ist Taro?“ Daichi wurde aus seinem Griff gelöst, er konnte nicht sehen, von wem. Er konnte nur wie durch einen Nebel hören, dass sein kleiner Bruder jetzt erst recht schrie wie am Spieß. Gleichzeitig wurde etwas Weiches gegen die Wunde auf seinem Bein gepresst – er spürte es kaum. In der nächsten Sekunde mischten sich weitere Stimmen in das Durcheinander, die er jetzt wieder zu gut kannte. „Lassen Sie uns durch, verdammt noch mal. Das sind unsere Kinder!!“ „Sie können uns nicht verbieten….“ „Gedulden Sie sich noch ein paar Minuten bis der Verdächtige abgeführt ist und die Sanitäter die Erstversorgung…. Der Rest der Diskussion wurde vom Nebel verschluckt. Seine Eltern waren hier…. Alle beide. Sie waren hier…. Wieder durchflutete ihn Erleichterung. Der Polizist sprach ihn erneut an, aber Tsubasa reagierte nicht mehr darauf. Er registrierte gerade noch, dass noch mehr Männer in den Raum hasteten, zwei oder drei …. Die Sanitäter. Dann kippte die Welt zur Seite, und es wurde schwarz. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)