Der Weg zum Glück von Lady_Ocean ================================================================================ Kapitel 14: Herz aus Glas ------------------------- Ein Hinweis vornweg, da es bei dem leidigen Wort „Eierkuchen“ ja immer die schönsten Missverständnisse gibt (Klayr und ich haben selbst einige Zeit gebraucht, bis wir wussten, wovon die andere gesprochen hat, weil sie ursprünglich „Pfannkuchen“ geschrieben hatte XD). Der im zweiten Teil des Kapitels erwähnte „Eierkuchen“ bezeichnet die großen, runden Dinger, etwas dicker als Crêpes, die man in der Pfanne backen kann. Anderswo heißen sie ja „Pfannkuchen“, aber das wiederum sind in meiner Gegend die runden Teigbälle mit Marmelade drin und Zuckerguss oder Puderzucker oben drauf (auch „Berliner“ genannt). Also lasst euch nachher nicht verwirren ^^! Noch etwas: Einige waren etwas skeptisch, ob Kurogane tatsächlich einfach so über eine 2m hohe Mauer springen kann. Diese Leute möchte ich bitten, sich die neuen Links bei der FF-Beschreibung anzusehen =). Das sollte alle Zweifel beheben. -~*~- Disclaimer: Die Charas gehören (bis auf wenige Ausnahmen) nicht uns, sondern Clamp. Wir wollen kein Geld damit verdienen, sondern nur unterhalten. Erstschreiber des Kapitels: Klayr_de_Gall Kapitel: 14/26 -~*~- „Wirklich gute Freunde sind Menschen, die uns ganz genau kennen, und trotzdem zu uns halten.“ (Marie von Ebner-Eschenbach) -~*~- „Herz aus Glas“ Als Kurogane wieder zu sich kam, war das Erste, was er bemerkte, ein stechender Scherz im Handgelenk. Orientierungslos versuchte er, die Ursache dafür zu erkennen. Warum lag er am Boden? ... Lag er doch, oder? Es war kalt und hart... Und verdammt, tat ihm der Kopf weh! Aber das wurde augenblicklich unwichtig, als ein erschüttertes Schluchzen die Stille durchbrach. Tomoyo! Die Erinnerungen an die letzten Minuten – nein, Sekunden – waren schlagartig wieder da. Irgendjemand war ihm vors Motorrad gestolpert und infolge seiner Vollbremsung war wohl das Hinterrad ausgebrochen und- Aber das konnte er dann auch noch analysieren. Zuerst musste er sehen, ob seine Tochter wohl auf war. Ohne sich mehr als nötig zu bewegen, für den Fall das die Kleine verletzt war, schnallte der schwarzhaarige Mann den Sicherheitsgurt von seinem Rücken los. „Tomoyo? Kannst du...?“ „Papi!“ Ein Schluchzen unterbrach seine Worte und er spürte, wie kleine Hände an seiner dicken Motorradjacke rüttelten. „Papi?!“ „Schon gut! Schon gut, Kleines, ich bin ja da, es ist alles okay.“ Für einen Moment herrschte über ihm schweigen, dann schniefte das Mädchen auf und begann laut und verzweifelt zu weinen. Aber irgendwie schienen es auch Tränen der Erleichterung zu sein. Verständlich... Das Kind musste geschockt gewesen sein, als ihr sonst so robuster Vater sich für einige Momente nicht mehr gerührt hatte. „Kannst du aufstehen, Tomoyo?“, versuchte Kurogane den Geräuschpegel seiner Tochter zu übertönen, und anscheinend hatte diese ihn auch verstanden, denn sie rutschte von seinem breiten Rücken hinunter, nur um sich jammernd an seine Seite zu klammern. Sie schien wirklich unter Schock zu stehen. Während er sich den Helm vom Kopf zog, setzte der Schwarzhaarige sich auf. Mit Unbehagen fiel ihm auf, dass nun ein paar tiefe Schrammen im Schutzhelm waren. Das schien knapper als knapp gewesen zu sein. Wenn er den verdammten Idioten in die Finger bekam, der schuld an dem Sturz gewesen war, dem würde Hören und Sehen vergehen! „Tomoyo... Warte ich nehm dir den Helm ab.“ Beim Aufprall war ihr dieser ein Stück vom Kopf gerutscht, sodass die schwarze Mähne wild und zerzaust darunter hervorquoll. Aber außer dem riesigen Schrecken schien seine Kleine unverletzt zu sein. Gott sei Dank. Kurogane wusste nicht, was er getan hätte, wäre ihr irgendetwas passiert. Eine schemenhafte Bewegung am Rande seines Blickfeldes lenkte ihn ab und seine blutroten Augen richteten sich auf den Übeltäter. Das war doch...! Am Rande des Lichtkegels der nächsten Laterne, halb zusammengekrümmt und zitternd, hockte ein ihm sehr bekannter blonder Mann, das lockere Haar hing ihm wirr im Gesicht. Der schwarze Pullover war an den Ellenbogen aufgerissen, als er sich von dem Sturz abgefangen hatte, und entblößten die blase, in dem spärlichen Licht geradezu weiße Haut, über die sich ein wenig Blut dunkel seinen Weg bahnte. Aber das schien er gar nicht wahrzunehmen. Gehetzt huschten die weit aufgerissenen blauen Augen umher und als sie an Kurogane hängen blieben, schienen sie sogar noch größer zu werden und bodenlose Angst spiegelte sich in ihnen wieder. Was...? Doch bevor der größere Mann sich wirklich darüber klar werden konnte, was er eben für erschreckend überschäumende Emotionen in den sonst so schelmisch funkelnden Augen gesehen hatte, die normalerweise jede echte Gefühlsregung fast perfekt verbargen, fuhr der am Boden kauernde Kindergärtner herum und versuchte, sich in derselben Bewegung aufzurichten, zu flüchten. Sein starkes Zittern ließ ihn das Gleichgewicht jedoch sofort wieder verlieren, er stürzte erneut, wimmerte panisch auf und versuchte ungeschickt, wieder auf die Füße zu kommen. Aber der Schwarzhaarige machte jeden weiteren Fluchtversuch unmöglich. Blitzartig schnellte er hoch, als klar wurde, was Fye vorhatte, und bekam ihn am Arm zu fassen, als dieser gerade mal den ersten Schritt von ihm weg gemacht hatte. Grob drückte er zu, nicht darauf achtend, dass er die aufgeschürfte Stelle erwischt hatte und riss ihn zu sich herum. „Du elender...!“ Dieser falsche Heuchler hatte seine Tochter das letzte Mal in seinem Leben in solch eine Gefahr gebracht! Die Faust, schon zum Schlag erhoben, erstarrte mitten in der Luft, als ihre Blicke sich trafen. Plötzlich brachte er es nicht mehr über sich, diesen Mann zu schlagen, der ihn mit so panischen Augen anblickte, als hätte er das ganze Grauen der Menschheit gesehen. Seine plötzliche Angst um Tomoyo und die daraus resultierte Wut, die explosionsartig in ihm hochgekocht war, rückte auf einmal in eine logische Distanz, war für ihn plötzlich realistisch und nachvollziehbar. Aber der Ausdruck in Fyes Gesicht war es nicht. „Nicht! B-bitte nicht...!“ Die sonst so gefestigte Stimme überschlug sich vor Panik, während Fye versuchte, sich von ihm loszureißen. Völlig außer Kontrolle wand er sich, um seinen Arm frei zu bekommen, was aber nur dazu führte, dass sich der Griff festigte, in dem er gefangen war. „Nein-nein- NEIN!“ Aufschluchzend brachte er nur noch mehr Kraft auf und Kurogane sah keinen anderen Weg, als ihm mit einem Ruck den Arm auf den Rücken zu drehen, sodass der Blonde sich unweigerlich eine halbe Runde drehte, und er ihn an sich ziehen und ganz festzuhalten konnte. Sonst würde der andere sich in seiner unkontrollierten Panik wirklich losreißen und niemand könnte sagen, was er sich dann für Verletzungen zuzog. Außerdem befürchtete er, den dünnen Arm langsam abzuschnüren, und so hatte er ihn besser im Griff. Das schien auch der verstörte Mann zu merken, denn ein angstvoller Schrei verließ seine Kehle und er begann, sich wortwörtlich mit Händen und Füßen zu wehren und machte dabei vor allem von seinen für einen Mann erstaunlich langen Fingernägeln Gebrauch. Es war reines Glück, dass Kuroganes Gesicht von den hysterischen Attacken verschont blieb, da der Kleinere mit dem Rücken zu ihm stand, aber seine Hände kamen nicht so glimpflich davon. Langsam schien Kurogane zu verstehen, warum der andere sich dermaßen verzweifelt gegen ihn erwerte. Er hatte ihn in seiner Panik nicht erkannt. Mit dieser Erkenntnis drang nun auch das verzweifelte Weinen seiner Tochter wieder an seine Ohren. Er musste etwas tun. Und zwar schnell. „Hey! Verdammt, hör auf zu kratzen, das tut- HEY!!!“ Durch den ruppigen lauten Ton nur noch weiter aufgestachelt, krallten sich die langen Nägel erneut in seinen Handrücken, fest genug, um die Haut zu durchstoßen. Langsam tat es selbst ihm weh. „Jetzt ist aber gut!“ Fye schrie angstvoll auf, als der hinter ihm Stehende plötzlich eine Hand über seine Augen legte, welche sofort wieder von den Fingernägeln attackiert wurde, während er verzweifelt um sich trat, um endlich los zu kommen. Weg, bloß weg! „Papa!“, schluchzte Tomoyo laut, völlig aufgelöst bei dem Anblick dieser Szene, weil sie es einfach nicht verstand. Genauso wie ihr Vater... „Beruhig dich. Ich bin’s nur.“ Diesmal sprach der Schwarzhaarige mit gesenkter Stimme und, da er Fyes Kopf nun festhielt, den dieser vorher unkontrolliert hin und her geworfen hatte, direkt in sein Ohr. „Ganz ruhig. Okay...? Hier kann dir nichts passieren.“ Und endlich schienen seine Worte zu dem hysterischen Blonden durchzudringen, denn seine verkrampften Finger an Kuroganes Handgelenk hielten inne, wo sie tiefe Kratzer hinterlassen hatten. „Es ist okay...“ Er ließ Fye etwas Freiraum, als dieser Anstallten machte, sich zu ihm umzudrehen. Lange blickten die blauen Augen zu ihm auf, während darin ein wahres Gefühlschaos zu lesen war. Angst, Verwirrung, Erkennen und schließlich Erleichterung. Nur wenig, aber genug um endgültig sicher sein zu können, dass er ihn endlich erkannt hatte. Dann wich plötzlich alle Kraft aus dem schlanken Körper und er sank mit einem leisen Aufwimmern gegen Kuroganes breite Brust. Er sagte etwas, aber die gemurmelten Worte wurden von der dicken Jacke verschluckt, in der er sein Gesicht vergraben hatte. Kurogane war das alles langsam zu viel, aber da der Blonde zitterte wie Espenlaub, brachte er es nicht fertig, ihn von sich zu weisen. Solange Fye nur endlich ruhiger wurde, würde er das irgendwie ertragen... „Wieso weinst du denn, Kleines?“ Als plötzlich eine von Alter und Freundlichkeit gezeichnete Stimme erklang, zuckten alle drei Unfallopfer erschrocken zusammen. Fye verkrallte sich augenblicklich in der Jacke seines neu auserkorenen Beschützers und Tomoyo sprang hektisch und mit einem schrillen Quieken auf, um zu ihrem Papa zu stürzen und das Gesicht gegen seine langen Beine zu drücken. Das alte Mütterchen, das gerade hinter dem Mädchen die Straße herunter gekommen war, blickte erstaunt auf und in Kuroganes Augen, während ihr ebenso altersschwacher Dackel ihn anbellte. „Na, na, Trixi“, meinte die Alte gutmütig und kam näher. Ungewohnt unsicher blickte der jüngere, wenn auch weitaus größere Mann sie an. Spätestens jetzt war Kurogane offensichtlich mit der Situation überfordert. An sich hatte er bisher alles meistern können, solche Ausnahmesituationen waren in seinem Job geradezu alltäglich. Aber mit Tomoyo, die sich immer noch schluchzend an ihn drückte und seine Beine umklammerte, sodass er Mühe hatte, das Gleichgewicht zu halten, und Fye, der Schutz in seinen Armen suchte und dessen Zittern sich einfach nicht zu beruhigen schien, war es etwas gänzlich anderes. „Brauchst du Hilfe, mein Junge?“ Besorgt blickte sie unter ihrem Kopftuch hervor und musterte die seltsame Szene. Sie verstand natürlich nicht, was genau passiert war, aber dass hier etwas alles andere als in Ordnung war, das sah sogar ein Blinder. Oder eben eine Rentnerin mit altersschwachen Augen. „Sie sind verletzt. Soll ich einen Arzt rufen?“ „Ich...? Oh.“ Ja, er war verletzt. Fye hatte seine Hände ja fast zu Hackfleisch verarbeitet, auch wenn es jetzt, wo sie voller Blut waren, schlimmer aussah, als es eigentlich war oder sich anfühlte. Vor allem die rechte, die im Moment im Nacken des Blonden ruhte und dort die Haarspitzen etwas blutig färbte, sah übel mitgenommen aus. „Nein, ist schon okay. Das sieht nur schlimm aus, machen Sie sich keine- Tomoyo! Bitte lass etwas lockerer.“ Aber seine Tochter reagierte überhaupt nicht und etwas verspätet bemerkte Kurogane auch warum. „Könnten Sie bitte den Hund etwas weiter wegbringen? Meine Tochter hat Angst vor ihnen.“ „Ach, aber Trixi tut doch niemandem was.“ „Bitte!“ Da diese „Bitte“ nun wirklich wichtig klang, zeigte das Mütterchen Einsicht und band den kleinen Dackel an einer Laterne gut fünf Meter weiter an. Das dunkelhaarige Mädchen schien sofort etwas beruhigter und ließ die Beine ihres erleichterten Vaters los. Nur noch die Finger hatte sie zur Sicherheit in den Soff seiner Hose geklammert, als sie mit verängstigtem und verständnislosem Blick zu ihrem Vater und ihrem Kindergärtner aufblickte. „Und du bist sicher, dass ich keine Hilfe holen soll, mein Junge? Dein Freund sieht nicht sehr gut aus.“ Ohne böse Absicht war die alte Frau wieder näher gekommen und hatte Fye am Arm berührt, mit der Folge, dass dieser zusammenfuhr, als hätte man ihn geschlagen, und sich so fest an Kurogane klammerte, als wollte er in ihn hineinkriechen. Bei dem Schwarzhaarigen schrillten alle Alarmglocken. Wenn Fye immer noch so heftig reagierte, noch dazu auf die Berührung eines altes Mütterchens, obwohl sein Kopf endlich einigermaßen zurück in der Realität war, musste sein Zustand noch schlimmer sein als befürchtet. Das letzte Mal, als Kurogane kurz einen ähnlichen Panikanfall miterlebt hatte, war der Blonde sofort danach wieder er selbst gewesen, übergangslos hinter seine Maske zurückgeschlüpft. Und nun schaffte er dies nicht einmal in Gegenwart einer fremden Alten. Der Blonde musste hier weg. Schnellstens. Sonst zerbrach er noch an seiner Angst. „Sehr sicher. Vielen Dank.“ Von Sorge und Eile getrieben, durchschnitt seine dunkle Stimme die Nacht etwas unfreundlicher, als er es gewollt hatte, aber die Alte überhörte es geflissentlich. Stattdessen kramte sie in ihrer Schürzentasche – um die Zeit hatte sie es anscheinend nicht mehr als nötig erachtet, zum Gassigehen etwas Gesellschaftsfähigeres anzuziehen – und zog schließlich ein paar Bonbons heraus. Durch die verschreckte Reaktion des Blonden nun etwas vorsichtiger, hielt sie eines davon Tomoyo hin und lächelte sie aufmunternd an. „Hier, Kleines. Das beruhigt.“ Erst nachdem ihr Vater leicht genickt hatte, nahm sie es auch entgegen und wischte sich dabei ein paar Tränen von der Wange. Es schien ihr zu helfen, dass die nette Fremde ganz normal mit ihr umging. Chaos und Hektik herrschten schon genug um sie herum. „Aber um deinen Freund zu beruhigen, bräuchte es ich wohl eine ganze Tüte Bonbons. So viele habe ich leider nicht mit.“ Auffordert hielt sie dem Schwarzhaarigen zwei mit Karamellgeschmack hin, welche dieser widerspruchslos annahm. „Ich denke, das ist okay.“ Die Alte versuchte auf ihre unschuldige Art, langsam die Normalität zurückzubringen, soweit wie irgend möglich zumindest. Mit jemandem reden zu können, der der Situation so gefasst gegenübertrat, ließ auch den überforderten Vater wieder einen kühlen Kopf bekommen. Ihm half sie mit ihrem Verhalten wahrscheinlich am meisten. Behutsam suchte er nach einer von Fyes Händen, die sich fest in seiner Jacke verkrallte hatten, und nach ein paar leisen, beruhigenden Worten hatte er ihn sogar soweit, dass er die beiden Bonbons nahm und seine Finger ganz fest darum schloss. Gut, wenigstens ein halbwegs normales Lebenszeichen. Auch wenn es dauern würde, bis sich der sonst so gefasste Kindergärtner wieder unter Kontrolle haben würde. „Komm doch kurz mit zu mir und beruhige dich ein wenig. Du kannst nicht die ganze Nacht mitten auf der Straße stehen. Wie wäre es mit einer schönen warmen Milch mit Honig, dann sieht die Welt gleich viel besser aus.“ Ganz normal war die Alte aber auch nicht mehr. Jetzt von Milch und Honig zu reden... Aber aus ihren Worten konnte man schließen, dass sie in der Nachbarschaft wohnte. Vielleicht hatte er sie sogar schon mal gesehen, er wusste es nicht genau. „Ich wohne selbst nicht weit von hier, es ist besser, wenn ich die beiden erst mal zu mir bringe. Aber danke für das Angebot.“ „Nichts zu danken, mein Junge.“ Wenigstens das Problem war jetzt also geklärt. Doch da war ja noch ein weiteres. Der letzte Leidtragende dieses Unfalls... Und der lag immer noch am Straßenrand. Seine arme Maschine. Kurogane hatte sie immer gehütet, und nun konnte er den schwarzen Lack, den elegant stromlinienförmig geschwungenen Tank und mit etwas Glück auch den Lenker wohl vergessen. Von den ganzen Kleinteilen ganz zu schweigen. Wenn seine Werkstatt das je wieder in Ordnung bringen könnte, dann hatte er enormes Glück. Aber mit Fye und seiner Tochter konnte er unmöglich die schwere Kawasaki auch noch Heim bringen. Wie weit war es noch zu Fuß? Keine zehn Minuten, wenn er sich nicht täuschte. Das könnte ohne größere Katastrophen machbar sein. Oder doch nicht. Als er Fye losließ, klammerte dieser sich nur noch fester an ihn und wehrte sich vehement, sich auch nur einen Zentimeter von Kurogane zu entfernen. Erneut vernahm der Schwarzhaarige ein leises Murmeln von ihm, was anscheinend die ganze Zeit angehalten hatte, ohne dass es bis zu ihm durchgedrungen war. Allerdings verwirrten ihn die leise gestammelten Worte. „...weg...er wird mich...töten... Kurogane...muss weg...flieht...“ Das monotone Geflüster ging noch weiter, aber das Bisschen hatte schon ausgereicht, mehr als eine Handvoll Fragen aufzuwerfen. Wovon, oder besser, von wem sprach Fye da? Wer wollte ihn töten? Und was hatten sie damit zu tun, dass er sie ebenfalls zum Fliehen bewegen wollte? Die alte Frau seufzte schwer, was Kuroganes Aufmerksamkeit ein Stück zu ihr zurücklenkte. „Das ist bestimmt dein Motorrad, oder, mein Junge? So eine gefährliche Maschine! Ein Glück, dass nicht noch mehr passiert ist. Und gut, dass um diese Zeit kaum noch jemand auf der Straße unterwegs ist.“ Sie machte eine kurze Pause und bemaß den Schwarzhaarigen noch einmal mit einem besorgten Blick. „So kannst du dein Motorrad jedenfalls nicht mitnehmen. Am besten sicherst du es erst mal mit einem Warndreieck ab und holst es später.“ Das Mütterchen schien nicht gemerkt zu haben, dass der jüngere Mann nur mit halbem Ohr zugehört hatte, aber ihre Worte lenkten seine Aufmerksamkeit wenigstens wieder auf Dinge, die im Moment wichtig waren. „Nein, ich denke, ich krieg das schon hin.“ Aber es dauerte noch gut eine Viertelstunde, bis der Schwarzhaarige wirklich wieder alles unter Kontrolle hatte. Mit viel gutem Zureden und beruhigenden Berührungen hatte er Fye schließlich dazu bekommen, von ihm abzulassen, und damit der Blondschopf nicht gleich wieder in Panik verfiel, hatte Kurogane ihn in seine schwere, warme Jacke eingehüllt. Schweigend war der Blondschopf bis zur Nasenspitze darin versunken, während er sich neben Tomoyo auf der Bordsteinkante zusammenkauerte, was ihn nur noch verlorener aussehen ließ. Das hatte auch das kleine dunkelhaarige Mädchen bemerkt und sich vorsichtig an ihren Fye-Nii-chan gekuschelt. Während die Alte fürsorglich über die zwei wachte, hatte Kurogane Zeit, den Schaden zu begutachten, der an seinem geliebten Motorrad entstanden war, und dieses von der Straße aufzusammeln. Schließlich hatte er das schwere Gefährt hochgehievt, was mit seinen zerschundenen Händen gar nicht so einfach gewesen war, und stellte es neben den beiden Häufchen Elend am Bordstein ab. Tomoyo sprang sofort auf, um sich an seine Beine zu kuscheln, während Fye verstört aufsah, als sie von seiner Seite wich. Es wirkte so hilflos, als er die Hand nach Kurogane ausstreckte, dass dieser gegen alle Prinzipien zugriff und ihn auf die Füße zog. Für einen Moment ließ er den Blonden sich schutzsuchend ankuscheln. „Soll ich dich noch ein Stückchen begleiten, mein Junge?“ Gegen den ersten Impuls, das Angebot augenblicklich abzulehnen, dachte Kurogane erst einmal nach, bevor er langsam nickte. „Das wäre sehr freundlich.“ Mit dem verstörten Blondschopf, der ohne gutes Zureden keinen Schritt ging, und Tomoyo, die an seinen Beinen hing, würde er nicht allzu weit kommen. Und zumindest seine Tochter hatte schon genug Vertrauen zu dem Mütterchen gefasst, um ihre Hand zu nehmen. So machten sie sich zu viert auf den Weg, nachdem Trixi noch mehrmals versichert bekommen hatte, dass sie bald abgeholt werden würde. Mit einem langen, leidvollen Seufzer ließ Kurogane sich auf die Couch fallen und sank tief in das weiche Polster ein. Gut, wenigstens Tomoyo war endlich im Bett. Seine Kleine war die ganze Zeit kurz davor gewesen, wieder in Tränen auszubrechen, und Kurogane hatte all seine Überredungs- und Vorlesekünste gebraucht, sie halbwegs zu beruhigen und ins Bett zu bekommen. Nach dem dritten Märchen war sie dann endlich ins Land der Träume abgedriftet. Der lange, anstrengende Tag hatte den Kampf gegen den Schock gewonnen. Danach hatte es noch etwas gedauert, bis der Schwarzhaarige seine und Fyes Wunden versorgt hatte, und nun war er fix und fertig. Ganz zu schweigen von seinem immer noch anhaltenden Schädelbrummen. Vielleicht eine leichte Gehirnerschütterung? Als er die Augen wieder öffnete, die er kurz geschlossen hatte um alles um sich herum wenigstens für einen Moment auszublenden, bemerkte er den scheuen, eisblauen Blick, der auf ihm lag. Fye saß ihm gegenüber in einem Sessel, ganz tief in eine weiche Wolldecke gekuschelt und mit einer Tasse Tee in der Hand. Diese war nach fast einer Stunde nur halb leer, aber schon kalt, dennoch hielt er sie umklammert, als würde sie noch Wärme spenden. Seufzend erhob sich der Schwarzhaarige wieder, um die bereitgestellte Thermoskanne aus der Küche zu holen und die Tasse wieder aufzufüllen. Trinken würde der Blondschopf es eh nicht, aber wenigstens hatte er etwas, woran er sich wärmen konnte. „Deine Hände...“ Die leise Stimme des Kindergärtners klang in seiner Wohnung so fehl am Platz, dass der Schwarzhaarige die Stirn runzelte. Noch gestern hätte er jedem einen Vogel gezeigt, der ihm erzählt hätte, dass er Fye heute in seinem Wohnzimmer haben würde. „Hm?“ Kaum dass er die Kanne wieder weggestellt hatte, fingen lange, zittrige Finger seine rechte Hand ein. Zwar hatte Kurogane sie schon versorgt, aber nicht jeder Kratzer hatte ein Pflaster abbekommen, und sein zerkratztes Handgelenk war verbunden. Fye hatte ganze Arbeit geleistet und jetzt schien ihm das wirklich Leid zu tun. „Ich wollte das nicht...“, hauchte er schuldbewusst und ließ nicht zu, dass sein Gegenüber ihm die Hand wieder entzog. Stattdessen barg er sie schützend zwischen seinen und blickte aus traurigen blauen Augen auf. „Es ist okay, wenn du mir deswegen böse bist...“ „Das bin ich auch.“ „...“ Die Worte schienen schmerzhaft zu sein, und automatisch drückte Fye die bandagieren Finger etwas fester. „Kuro... ich...“ „Für wen hast du mich gehalten, dass du solche Angst vor mir hattest?“, fiel Kurogane ihm einfach ins Wort, wollte die Entschuldigungen nicht hören. Ruckartig sah der blonde Mann auf und für Sekunden stand in den azurblauen Augen die gleiche Angst wie vor einer Stunde. Dann schlug er die Augen nieder und gab die braungebrannte, zerschundene Hand frei. Kurogane setzte sich zurück auf seinen Platz. Eine Antwort erwartete er nicht. Nicht von Fye. Umso überraschter war er, als schließlich die leise Stimme seines unfreiwilligen Gastes wieder die sich ausbreitend Stille durchbrach. „Ich...ich bin auf der Flucht. Schon seit ein paar Jahren.“ Es schien dem blonden Mann merklich schwer zu fallen, so offen zu sprechen, aber Kurogane ließ ihm Zeit und fragte nicht weiter nach. Nach einigen Minuten des Schweigens schaffte Fye es aus eigener Kraft weiterzusprechen. „Ashura... Dieser Mann ist unglaublich kaltblütig. Er hat schon so viele Menschen auf dem Gewissen und viele fürchten ihn. Zu Recht. So wie ich. Es ist so anstrengend, immer Angst zu haben, gefunden zu werden, aber seit ich im Kindergarten arbeite, musste ich nicht mehr so oft daran denke. Ich habe langsam wirklich geglaubt, dass ich wieder ein normales Leben führen könnte. Weit weg von ihm und seinen Machenschaften! Aber ich hab mich getäuscht...“ Verzweifelt vergrub er sein blasses Gesicht in seinen Händen, hatte wieder zu zittern begonnen. „Als ich heute nach Hause kam... Chii war nicht daheim. Ich hab mir nichts weiter dabei gedacht, auch wenn ihre Schule eigentlich schon aus wahr. Aber dann... Ich wünschte, ich hätte ihn nicht gesehen! Er stand mitten auf dem Fußweg und hat mich so wissend angelächelt... Und da wusste ich, dass alle Hoffnung umsonst war, dass ich ihm niemals wirklich entkommen war. Ich musste einfach weg. So schnell und so weit ich konnte! Aber egal, was ich tat, egal wohin ich lief, immer hatte ich das Gefühl, Ashura wäre noch da und wüsste genau, was ich tat!“ Fyes Stimme wurde immer zittriger, immer verzweifelter. Die noch immer volle Tasse wurde von den langen, dünnen Fingern so fest umkrallt, dass Kurogane fast fürchtete, der Blonde würde sie mit bloßen Händen zerbrechen. Das warme Getränk darin schwappte bedrohlich, immer wieder fanden kleine Tropfen ihren Weg über den Rand. Eine besonders große Welle schwappte heraus und landete im hohen Bogen auf dem hellen Teppich. „Er wird mich töten...!“, murmelte der Blonde heiser. „Jetzt reiß dich ein bisschen zusammen! Hier ist niemand, der dir etwas tun könnte, und selbst wenn, dann bin immer noch ich in der Nähe, also dreh nicht gleich wieder ab“, fauchte Kurogane etwas, und der Blondschopf zuckte zusammen, bevor er sich tiefer in seine Decke vergrub. „Ich habe Angst...“, gestand er mit dünner Stimme. „Solche Angst...um Chii. Und jetzt habe ich dich und Tomo-chan auch noch mit da hineingezogen! Oh nein...“ So wie er dreinblickte, schien ihm hundeelend zu sein, und Kurogane hielt es für besser, das Gespräch hier zu unterbrechen. Der junge Kindergärtner war einfach zu aufgewühlt. Das war genug Wahrheit für heute. Wahrscheinlich hatte Fye seit Jahren nicht mehr so viel von sich preisgegeben. Zumindest konnte er es sich bei dem Mann nicht vorstellen. „Schon gut. Ich kann auf Tomoyo und mich aufpassen. Und wahrscheinlich ist deine Kleine nur zu Besuch bei einer Freundin und du machst dir da zu viele Sorgen.“ „Aber..!“ Kurogane brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen. „Es hat keinen Sinn, jetzt noch zu diskutieren. Wir sind beide völlig fertig.“ Damit war das Gespräch für Kurogane beendet und er erhob sich. „Aber...“ Erneut einer dieser Blicke und Fye schien gleich ein paar Nummern kleiner zu werden. „Aber...wo soll ich jetzt bloß hin?“, murmelte er kleinlaut und blickte auf seine Hände. Statt eine Antwort zu geben, trat Kurogane zu einem der Wohnzimmerschränke und kramte Bettzeug daraus hervor. Er hatte eigentlich nie Gäste, aber es war irgendwie immer hier. Als er sich wieder umwandte, blickte Fye ihn mit einem so unglaublich hilflosen Lächeln an, während seine Augen gleichzeitig verzweifelt um Hilfe schrieen, dass er nur seufzen konnte und zu ihm trat. „Auf die Couch mit dir.“ Es war weit nach Mitternacht und seit über zwei Stunden herrschte in der Wohnung der Sugawaras nächtliche Stille, da öffnete sich eine der Türen zum Flur beinahe lautlos. Die Kinderzimmertür. Kaum dass der entstandene Spalt groß genug für einen Kinderkörper war, wurde dieser auch schon hindurch geschoben, und auf barfüßigen Sohlen schlich das kleine dunkelhaarige Mädchen den Flur hinunter. Tomoyo hatte eines ihrer Lieblingskuscheltiere an ihre schmale Brust gedrückt und blieb unsicher vor der Zimmertür ihres Vaters stehen. Seit ihr Papa immer zuhause war und gemerkt hatte, dass die Vierjährige dazu neigte, nachts unter seine Decke zu krabbeln, war seine Tür immer nur angelehnt, damit sie reinkommen konnte, wann immer wie es wollte, dennoch zögerte Tomoyo heute Nacht. Unsicher trat sie noch einen Schritt näher, dann ließ sie aber ein leises Geräusch zusammenfahren. Ein Rascheln? War ihr Papi etwa noch wach? Aber das Geräusch war doch gar nicht aus seinem Zimmer gekommen... Verunsichert blickte Tomoyo sich um. Wenn es nicht aus dem Schlafzimmer kam, von wo dann? War etwa noch jemand hier? War Nii-chan etwa noch hier? Langsam tappte sie zur Wohnzimmertür und lugte herein, konnte aber niemanden entdecken. Allerdings erklang das Rascheln diesmal sehr viel näher und wurde von einem leisen Schniefen begleitet. Oder war es ein Seufzen gewesen? „Nii-chan?“, fragte die Kleine verunsichert, wusste sonst doch niemanden, der noch hier sein könnte. Auf der anderen Seite der Sofalehne wurde es still, bevor es erneut leise Raschelte und schließlich ein zerzauster blondern Kopf auftauchte. Zwar konnte Tomoyo das Gesicht ihres Kindergärtners nicht sehen, weil es zu dunkel war, doch seine hellen Haare hoben sich ein wenig von der Dunkelheit ab. „Kannst du nicht schlafen, Nii-chan?“ „Du auch nicht, hm?“ Fye klang nicht so fröhlich wie sonst... Das Mädchen nahm das als Anlass, zu ihm zu tippeln und zu ihm auf die Couch zu klettern. „Hat Papa sehr mit dir geschimpft? Weil wir doch den Unfall hatten.“ „Nein. Er war sehr lieb zu mir. Du hast einen richtigen Bilderbuchpapa, Tomo-chan, weißt du das?“ „M-hm! Papa ist toll“, bestätigte die Schwarzhaarige schmunzelnd. „Deswegen hab ich ihn ja auch ganz doll lieb.“ „Was für ein Glück für ihn...“ „Dich hab ich aber auch doll lieb, Nii-chan!“ Lächelte ihr Kindergärtner jetzt? Vielleicht. Es war so schwer zu sagen im Dunkeln. „Willst du nicht wieder ins Bett gehen, Liebes?“ Aber Tomoyo schüttelte augenblicklich den Kopf. Sie war ja gerade erst von da gekommen, weil sie schlecht geträumt hatte. Außerdem hatte sie Angst gehabt. Die Bilder aus ihrem Traum hatten sie so sehr an das heutige Erlebnis erinnert...und deshalb hatte sie zu ihrem Papa ins Bett gehen wollen. Denn der konnte sie vor allem beschützen, da war sich die Vierjährige sicher. Aber jetzt, wo sie bei Fye war, wurde ihr auf kindliche Weise bewusst, dass sie nicht die Einzige war, die Trost brauchte. Aber dass ihr Nii-chan nicht einfach bei ihrem Vater ins Bett krabbeln konnte, ahnte sie zumindest, also... „Ich möchte bei dir bleiben!“ Überraschtes Schweigen war die Antwort. „Aber Tomoyo...“ „Ich mag nicht allein schlafen. Und bei dir ist es bestimmt viel kuscheliger, Nii-chan. Und wenn wir zusammen sind, können wir bestimmt beide gut schlafen, da musst du auch keine Angst mehr haben! Ich beschütz dich auch vor den bösen Träumen!“ „... Du bist unglaublich, Kleines...“ Der Anblick, der Kurogane am nächsten Morgen erwartete, war so überraschend wie niedlich. Und außerdem hatte es diese gewisse Ruhe, die selbst ihm ein Lächeln entlockte. Fye und Tomoyo lagen zusammengekuschelt auf der Couch, die Arme umeinander geschlungen. Das weiche, lockige Haar des vierjährigen Mädchens umwallte sie beide und Fye hielt die Decke fest in einer Hand, auch wenn er selbst nur halb zugedeckt war. Seine langen Beine und Tomoyos Zehen schauten darunter hervor. So viel Frieden zauberte wohl jedem ein ruhiges Lächeln auf die Lippen. Behutsam zog Kurogane die warme Decke zurecht und streichelte seiner Tochter kurz über den Schopf. Einem plötzlichen Impuls folgend streiften seine Fingerspitzen auch Fyes Stirn, aber er zog sie sofort zurück. Das ging dann doch zu weit. Ein wenig irritiert blickte er auf seine Hand, dann auf das blasse, fein geschnittene Gesicht des anderen Mannes. Ein hauchdünnes Lächeln hatte sich auf die schmalen Lippen gelegt. Um der aufsteigenden Verwirrung zu entkommen, machte Kurogane, dass er in die Küche kam, bevor diese seltsame Form von Beschützerinstinkt ihm noch komischere Gedanken in den Kopf trieb. Lieber machte er sich daran, den Frühstückstisch zu decken. „Hm...hier riecht es aber gut. Hast du Eierkuchen gemacht, Papa?“ Kurogane blickte auf, als er von der Wohnzimmertür her die Stimme seiner kleinen Tochter vernahm und senkte die Morgenzeitung, welche an Sonntagen immer besonders dick war und in der er gerade gelesen hatte. Tomoyo stand mit verwuschelten Haaren im Türrahmen zur Küche und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Neben ihr stand Fye, den sie fürsorglich an er Hand hielt. Der blonde Mann wirkte unsicher und schien kaum zu wagen, sich hier genauer umzusehen. Gestern hatte er bereits Hemmungen gehabt, sich in Kuroganes Wohnung frei zu bewegen, aber heute, nachdem er eine Nacht darüber hatte schlafen können, wirkte er noch viel stärker fehl am Platz. „Guten Morgen“, richtete Kurogane die Worte an beide, bevor er seine Tochter ansah. „Was soll es denn sonst geben, wenn es schon danach riecht?“ Tomoyo strahlte nur, hatte die besagten Eierkuchen längst unter der Wärmeglocke erspäht, bevor sie zu ihrem Papa lief, um ihm einen fröhlichen Guten-Morgen-Kuss zu geben. „Danke, Papi!“ Ihren Kindergärtner hatte sie dabei hinter sich hergezogen, was diesen sichtlich unbehaglich stimmte. In dieser ungewohnten Umgebung und in Kuroganes Gegenwart, der plötzlich so zuvorkommend ihm gegenüber war, schien es ihm einfach unmöglich, so wie immer zu sein. Aber in gewisser Hinsicht war Kurogane auch froh darüber. Wenn es eines gab, was er jetzt auf alle Fälle nicht sehen wollte, dann war es Fyes falsches Grinsen. Mittlerweile war der Schwarzhaarige aufgestanden, um seiner Tochter einen Eierkuchen zu holen, den er ziemlich großzügig mit Schokoladencreme bestrich. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie Fye ihn mit der Andeutung eines Lächelns musterte, dann zu Tomoyo hinunter blickte. „Und was möchtest du zum Frühstück?“, riss er den anderen plötzlich aus seinen Gedanken. „I-ich?“ „Natürlich du. Oder siehst du sonst noch jemanden hier, an den die Frage gerichtet sein könnte?“ „Ich weiß nicht, ich...“ Fye war schon wieder sichtlich überfordert. Kurogane fragte sich, was dem Blonden immer noch solches Unbehagen bereitete. Die ungewohnte Umgebung? Die – zugegeben seltsame – Frühstückskonstellation? Die Ereignisse vom Vortag...? „Also was möchtest du nun zum Frühstück?“, wiederholte der Schwarzhaarige ein wenig genervt und augenblicklich zog der Angesprochene den Kopf ein. Der Schwarzhaarige seufzte innerlich. Normalerweise machte es dem anderen nichts aus, wenn er ihn anknurrte, und nur wegen eines genervten Anfunkelns hätte er sonst nie den Mut verloren, aber heute schien alles Kopf zu stehen. „Da-dasselbe wie du ist okay.“ Verlegen senkte Fye den Kopf. Noch immer wagte er es nicht einmal, sich auch nur umzusehen. „Magst du auch nur Kaffee zum Frühstück, Nii-chan?“ Tomoyo hatte ihren Eierkuchen schon zur Hälfte gegessen und blickte nun forschend zu ihm herüber, während der Blonde bloß verwundert die Augenbraun heben konnte. „‚Nur Kaffee’?“ „Ja. Papa trinkt auch immer nur Kaffee. Und er mag nicht mal Zucker dazu!“ Das war der Kleinen nach wie vor unbegreiflich. Wie konnte man nur keinen Zucker mögen? Und so, wie Fye ihn gerade anstarrte, teilte er entweder die Meinung seiner Tochter vorbehaltlos oder es war die Tatsache, dass er früh nichts aß, die ihn so überraschte. „Aber Kuro-sama, warum frühstückst du denn nicht? Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit des Tages!“, rutschte es dem Blonden direkt heraus. Also letzteres. Kurogane verdrehte innerlich die Augen. So oder so, seine Essgewohnheiten gingen den gar nichts an! Er war schließlich nicht seine Mutter. „Nerv nicht rum!“, fauchte er entnervt. „Ich weiß das. Und ich kann ja wohl essen, wann und was ich will!“ „Tschuldigung...“ Verunsichert ließ Fye sich auf dem Platz nieder, auf den Tomoyo ihn mit einer freundlichen Handbewegung und vollem Mund eingeladen hatte, und kurz darauf bekam er einen gezuckerten Eierkuchen vor die Nase gestellt, zusammen mit dem Glas Schokocreme. Dann setzte sich auch Kurogane wieder, ohne ihn einmal angesehen zu haben, und verschwand wieder hinter seiner morgendlichen Zeitung. Nicht nur für Fye war diese Situation auf eine gewisse Art und Weise befremdlich, sondern auch für ihn. Da wirkte die Morgenzeitung geradezu wie ein Schutz, der ihn von dieser veränderten Situation abschirmte, und ein Anker, der wenigstens einen Teil seiner Alltagsroutine erhielt. Die unterschwellige Unruhe, die in seinem Innern schwelte, vermochte sie dennoch nicht ganz zu beruhigen. Fye verhielt sich plötzlich so anders. Er war so verletzlich, viel stärker, als er es ihm zugetraut hätte. Und er war ehrlich. Zum ersten Mal, seit sie sich kannten. Eigentlich hätte Kurogane zufrieden damit sein sollen und fertig, aber es ließ ihn bei weitem nicht so kalt, wie er gedacht hätte. Wahrscheinlich gab es nicht viele Menschen, die der Blonde so nah an sich heran ließ. Gab es außer ihm überhaupt noch jemanden? Dem Schwarzhaarigen wurde klar, wie wenig er über den anderen wusste. Dessen Familie, Freunde, Vergangenheit... Doch im nächsten Augenblick erstaunte es ihn schon wieder, dass er das plötzlich überhaupt wissen wollte. Über so was dachte er normalerweise nicht einmal nach! Also warum auf einmal? Es war zum Verrücktwerden! „Du Papa?“ „Hm?“ Die bepflasterte und fürsorglich verbundene Hand des Angesprochenen tauchte hinter der großen Zeitung auf und tastete blind nach er Kaffeetasse, fand sie fast auf Anhieb. Kaffee war auch normal. Genau wie die Zeitung. Vielleicht beruhigte ihn das jetzt ein wenig. „Bleibt Nii-chan jetzt für immer hier?“ Kurogane konnte hören, wie der Blondschopf erschrocken die Luft anhielt. Und er selbst hätte wohl genauso reagiert, wenn er sich nicht so gut unter Kontrolle hätte. So viel zur Normalisierung! „Wieso fragst du das?“ „Es wäre doch schön. Dann wären wir nicht mehr allein.“ „‚Wir’ bedeutet, wir sind zu zweit. Und zu zweit ist man nicht allein.“ „Aber kann auch heißen, dass man zu dritt ist, oder?“ Dieser Kommentar veranlasste den Schwarzhaarigen schließlich, die Sonntagszeitung nun doch sinken zu lassen, um seiner Tochter in die Augen zu sehen zu können. „... Ja. Das kann es“, räumte er zögerlich ein. Nun, zumindest müsste er sich dann nicht andauernd Sorgen um den Blonden, dessen psychischen Zustand und diesen seltsamen Ashura machen, der anscheinend als Massenmörder irgendwo hier draußen sein Unwesen trieb. Nach den Geschehnissen vom letzten Abend würden die nämlich sicherlich nicht mehr ausbleiben. Aber ob das dem Hausfrieden und seinen Nerven so gut tun würde? Mit dem letzten Teilzeitmitbewohner, namentlich Soma, hatte er es kaum einen Tag gemeinsam unter einem Dach ausgehalten. Und sein Denken schien auch so schon gehörig ins Schwanken zu kommen, obwohl der Blonde nun gerade mal einen Abend lang bei ihnen gewesen war! Flüchtig streiften seine zinnoberroten Augen die blassblauen des Mannes, über den er gerade so viel nachdenken musste. Sie blickten noch immer so scheu und unsicher wie gestern Abend, doch seit Tomoyos Bitte schien sich noch etwas dazu gemischt zu haben. War es Angst? Es lag ein gewisses Flehen in ihnen, als er Kuroganes Blick kurz standhielt, dann aber schnell betreten und hoffnungslos zur Seite blickte. Konnte er ihn in diesem Zustand wirklich wieder vor die Tür setzen...? „Er kann auch in meinem Zimmer wohnen!“ Und Kurogane lachte. Fye starrte ihn fassungslos an, so als ob er es nicht glauben konnte, diese Geräusche aus Kuroganes Mund zu hören! Und dann auch noch in solch einem Zusammenhang! Doch Kurogane überging das im Moment geflissentlich. Die Bekräftigung seiner Tochter hatte sein Urteil herbei geführt. „Na dann räum mal dein Zimmer ordentlich auf.“ Gedankenverloren spiele Fye mit dem Zipfel seiner Bettdecke, die zusammengefaltet neben ihm lag. Gelegentlich konnte er sich nicht davon abhalten, einen Blick über die Schulter zu werfen. Kurogane schlief auf der Couch, an welcher er selbst mit dem Rücken lehnte. Der hochgewachsene Mann lag halb auf der Seite, einen Arm unter dem Kopf, der andere neben dem Blondschopf herabhängend. Hätte er gewollt und wäre lebensmüde gewesen, hatte er statt mit dem Deckenzipfel mit den langen Fingern spielen können. Tomoyo gluckste leise, als die Trickfilmfigur, die gerade über den Fernsehschirm rannte, etwas sehr Blödes tat, und schaukelte mit den Beinen. Es hatte etwas Familiäres, wie sie hier zusammensaßen bzw. -lagen. Schön und beunruhigend zugleich. Besser, er gewöhnte sich nicht zu sehr an die Kleine und ihren grummeligen Vater, wenn er eh bald wieder gehen musste. Aber es war so leicht... „Tomo-chan?“, verschaffte er sich mit einem Flüstern Gehör, verzog leicht die Augenbraun, als Kuroganes Finger schon bei einer so kleinen Störung etwas zuckten. Der Kerl war zu aufmerksam. „Ja~a?“ „Meinst du, dein Papa hätte etwas dagegen, wenn ich kurz telefoniere?“ „Nein, habe ich nicht.“ Erschrocken zog der Blondschopf den Kopf ein. Mist! Dabei hatte er gerade so schön friedlich geschlafen. Er hätte warten sollen. Wenn nur seine Sorge um Chii nicht so groß wäre... „Entschuldige, ich wollte dich nicht wecken.“ „Schon klar.“ Grummelnd rollte sich der große Mann auf die andere Seite und machte es sich auf der langen Couch wieder bequem. Fye seufzte innerlich und stand auf. Dabei tat es ihm wirklich Leid. Kurogane schien den letzten Tag ganz schön was mitgemacht zu haben. Sie alle eigentlich, was sich auch in ziemlich dösiger, träger Stimmung niederschlug. Aber Kuro-sama war bei weitem am stärksten gefordert gewesen und hatte seine Aufgaben vorbildlich gemeistert. Er hatte den Schlaf wirklich verdient. Nachdem Fye das Telefon und das dazugehörige Telefonbuch gefunden hatte, setzte er sich in die Küche. Die Nummer zu finden war schwieriger, als er gedacht hatte, und dann nahm auch ewig keiner ab. Erst nach minutenlangem Warten – so kam es Fye jedenfalls vor – meldete sich eine forsche Frauenstimme am anderen Ende der Leitung. „Okabe Waisenhaus, Verwaltung, was kann ich für Sie tun?“ „Hier spricht Fye de Flourite. Ich wollte mich erkundigen, ob Chii wieder bei Ihnen ist. Sie hat noch vor einem Jahr in Ihrem Heim gelebt.“ „Ach, ich erinnere mich.“ Auch wenn sie nicht gerade erfreut über diese Erinnerungen klang. „Nein, sie ist nicht hier. Warum auch, wo sie doch damals Hals über Kopf verschwunden und seitdem nie wieder aufgetaucht ist?“ „Aha... Danke für die Auskunft.“ Verdammt! Dabei war das Heim seine letzte Hoffnung gewesen. Sonst hatte er einfach keine Idee, wo seine blonde Freundin stecken könnte. Zwar ahnte er es schon lange, wollte und konnte es aber nicht wahr haben. Nicht solange es irgendwo noch eine andere Möglichkeit geben könnte und sei sie noch so unwahrscheinlich. Chii war gut darin, sich zu verstecken. Vielleicht war sie auch aus irgendeinem Grund untergetaucht und hatte ihm nicht Bescheid sagen können. Sie würde schon wiederkommen. Oh bitte...! Nachdem er aufgelegt hatte, verfiel der blonde Mann in nachdenkliches Schweigen. Wo mochte Chii nur sein? Er wusste, wenn er zu viel darüber nachdachte, würde er nur krank vor Sorge, aber andererseits... Wie konnte er nicht darüber nachdenken? Chii war doch sein einziger Halt. Er verdanke dem Mädchen so viel, es wäre unverzeihlich, wenn sie seinetwegen in Schwierigkeiten geraten wäre. Aber das wollte er lieber gar nicht in Erwägung ziehen. Noch nicht. Zwar hatte er definitiv Ashura gesehen und ganz sicher nicht irgendwen mit ihm verwechselt, aber das musste noch lange nicht heißen, dass dieser von seiner jungen Mitbewohnerin wusste oder dass er sie in die Finger bekommen hatte. Und auch wenn es nur ein Strohhalm war, wollte er daran festhalten Kurogane wusste gar nicht, wie lange er wieder geschlafen hatte, seit Fye zum Telefonieren verschwunden war, aber da er regelmäßig von den Geräuschen des Fernsehers geweckt wurde, musste er annehmen, dass fast eine Stunde vergangen war. Was tat der Typ denn solange? Fing er jetzt schon an zu schmarotzen, indem er seine Telefonrechnung in schwindelnde Höhen trieb? Hinter ihm erklang ein lautes Explosionsgeräusch, gefolgt von Tomoyos Kichern. Wie sollte man hier bitte seinen Schlaf nachholen? Fye und Tomoyo waren schließlich nicht die Einzigen gewesen, die Probleme mit dem Einschlafen gehabt hatten. Auch Kurogane hatte sich die ganze Nacht hin- und hergerollt. Müde war er zwar gewesen, aber seine aufgewühlten Gedanken hatten ihn nicht zur Ruhe kommen lassen. Das, was Fye ihm gestanden hatte, war wirklich nicht ohne gewesen... Seufzend erhob er sich nun doch wieder, um nach seinem Gast zu sehen. Wenn er schon mal darüber nachdachte, gab es auch noch etwas anderes zu klären. Der Blondschopf saß in der Küche und starrte apathisch Löcher in die Luft. Wen auch immer er warum auch immer angerufen hatte, es schienen keine guten Neuigkeiten dabei herausgekommen zu sein. Nun, zumindest schien der Blonde seine Telefonrechnung doch nicht in die Höhe getrieben zu haben. „Hey. Wir müssen reden.“ „Kuro-sama?“ Verunsicherte Augen suchten die seinen. Da darin kein Unheil stand, schien sich sein neuer Mitbewohner aber etwas beruhigt zu haben. „Worüber denn?“ „Wie es jetzt mit deinem Job weitergehen soll. Ich weiß ja nicht, wie du dir das vorstellst, aber wenn dieser Kerl dich wirklich gefunden hat, ist es nicht die beste Idee, jeden Tag in den Kindergarten zu gehen. Damit begibst du dich nicht nur mitten auf den Präsentierteller, du kannst auch nicht mehr für sie Sicherheit der Kinder garantieren.“ Wenn dieser Ashura wirklich so skrupellos war, wie Fye es ihm beschrieben hatte, würde er nicht davor zurückschrecken, den Kindern etwas an zu tun, nur damit sein Opfer litt. „Ich weiß. Zuerst hatte ich auch vor, einfach nur so schnell wie möglich von hier weg zu kommen und irgendwo unterzutauchen. Aber jetzt... Ich weiß nicht, es ist doch mein Job...“ Unsicher strich der Blonde sich durchs Haar. „Ich würde schon gern wieder hingehen. Ich liebe die Kleinen wirklich sehr. Wenigstens noch ein paar Tage möchte ich mit ihnen verbringen. Falls sich mein Verdacht bestätigt, werde ich bald eh nicht mehr hingehen können...“ „Verdacht“? Aufgrund eines Verdachtes rastete man sicher nicht so aus. Da war auf jeden Fall mehr dran gewesen, egal, was Fye jetzt erzählte. „Außerdem befürchte ich inzwischen ein wenig, dass er die Kinder benutzen würde, um mich zurückzulocken, falls ich plötzlich nicht mehr auftauche. Er weiß, dass er damit Erfolg hätte. Und ich würde damit wahrscheinlich genau so reagieren, wie er es von mir erwartet. ... Wenn du denkst, dass das zu gefährlich wird, kann Tomo-chan ja derweil zuhause bleiben. Es wäre okay...“ „Das geht nicht. Sie würde nicht verstehen warum“, widersprach der Schwarzhaarige. Er überlegte kurz, scheinbar die Möglichkeiten abwägend. „Ich fahr euch morgen früh zusammen hin, dann sehen wir weiter. Geh auf keinen Fall nach draußen, wenn es nicht zwingend notwendig ist. Zumindest nicht auf den Vorderhof. Und sprich mit deiner Vorgesetzten darüber.“ An dem wehleidigen Gesichtsausdruck des Blonden erkannte Kurogane nur zu deutlich, dass diesem die letzte Anweisung alles andere als gefiel. Doch er würde sich nicht beirren lassen. „Selbst wenn es nur ein Verdacht ist, seid ihr alle in extremer Gefahr, falls dieser Ashura tatsächlich aufgetaucht ist und so kaltblütig ist, wie du ihn beschrieben hast. Da kannst du nicht einfach draußen rumlaufen, als ob nichts wäre. Es könnte euch allen das Leben kosten!“ Kurz zuckten Fyes Mundwinkel ein wenig auseinander. „Machst du dir etwa Sorgen, Kuro-chama? Um die Kinder?“ „... Na ja, auch. Aber ich hab auch keine Lust, irgendwann über DEINE Leiche zu stolpern, wenn ich meine Tochter vom Kindergarten abhole.“ Zum ersten Mal an diesem Wochenende bekam er von Fye so etwas wie ein leichtes Lächeln geschenkt. Irgendetwas schien er schon wieder dahinter zu verstecken, aber trotzdem wirkte es nicht ganz so falsch wie sonst. „Vielen Dank, Kuro-rin!“ TBC... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)