Sweet Sakura ~ripped apart~ von Tattoo (Reita x Satoshi) ================================================================================ Kapitel 2: ----------- ~2~ Es kam ihm alles so unwirklich vor, als sie zu viert vor dem Polizeibeamten saßen, um Satoshi's Personalien und die Umstände seines Verschwindens aufnehmen zu lassen. Während der junge Mann alles mit stoischer Miene in die Vermisstendatenbank eingab, sah Reita kurz hinüber zu den anderen. Shuu hatte die Arme verschränkt und starrte mit zusammengezogenen Augenbrauen nachdenklich ins Leere, Nii's abwesender Blick galt der Tischplatte vor ihm und Ryo knackte vor lauter Nervosität und Anspannung ständig mit seinen Fingerknöcheln, was Reita langsam aber sicher in den Wahnsinn trieb. Ihnen allen war die Erschöpfung und Müdigkeit deutlich anzusehen, denn keiner der jungen Musiker hatte in der letzten Nacht ein Auge zugemacht, um auch ja nicht Satoshi's Rückkehr zu verpassen. Das Dumme war nur, dass ihr Freund nicht zurückgekehrt war. Von dem Polizisten hatten sie auch gerade eben erfahren, dass es gestern keine Verkehrsunfälle oder anderweitige bemerkenswerte Vorkommnisse in Minato und Umgebung gegeben hatte, somit konnte tatsächlich mit hoher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass Satoshi in einen Unfall verwickelt gewesen war. Und das wiederum ließ nicht viele Möglichkeiten offen, was mit ihm passiert sein könnte. "Wir brauchen für die Vermisstenanzeige noch eine genaue Beschreibung der Kleidung, die Herr Ishikawa unmittelbar vor seinem Verschwinden getragen hat." durchbrach die ruhige Stimme des Beamten plötzlich die Stille in dessen Büro. "Wer hat ihn zuletzt gesehen, und wo und wann war das?" Drei Augenpaare hefteten sich sofort auf Reita, und dieser senkte den Blick. "Das war ich. Satoshi hatte von vorgestern auf gestern bei mir übernachtet, und er hat meine Wohnung kurz nach neun Uhr morgens verlassen." Sein Gegenüber hob eine Augenbraue. "Und in welchem Verhältnis stehen sie zu dem Vermissten?" Genau diese Frage hatte er schon die ganze Zeit gefürchtet, und seine Finger verkrampften sich um den Saum seines Shirts. Sein Mund war auf einmal staubtrocken. "Wir... wir sind gut miteinander befreundet und er übernachtet manchmal bei mir, wenn wir zu lange gequatscht oder Filme angesehen haben." Reita hätte sich in diesem Moment für seine Feigheit erschlagen können, und die enttäuschten Blicke von Satoshi's Bandkollegen schmerzten ihn wie tausend Nadelstiche. Aber der Bassist hatte sich bisher vor niemandem geoutet, abgesehen von den Jungs von girugamesh und The GazettE, und selbst in dieser ernsten Situation konnte Reita sich nicht dazu durchringen. Unvermittelt kamen ihm Satoshi's Worte von damals, als sie noch kein Paar gewesen waren, in den Sinn: "Mir gefällt das. Ich meine, dass du immer ehrlich bist und sagst was du denkst. Es gibt leider nicht viele Menschen, die so sind wie du." Beschämt starrte er auf seine Hände während der Polizist die neuen Informationen, darunter auch Reita's Adresse, aufnahm. "Und was trug Herr Ishikawa, als er sie am nächsten Tag verließ?" Reita schloss kurz die Augen und rief sich ihre letzten gemeinsamen Minuten in Erinnerung, konnte sich aber nicht auf die Kleidung des Sängers konzentrieren sondern sah immer nur dessen schmollendes, wunderschönes Gesicht vor sich. Sofort breitete sich Wärme in seinem Herzen aus und ein winzig kleines Lächeln umspielte Reita's Mundwinkel – bis Shuu sich räusperte und ihn damit zurück in die Gegenwart holte. Er dachte noch einmal angestrengt nach und meinte dann "Satoshi trug das, was er eigentlich immer trägt, nämlich seine roten halbhohen Chucks, eine dunkelblaue Jeans und seine schwarze Jacke mit dem Fellkragen." Wieder flogen die Finger des Polizisten über die Tastatur seines Computers, dann hielt er inne und sah Reita erwartungsvoll an. "Und was für ein Shirt oder Pullover trug er darunter?" Der Bassist öffnete den Mund, um auch noch diese Frage zu beantworten - und schloss ihn dann wieder. Überlegte. Grübelte verzweifelt. Zerbrach sich den Kopf. Und kam zu keinem Ergebnis. "Ich weiß es nicht mehr." "Denken sie noch einmal in Ruhe nach, vielleicht fällt es ihnen ja doch wieder ein." bat der Beamte geduldig und Reita versuchte es erneut, blieb aber erfolglos. "Ich hab es vergessen..." murmelte er mehr zu sich selbst als zu seinem Gegenüber, dann drehte er sich zu Ryo und sah ihn ungläubig an. "Ich... ich hab vergessen, welches Shirt der Kleine an hatte! Ryo, wie kann ich das denn nur vergessen?! Ich hab ihn doch gesehen, er stand direkt vor mir, ich müsste das doch wissen, ich kann es doch nicht einfach vergessen haben!" Reita's Stimme war immer lauter und panischer geworden, sein Gesicht dafür umso blasser, und der Drummer legte ihm zur Beruhigung eine Hand auf die Schulter, obwohl es um seine eigene Beherrschung auch nicht viel besser bestellt war. "Schon gut, reg dich nicht auf, das ist nicht so schlimm. Du stehst zu sehr unter Druck, da kann das schon mal passieren. Es wird dir bestimmt später wieder einfallen, und dann rufen wir hier an und lassen das nachtragen. Okay?" Die Frage war weniger an Reita als vielmehr an den Polizisten gerichtet, und dieser nickte verständnisvoll. "Ja, das ist kein Problem, melden sie sich einfach bei uns, wenn es ihnen wieder einfällt." Die Schuldgefühle, die Reita im Augenblick zerfraßen, konnte er mit seinen freundlichen Worten allerdings nicht bezwingen. Der Bassist war fassungslos darüber, so ein wichtiges Detail vergessen beziehungsweise gar nicht erst wahrgenommen zu haben, und er machte sich die schlimmsten Vorwürfe deswegen, was man ihm auch deutlich ansah. Ihm war zum heulen zumute und er biss sich auf die Unterlippe und schwieg die restliche Zeit, die sie im Büro des Polizeibeamten verbrachten. Zum Schluss meinte dieser noch, dass sie unbedingt ein Foto von dem Sänger vorbeibringen sollten, am besten wäre ein relativ neues Passbild, und Nii erklärte sich dazu bereit, bei Satoshi's Eltern vorbeizufahren und darum zu bitten. Dann bedankten sich die vier Musiker und verließen das Büro, kamen aber nicht weit bis Shuu plötzlich stehenblieb und Reita anfunkelte. "Schämst du dich eigentlich nicht?" Niemand musste fragen, was er damit meinte, und der andere Bassist ließ die Schultern hängen, blieb allerdings stumm. "Satoshi hat dich nie gedrängt, zu ihm und eurer Beziehung zu stehen, obwohl es ihn von Monat zu Monat mehr verletzt hat, und sogar jetzt lügst du noch! Du hintergehst ihn damit, Reita, nur weil du nicht über deinen verdammten Schatten springen kannst! Und ich dachte, du liebst ihn!" "Das tu ich doch auch!" wehrte Reita sich nun endlich und in sein Gesicht kehrte wieder etwas Farbe zurück. "Und unterstell mir bloß nicht noch einmal, dass ich das nicht täte! Aber vielleicht hab ich dem Kleinen damit ja sogar einen Gefallen getan! Wer weiß, könnte doch sein, dass auch bei der Polizei Vorurteile gegen Schwule herrschen, und dann suchen sie vielleicht nicht so gründlich nach ihm, wie sie es bei einem Vermissten tun würden, der hetero ist! Schon mal daran gedacht?!" Er wusste, dass das nur eine billige Ausrede war, die er sich aus der Not heraus schnell zusammengesponnen hatte, und nach den Blicken der anderen drei zu urteilen wussten sie das auch. Shuu musterte ihn kurz von oben bis unten, dann zischte er "So ein Schwachsinn." und rauschte an Reita vorbei in Richtung Ausgang. Nii folgte ihm, nur Ryo blieb neben dem Älteren stehen und sah seinen Freunden nachdenklich hinterher. "Ich finde es zwar auch nicht richtig, dass du gelogen hast und nicht öffentlich zu Satoshi stehst, aber ich weiß, dass du ihn liebst. Nimm es Shuu nicht übel, Satoshi's Verschwinden macht ihn total fertig." Reita nickte langsam. "Ich weiß, mich auch. Ich wünsche mir nichts mehr, als den Kleinen endlich wieder in die Arme schließen zu können." Da sah Ryo ihn einen Moment lang mit einem unergründlichen Ausdruck in den Augen an und meinte schließlich leise "Also ich würde mich dafür als mickrigen Ersatz anbieten..." Erst war Reita verwirrt und verstand nicht so recht, was der andere damit meinte, doch dann erschien ein schwaches Lächeln auf seinen Lippen und er machte einen Schritt auf Ryo zu und zog ihn in eine Umarmung. Reita wusste, dass nicht nur er Trost nötig hatte und dass Ryo sich genauso viele Sorgen um seinen besten Freund machte, er versuchte nur immer, seine Unsicherheiten und Ängste zu überspielen. Und da war auch ihre jetzige Situation keine Ausnahme. "Aber komm bloß nicht auf falsche Gedanken, ich bin und bleibe stockhetero, kapiert?" Reita lachte leise über diese in seine Jacke genuschelten Worte, sah dabei auf und stutzte, als er Shuu und Nii in der Nähe des Ausgangs entdeckte. Sie sprachen mit einer Frau, die er nicht kannte, also ließ er Ryo wieder los und zeigte auf die drei. "Hey, weißt du, wer das ist?" Der Jüngere folgte dem ausgestreckten Finger und nickte, als auch er die Fremde sah. "Klar kenn ich sie, das ist Satoshi's Mutter." Reita's Augen weiteten sich und er schluckte schwer. "Seine... Mutter?" "Genau. Komm mit, ich stell euch vor." Damit ergriff Ryo den Ärmel des Bassisten und zog ihn unbarmherzig mit sich, was auch keiner großen Anstrengung bedurfte, denn Reita war auf einmal so leicht wie eine Feder. Die unerwartete Aussicht auf eine Konfrontation mit Satoshi's Mutter, seiner engsten Verwandten, schien ihm alle Kraft geraubt zu haben, und als Frau Ishikawa Ryo und ihn erblickte, hätte er sich am liebsten hinter dem Kleineren versteckt. Was sollte er denn jetzt sagen? Doch Reita hatte keine Zeit, lange darüber nachzudenken, denn sie standen bereits wenige Sekunden später vor ihr, begrüßten sie und verbeugten sich dabei leicht, woraufhin die Angesprochene zuerst dem Drummer zunickte. "Hallo, Ryo." Dann wanderten ihre Augen zu dem sichtlich nervösen jungen Mann, den sie noch nie zuvor gesehen hatte. "Und sie sind...?" Ohne zu überlegen antwortete Reita "Akira Suzuki, ich bin ein Freund ihres Sohnes." und war auf die nächste Frage absolut nicht vorbereitet. "Ein Freund oder sein Freund?" Erschrocken sah er die Frau vor ihm an, die seinen Blick ungerührt erwiderte. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Satoshi's Mutter über dessen Orientierung Bescheid wusste, und schon gar nicht, dass sie ihn so offen darauf ansprechen würde. Wieder spürte er die eindringlichen Blicke von Ryo, Shuu und Nii auf sich, und er wusste, dass er jetzt nicht lügen konnte – nicht lügen durfte! Und so kam ihm nach einer Weile endlich "Sein Freund..." über die Lippen und er starrte dabei auf seine Schuhe, merkte, dass er rot wurde. 'Tut mir leid, Kleiner, du hast dir einen echten Waschlappen als Freund ausgesucht...' Frau Ishikawa betrachtete den Bassisten prüfend und hob eine Augenbraue. "Ist ihnen das etwa peinlich? Mein Sohn hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er sich nicht für Frauen interessiert, also sollten sie das auch nicht tun." Als sie aber sah, dass Reita noch immer unbehaglich zumute war, wurde der Ausdruck in ihren Augen etwas weicher und sie lächelte, auch wenn es ein trauriges Lächeln war. "Sie scheinen ein anständiger Mensch zu sein, Akira. Schade, dass wir uns nicht schon früher kennengelernt haben, unter erfreulicheren Umständen..." Doch gerade als sich der Schleier aus Melancholie und Angst, der jede Mutter einhüllt, die auf einem Polizeirevier steht um ihren Sohn als vermisst zu melden, um sie legen wollte, blinzelte Frau Ishikawa, als wäre sie gerade aus einem Traum erwacht, und wandte sich wieder den anderen drei Musikern zu. "Ich habe ein Foto von Satoshi mitgebracht, ich dachte mir, sowas braucht man sicher für eine Vermisstenanzeige." Und damit zog sie ein Passbild aus ihrer Manteltasche hervor und wollte es Shuu reichen, doch Reita streckte sofort die Hand danach aus. "Darf ich es sehen? Bitte?" Diesmal hielt sein flehender Blick den Augen von Satoshi's Mutter stand und sie gab ihm wortlos das Foto. Es war ein typisches Passbild; Satoshi blickte durch seine schwarzen Haarsträhnen hindurch ausdruckslos in die Kamera und sein Mund zeigte nicht einmal den Ansatz eines Lächelns. Reita kannte diesen Anblick bisher nur von Fotoshootings, privat hatte er Satoshi dagegen nie so gesehen, denn wenn der Kleine nicht gerade dabei war, sich über irgendeinen Unsinn halbtot zu lachen, hatte er doch zumindest immer ein zufriedenes Lächeln oder amüsiertes Schmunzeln auf den Lippen. Und das gefiel dem Bassisten auch tausendmal besser. Dennoch musste er sich höllisch zusammenreißen, um mit seinem Daumen nicht liebevoll über Satoshi's Gesicht zu streichen. "Ich hoffe, das Foto ist in Ordnung. Satoshi war da zwar erst 17 Jahre alt, aber er sieht eigentlich noch immer so jung aus, meinen sie nicht auch?" Frau Ishikawa sah ihn hoffnungsvoll an und Reita nickte langsam. "Ja, er hat sich kaum verändert. Es wird der Polizei sicher bei der Suche helfen." Damit reichte er ihr das Bild und sie nahm es mit einem dankbaren kleinen Lächeln entgegen, warf noch einen flüchtigen Blick darauf und steckte es dann wieder ein. Sie war Reita sympathisch, und er nahm sich vor, Satoshi mal ein bisschen über seine Familie und seine Kindheit auszufragen, wenn der Sänger wieder da war. Einerseits, weil es ihn wirklich interessierte und ihm jetzt erst aufgefallen war, dass er von Satoshi's Vergangenheit eigentlich so gut wie gar nichts wusste, und andererseits, weil er sich so leichter einreden konnte, dass er den Kleinen überhaupt wiedersehen würde. Frau Ishikawa verabschiedete sich daraufhin von ihnen und ging, nachdem Shuu ihr den Weg gezeigt hatte, in das Büro des Beamten, der Satoshi's Personalien aufgenommen hatte. "Sie ist erstaunlich tapfer dafür, dass ihr einziges Kind verschwunden ist." bemerkte Ryo nachdenklich und wurde sogleich mit einem genervten Blick von Shuu bestraft. "Satoshi ist erst seit etwas mehr als 24 Stunden weg, es ist noch längst nicht an der Zeit, in Tränen auszubrechen oder hysterisch zu werden. Sie ist bestimmt - genau wie ich - der Überzeugung, dass er spätestens in ein paar Tagen wieder auftaucht." Bei diesen optimistischen Worten dachte Reita unwillkürlich 'Fragt sich nur, in welchem Zustand…' und ekelte sich sofort vor sich selbst. Nein, jetzt war positives Denken angesagt! Sich irgendwelche Horrorszenarien zusammenzuspinnen half schließlich niemandem weiter, weder Satoshi, noch seinen Freunden oder Reita selbst. Aber... wie sollte es nun weitergehen? Was konnte er tun, damit Satoshi gefunden wurde? Fragend sah er die anderen an. "Und was macht ihr jetzt?" Shuu wollte darauf antworten, doch seinem finstereren Blick nach zu urteilen war er immer noch schlecht auf Reita zu sprechen, und um einen weiteren unschönen Wortwechsel zu vermeiden, kam Ryo ihm eilig zuvor. "Wir treffen uns gleich mit unserem Manager und beraten, wie es weitergehen soll und was getan werden muss, bis Satoshi wieder da ist. Die Presse wird durch die Vermisstenanzeige ja sicher alles mitkriegen, aber das könnte in diesem Fall sogar von Vorteil sein und bei der Suche helfen. Und du?" Niemanden überraschte es, als Reita's Augenbrauen sich zusammenzogen und er ein ganz zerknirschtes Gesicht machte. "Um ehrlich zu sein, ich hab keine Ahnung... Wahrscheinlich nach Hause gehen, mich neben mein Telefon setzen und einfach warten. Oder ich laufe durch die Stadt und hoffe darauf, dass er mir zufällig oder durch eine glückliche Fügung über den Weg läuft. Ich weiß auch nicht..." Er zuckte mit den Schultern und sah die anderen drei jungen Männer hilflos an, eine stumme Bitte, ihm die Entscheidung abzunehmen und ihm zu sagen, was er tun sollte. Schließlich erbarmte sich ausgerechnet Nii, der bis jetzt so gut wie gar nichts gesagt hatte, und schickte Reita mit der Begründung, dass er wie Scheiße aussah und etwas Schlaf nachholen sollte, heim. **** Reita war wirklich ohne Umwege direkt nach Hause gefahren, hatte unterwegs noch einige Male erfolglos versucht, Satoshi auf dessen Handy zu erreichen, und saß nun – genau wie auch schon die ganze letzte Nacht – im Wohnzimmer und starrte auf sein Telefon. An Schlaf war nicht zu denken, und er war sich sicher, dass Nii und die anderen das auch wussten. Aber in seinem Zustand wäre Reita wahrscheinlich völlig kopflos durch die Straßen geirrt und am Ende noch selbst vor ein Auto gelaufen, daher nahm der Bassist an, dass Nii ihm aus diesem Grund davon abgeraten hatte, in der Stadt nach Satoshi zu suchen. Blieb nur die Frage, wie er es jetzt aushalten sollte, stunden- oder vielleicht sogar tagelang untätig neben dem Telefon zu hocken und Däumchen zu drehen. Wieder bildeten sich Falten zwischen seinen Augenbrauen, und er drückte sich bockig in das Rückenpolster der Couch und schob die Hände in die Hosentaschen. Dabei ertasteten seine Finger einen dünnen, glatten Gegenstand, und als er seine rechte Hand wieder herauszog, hielt er darin die Visitenkarte des Polizeibeamten. Er hatte jedem eine gegeben für den Fall, dass ihnen noch etwas wichtiges einfiel oder wenn sie Fragen zum Ermittlungsstand haben sollten. Da kam Reita wieder in den Sinn, dass er ja immer noch nicht wusste, was Satoshi gestern unter seiner Jacke getragen hatte, und fast schon erleichtert darüber, jetzt endlich etwas sinnvolles tun zu können und sich nicht mehr ganz so nutzlos zu fühlen, schloss er die Augen und versuchte erneut, sich an ihre letzten gemeinsamen Minuten zu erinnern. Das war allerdings gar nicht so einfach, wie man es vermuten würde, denn in seinen Gedanken fand Reita sich - anstatt im Korridor - immer wieder in seinem Bett, genauer gesagt in Satoshi's Armen wieder, sah sein verschwitztes Gesicht, den sinnlichen, leicht geöffneten Mund, die glänzenden Augen und darin diesen lustverschleierten Blick, der nur ihm allein galt. 'So wird das nichts.' stellte er nach mehreren Versuchen frustriert fest und entschied, dass es für dieses Problem nur eine einzige Lösung gab. Eine kalte Dusche. Doch noch während er sich auf den Weg ins Bad machte, um wieder einen halbwegs klaren Kopf zu bekommen, näherte ein junger Mann sich Reita's Wohnung, blieb vor der Tür stehen, zögerte kurz und drückte dann auf den Klingelknopf. Dem Bassisten, der mit einem Bein bereits unter der Dusche stand, blieb fast das Herz stehen, als das unerwartete Klingeln die Stille zerschnitt. Sein Verstand gab ihm noch in aller Eile den Hinweis, sich wenigstens ein Handtuch um die Hüfte zu binden, dann verabschiedete er sich und Reita rannte in einem mörderischen Tempo aus dem Bad und zur Wohnungstür. Das war Satoshi, ganz bestimmt! Er musste es einfach sein! Gleich würde Reita ihn wiedersehen, ihm zuerst beherzt in den Hintern treten und ihn anschließend nie mehr loslassen! Doch als Reita die Tür beim Öffnen fast aus den Angeln riss und gleich darauf die braunen Haare unter dem Basecap sah, wich seine übersprudelnde Vorfreude einer grenzenlosen Enttäuschung, die man ihm auch mehr als deutlich ansehen konnte. Ruki studierte einen Moment lang schweigend das Gesicht seines Kollegen, dann versuchte er sich an einem Lächeln, was ihm allerdings nicht so richtig gelingen wollte, denn auch seine Hoffnung war bei Reita's Anblick zerstört worden. "Ich nehme es dir ausnahmsweise mal nicht übel, dass du dich nicht darüber freust, mich zu sehen. Darf ich trotzdem reinkommen?" Noch etwas benommen nickte Reita nur wortlos, machte dann kehrt und trottete ins Wohnzimmer, wo er sich wie ein Stein auf das Sofa fallen ließ. Er hörte, wie Ruki seine Schuhe auszog, und runzelte die Stirn. Verdammt, das war der falsche Sänger! Er hatte den kleinen Giftzwerg ja gern, keine Frage, aber Satoshi wäre ihm jetzt wirklich sehr viel lieber gewesen. "So wie du mich gerade angeschaut hast, ist er also noch nicht wieder da, hm?!" Reita's Blick wanderte zu Ruki, der inzwischen neben ihm Platz genommen hatte, und er schüttelte den Kopf. "Nein, es fehlt noch immer jede Spur von ihm. Wir waren auch gerade bei der Polizei und haben sein Verschwinden gemeldet." Wen genau er mit 'wir' meinte, musste Reita nicht extra erklären, denn er hatte Ruki, Kai, Uruha und Aoi gestern ebenfalls angerufen und gefragt, ob sie vielleicht wussten, wo sein Freund steckte, und ihnen dann alles erzählt. Die Jungs von The GazettE hatten daraufhin versprochen, die Augen nach Satoshi offenzuhalten, allerdings war es dem Bassisten ein Rätsel, wie Ruki Satoshi finden wollte, indem er hier in Reita's Wohnzimmer saß. "Und was machst du hier?" Es fiel Ruki unwahrscheinlich schwer, auf diese ziemlich unhöflich gestellte Frage nicht, wie es sonst seine Art gewesen wäre, mit Zeter und Mordio zu reagieren, aber er konnte sich gerade noch zusammenreißen, schluckte den Kommentar, der ihm bereits auf der Zunge gelegen hatte, wieder hinunter und antwortete stattdessen mit einem erzwungenen kleinen Grinsen "Naja, ich dachte mir, ich komme mal vorbei und trete Satoshi dafür, dass er dir solche Sorgen gemacht hat, gehörig in seinen Allerwertesten. Und für den Fall, dass er sich noch nicht wieder hat blicken lassen, wollte ich dich ein bisschen vom Grübeln ablenken. Aber statt vom Grübeln hab ich dich offensichtlich von etwas ganz anderem abgelenkt..." Dabei warf er einen vielsagenden Blick auf das Handtuch, welches ihn vor dem Anblick eines nackten Bassisten bewahrte, aber Reita schien sich daran nicht sonderlich zu stören. Kein Wunder, er hatte im Moment immerhin weitaus wichtigeres im Kopf. Und unerwartete Gesellschaft gehörte eindeutig nicht dazu. "Ich wollte gerade duschen, und eigentlich will ich das auch immer noch." Er war wirklich schon mal höflicher gewesen. "Lass dich nicht aufhalten, ich hab Zeit. Ich kann uns ja in der Zwischenzeit einen Tee machen." schlug sein Kollege mit bemerkenswerter Selbstbeherrschung vor, und Reita, der keine Lust auf lange Diskussionen hatte, zuckte nur gleichgültig mit den Schultern, erhob sich schwerfällig von der Couch und ging wieder zurück ins Badezimmer, aus dem Ruki wenig später das Prasseln des Wassers hören konnte. Reita tat ihm leid, und er sorgte sich auch ehrlich um Satoshi. Nur deshalb gab er sich solche Mühe, sein Temperament zur Abwechslung mal im Zaum zu halten, und er hoffte, dass ihm das auch weiterhin gelingen würde. Reita war in dieser Hinsicht alles andere als eine Hilfe, aber verübeln konnte Ruki es ihm nicht. Er hatte sich vorgenommen, seinem Freund zu helfen, selbst wenn diese Hilfe nur darin bestand, Tee zu kochen und als Ventil für Reita's Frust herzuhalten. Zehn Minuten später verließ der Bassist, nun mit einer bequemen Jogginghose und einem schwarzen Shirt bekleidet, das Bad und gesellte sich wieder zu Ruki ins Wohnzimmer. Auf dem kleinen Couchtisch dampfte eine Kanne vor sich hin, und als Ruki den Älteren, dessen Laune sich anscheinend nicht sonderlich gebessert hatte, erblickte, goß er den Tee in die zwei Tassen, die neben der Kanne standen. Mit einem Lächeln, das eher mitleidig als aufmunternd wirkte, reichte der Sänger Reita eine Tasse und machte es sich dann mit seiner eigenen auf dem Sofa bequem. Reita dagegen blieb stocksteif sitzen und starrte gedankenverloren in seinen Tee, und es erschien Ruki wie eine Ewigkeit, bis der anderen endlich den Mund aufmachte. "Ich wollte ihn eigentlich gestern nach dem Interview fragen..." Verwirrt blinzelte Ruki den Bassisten an, doch als dieser wieder in seine eigene kleine Welt abzudriften drohte, anstatt weiterzusprechen, half er nach. "Was wolltest du ihn fragen?" Da hob Reita den Kopf und sah Ruki zum ersten Mal, seit er ihn in die Wohnung gelassen hatte, richtig an. "Ich wollte ihn fragen, ob er mit mir zusammenziehen will. Aber ich war zu langsam." Sein Blick war voller Schmerz und Bedauern, und Ruki, der ihn noch nie so gesehen hatte, suchte verzweifelt nach einem Weg, seinen Freund wieder aufzubauen. "Du kannst ihn immer noch fragen, Reita. Er wird ganz bestimmt wiederkommen, und ich wette, dass er dann ohne zu zögern 'Ja' sagen und dich bewusstlos knutschen wird. Er liebt dich abgöttisch, weiß der Himmel, warum." Ruki hoffte, damit Reita's Stolz anzustacheln und ihn so aus seiner Depression zu holen, doch der Schuß ging leider nach hinten los. "Wenn er mich so abgöttisch liebt, warum ist er dann nicht hier?" Herausfordernd starrte er den Sänger an. "Na los, erklär mir das, Ruki. Erklär mir, was es neben einem Unfall, den wir inzwischen fast ausschließen können, noch für Gründe für sein Verschwinden geben könnte, außer dem, dass er mich verlassen hat!" Seine Trauer war inzwischen blindem Zorn gewichen, und Ruki wusste nicht, wie man am geschicktesten damit umging. Letztendlich entschied er sich für die schonungslose Wahrheit. "Nun mach mal halblang, ja?! Du hättest es zwar gern, aber ich muss dich leider darauf hinweisen, dass du nicht der Mittelpunkt des Universums bist. Selbst wenn Satoshi tatsächlich von dir die Nase voll hätte, dann würde er doch nicht sein gesamtes Leben inklusive seiner Familie, seinen Freunden und seiner Karriere aufgeben und untertauchen, sondern sich wie jeder vernünftige Mensch ganz einfach von dir trennen. Also ist das der unwahrscheinlichste Grund von allen." "Dann bleibt aber nicht mehr viel übrig." knurrte Reita. Er wusste, dass Ruki Recht hatte, und genau da lag das Problem. Mit Zorn und Trauer darüber, verlassen worden zu sein, konnte er leben, aber nicht mit dieser grässlichen Angst und Ungewissheit in seinem Herzen. Denn wenn Satoshi weder einem Unfall zum Opfer gefallen war, noch sich aus eigenem Willen aus dem Staub gemacht hatte, dann fielen ihm nur noch zwei Möglichkeiten ein. Eine davon sprach Ruki Sekunden später mit den ungläubigen Worten "Du meinst, er wurde vielleicht entführt?" aus, und Reita war beinahe froh, dass seinem Kollegen nicht auch noch die zweite Möglichkeit in den Sinn gekommen war. Oder, dass er diese wenigstens nicht aussprach. Aber eine Entführung wäre schon schlimm genug, und daher dauerte es eine Weile, bis Reita zögerlich nickte. "Es wäre nicht ausgeschlossen. Der Kleine ist zwar keine Mediengröße wie Gackt oder Hyde oder Yoshiki, aber er ist trotzdem eine Person des öffentlichen Interesses, oder wie das heißt, und arm ist er nicht gerade. Und er hat auch keine Armee von Bodyguards um sich, die man erst mal aus dem Weg räumen müsste. Wie gesagt, es wäre eine Möglichkeit, aber ich hoffe natürlich, dass es nicht so ist." Darüber dachte Ruki lange nach und meinte schließlich vorsichtig "Eigentlich wäre eine Entführung gar nicht mal so schlimm..." Dafür fing er sich einen fassungslosen und mehr als wütenden Blick von Reita ein und hob abwehrend eine Hand, damit ihm der Bassist nicht gleich an die Kehle sprang. "Lass mich bitte ausreden. Ich meine, denk mal drüber nach. Wenn es wirklich so ist, dann werden sich die Entführer bald bei seinen Eltern oder vielleicht sogar bei seinem Label melden und Lösegeld verlangen, und dann haben wir wenigstens schon mal die Gewissheit, was mit ihm passiert ist. Die Summe wird nicht das Problem sein, Satoshi kennt viele wohlhabende Leute, zum Beispiel uns, und wenn die Übergabe dann glatt geht, könnte er schon bald wieder frei sein." Doch Reita's finsterer Blick verriet Ruki, dass der Ältere die ganze Sache nicht ganz so positiv sah wie er. "Ruki... du scheinst zu viele Filme mit Happy End gesehen zu haben. Tatsache ist aber, dass das hier das echte Leben ist, mit echten Kriminellen, echten Waffen und echten Entführungsopfern, die dann Tage oder Wochen später irgendwo in einem Plastiksack auf einer Müllhalde, einem Feld oder in einem Bunker gefunden werden. Eine Entführung ist NICHT gut, verstehst du?! Und jetzt hau bitte ab, ich will außer Satoshi im Moment niemanden hier haben." Ruki widersprach ihm diesmal nicht, sondern stand wortlos auf und ging. Er wusste, warum Reita ihn wirklich rausgeschmissen hatte, denn obwohl der Bassist sich von ihm abgewandt hatte, hatte Ruki das verräterische Glänzen in seinen Augen gesehen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)