Der Gaukler von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 2: Hier im Hof der Wunder… ---------------------------------- Der Hof, das Zuhause jener Zigeuner, die es seit Jahrzehnten verstanden, sich vor dem Gesetz zu verstecken, lag in einer unterirdischen Höhle, die nur über eine Treppe erreicht werden konnte, die unter einem Grabdeckel aus Stein des hiesigen Friedhofes lag. Der junge Mann hatte nicht die geringste Idee, wieso er das wusste, doch es war ihm egal. Sicher würde man ihm dort Unterschlupf gewähren können. Leise tapsend, fortschreitend und verängstigt den Blick über jeden in der Grube liegenden Totenkopf gleiten lassend, bewegte sich der Junge voran, das schreiende Säuglingskind auf seinem Arm. Es war ein Mädchen, da war er sich mittlerweile ganz sicher. Er hatte es nicht überprüft, dafür war er viel zu verlegen, zu zurückhaltend und vielleicht auch ein wenig zu moralisch erzogen für einen Streuner. Doch diese Augen, die ihn in einer Pause des Weinens groß ansahen, konnten nur einem Mädchen gehören. Immer wieder sprach er zu der Kleinen, bat sie, doch still zu sein, man könne sie noch hören. Andererseits verschaffte es vielleicht Sympathie, wenn man einen jungen Mann mit Säugling vorfand. Sicherlich würde man einem solch hilflosen Eindringling nichts antun. Zumindest hatte das der junge Mann gehofft. „Ergreift ihn!!“ Erschrocken drehte der Junge sich um und sah nach allen Seiten, doch ehe er in jeglicher Weise anders reagieren konnte, zwang man ihn zum stillstehen und hatte ihn umzingelt. Ohne Rücksicht auf sein Alter, seinen Zustand oder dergleichen, entrissen sie ihm das Kind aus den Armen und schlugen ihn gewaltsam zu Boden. Er warf sich hilflos die Arme über den Kopf und krümmte sich zusammen, als sie nicht aufhörten, ihn zu schlagen und zu treten. Er spürte bereits den bitteren Geschmack von Blut in seinem Mund, da kam ein letzter kräftiger Tritt von vorne auf ihn zu, der sich in seinem Magen vergrub und ihn noch ein letztes Mal laut aufschreien ließ. Danach überkam ihn die Dunkelheit. Stunden später erwachte er endlich wieder aus einer tiefen Ohnmacht und wirkte noch benommen und verstört, als er sich umsah. Er befand sich in einem normalen Raum, nicht in einer Art Zelle, wie er es befürchtet hatte. Neben seinem Bett ruhte eine ältere Frau in einem antiken Schaukelstuhl und schien zu schlafen. Dieses Gefühl, dass man ihn nicht tatsächlich festgenommen hatte, wunderte ihn und löste Unbehaglichkeit in ihm aus. Der Versuch, aufzustehen, sollte kläglich scheitern. Sein gesamter Körper tat noch mehr weh, als am Abend zuvor. Als er sein schmutziges Hemd etwas anhob, präsentierten sich ihm riesige, blaue Flecken und einige furchtbar aussehende Blutergüsse. Er hatte das Gefühl, dass man ihm jeden Teil seines Körpers zermalmt hatte und jede seine Bewegungen stimmte ihm zu dieser Vermutung zu. Er wagte es nicht, einen zweiten Versuch zum Aufstehen zu starten, sondern blieb liegen und starrte an die Decke über sich. Der Raum war sehr hoch und unter der Decke hingen bunte Tücher, die teils Gegenstände wie Kleider und ähnliches beinhalteten, teils aber auch nur zur Zierde gut zu sein schienen. Rot, violett, blau, gelb. Alle möglichen Farben verbanden sich zu einem großen, kunterbunten Bild, das dem Jungen gefiel. Bunte Farben bedeuteten Fröhlichkeit. Doch was dann der Überfall auf ihn zu bedeuten hatte, blieb ihm vorerst ein Rätsel. Als er seinen Kopf behutsam zu der Frau neben sich drehte, fiel ihm auf, dass auch sie in dieselben, bunten Stoffe gewickelt war, die an der Decke hingen. Sie hatte sich ein rotes Tuch um den Kopf gebunden, einige ihrer fast schon schwarzen Haare schauten darunter hervor, ein Teil davon war zu einem Zopf geflochten. Ihre Kleidung war freizügig, beinahe etwas légère, und betonte ihre mollige Figur. Trotzdem, obwohl sie so ganz anders gekleidet war, als der junge Mann es von den Frauen von Paris gewohnt war, gefiel sie ihm aus irgendeinem Grund. Es war nicht so, dass er sie besonders anziehend fand, nein, sie strahlte einfach eine gewisse Ruhe und Gemütlichkeit aus, die er seit langem so nicht mehr erlebt hatte. Da wachte sie auf und lächelte ihn gutmütig an. Ohne vorher an etwas anderes zu denken, schien ihr eine Frage brennend auf den Lippen zu liegen. „Wie heißt du?“ Der Junge erwiderte ihr Lächeln zögerlich. „Ich heiße Clopin.“ „Was bildet ihr euch eigentlich ein??“ Aufgebracht lief der alte Zigeuner auf und ab, als diese Truppe von nutzlosen Wachposten sich ihm keiner Schuld bewusst, nein, sogar fast eher stolz auf ihren Fang waren. „Wir haben das Kind geschützt, Tertulienne!“, verteidigte sich einer der Männer, ein großer, stämmiger Kerl, der dem Jungen, der soeben aufgewacht und sich als Clopin vorgestellt hatte, den Gnadenstoß in die Magengrube verpasst hatte. Folgend zu seiner Aussage, hielt der Schrank nun das kleine Bündel mit dem immer noch weinenden Kind hoch. Ihr Anführer erschrak fürchterlich und nahm es ihm ab. Ohne ein weiteres Wort an diese Gruppe von Chaoten zu verschwenden, ging er und sah zu, dass dieses arme Geschöpf in seinen Armen verpflegt wurde. Doch er wurde sogleich von einigen aus der Truppe verfolgt, die wie Wilde auf ihn einredeten. Sie hätten nur das Beste gewollt, hätten nur an das Wohl des Kindes gedacht, und dergleichen. Tertulienne schien dies jedoch nur noch mehr zu erzürnen. Er fuhr herum und schrie seine Männer ungehalten an: „Das Wohl des Kindes?? Habt ihr schon daran gedacht, dass der Mann, der bei dem Kind war, nach Hilfe gesucht hat?? Was ist das für ein Empfang im Hof der Wunder? Ein wildes Zusammenschlagen? Hat er das verdient?? Du meine Güte, der arme Junge! Meine Güte, der arme Junge!“ Als er weiterstürmte und nicht aufhörte, vor sich her zu murmeln, schienen die Männer ein schlechtes Gewissen zu bekommen. Ihre großen Pranken falteten sie vor dem Bauch und ihr sonst so aggressiver Blick wurde sanft und wich zum Boden. Sie hatten die Verzweiflung ihres Königs verstanden und hatten ebenso verstanden, dass sie etwas Schreckliches getan hatten. „Wie alt bist du?“ Die Frau hatte sich immer noch nicht vorgestellt, als sie mit dem jungen Mann sprach und immer mehr und mehr über ihn erfahren wollte. Sie war eine Person, die es nie Leid wurde, Neues zu erfahren. Und besonders bei einem so hübschen jungen Mann wie dem Neuling Clopin hier vor ihr, wurde sie wieder schwach. Als der aber nicht auf ihre letzte Frage antwortete, seufzte sie und wiederholte sie etwas ungeduldig. Ihre langen Fingernägel ließ sie immer wieder auf die Lehne des Stuhls tippen. Clopin beobachtete dies einige Zeit schweigend und interessiert. Ihre Nägel waren schon ganz kaputt und trotzdem hatte sie sie noch nicht abgeschnitten. Ob das nun ein Zeichen der Schönheit sein sollte, wagte der junge Mann aber zu bezweifeln. Sie sahen nicht so aus, als würde man sie zur Zierde der schönen Hände tragen, sondern nur nach einer unausweichlichen Bedingung, da ihr Besitzer keine Zeit aufbringen konnte, sie zu kürzen. „Junger Mann!“ Gerade zuckte der Angesprochene zusammen und wollte antworten, da begann seine Gegenüber auch schon lauthals und sehr herzlich zu lachen, wobei sich ihr dicklicher Körper dabei auf und ab bewegte. „Wie du dreinschaust! Beruhige dich, dir wird niemand mehr etwas tun. Und nun“, sie kicherte noch einmal kurz auf, „wie alt bist du?“ Noch einmal schweig Clopin kurz. Sie erkannte seine Bedenken schnell und stand auf, um sich nach wenigen Schritten wieder neben ihm auf der klapprigen Liege niederzulassen. „Ich frage nur aus Neugierde. Du musst ein junger Vater sein.“ Der Junge erschrak fürchterlich, als er verstand, worauf die Frau hinaus wollte. Hilflos winkte er ab und stotterte vor sich her: „Sie ist nicht mein Kind! Ich habe sie nur auf der Straße gefunden und…“ Die Frau unterbrach ihn mit einem lachenden Unterton: „Und du wolltest herkommen, um um Hilfe zu bitten, nicht?“ Ehe er darauf etwas antworten konnte, stöhnte sie auf und schlug die Hände zusammen. „Du armer Junge! Du suchst Hilfe und bekommst Prügel von einem Haufen Dummköpfe!“ „Pass auf, was du sagst, Germaine, du kennst doch Tertulienne. Wenn er dich so hört, hängt er dich noch wegen Meuterei!“ Beide, sowohl die Frau als auch Clopin fuhren zur Tür herum, wo ein junger Mann stand, der wohl unwesentlich älter als der vor kurzem Eingetroffene selbst war, dafür aber ein reichlich loses Mundwerk zu haben schien. Nun wusste Clopin aber wenigstens, und dafür war er dankbar, dass die Frau, die die ganze Zeit mit ihm gesprochen hatte, Germaine hieß. Und wer er nun wiederum war, würde er sicherlich auch gleich erfahren. Ja, zuverlässig wie erwartet, deutete Germaine auf den Jungen. „Das ist Homer. Homer, das ist Clopin.“ „Wie geht’s?“, fragte Clopins Gegenüber, was aber wohl eine Frage gewesen war, auf die es keine Antwort brauchte, denn kaum dass er antworten wollte, wandte sich Homer wieder zu der Frau und stemmte die Hände in die Hüfte. „Tertulienne will den Jungen sprechen.“ Kaum auf dem unterirdischen Marktplatz angekommen, auf dem großes Gedrängel von hunderten von Zigeunern herrschte, kam Clopin auch schon ein alter Mann entgegen, graue, lange Haare, jedoch halb kahl auf dem Kopf, und diese übrig gebliebenen Haare zu einem Zopf gebunden. Er trug goldene Kreolen und ein buntes Kostüm, ähnlich wie andere hier, nur eleganter, auffälliger. Sicherlich war er nicht irgendjemand. Das alles war Clopin aber egal, als er das kleine Bündel auf seinem Arm entdeckte. Erleichtert ging er zu dem Mann und zögerte zwar, doch sein Gegenüber wusste auf den Punkt, was er wollte, also übergab er ihm das Kind nur lachend. Und Clopin schien sichtlich erleichtert zu sein, dass es ihr gut ging. Ja, sogar mehr als gut. Sie schlief – es war ihm ein Rätsel, wie sie das bei diesem Lärm hier vollbrachte – und ihre Wangen waren nicht mehr blass, sondern in einem kräftigen Rot gefärbt. Ihr Atem veranlasste ihren winzigen Körper dazu, ihre Brust schwer auf und ab zu heben, doch es fiel ihr scheinbar bei Weitem leichter als noch wenige Stunden zuvor. Sie war wieder gesund. So sehr Clopin eben auch seine Schmerzen geplagt hatten, umso zufriedener war er nun und umso weniger dachte er noch an seine Wunden. Und Tertulienne wurde richtig warm um sein Herz, als er diese Zuneigung zwischen den Beiden sah. Während Clopin die Kleine hin und her wog, wandte sich Germaine an ihren Herrn. „Er hatte nie böse Absichten.“ „Ich weiß“, antwortete Tertulienne und sein Lächeln weitete sich über sein ganzes Gesicht aus. „Er ist ein guter Junge.“ Der junge Homer, der einige Meter von dem Geschehen entfernt stand, rieb sich freudig die Hände und kicherte in sich hinein. „Mal sehen, wie lange das noch so bleibt!“ Tertulienne bat Clopin um Verzeihung und rechtfertigte sich für seine Männer, die dem jungen Mann einen so kalten Besuch erwiesen hatten. Doch der schien das kaum noch bedacht zu haben. Er wandte sich längst wieder dem Säugling in seinen Armen zu und dachte nur daran, dass es ihr gut ging. Und das ging es ihr, auch als sie aufwachte und munter durch die neue Gegend blickte, die sich ihr zeigte. „Eine Zigeunerzuflucht“, so beschrieb Germaine nun offiziell das, was Clopin längst erkannt hatte. Der Hof der Wunder war bei den meisten Menschen bekannt, doch nur wenige wussten, wo er lag. Clopin war einer von diesen Wenigen und nicht einmal ein Zigeuner, und das war es wohl gewesen, was Tertuliennes Gefolgsleuten verdächtig erschienen war. Wie dem auch sei, Tertulienne nahm Clopin und das Kind jedenfalls mit Freuden bei sich auf. Seine Ehre verbat es ihm, sie zurück auf die Straße zu schicken, außerdem stand der Hof der Wunder jedem offen, der Hilfe brauchte – so hatte man es zumindest erdacht. Dass nun einige Männer aus der Reihe tanzen mussten und hilflose Leute angriffen, hatte niemand ahnen können, am allerwenigsten aber der gutmütige Clopin. Dies war wohl mit ein Grund, dass er sich in der langen Zeit, in der er sich im Hof befand, veränderte. Eigentlich hatte er nur eine Unterkunft für das Mädchen gesucht, doch nun, da er verwundet war und sein Hab und Gut von diesem frechen Straßenjungen gestohlen worden war, beschloss er, das Angebot von Tertulienne, dem König der Zigeuner, anzunehmen und einige Tage hier zu verweilen. Das Kind, das er gefunden hatte, hatte einen Zettel bei sich gehabt. Clopin schien überrascht zu sein, als Germaine ihm selbigen in die Hand drückte und mit den Worten „Das hattest du bei dir“ bestätigte, dass er ihn wohl doch noch beiläufig eingesteckt haben musste, bevor er mit dem Kind vor dem Wachmann geflohen war. Auf dem Zettel war in wenigen Worten eine Nachricht geschrieben: „Er nennt sie Carbóna. Doch sie schön. Ihre Augen. Ich nennt sie Esmeralda.“ Wie es schien, beherrschte die Person, die den Zettel beschriftet hatte, die französische Sprache nur spärlich. Den Namen nach zu urteilen schien der Brief von einem Südländer oder dergleichen verfasst worden zu sein. Der Wunsch, den diese Person aber gehabt hatte, war ihnen allen klar: Das Kind sollte nicht Carbóna heißen, wie es jemand anders gewollt hatte, sondern Esmeralda, der Diamant. Ihnen allen war nach einem Blick in ihre strahlend grünen Augen klar, wie der Verfasser auf die Idee zu dem Namen gekommen war. Und so war es beschlossen. Das Kind würde vom heutigen Tage an auf den Namen Esmeralda hören. Tage. Ja, Clopin erinnerte sich an sein Vorhaben. Er würde noch einige Tage hier bleiben, bis seine Wunden geheilt waren und er sich einen kleinen, ehrlichen Vorrat an Nahrung erarbeitet hatte – er wollte nichts geschenkt bekommen – und dann weiter ziehen. Doch aus den vorgenommen Tagen wurden Wochen. Aus den Wochen wurden Monate. Und aus vielen, vielen Monaten wurden letzten Endes zehn lange Jahre. Zehn Jahre, in denen Clopin sich als ein aufgeweckter Junge, später als ein heiterer Mann erwies, in denen er in Homer einen seiner besten Freunde fand, der aber wenige Jahre später, fünf, um es präzise zu sagen, fort ging, um neue Länder kennen zu lernen. Es waren ebenso Jahre, in denen Tertulienne eine Art Mentor für ihn wurde und in denen er die bezaubernde kleine Esmeralda aufwachsen sah. Und als er das Gefühl hatte, dass er nun endlich hätte gehen können, was seine Mittel betraf, war es zu spät. Der Hof der Wunder war zu seinem neuen Zuhause geworden und er würde es nicht über sein Herz bringen, diesen Ort für immer zu verlassen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)