Der Weg zum Glück von Lady_Ocean ================================================================================ Epilog: Der Weg zum Glück ------------------------- Disclaimer: Die Charas gehören (bis auf wenige Ausnahmen) nicht uns, sondern Clamp. Wir wollen kein Geld damit verdienen, sondern nur unterhalten. Erstschreiber des Kapitels: Lady_Ocean Epilog (Kapitel 26/26) -~*~- „Ein beidarmig zu umfassender Baum wächst aus des Sprösslings feinstem Flaum, ein Turm, der einmal neunstöckig werde, erhebt sich aus einem Häufchen Erde. Eine Reise, tausend Meilen lang, mit einem ersten Schritt fing sie an!“ (Laotse) -~*~- Der Weg zum Glück Angenehm warm kitzelten die letzten Sonnenstrahlen des Jahres seine Haut, die Luft war kühl und klar, der Wald um sie herum eine geradezu paradiesisch friedliche Idylle. Die perfekte Zeit am perfekten Ort also, um sich zu entspannen. Eigentlich. Wenn da nicht immer noch diese Angst wäre, dass sich hinter dem Knacken der Äste, dem Rascheln des Laubes eine potentielle Gefahr verbergen könnte. Doch sein Verstand rief ihn immer wieder zur Ordnung und er zwang sich, seine Aufmerksamkeit den schönen Dingen um ihn herum zuzuwenden. Sechs Wochen lagen Kuro-wans Prozess und…nun, das schmerzhafte Wiedersehen mit Ashura inzwischen zurück. Die Verletzungen, die sein Körper davongetragen hatte, heilten gut. Die Knochenbrüche hatten begonnen sich zu schließen, was seine Schmerzen deutlich reduziert hatte. Allerdings machten Fye die Folgen der fehlenden Bewegung zu schaffen, seine Muskeln und Sehnen waren völlig verspannt und unflexibel, was nicht nur seinen Bewegungsraum einschränkte, sondern auch jede Bewegung auf eine neue Art schmerzhaft machte. Die Physiotherapie wirkte dem zwar entgegen, aber wie eine verwundete Schnecke in Zeitlupe durchs Leben zu kriechen und bei so gut wie allen alltäglichen Handlungen auf Hilfe angewiesen zu sein, machte wirklich keinen Spaß. Zugegeben, es hatte auch seinen Charme, wie hingebungsvoll und sanft sein Kuro-Papa sich um ihn kümmerte, aber insgesamt überwog doch der Frust über seinen passiven, handlungsunfähigen Zustand. Das war der eine Grund, warum er Oberschwester Kuro zu diesem Ausflug breitgeschlagen hatte. Der andere… Knack! Abrupt fuhr Fyes Kopf in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war – und er bereute die unüberlegte Bewegung sofort, als sich explosionsartig neue Schmerzen ausbreiteten. Mit Mühe unterdrückte er den Impuls, scharf Luft einzuziehen und schmerzverzerrt das Gesicht zu verziehen, doch ein Teil seines Innern musste wohl doch nach außen durchgedrungen sein. Die Hand, mit der Fyes Finger verwoben waren, verstärkte ihren Druck ein winziges Stück und ein besorgter Blick flackerte ihm aus den rubinroten Augen seines Begleiters entgegen. „Alles okay?“ „Alles bestens, Kuro-mii!“, trällerte Fye als Antwort und bestätigte die Worte seinerseits mit einem leichten Händedruck. „Du musst nichts überstürzen. Wenn es dir noch zu viel ist, können wir auch wieder nach Hause fahren“, versuchte es sein Wachhündchen noch einmal. Kuro-wanko war einfach immer viel zu besorgt. Aber das war auch ein Grund, warum er das hier durchziehen wollte. „Nein, ich möchte hier sein. Mit dir“, widersprach Fye mit Nachdruck. Diesmal ließ der andere es dabei beruhen. Und es war wahr. Weil es Kurogane war, der ihm zur Seite stand und ihn beschützte, wollte er hier sein. Er machte sich gar nicht die Illusion, dass es ein vollkommen unbeschwerter, lustiger Ausflug würde, aber er wusste auch, dass er das nie erleben würde, wenn er nicht endlich aufhörte zurückzublicken. Er wollte nicht mehr in ständiger Angst leben, mit der ständigen Erwartung, hinter jeder Ecke dem Tod ins Gesicht zublicken. Er wollte nicht nur körperlich heilen, sondern auch seelisch und er wusste, mit Kurogane an seiner Seite konnte er es irgendwann schaffen. Kurogane war für ihn da und konnte ihn, sollte es nötig sein, beschützen. Daran wollte er glauben. Fyes Therapeut meinte, es wäre ein großer Fortschritt, dass er zu dieser Einstellung gekommen ist. Dass es einen Menschen gab, dem er vertraute. Aber Fye wusste auch, dass das nur der erste Schritt des Weges war und das Ziel noch in weiter Ferne lag. Aber wie hieß es so schön? ‚Auch der längste Weg beginnt mit dem ersten Schritt.’ Und solange sein Kuro-chu an seiner Seite war, ihn beschützte und ihn liebte, war es Fye, zu seinem eigenen Erstaunen, fast schon egal, wie lang der Weg sein würde. Fye blieb stehen und brachte Kurogane damit dazu, es ihm gleich zu tun. ‚Fehlt dir etwas?’, verriet der besorgte Blick sogleich. Doch statt zu antworten trat Fye einen weiteren Schritt auf seinen Liebsten zu, überwand die letzte Distanz zwischen ihnen und versiegelte ihre Lippen mit einem sanften Kuss. Sofort legte sich ein starker Arm in seinen Rücken, die Hand, die gerade noch mit seiner eigenen verschlungen gewesen war, fuhr in sein Haar, Kopfhaut und Nacken kraulend. Wohlige Schauer durchfluteten ihn, ihr Kuss intensivierte sich und die Umgebung verlor für einige Augenblicke der Vollkommenheit völlig an Bedeutung. Als sich ihre Lippen trennten, begann der Zauber, der sie umgab, langsam zu verlöschen und erneut der Realität zu weichen. Aber er wollte noch nicht zurückkehren. Er wollte noch ein wenig in dem Duft und der Wärme seines Geliebten baden, sich in den sanften roten Augen verlieren. „Ich liebe dich.“ Raue und doch erstaunlich sanfte Finger umspielten seine Schläfe und Wange, ein schüchternes Lächeln – Fye liebte diesen Gesichtsausdruck – huschte über die Lippen seines Kuro-chan, bevor er ihm noch einen federleichten Kuss auf die Lippen hauchte. „Fye-Mama!“, zerriss eine vergnügte Kinderstimme die magische Atmosphäre. Ah, schon wieder. Augenblicklich spürte Fye, wie ihm die Röte in die Wangen stieg. „Äh, Fye…“, korrigierte sich das schwarzhaarige Mädchen verlegen. Doch schon einen Augenblick später strahlte Tomoyo wieder über das ganze Gesicht und streckte ihm stolz ihre Hände entgegen. „Schau mal, das haben Chii-nee-chan und ich gefunden! Nee-chan hat gesagt, man kann die Beeren essen!“ Für den Moment verbannte Fye die gemischten Gefühle bezüglich Tomoyos Anrede und konzentrierte sich auf die Fundstücke, die sie ihm voller Stolz präsentierte. „Oh, was für eine Entdeckung! Das sind ja Brombeeren!“, bekundete Fye freudig. Die dicken, schwarzen Beeren in Tomoyos Händen sahen wirklich köstlich aus. „Dann können wir sie essen?“, fragte das Mädchen voller Vorfreude. Er und Kurogane hatten die beiden, bevor sie ihren Spaziergang im Wald begonnen hatten, eindringlich darauf hingewiesen, nichts zu essen, ohne sich vorher bei ihnen zu vergewissern, dass es ungiftig ist. „Ja, die könnt ihr essen“, bestätigte Fye ihr und sofort war eine der Beeren mit einem genüsslichen „Hmmmmmm~“ im Mund verschwunden. „Lecker!“, quietschte Tomoyo vergnügt. „Fye-ma- äh, Fye, die ist für dich.“ „Wirklich? Wie lieb von dir, Tomo-chan!“, frohlockte Fye, nahm sich auch eine Beere und verspeiste diese genauso genießerisch wie zuvor Kuro-tans Töchterchen. „Du auch, Papa?“, bot sie anschließend ihrem Vater eine an. „Nein danke, iss ruhig selbst, Kleines“, lehnte dieser jedoch ab. „Echt nicht? Sie sind wirklich lecker“, hakte das Kind erstaunt nach. „Ich kenne Brombeeren. Die sind eher was für dich und Mama.“ Bei dem letzten Wort blitzte es in Kuroganes Augen diabolisch auf. Er tat es schon wieder! Halb gespielt, halb ernsthaft beleidigt, stieß Fye ihm mit dem Ellbogen gegen die Rippen. Es war allein Kuro-blödis Schuld, dass Tomo-chan ständig dieses „Mama“ rausrutschte. Als er sie nach der Entlassung aus dem Krankenhaus gefragt hatte, ob er weiter bei ihr und ihrem Papi wohnen durfte, hatte sie voller Erwartung zurückgefragt: „Bist du jetzt meine neue Mami?“, und doof-Kuro nutzte das seither schamlos aus. Fye wusste, dass ein Kind in ihrem Alter das mit den Geschlechterrollen noch nicht wirklich verstand. Aber die Frage hatte ihn ziemlich überrumpelt. Er wollte nicht Tomoyos leibliche Mutter ersetzen; überhaupt führte es ein Stück zu weit, ihn von jetzt auf gleich vollständig in die Familie zu integrieren – und ihm darüber hinaus eine Frauenrolle zuzuordnen. Natürlich liebte er Kurogane. Aber das bedeutete nicht, dass er sich wie eine Frau fühlte. Nur hatte Kurogane leider sofort bemerkt, wie peinlich es ihm war, so angesprochen zu werden, und genoss es sichtlich, ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit damit aufzuziehen. Und leider half kein Bitten und Argumentieren, es dem Kuro-Fiesling wieder abzugewöhnen. Vielleicht war es seine Art der Rache für all die Spitznamen, die Fye ihm immer gab. Ansprechen würde er das aber ganz bestimmt nicht, das käme einer Niederlage gleich. „Warum sammelt ihr nicht noch ein paar Beeren fürs Picknick?“, schlug Fye vor. „Au ja!“ Tomoyo war natürlich Feuer und Flamme von der Idee. „Komm, Chii-nee-chan, wir müssen ein Festessen vorbereiten! Und Hataki hilft auch!“ Und damit war der kleine Wirbelwind, mit Chii und ihrem liebgewonnenen vierbeinigen Spielgefährten im Schlepptau, gleich wieder davon gestürmt. „Aber bleibt auf dem Weg und rennt nicht so weit vor!“, warf Kuro-daddy den Mädchen zum wiederholten Mal hinterher. „Ja-ha~!“, kam die routinierte Antwort, bevor die beiden einige Meter weiter ein Stück im Unterholz verschwanden und mit ihrer Ernte begannen. Kurogane beobachtete das etwas misstrauisch, ließ sie aber gewähren. Ja, Chii… Praktisch im gleichen Atemzug, als Kuro-puus Töchterchen ihn zum ersten Mal gefragt hatte, ob er jetzt seine Mutter war, hatte sie auch Chii gefragt – oder eigentlich war es eher eine Feststellung gewesen – dass sie ja jetzt ihre große Schwester sei. Und Chii nahm ihre große Schwester-Rolle sehr ernst. Sie kümmerte sich rührend um Tomoyo, spielte viel mit ihr und hatte bei jeder noch so verrückten Idee eine Engelsgeduld mit der Kleinen. Chii sprach nach wie vor nicht viel, eher noch weniger seit den Ereignissen in CyberCom, aber seit Tomoyo sie zu ihrer Schwester auserkoren hatte, spürte man deutlich, wie glücklich und ausgeglichen sie war. Chii hatte nie eine liebende Familie erfahren können. Das Geschenk, das Tomoyo ihr mit ihrer Zuneigung machte, war unschätzbar wertvoll. Das brachte ihn zur großen Preisfrage zurück: Waren sie alle nicht doch schon so etwas wie eine richtige Familie? Sollte Fye es vielleicht einfach so akzeptieren, auch wenn es sich wirklich komisch anfühlte, ihn in diesen Begriff mit einzuschließen? Aber das rechtfertigte immer noch nicht Kuro-muffs Spitzen. „Du weißt genau, dass ich es nicht mag, wenn du mich so nennst“, begann er es einen halbherzigen Protest. „Daran wirst du dich wohl gewöhnen müssen.“ War ja klar. „Du hast gut reden, Daddy. Nur falls es dir bisher entgangen ist: Ich bin genauso wenig weiblich wie du.“ „Das musst du mir erst mal beweisen“, kam die Retourkutsche, begleitet von einem anzüglichen Grinsen. Fyes Herzschlag beschleunigte sich augenblicklich. Beweisen. Soso. – Halt! Gedanke, raus! Solange sein Körper nicht richtig geheilt war, würde daraus sowieso nichts werden. Aber wenn er erst wieder gesund war… Ja, das könnte interessant werden. Verführerisch schmiegte er sich an seinen Verehrer, wohl darauf bedacht, dass sich vor allem ihre Körpermitten näher kamen, und raunte in sein Ohr: „Glaub mir, nichts lieber als das, aber ein bisschen wirst du dich noch gedulden müssen.“ Fye spürte, wie sich sämtliche Muskeln im Körper des Schwarzhaarigen anspannten und sein Adamsapfel hob sich mit einem deutlichen Schlucken, während seine Gesichtsfarbe den gleichen Ton wie seine Augenfarbe anzunehmen begann. Touché. Wenn es ernst wurde, war Kuro-wanwan halt doch nur ein großes, schüchternes Hündchen. Bevor das kleine Spiel aber aus dem Ruder laufen konnte, unterbrach Fye den Körperkontakt zwischen ihnen – wobei er es sich nicht nehmen lassen konnte, sexy Kuro noch mal in den Hintern zu zwicken – und tänzelte davon. „Autsch. … Autsch.“ „Hihi, du bist aber ungeschickt, Fye“, gluckste Tomoyo. „Stimmt, du kannst das viel besser als ich, Tomo-chan.“, witzelte er mit. „Autsch.“ „Deine Hände sehen wirklich nicht gut aus, Fye“, meldete sich sogar Chiis besorgte Stimme. „Keine Sorge, das sieht schlimmer aus, als es ist. Autsch.“ Das tat es wirklich. Er sah aus, als hätte er versucht, den Brombeerstrauch mit bloßen Händen umzutopfen. Mit nur einem Auge war es wirklich schwierig, die Beeren zu erwischen. „Autsch.“ Aufhören wollte er trotzdem nicht. Jetzt hatte ihn die alte Sammelleidenschaft gepackt. Es erinnerte ihn an früher, als er als kleines Kind praktisch ständig zwischen Beerensträuchern oder in Bäumen gehangen hatte, um sich von dem schier endlosen Angebot leckerer Früchte zu bedienen. „Autsch.“ „Jetzt reicht’s aber! Genug Beeren gepflückt für heute“, mischte sich Kuro-grumpy genervt ein, eine Hand packte den Kragen seiner Jacke und zog ihn langsam aber unnachgiebig von seinem Brombeerstrauch weg. „Das kann sich ja keiner mit anhören“, schimpfte sein Brummbär weiter und stiefelte an ihm vorbei, in seinen Sammelplatz im Dickicht der Hecke hinein. „Wie viele willst du noch?“ Kuro-pii half ihm beim Sammeln?! „Alle!“, rief Fye erfreut und streckte ihm seine Sammelschale erwartungsvoll entgegen. Ein genervtes Seufzen zusammen mit einem Augenrollen war seine einzige Reaktion. Wortlos drehte sein Brummbär sich den Brombeeren zu und begann zu sammeln – nur für ihn. „Au ja, Papa, dann machen wir einen Wettbewerb! Wer die meisten Brombeeren pflückt“, schlug sein Töchterchen begeistert vor, doch Kuro-muff wäre nicht Kuro-muff, wenn er sich so leicht mitreißen lassen würde. „Es sind genug für alle da und am Ende essen wir sie sowieso gemeinsam. Pass lieber auf, dass du dir die Finger nicht auch so zerstichst.“ Und Tomo-chan wäre nicht Tomo-chan, wenn sie sich so leicht geschlagen geben würde. „Na gut… Nee-chan, dann machen wir einen Wettbewerb, ja? Ja?“ Chii nickte verhalten, was die kleine Tomoyo mit einem freudigen „Yaaaaaay!“ quittierte und sich voller Leidenschaft an die Eroberung des Brombeerstrauchs machte. Einige Sekunden herrschte emsiges Schweigen. Die einzige Kommunikation waren ermahnende Blicke von Kuro-Papa, wenn er Fye dabei ertappte, wie er hinter seinem Rücken aus der Beerenschale naschte. Frische Brombeeren waren aber auch zu lecker! Fye verstand überhaupt nicht, wie Kuro-pon dieser Versuchung widerstehen konnte. „Ich hab dir schon hundertmal gesagt, dass du mich fragen sollst, wenn du wegen deinem Auge Probleme hast“, kam es nach einer Weile mit gedämpfter Stimme von seinem selbsternannten Sammelhelfer. „Ach, Kuro-pon, sieh das doch nicht so ernst! Von den drei Kratzern sieht man in zwei Tagen nichts mehr. So ist das nun mal, wenn man Brombeeren pflückt. Und es hat Spaß gemacht“, versuchte er, das wilde Geflecht von Schrammen und Stichen auf seinen Händen zu rechtfertigen. Doch in Kuroganes Gesicht lag überhaupt nichts Scherzhaftes, als er sich wieder zu Fye umdrehte und ihm geradewegs in die Augen sah. „Auch wenn es keine größeren Verletzungen sind, will ich nicht, dass du so unvorsichtig bist. Dein Körper hat noch genug zu heilen. Da musst du nicht noch mehr hinzufügen.“ „Ich pass auf mich auf“, versprach er. Der Ernst in den rot leuchtenden Augen ließ keinen Zweifel daran aufkommen, wie wichtig das für Kurogane war. Fye war nicht der Einzige, den die Ereignisse in CyberCom noch immer jagten. Vielleicht merkte Kurogane es gar nicht, aber wann immer sein Auge Teil des Gesprächs wurde, wurde er besonders empfindlich. Fye konnte nur hoffen, dass es nicht mehr als Sorge um sein linkes Augenlicht war, was diese Emotionen hervorrief. Dass er sich keine Mitschuld daran gab. Dass Kurogane sich wieder entspannte, wenn es seinem Auge besser ging. Dem Arzt zufolge sollte es sich weitgehend erholen. Die erste Untersuchung nach dem Unglück hatte eine Augapfelprellung und eine Fraktur am Boden der Augenhöhle ergeben, so dass er kurz nach der ersten großen OP noch einmal unters Messer musste. Konnte der Schaden wohl größtenteils behoben werden. Seine volle Sehkraft würde er vielleicht nicht zurückbekommen, aber zumindest hatte er sein Augenlicht nicht dauerhaft verloren. Blieb nur zu hoffen, dass keine unangenehmen Spätfolgen auftraten. Eine leichte Gänsehaut bildete sich auf seinen Armen und im Nacken. Fye wusste, dass daran weniger der kühle Wind Schuld war. Ihm war doch wohler, wenn Kurogane neben ihm stand und seine Aufmerksamkeit nicht durch Brombeerbüsche oder dergleichen abgelenkt war. „Wollen wir langsam zurück zum Campingplatz?“ Das ließ Kuro-wuff sich nicht zweimal sagen und war mit einem großen Satz aus dem Gestrüpp heraus und wieder auf dem Wanderweg. „Auf geht’s“, signalisierte der Grummelpapa mit knappen Worten seinem Töchterchen, dass der Sammelwettbewerb hiermit beendet war. „Was? Schon? Aber wir haben doch grad erst angefangen!“, protestierte der Lockenkopf – oder eher Struwwelpeter, so, wie die Dornensträucher Tomoyos Haare durchgekämmt hatten. Der Anblick ließ Fye schmunzeln und es ging ihm augenblicklich etwas besser. Ja, er war froh, hierher gekommen zu sein. Der Ausflug hatte so viel Freude in Tomo-chans Gesicht zurückgezaubert, wie er sie lange nicht mehr gesehen hatte. Daheim bei Kurogane –bei ihnen – überschattete noch immer ein gewisser Ernst ihr Kindergesicht und sie war ständig bemüht, sich um ihn zu kümmern, ihm irgendwie zu helfen. Natürlich störte Fye das nicht, im Gegenteil, ihre kindliche Fürsorge freute ihn sehr, aber gleichzeitig wünschte er sich auch ihre Sorglosigkeit zurück. Und die hatte ihr der Ausflug in den Wald definitiv geschenkt. „Bitte bitte, Papi, nur noch fünf Minuten!“, quengelte die Kleine weinerlich. Doch ihr humorloser Papa blieb hartnäckig. „Ich sagte ‚wir gehen’ und damit basta!“ „Papa, du bist gemein!“, wehrte das Mädchen sich weiterhin. Ihre Stimme hatte einen gefährlich weinerlichen Ton angenommen. „Aber fünf Minuten sind doch nicht lange, Kuro-pon“, ging Fye dazwischen, um die verhärteten Fronten zu entschärfen. Doch wenn man für eine Seite Partei ergriff, zog man gewöhnlich den Groll der anderen auf sich und dieser folgte auch prompt in einem weiteren Kontra: „Und in fünf Minuten besteht sie dann darauf, dass es nur zwei waren und will wieder fünf Minuten länger bleiben und so weiter. Und wir kommen nie los!“ „Gar nicht wahr!“, fuhr der Zauskopf von seiner Buschfestung aus dazwischen. „Dafür haben wir doch Uhren!“, präsentierte Fye seinen Geniestreich. „Wir messen ganz genau die Zeit und nach fünf Minuten sehen wir, wie viel Tomo-chan und Chii gesammelt haben und gehen nach Hause. Deal, Tomo-chan?“ „Deal!“ „Dann… los!“ Und schneller, als man gucken konnte, ging das Wettsammeln weiter. „Chii-nee-chan, beeil dich!”, spornte Tomoyo ihre selbst gewählte Schwester an, emsig weitersammelnd. Fye beobachtete sie mit einem warmen Lächeln auf den Lippen, sich gegen seine schwarzhaarige Zitrone lehnend. „Siehst du, Kuro-muff? War doch kein Problem!“ „Das werden wir sehen, wenn die fünf Minuten um sind“, kam die gewohnt pessimistische Erwiderung. Aber das würde schon klappen. Bei Tomo-chan machte Fye sich da keine Sorgen. „Uuuuuund… STOP!!“, gab Fye nach exakt fünf Minuten das Signal. Kurzes Innehalten, die beiden Brombeerkörbchen der Mädchen wurden angehoben und verglichen und – „Yippiiiiieeeee!“, ertönte sogleich Tomo-chans Siegesruf. Auch auf Chiis Lippen stahl sich ein schüchternes Lächeln. Nicht, dass sie eine reelle Chance gegen Tomoyo gehabt hatte, wenn sie gleichzeitig Hatakis Leine halten und auf ihn aufpassen musste. Aber Chii war generell niemand, die sich viel aus Konkurrenz machte. „Herzlichen Glückwunsch, Tomo-chan! Teilst du deine Beute denn mit uns, wenn wir picknicken?“, fragte er mit bittendem Blick. „Natürlich!“ Wenn die Kleine eines ganz und gar nicht war, dann geizig. „Aber müssen wir echt schon gehen, Fye-ma… äh, Fye?“ „Nach fünf Minuten gehen wir zurück. Das hast du versprochen“, erinnerte er sie. „Aber es sind doch noch so viele Beeren übrig…“, entgegnete sie traurig. „Und das ist auch wichtig. Was sollen denn die ganzen Vögel, die Eichhörnchen und die Rehe essen, wenn wir alles wegsammeln?“, fragte er mit dramatischer Sorge in der Stimme. Das kleine Mädchen schwieg für einen Moment, die Augen ganz groß, und nickte entschlossen. „Stimmt!“ Und damit kam sie herüber zu ihnen auf den Wanderweg, bereit für den Rückweg. Fye warf Kurogane einen triumphierenden Blick zu, doch seine Miesmuschel zog es vor, in eine andere Richtung zu blicken. „Sitz! Sitz!!“, drang unermüdlich Tomoyos piepsige Kinderstimme an sein Ohr, während Fye mehr oder weniger entspannt an Kuroganes Seite lehnte und diesem beim Angeln zusah. Ihre kleine Campingstelle hatte wirklich alles: eine schöne Wiese, eine Feuerstelle und sogar einen kleinen Angelteich mit Steg. Und auf genau diesem hatten Fye und Kuro-wan es sich nach dem Picknick bequem gemacht und kümmerten sich nun um ihr Abendessen. Oder besser: Kuro-daddy kümmerte sich um das Abendessen und Fye tat sein Möglichstes, ihn dabei zu stören. „Schau, Kuro-blubb, ist da ein Fisch? Darf ich an der Angel ziehen?“ „Nein!“ „Aber die Angelschnur ist doch viel zu weit rechts! Wir müssen sie weiter nach links ziehen.“ Und damit war Fye drauf und dran, die Angel zu packen und sein Vorhaben in die Tat umzusetzen, wenn Kurogane nicht im letzten Moment dazwischen gegangen wäre und seine Hände gepackt hätte. „Wirst du wohl die Angel in Ruhe lassen!“ „Aber Kuro-chan, ich will doch nur helfen!“ „Du bist so hilfreich wie ein drittes Bein.“ „So eins kann man immer gebrauchen. Ein drittes Bein kann zum Beispiel-“ Doch weiter kam Fye nicht, denn sein Freund hatte seine Lippen in Beschlag genommen und ihn damit erfolgreich zum Schweigen gebracht. Diese Sprache gefiel Fye noch besser, so dass er sich nicht zweimal bitten ließ und den Kuss erwiderte. Nach einigen Sekunden löste Kurogane ihre Verbindung, ein triumphierendes Grinsen auf den Lippen. „Viel besser.“ Hm... Dem konnte er nicht widersprechen. Er sollte öfter stören. Seine Gedanken mussten ihm mitten ins Gesicht geschrieben stehen, denn Kurogane hob skeptisch eine Augenbraue und sah ihn durchdringend an. Vor einem möglichen Zur-Rede-Gestelltwerden wurde er jedoch von Tomo-chan bewahrt. „Papa, Fye, seht nur, was Hataki gelernt hat!“, rief sie aufgeregt herüber. „Oho?“, flötete Fye interessiert und drehte sich um, so dass er Kuro-pons Töchterchen und den kleinen Hund direkt ansehen konnte. Als das Mädchen sich sicher war, dass sie ihrer beider Aufmerksamkeit hatte, drehte sie sich zu ihrem vierbeinigen Schützling zurück, der sie mit wedelndem Schwänzchen und schräg gelegtem Kopf neugierig ansah. „Hataki, Sitz! Sitz! – Sitz!“ Das Köpfchen des Hundes wanderte von einer Seite auf die andere, dann trat es zwei vorsichtige Schritte auf sein Frauchen zu und stellte eine Vorderpfote auf ihren Fuß. „Nein, du sollst doch Sitz machen, Hataki. Sitz!“ Mit etwas Nachdruck drückte sie den Hund in eine sitzende Position, doch die Position hielt nicht einmal lang genug, um ein Wort des Lobes auszusprechen. Kaum, dass er auf seinen Hinterpfoten saß, verlagerte sich sein Gewicht nach rechts und das schwarze Fellknäuel plumpste auf dem Rücken, seine vier Beinchen Tomoyo entgegen gestreckt. „Nein, das ist doch nicht Sitz, Hataki. Du machst das falsch!“, tadelte sie ihn, enttäuscht, dass sie ihr Kunststück nicht vorführen konnte. „Haha, Vorführeffekt. Mach dir nichts draus, Tomo-chan!“, tröstete Fye sie lachend. „Vorführeffekt?“, wiederholte das Mädchen ahnungslos. „Immer, wenn man etwas zeigen möchte, geht es schief. Das ist ‚Vorführeffekt’“, klärte er sie auf. „Vorführeffekt“, wiederholte sie nickend. „Aber du machst das sehr gut, Tomo-chan. Wenn du so weiter übst, dann kann Hataki ‚Sitz’ bald in- und auswendig“, lobte Fye sie. „Dann üben wir gleich weiter!“, versprach sie euphorisch. „Komm, Hataki, noch mal. Sitz!“ Und so ging es wieder von vorn los. Zufrieden drehte Fye sich in seine Ausgangsposition zurück, Kurogane tat es ihm gleich. Die Nähe des anderen genießend, schweifte sein Blick gedankenverloren über das Wasser. Schade, dass es nicht immer so sein konnte… „Was ist?“, vernahm er gedämpft Kuroganes tiefe, sanfte Stimme. Sein Kuro-chan war einfach zu feinfühlig. „In einer Woche musst du zurück auf Arbeit“, konstatierte Fye. „Denkst du, du kommst zu Hause allein zurecht?“, fragte der andere besorgt. Manchmal war er auch ein bisschen übervorsichtig mit ihm. „Ja, das ist nicht das Problem. Es wird nur ungewohnt still sein, wenn du tagsüber nicht mehr da bist.“ „Einsam“ wollte er eigentlich sagen. Doch er wusste, dass das zu egoistisch wäre. „… Ich würde auch lieber noch eine Weile bleiben“, gab der Schwarzhaarige nach einigen Sekunden zurück und legte seine linke Hand auf Fyes Oberschenkel. Dieser schenkte ihm dafür ein dankbares Lächeln. „Aber früher oder später muss es ja weitergehen. Und immerhin musst du nicht mehr so lange arbeiten wie vorher“, tröstete Fye ihn – oder eher sich selbst. „Hn“, war die knappe Antwort und Kuroganes Gesichtsmuskeln verspannten sich ein wenig. Fye wusste, dass er im Grunde auch froh über die kürzeren Arbeitszeiten war, aber dass sein Chef ihn vom Einsatzdienst abgezogen und seine Einsatzgruppe jemand anders übertragen hatte, kratzte an seiner Ehre. Kurogane war alles andere als begeistert gewesen, als er erst zum Gespräch mit dem Richter und den zwei Anwälten zitiert worden war und drei Tage später dann zu seinem Chef. Das erste Gespräch musste schon schlecht gelaufen sein – jedenfalls hatte sich Kuro-grummel in einer Tour über den Anwalt der Gegenseite ausgelassen, seit er nach Hause zurückgekommen war. Die Schimpftiraden waren jedoch auf einen Schlag verklungen, als das Gespräch mit seinem Chef auch vorbei war. Das plötzliche Schweigen war richtig beunruhigend gewesen und noch immer blickte Kurogane finster drein, wann immer er an seine Arbeit erinnert wurde. Das Schlimmste am Ausgang des Gesprächs war für seinen Freund, dass sein Chef ihn dazu verdonnert hatte, psychologische Betreuung in Anspruch zu nehmen, um den Vorfall mit Stephan Dukari zu verarbeiten. Insgeheim gab Fye dem Chef in diesem Punkt aber recht. Psychologen waren ausgebildete Leute, die Leuten in solchen Situationen helfen konnten. Er merkte es auch an sich selbst. Auch wenn es weh tat, über seine Vergangenheit mit Ashura zu sprechen, half es ihm, sie langsam zu akzeptieren. Auch wenn es Passagen gab, die er nach wie vor lieber meiden wollte. Sein letzter Aufenthalt in CyberCom war eine davon und es graulte ihm gewaltig vor dem Tag, an dem er sich damit würde auseinandersetzen müssen. Doch noch war es nicht soweit und sein Therapeut hatte ihm versichert, dass sie nur über die Dinge sprechen würden, die Fye von sich aus bereit war zu diskutieren. Aber was, wenn er dieses Thema nie berühren können würde? Energisch wies er den Gedanken von sich. Er war jetzt hier im Wald mit Kurogane, Tomo-chan und Chii, sie machten einen Ausflug, um den Rest ihres langen gemeinsamen Urlaubs zu genießen und nicht, um sich von seiner festgefahrenen Vergangenheit direkt in Zukunftsängste zu stürzen. Die Augen schließend, lehnte er sich gegen Kuroganes Schultern und versuchte, ein bisschen zu entspannen. Der sanfte Arm, der sich dabei um seinen Rücken legte und ihn wärmte, half dabei ungemein. Bis zum Abendessen hatte Kurogane zwei Fische gefangen, die sie sich zu zweit teilten. Chii aß generell kein Fleisch und Tomoyo hätten keine zehn Pferde dazu bringen können, Tiere zu essen, die kurz vorher noch lebendig durch den Teich geschwommen waren. „Deine Fleischbällchen haben auch mal quiekend im Stall gestanden“, versuchte Kurogane zu argumentieren, doch das Argument stieß bei seiner Tochter auf taube Ohren. Ihre Empörung über den Fisch war jedoch vergessen, kaum dass zum Nachtisch der Teig rausgeholt wurde – unter Fyes professioneller Anleitung von Tomo-chan und Kuro-chii mehr bzw. weniger liebevoll vorbereitet – und sie sich daran machten, Knüppelkuchen zu backen. Kurogane zog es vor zuzusehen und seinem Töchterchen und Chii beim Backen zu helfen, damit ihre Teigbälle nicht als Rußklumpen endeten. Diesmal versuchte niemand, ihn zum Mitessen zu überreden. So blieb mehr für sie übrig. Die Sonne neigte sich langsam dem Horizont entgegen und der lange Tag hinterließ nun deutliche Spuren bei der kleinen Tomoyo. Noch während sie an ihrem zweiten Knüppelkuchen kaute, begannen ihre Augen zuzufallen und der gesamte Campingplatz wurde von der Ruhe des Waldes umarmt, nun, da das Spielen und Lachen des Kindes verklungen waren. „Na los, Kleines. Zähne putzen und schlafen“, entschied ihr Papa und nahm ihr den Rest ihres Knüppelkuchens ab, bevor das Kind komplett einschlief und zur Seite umkippte. „Hm~m“, murmelte der Lockenkopf nur unbestimmt und rieb sich die Augen. Sich den Kuchenrest spontan selbst in den Mund steckend – Fye machte eine mentale Notiz, dass er das rot im Kalender anstreichen musste – hob Kurogane sein Töchterchen hoch und machte sie bettfertig. Chii hatte unterdessen die Fellbürste gegriffen und sich geduldig daran gemacht, die viele Knoten vom Spielen im Wald aus Hatakis Fell zu kämmen. Zuerst hatte das kleine Hündchen deutlichen Widerstand gegen die Pflegemaßnahme bekundet, doch immer, wenn er versuchte, sich aus Chiis Armen zu winden, kraulte sie ihn an den Ohren oder am Hals und beruhigte ihn damit wieder. Es war niedlich mit anzusehen, wie das kleine Fellknäuel zwischen der Bürste und der kraulenden Hand hin- und hergerissen war und sein Widerstand immer weiter schwand, bis er schließlich einfach entspannt liegen blieb und beides genoss, als nachdem hartnäckigsten Knoten beseitigt waren. Chiis beruhigende, liebevolle Art zog nicht nur Menschen in ihren Bann, auch Tiere konnten ihr nicht widerstehen. Tiere wahrscheinlich sogar noch mehr. Sie waren unkomplizierter, unschuldiger. Tomo-chan hatte inzwischen geputzte Zähne und einen niedlichen Hausanzug mit Hasen-Bildern darauf an. Definitiv eine der Sachen, die Souma für sie ausgesucht hatte. Wäre es die letzten Jahre nur nach Kuro-blacky gegangen, hätte sie wahrscheinlich nichts anderes als Grau, Weiß oder Schwarz im Schrank. Maximal vielleicht noch etwas in Dunkelrot. Das war die einzige Farbe, die Fye bisher bei seinem Stilmuffel im Kleiderschrank entdeckt hatte. In Zukunft musste er das auf jeden Fall ändern. Mit seinem Töchterchen auf dem Arm kam er heran und unterbrach Fye in seinen Gedanken, als es gerade anfing, lustig zu werden. „So, Kleines, dann sag noch ‚Gute Nacht’ zu allen.“ Doch statt einem „Gute Nacht“ fragte sie: „Kann Chii-nee-chan mitkommen?“ „Gern. Ich putze auch Zähne“, erwiderte sie leise und stand auf. Hataki warf ihr sofort sehnsüchtige Blicke nach. Chii schlug Tomoyo wirklich keinen Wunsch aus. „Kann ich noch so lange bei euch bleiben, Papi?“, fragte sein Töchterchen weiter. „… Na schön“, stimmte der Papa zu und setzte sich zurück auf seinen Platz neben Fye. „Da können wir morgen ganz viele tolle Bilder für unser Tagebuch malen, was, Tomo-chan?“, schlug Fye vor. „Au ja.“ Ihre Antwort war zwar von der Müdigkeit gedämpft, aber dennoch konnte man die Vorfreude darauf heraushören. Die Tagebücher waren in den letzten Wochen zu ihrem gemeinsamen Hobby geworden und füllten bereits eine beachtliche Zahl an Seiten. Tomo-chan malte sie in erster Linie für ihre Freunde im Kindergarten, die im Moment von Sakura-chan und Souma betreut wurden. Tomoyos ehemaliges Kindermädchen war kurzerhand als Aushilfe für Fye eingesprungen, als Yuuko sie darauf angesprochen hatte. Tomo-chan hätte natürlich auch zurück in den Kindergarten gehen können. Es war nicht so, dass Kurogane es ihr verboten hatte. Aber sie bestand darauf, gemeinsam mit Fye zurückzugehen, wenn er wieder gesund war. Das ließ Fye immer wieder ein schlechtes Gewissen bekommen. Er wollte dem kleinen Wirbelwind diesen Wunsch gern erfüllen und natürlich vermisste er selbst seine kleine Bande und Sakura-chan auch, aber… Wenn Kurogane nun bald wieder arbeiten ging, würde er in Zukunft definitiv allein in den Kindergarten gehen müssen. Im Moment müssten sich die Kinder dann eher um ihn kümmern als umgekehrt. Und auch wenn er vielleicht irgendwann seine Angst besiegen konnte, wusste er nicht, wie lange er dafür brauchen würde. Was, wenn Tomo-chan schon zur Schule ging, bis er wieder arbeiten konnte? Wenn sie ihre Freunde dann gar nicht mehr wiedersah…? „Fye-mama… Erzählst du mir eine Gute-Nacht-Geschichte?“ Oh! Das war erstaunlich. Und so, wie Kuro-daddy dreinblickte, überraschte es ihn genauso. Geschichten erzählen war eigentlich allein sein Vorrecht. „Wenn der Papi nichts dagegen hat“, witzelte er ein wenig. „Die Mami kann das auch gern machen“, gab der andere sein Okay, ohne die Gelegenheit für die kleine Stichelei ungenutzt zu lassen. Fye warf ihm einen bösen Blick zu, der, wie immer, ignoriert wurde. Als Chii fertig war, setzten sie sich zu dritt ins Auto, Hataki sprang ihnen hinterher auf den Rücksitz und machte es sich zwischen Tomoyos Kindersitz und Chiis Beinen bequem. „Welche Geschichte möchtest du denn hören, Tomo-chan?“, fragte Fye. „Eine neue Geschichte.“ „Eine neue Geschichte…“, wiederholte er nachdenklich. „Hm… Kennst du schon die Geschichte von den zwei Prinzen im Schneeland? Der eine Prinz wurde vom Schneekönig entführt und sein Herz in Eis verwandelt, aber sein Bruder ist losgezogen um ihn zu retten und konnte sein Herz wieder erwärmen.“ „Sind es nicht ein Mädchen und ein Junge und eine Schneekönigin?“, fragte Chii ihn. „Die Geschichte gibt es in verschiedenen Varianten. Ich mag die mit den zwei Prinzen am liebsten“, erklärte Fye ihr. „Ich kenne beide nicht“, meldete sich Tomoyo, die Müdigkeit ein Stück weit aus der Stimme verdrängt und ihn erwartungsvoll anblickend. „Dann erzähle ich sie jetzt euch beiden. Also: Es war einmal vor langer, langer Zeit, im fernen Schneeland Ceres. Da lebten zwei Prinzen, Zwillinge, die sich näher waren als jeder andere auf der Welt. Sie waren wie eine Seele in zwei Körpern und nur dann vollständig, wenn sie zusammen waren…“ So begann Fye sein Märchen und Tomo-chan und Chii lauschten gespannt. Er erzählte, wie unzertrennlich die Prinzen waren, bis eines Tages die dunkle Magie des herzlosen Schneekönigs sie entzweite. Ein magischer Spiegel war ihm zerbrochen und einige Splitter in das Herz und Auge des einen Zwillings gedrungen. Dieser veränderte sich daraufhin, wurde kalt und böse und eines Tages, als er beim Spielen den Schneekönig auf einem Schlitten vorbeikommen sah, stieg er in dessen Kutsche und ließ sich von ihm entführen, in seinen Palast ganz aus Eis im hohen Norden. Dort verzauberte der König den jungen Prinzen vollends, so dass dieser alles vergaß, sogar seinen geliebten Bruder, und fortan als gefühllose Hülle im Eispalast des Schneekönigs lebte. Seinem Bruder brach das Herz, sein zweites Ich so zu verlieren, und so beschloss er, nach ihm zu suchen. Die Blumen und Tiere und liebe Menschen halfen ihm auf seiner Reise, so dass er schließlich den Weg zum Schloss des Schneekönigs fand und seine Liebe den eisigen Zauber schmolz, der die Seele seines Bruders gefangen gehalten hatte. Nun konnten sie gemeinsam aus dem Palast fliehen und nach Hause zurückkehren, wo sie für den Rest ihres Lebens gemeinsam glücklich lebten. „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“, beendete Fye sein Märchen. „Deine Version der Geschichte ist auch sehr schön“, fand Chii. „Ja, wirklich schön“, stimmte Tomoyo ihr zu. „Chii-nee-chan, erzählst du mir deine Geschichte auch? Mit dem Mädchen und dem Jungen?“ „Morgen, okay? Jetzt ist Zeit zu schlafen“, vertröstete Fye sie. „Hm-hm“, nuschelte das Mädchen zustimmend und kuschelte sich enger an Chiis Seite. Fye wollte den Mädchen gerade eine gute Nacht wünschen, als Tomoyos müde Stimme sich noch einmal meldete. „Fye-ma-, äh, Fye? Warum sind in deinem Märchen eigentlich kein Prinz und eine Prinzessin?“ „Warum sollten es denn Prinz und Prinzessin sein, Tomo-chan?“, fragte er zurück. „Na ja, ich dachte, Märchen haben immer ein Mädchen und einen Jungen“, erklärte sie. „Ich denke, das ist gar nicht so wichtig. Wichtig ist, dass es liebe Menschen sind, die sich gegenseitig helfen und für einander da sind. Meinst du nicht auch?“ „Ja…“, stimmte sie zu. Eigentlich war das gerade eine gute Gelegenheit, fand Fye. Wenn sich die Kleine mit der Frage nach Jungen und Mädchen beschäftigen wollte, könnte er doch mal versuchen, ihr das mit dem „Mama“ zu erklären. „Genauso ist es auch bei Eltern. Die meisten Kinder haben einen Papa und eine Mama, aber manche Kinder haben eben zwei Papas oder zwei Mamas. Wichtig ist nur, dass sich alle ganz doll lieb haben.“ „Aber Papa sagt auch ‚Mama’ zu dir“, wandte das Kind ein. „Das meint der Papa aber nicht ernst. Er will mich bloß ärgern“, beschwerte er sich halb ernst über den Doof-Papa. „Dann...kann ich ‚Fye-papa’ sagen?“, fragte das Mädchen unsicher. Uff. Tomo-chan war schon ein harter Brocken. „Na ja… Das… ist irgendwie auch ein bisschen komisch, Tomo-chan“, setzte er hilflos zu einer Antwort an. Fye wusste wirklich nicht, ob diese Alternative besser war. Okay, besser vielleicht schon, aber von ‚gut’ immer noch meilenweit entfernt. „Nur Fye?“, fragte sie ein wenig zweifelnd. „Einfach nur Fye. Das ist am besten, ja“, bestätigte er ihr. „Und wenn Papa und du noch ein Kind bekommen?“, fragte sie weiter. Fye musste sich zusammenreißen, um nicht loszuprusten. Die unschuldige Art, mit der sie das fragte, war einfach zu süß. „Das geht wohl nicht, Tomo-chan. Das geht nur mit einer Mama und einem Papa“, erklärte er ihr. „Aber wir haben dich und Chii und mit euch sind wir glücklich.“ Bei der Erwähnung von Chii begann die Kleine, das ältere Mädchen zu mustern. „Chii-nee-chan sagt auch nicht ‚Papa’ zu dir. Wo sind denn ihre Mama und ihr Papa?“ Fye lächelte ein wenig und strich ihr durchs Haar, um sein Unbehagen zu überspielen. Es war nicht sein Recht, darüber zu sprechen. Und Tomoyo könnte es sicher noch nicht verstehen. „Ihr seid meine Familie“, antwortete Chii in ihrer gewohnt leisen Stimmlage anstelle von Fye. „Fye, Kurogane-san und du, Tomo-chan.“ Tomoyo sah das stille Mädchen einige Augenblicke aus großen Augen an, als sei ihr gerade etwas klar geworden. „Ich bin froh, dass du jetzt meine große Schwester bist, Chii-nee-chan.“ „Ich bin auch froh, dass du meine kleine Schwester bist.“ Die zwei konnten auch das kälteste Herz zum Schmelzen bringen, dachte sich Fye. Er wünschte ihnen beiden eine gute Nacht und verließ dann leise das Auto. Kurogane hatte in der Zwischenzeit angefangen, ihre Sachen zusammenzuräumen. Gerade verfeuerte er ihre Pappteller vom Abendessen an die Reste des Lagerfeuers. Als er Fyes Herannahen bemerkte, sah er fragend in seine Richtung. „Das war aber eine lange Gute-Nacht-Geschichte.“ „Eine Gute-Nacht-Geschichte und ein kleiner Exkurs über Geschlechterrollen in der Familie. Vielleicht sollten wir den auch mal durchgehen“, kommentierte Fye, doch Kurogane ging nicht darauf ein. „In 15 Minuten bin ich fertig, dann können wir los“, antwortete er nur. Fye beschloss, das Thema ebenfalls fallen zu lassen. Er fühlte sich gerade so entspannt und ausgeglichen, dass er keine Lust auf Sticheleien oder Streit hatte. Früher oder später würde es Kurogane schon langweilig werden, wenn er den Beinamen lange genug ignorierte. „Ich helfe dir“, bot er an und blickte sich um, was es eigentlich noch zu tun gab. „Aber pass auf dich auf. Die Tasche nehme ich.“ „Natürlich!“ Ah, die Angel lag noch am Steg. Die konnte er ja verstauen – oder erst mal einholen, denn die Angelschnur hing immer noch vergessen im Teich. Fye begann gerade zu kurbeln, als er ein Zucken am Faden bemerkte. „Kuro-chii? Ich glaub, da hat noch was angeb-“ In dem Moment wurde er von einem erneuten Ruck unterbrochen, diesmal so kräftig, dass er mitsamt der Angel einen unfreiwilligen Hechtsprung ins Teichwasser machte. Schmerz explodierte in seinem Körper, als seine Wunden unter der plötzlichen groben Bewegung aufschrien und eisige Wellen ihn unter sich begruben. Für einen Moment verlor er die Orientierung, dann spürte er den Teichboden im Rücken, oben und unten kehrten in ihre Position zurück und die Kälte, die ihm gerade noch die Luft aus den Lungen zu drücken gedroht hatte, stach zwar immer noch in seine Haut, begann gleichzeitig aber, ein wenig wohltuend seine frischen Narben zu kühlen. Gerade als Fye das Gefühl hatte, wieder Herr der Lage zu sein, war das Wasser um ihn verschwunden und er fand sich in den Armen eines ebenfalls von oben bis unten triefenden Kurogane wieder, der ihn mit schreckgeweiteten Augen anstarrte, das schnelle Pochen seines Herzens deutlich an seiner eigenen Brust spürend. „Bist du verletzt? Ist eine der Wunden aufgerissen?“ Die Stirn in Falten gelegt, musterte er in schneller Abfolge Fyes Gesicht und Körper, wahrscheinlich, um nach verdächtigen Blutflecken Ausschau zu halten. Aber der kurze Schmerz von seinem weniger eleganten Sprung war bereits verklungen und aufgeplatzt war erst recht nichts. Ein rohes Ei war er ja nun auch wieder nicht. „Kuro-muu, du übertreibst“, maulte er ob der übertriebenen Alarmiertheit seines Freundes. „Sieht das Wasser so aus, als würde es einen verprügeln, wenn man hineinspringt?“ „Das ist nicht witzig! Du weißt genau, wie gefährlich hektische Bewegungen für deinen Körper sind!“, beschwerte sich der Hitzkopf, Fyes indirekte Bestätigung, dass er okay war, ignorierend. Oder dadurch ermutigt, dass er sich mit seinem Gemecker nicht zurückhalten musste. „Ist es mein Körper oder deiner? Ich werd ja wohl wissen, wie viel ich aushalte!“, gab Fye scharf zurück. „Warum nur fällt es mir so schwer, das zu glauben, wenn ich sehe, wie du auf dich aufpasst?“, kam die sarkastische Antwort. „Ach, aber du bist besser, ja? Springst ohne Nachzudenken kopfüber in nen Teich, Anfang Dezember, und machst nicht mal Anstalten wieder rauszugehen! Du hättest sonst wo dagegen stoßen können!“ „Wenn du nicht mit den Fischen gespielt hättest, hätt’ ich nicht hinterher springen müssen! Und im Gegensatz zu dir kann ich sehr wohl auf mich aufpassen!“ „Ach? Und warum stehst du dann immer noch hier? Bist du scharf auf ’ne Lungenentzündung?“ „Lenk nicht ab! Hier geht’s um was ganz anderes!“ „Ich lenk nicht ab!“ »Ich mach’ mir einfach Sorgen um dich!!« Stille. Den letzten Satz hatten sie sich gleichzeitig um die Ohren gedonnert. „Pffft!“, entkam es Fye. Er bekam auch Kuroganes unterdrücktes Grinsen mit, auch wenn dieser gerade seinen Kopf wegdrehte und sich nun endlich daran machte, aus dem Teich zu waten, Fye immer noch fest in seinen Armen, gerade so hoch, dass er das Wasser nicht mehr berührte. Da hielten sie sich hier umschlungen, bauchtief im Wasser und hatten nichts Besseres zu tun, als sich anzuzicken. Die Fische hielten sich wahrscheinlich grad alle die Bäuche vor lachen. „Tut mir leid, dass ich dir Sorgen gemacht habe“, lenkte Fye ein. Sein überbesorgter Freund warf ihm einen versöhnenden Blick zu. „Sorry, dass ich dich angefahren habe. Bist ja nicht mit Absicht baden gegangen.“ Endlich waren sie raus aus dem Wasser. Nur wirklich wärmer wurde es trotzdem nicht. Anfang Dezember, noch dazu nach Sonnenuntergang, war das einfach nicht mehr zu erwarten. „Und was machen wir jetzt? Wir haben keine trockenen Klamotten mehr“, überlegte Fye laut. Nicht, dass er ernsthaft erwartete, Kuro-wuff könnte irgendwas aus dem Nichts herzaubern, aber er wollte sich einfach noch ein wenig unterhalten. Nur war sein wortkarger Freund nach wie vor kein Fan von Smalltalk, so dass er ihm eine Antwort auf diese Frage schuldig blieb. Stattdessen legte er Fye in der Nähe des Feuers ab, warf die letzten dickeren Äste hinein, die noch daneben bereitgelegen hatten, und ging zum Auto. Kurz darauf kam er mit einer flauschigen Decke unterm Arm zurück, deren Farbe und Muster so gar nicht zum großen Schwärzli passen wollten. „Ob du die dir einfach so ausleihen darfst?“, witzelte Fye. „Die Kleine wird’s überleben. Außerdem schläft sie sowieso.“ Die Kombination rosarot mit Hasenmuster und Kuro-chan wurde für gut befunden. Jetzt wusste Fye, was er seinem Grummel zum Geburtstag schenken konnte. Die Decke neben sich ablegend, setzte er sich zurück zu Fye, zog sein klitschnasses T-Shirt aus, wrang es aus und hängte es über einen der Stöcke, die sie vorhin für den Knüppelkuchen benutzt hatten, möglichst nah an das neu auflebende Feuer. Eigentlich keine schlechte Idee, fand Fye, und begann, sich seiner nassen Sachen ebenfalls zu entledigen. Mit der Jacke ging das noch ganz gut, aber sein Pulli war schon schwieriger, so vollgesogen mit Wasser. Seine Arme wollten einfach nicht richtig mitmachen. Ergeben seufzend legte Kurogane seine Hände an Fyes Arme, um ihn zum Stillhalten zu bringen und dann die begonnene Arbeit zu beenden. Nachdem alles provisorisch an den Stöcken aufgehängt war, warf er Tomo-chans flauschige Decke um ihre Schultern. Seine Haut wurde gleich spürbar wärmer. Nur seine Beine waren immer noch eiskalt und seine Hose fing langsam an, unangenehm zu kratzen. Na ja, da musste er jetzt wohl durch. – Oder auch nicht. Zumindest schien Kuro-wan das zu denken, denn der schwarzhaarige nestelte als nächstes an seiner Hose rum und fing an, sich diese ebenfalls von den Beinen zu ziehen. „Kuro-pervy, geht das nicht ein bisschen weit? Die Kinder sitzen da hinten im Auto“, gab Fye zu bedenken. „Erstens: Es ist dunkel und die sehen von da hinten aus eh nichts. Hinter der Decke sowieso nicht. Zweitens: Sie schlafen“, antwortete der plötzliche Hobby-Nudist ungerührt. „Chii auch?“ „Hn.“ Na gut, aber… So richtig wohl war Fye dabei trotzdem nicht. Auch wenn seine Beine es ihm mehr als gedankt hätten. Dass die Kinder JETZT schliefen, hieß ja nicht, dass es DURCHGEHEND so blieb, bis ihre Sachen halbwegs getrocknet waren. „Was denn?“, fragte sexy Kuro spöttisch. Fye betrachtete ihn verstohlen von der Seite. So ohne Hose… Das war definitiv kein schlechter Anblick. „Warst du vorhin nicht noch so scharf drauf, mir deine Männlichkeit zu beweisen?“ Die roten Augen seines Freundes funkelten vor Spott. Oho, da wurde jemand übermütig! Ein Grinsen zuckte über Fyes Mund. Herausforderung angenommen. Finish~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)