Brüder von Mono-chan (das letzte Kapitel ist da) ================================================================================ Kapitel 29: Träume ------------------ „Und? Was hat Roberto gesagt?“ Sanae lehnte sich an den Türrahmen. „Warum wollte er so dringend mit dir reden?“ Tsubasa ließ seine Sporttasche auf den Boden fallen und zog seine Jacke aus. „Er hat mich die nächste Zeit von allen Spielen befreit. Mindestens die nächsten vier Wochen, eventuell auch länger.“ „Ernsthaft?“ Sanae machte große Augen. „Warum das denn? Hast du Mist gebaut?“ „Nein, im Gegenteil. Er will mich demnächst für die Stammmannschaft vorschlagen, darum soll ich mir vorher eine Auszeit nehmen.“ „Eine Auszeit?“, wiederholte Sanae perplex. Sie stieß sich vom Türrahmen ab und kam zu ihm hinüber. „Okay, wenn sogar Roberto der Auffassung ist, hab ich mir definitiv nichts eingebildet.“ Tsubasa blickte sie verdutzt an. „Was meinst du?“ „Das frage ich dich.“ Sie blieb dicht vor ihm stehen und stieß ihm den Zeigefinger gegen die Brust. „Du bist die ganzen Wochen schon so komisch – ständig mit den Gedanken woanders und abgelenkt und irgendwie nervös. Stimmt was nicht in der Mannschaft?“ „Nein – wie kommst du darauf?“ „Ach komm, ich kenne dich gut genug. Irgendwas stimmt nicht, und ich will endlich wissen, was.“ Sie musterte ihn prüfend. „Hast du Heimweh?“ Tsubasa schwieg ein paar Sekunden, dann zuckte er schließlich leicht mit den Schultern und schob sie sanft beiseite, so dass der Weg in die Küche frei war. „Vielleicht, manchmal. Aber das ist nicht weiter tragisch. Es war die richtige Entscheidung, das weiß ich.“ „Aber?“ Sanae folgte ihm. „Nichts aber. Wir waren schon lange nicht mehr zuhause, das ist alles. Ich habe meine Eltern seit drei Jahren nicht mehr gesehen, du deine auch schon ewig nicht mehr. Und wenn Roberto mich jetzt für die Stamm-Mannschaft vorschlägt und das angenommen wird, sitzen wir mindestens die nächsten fünf Jahre hier fest.“ „Ja, und? Ich dachte, du magst es hier.“ „Das stimmt ja auch, das ist nicht das Problem.“ Tsubasa seufzte. Es war schwierig zu erklären – genau genommen wusste er selber nicht so ganz, wohin die ganzen Gedanken in seinem Kopf führten. Vermutlich war genau das das Problem. „Vermutlich bin ich nur urlaubsreif.“, meinte er schließlich leicht resigniert. „Und wer weiß, was sich in Japan alles ergibt. Da kann ja auch alles Mögliche passieren.“ Sanae grinste unwillkürlich und kam zu ihm hinüber. „Das mit dem urlaubsreif kann ich definitiv unterschreiben.“, stellte sie fest und legte ihm die Arme um den Hals. „Das sage ich dir schließlich schon seit Wochen – oder sogar seit Monaten. Aber du hörst ja nie auf mich!“ Tsubasa musste wider Willen lachen. „Na ja, Monate ist übertrieben…“ „Von wegen! Ich hab dir schon letzte Weihnachten gesagt, dass du dir ein paar Tage frei nehmen solltest!“ „Da waren wichtige Spiele, und Roberto hat…“ „Und im März, da hat Carlos uns für eine Woche nach Rio eingeladen, erinnerst du dich? Und wer wollte nicht mit…?“ „Das hat doch nichts mit wollen zu tun, ich…“ Sanae schnitt ihm das Wort ab, indem sie ihn kurzerhand auf den Mund küsste, und mit einem Mal vergaß er, was er eigentlich hatte sagen wollen. Als sie sich wieder von ihm löste, lehnte sie die Stirn sacht an seine. „Wenn du einige Zeit nach Hause willst, ist das vollkommen in Ordnung.“, meinte sie leise, und aller Schalk war aus ihrer Stimme verschwunden. „Mir fehlen die anderen auch. Aber du musst mit Roberto über die Sache mit der Stamm-Mannschaft sprechen. Wenn du dir noch nicht sicher bist, ob es das ist, was du willst, kann er vielleicht auch noch eine Weile warten.“ Tsubasa schwieg einige Sekunden, dann legte er ebenfalls die Arme um sie und zog sie enger an sich. „Was würde ich eigentlich ohne dich machen?“ „Das kann ich dir sagen.“ Sanae kicherte leise an seiner Schulter und kuschelte sich an ihn. „Mich vermissen, was sonst!“ *** „Tsubasa?“ Tsubasa fuhr erschrocken hoch, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte. Sein Vater stand neben dem Bett und blickte ihn leicht besorgt an. „Tut mir leid, dass ich dich wecken muss, aber du hast Besuch.“ „Was…? Wen denn?“ „Jemand von der Polizei ist da. Bist du fit genug?“ „Ja…sicher…“ Tsubasa brachte sich wieder in eine sitzende Position und rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht. Mich vermissen, was sonst…. Sanaes Stimme hallte deutlicher denn je in seinem Kopf nach. Diese lebhaften Träume waren wohl auch eine Nebenwirkung der Medikamente. Hoffentlich….. Sein Vater war zur Tür gegangen und wechselte ein paar leise Worte mit jemandem, der draußen stand, dann wandte er sich zu Tsubasa um. „Er will unter vier Augen mit dir sprechen, ist das für dich in Ordnung?“ Tsubasa nickte. „Klar….“ „Ich warte draußen.“ Sein Vater verließ das Zimmer, und ein Mann in Uniform trat ein. Tsubasa rieb sich erneut mit beiden Händen über das Gesicht und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Er fühlte sich schon wieder nicht richtig wach… Sanaes Stimme schwebte immer noch im Raum. „Hallo, Tsubasa. Lange nicht gesehen.“ Tsubasa erstarrte unwillkürlich und hob den Kopf. Der Polizist war direkt neben ihm stehen geblieben und grinste ihn an. Jetzt erst war er in der Lage, sein Gesicht zu sehen. Kenji….. Ein paar Sekunden lang war Tsubasa wie gelähmt. Bevor er reagieren konnte, schoss Kenjis Hand bereits nach vorne, in sein Gesicht und über seinen Mund, so dass jeder Versuch zu schreien im Keim erstickt wurde. Tsubasa wurde unsanft ins Kissen zurück gepresst, er war viel zu überrumpelt, um sich zu wehren, und in der nächsten Sekunde spürte er bereits, wie ihm der Lauf einer Pistole gegen den Bauch gepresst wurde. Er erstarrte. Kenji grinste wieder. Er benutzte immer noch dasselbe Rasierwasser. „Ich habe dir doch damals schon gesagt, dass ich dafür sorgen werde, dass du nie wieder einen Fuß auf einen Fußballplatz setzt.“, flüsterte er leise. „Erinnerst du dich?“ Das Grinsen wurde breiter. „Viele Grüße von Sanae. Sie wartet schon auf dich.“ Damit drückte er ab. *** Mit einem Aufschrei fuhr Tsubasa im Bett hoch und spürte fast augenblicklich zwei Hände, die ihn beruhigend an Schulter und Brust fassten und zurück ins Kissen drückten. „Ganz ruhig, alles in Ordnung.“, meinte seine Mutter sanft. „Du hast nur geträumt… Alles gut…“ Tsubasa antwortete nicht. Sein Herz raste und hämmerte schmerzhaft gegen seine Rippen, sein Atem flog, während seine Haut mit kaltem Schweiß bedeckt war. Sogar das Kopfkissen war komplett durchgeschwitzt, so wie es sich anfühlte…. „Es war nur ein Albtraum.“, wiederholte seine Mutter leise, ohne ihren Griff zu lockern. Sie setzte sich zu ihm auf die Bettkante. „Du hast nur geträumt. Tief durchatmen…“ „K…Kenji war hier…“ „Nein, war er nicht. Niemand war hier, nur Daichi und ich, und dein Vater bis vor zehn Minuten. Beruhige dich, Tsubasa, du hast wirklich nur geträumt….“ „Er hatte eine Waffe….Sanae….“ Tsubasa wollte sich wieder aufrichten, und wieder drückte ihn seine Mutter entschieden ins Kissen zurück. „Schscht…. Alles ist gut…“ Von wegen, gar nichts war gut! Durch die abrupte Bewegung pochte und hämmerte sein Bein unangenehm, sein Puls raste immer noch, und er konnte nach wie vor Kenjis Rasierwasser riechen. Unwillkürlich glitt sein Blick zur Zimmertür, aber da war niemand. Viele Grüße von Sanae… sie wartet schon auf dich…. Als er plötzlich die kühle Hand seiner Mutter auf seiner Stirn fühlte, zuckte er unwillkürlich zusammen. „Ich glaube beinahe, du hast Fieber.“, meinte sie leise und strich ihm behutsam ein paar verschwitzte Haarsträhnen aus dem Gesicht. „Ich werde schauen, ob ich Dr. Kimura erreiche, damit er nach dir sieht, in Ordnung?“ Sie wollte aufstehen, aber Tsubasa schüttelte heftig den Kopf und packte sie am Handgelenk. „Bleib hier….“ „Ich bin wirklich sofort wieder da, Tsubasa, keine Sorge. Niemand ist hier, dir kann absolut nichts passieren. Und der Polizist draußen…“ Weiter kam sie nicht. Unwillkürlich blitzte wieder Kenjis Gestalt in der Polizei-Uniform vor Tsubasas innerem Auge auf, er schüttelte wieder heftig den Kopf und der Griff um den Arm seiner Mutter verstärkte sich. „Nein….“ Sie sah ihn für einige Sekunden hilflos an, dann kam ihr anscheinend eine Idee. „Wie wäre es, wenn du für ein paar Minuten auf Daichi aufpasst, während ich weg bin?“, meinte sie leise. „Es dauert wirklich nicht lange. Dein Vater ist bestimmt auch gleich wieder zurück.“ Tsubasa wandte den Kopf und bemerkte erst jetzt seinen kleinen Bruder, der auf einer Spieldecke auf dem Boden unter dem Fenster saß, ein aufgeschlagenes Bilderbuch in den Händen und seinen Schnuller im Mund. Er beobachtete Tsubasa und seine Mutter mit großen Augen, ohne einen Mucks von sich zu geben. Frau Ozora stand auf, löste Tsubasas Griff um ihre Hand und hob den Kleinen auf den Arm. „Er hat den ganzen Tag schon nach dir gefragt und keine Ruhe gegeben, bis ich ihn mitgenommen habe.“, meinte sie lächelnd, während sie ihn zu Tsubasa auf das Bett setzte. „Behalte ihn einfach für mich im Auge, ja? Ich hole Dr. Kimura und bin sofort wieder zurück.“ Tsubasa blickte Daichi nur leicht verdattert an, aber seine Mutter wertete das als Zustimmung. Sie drückte noch einmal kurz seinen Arm, lächelte ihn beruhigend an und hatte dann bereits den Raum verlassen, ohne ihm noch einmal die Gelegenheit zu geben, etwas zu sagen. Daichi war in der darauf folgenden Stille der erste, der sich rührte. Er krabbelte näher zu seinem großen Bruder hinüber und kuschelte sich zufrieden an ihn, wobei er Tsubasas Schulter und Arm als Kopfkissen benutzte. Tsubasa starrte ihn ein paar Sekunden lang stumm an, dann blickte er erneut erst zur Tür, anschließend zum Fenster und den leeren Stühlen im Zimmer. Kenji war nicht hier. Daichis mittlerweile vertrauter Geruch verdrängte das Echo des Rasierwassers. Langsam, ganz langsam, hatte er wieder das Gefühl, normal atmen zu können, der Druck auf seiner Brust ließ nach. Erschöpft ließ er den Kopf wieder ins Kissen zurücksinken und schloss die Augen. Verdammte Medikamente…. Er war Albträume gewohnt, aber Kenjis Gestalt war dermaßen real gewesen…. Er konnte sie immer noch vor seinem inneren Auge sehen in der Polizeiuniform, das Gesicht zu einem Grinsen verzogen, die Waffe in der Hand. Er hatte keinen Tag älter ausgesehen als das letzte Mal, als Tsubasa ihn im Gerichtssaal gesehen hatte. Wie auch? Kenji war tot! Oder? Kojiro schwor schließlich, ihn am Strand gesehen zu haben. Aber das war absolut unmöglich! Viele Grüße von Sanae….. Tsubasa schüttelte leicht den Kopf und bedeckte die Augen mit seinem freien Unterarm. Unmöglich, absolut unmöglich! Selbst wenn Kojiro Recht behalten sollte, konnte es Kenji auf gar keinen Fall hierher ins Krankenhaus geschafft haben, seine Eltern hatten ihm wiederholt versichert, dass die Polizei vor Ort war…. Den ganzen Nachmittag schon…. Auf der anderen Seite, wie hatte er es geschafft, Sanae auf der Intensivstation direkt nach ihrem Unfall zu fotografieren? War die Polizei da schon vor ihrer Tür gewesen? Tsubasa konnte sich nicht erinnern. Er zuckte leicht zusammen, als Daichi seinen Griff um seinen Oberarm verstärkte und ihn so aus seinen Gedanken riss, und richtete den Blick erneut auf seinen kleinen Bruder. Daichi sah ihn mit großen Augen an, den Schnuller nach wie vor im Mund und eng an seinen Oberkörper geschmiegt. Er schien genau zu spüren, dass die Gedanken, die Tsubasa durch den Kopf schossen, keine guten waren. Oder bildete er sich das jetzt auch nur ein? Der Kleine war immerhin erst zwei… „Vermutlich hast du absolut keine Ahnung, was los ist, oder?“, meinte Tsubasa schließlich leise und lächelte schwach. „Da sind wir dann immerhin schon zu zweit. Liegst du wenigstens bequem?“ Anstelle einer Antwort kletterte Daichi kurzerhand auf Tsubasas Oberkörper – Tsubasa blieb leicht die Luft weg bei dieser Aktion, als sich Daichis Knie recht unangenehm in seinen Magen und seine Rippen bohrten – bis er ihm die kleinen Arme um den Hals legen und den Kopf direkt in Tsubasas Halsbeuge kuscheln konnte. „Alles klar, das ist auch eine Aussage.“, ächzte Tsubasa leise. „Du bist schwerer als du denkst, nur falls dich mal jemand fragt….“ Daichi ignorierte ihn komplett. Zum Glück öffnete sich just in diesem Moment die Zimmertür wieder und seine Mutter kam zurück, seinen Vater und Dr. Kimura im Schlepptau. „Ach herrje.“ Sie unterdrückte ein Lachen, wirkte aber immer noch leicht besorgt. „Er hat dir hoffentlich nicht wehgetan, oder?“, wollte sie wissen, während sie ihren jüngsten Sprössling von Tsubasas Brust pflückte, sehr zu Daichis Missfallen. Er begann sofort zu quengeln. „Nein, hat er nicht, alles ok….“ Tsubasa richtete sich wieder etwas auf, und dieses Mal hinderte ihn niemand daran. Seine Mutter trug Daichi nach draußen, um ihn etwas zu beruhigen, während sein Vater und Dr. Kimura näher ans Bett traten. „Wie fühlst du dich? Deine Mutter hat gesagt, dass du einen Albtraum hattest und etwas – na ja, verwirrt und desorientiert warst.“, wollte der Arzt ruhig wissen und zog sich einen Stuhl heran. „Geht schon wieder.“ Dr. Kimura musterte ihn prüfend, dann griff er nach Tsubasas Handgelenk und suchte den Puls. „Keine Schmerzen im Bein?“ „Es lässt sich aushalten. Ich brauche keine neuen Schmerzmittel, danke.“ Dr. Kimura lächelte leicht, ohne sich ablenken zu lassen. „Das freut mich schon mal zu hören.“ „Kann ich zu Sanae?“ Herr Ozora runzelte leicht die Stirn, aber Dr. Kimura kam ihm zuvor. „Heute definitiv nicht.“, meinte er entschieden und ließ Tsubasas Arm wieder los. „Vielleicht morgen. Nach der Situation gerade…“ „Es war nur ein Albtraum, das haben Sie doch gerade selbst gesagt! Ich muss sie sehen!“ Noch während Tsubasa sprach, wurde ihm selbst schmerzhaft bewusst, wie sehr es stimmte. Er musste Sanae sehen! Wenn er sich nicht selbst davon überzeugen konnte, dass es ihr gut ging und dass Kenjis Gestalt nur ein Albtraum gewesen war…. Viele Grüße von Sanae…. Dr. Kimura zögerte, offenbar machte ihn die Vehemenz in Tsubasas Stimme nachdenklich. „Ich muss sie sehen.“, wiederholte Tsubasa etwas leiser und versuchte, die Bettdecke zurück zu schlagen, aber Dr. Kimura packte ihn sofort am Handgelenk. „Nicht so schnell.“, meinte er ernst. „Zwei Bedingungen. Zuerst lässt du dich gründlich von mir untersuchen, es sieht für mich auch so aus, als hättest du etwas Fieber. Und zweitens wirst du auf gar keinen Fall laufen, verstanden?“ Tsubasa nickte nach kurzem Zögern, und Dr. Kimura ließ ihn los. „Gut, dann sind wir uns ja einig. Dann lass mal dein Bein sehen… Während der Arzt begann, den Verband behutsam abzulösen, richtete Tsubasa den Blick an die Decke. Mich vermissen, was sonst! „Du hast keine Ahnung, wie sehr du Recht hast…“, schoss es ihm niedergeschlagen durch den Kopf und schloss die Augen. „Nicht die geringste….“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)