Die Welt im Wandel von Nochnoi (Oneshot-Sammlung zu "Dunkelheit/Vergeltung") ================================================================================ Kapitel 1: Von Kindern und Wölfen --------------------------------- Florenz, Italien (1984): „Du willst uns umbringen, oder?“ Sharif knirschte mit den Zähnen, während er Necroma vorwurfsvoll musterte. Diese saß auf einer furchtbaren neongrünen Couch und betrachtete interessiert ihre Haarspitzen. Sharifs stechenden Blick nahm sie überhaupt nicht zur Kenntnis. „Will ich das?“, fragte sie unbekümmert. Sharif war kurz davor auszurasten. Es geschah selten oder im Grunde so gut wie gar nicht, dass er mal die Beherrschung verlor, aber Necroma war einfach jemand, der die Nerven seines Gegenübers extrem reizen konnte. Normalerweise ließ sich der Ägypter eigentlich nicht von ihr aus der Ruhe bringen, wie verrückt oder seltsam sie sich auch manchmal benahm, doch nun war sie eindeutig zu weit gegangen! „Du kannst doch nicht einfach ein Kind entführen!“, meinte Sharif wütend. Sein Blick fiel auf den etwa fünfjährigen Jungen, der neben Necroma saß und diese mit offenem Mund musterte. Es war nicht ganz zu ersehen, ob er sie für wahnsinnig oder für faszinierend hielt, aber auf jeden Fall hatte er schon seit mehreren Minuten nicht den Blick von ihr wenden können. „Ich entführe doch niemanden“, entgegnete Necroma. Sie lächelte den Jungen an und strich ihm sanft über die Haare. „Ich habe Jake gefunden und mitgenommen.“ Jake sagte daraufhin nichts, immer noch starrte er Necroma unverhohlen an, als hätte er noch nie zuvor in seinem Leben etwas Vergleichbares gesehen. Sharif seufzte bloß auf. Als Tessa, eine von Necromas Clanmitgliedern, ihn vor gut einer halben Stunden angerufen und ihn gebeten hatte, sofort zu der kleinen Wohnung zu kommen, die sie und ihre Sippe besetzt hatten, war der Vampir bereits stutzig geworden, aber auf der anderen Seite auch nicht allzu überrascht. Necroma war in Mailand auf Sharifs Gruppe gestoßen – ganz sicher nicht zufällig, soviel stand fest – und hatte sie bis hierhin nach Florenz begleitet. Sharif war von Anfang an klar gewesen, dass Necroma in der Nähe zu haben gleichbedeutend war mit den Ärger magisch anzuziehen, aber dennoch hatte er sich von ihren großen Puppenaugen einwickeln lassen, als sie darum gebeten hatte, mit ihm mitkommen zu dürfen. Sich zu weigern hätte sowieso nichts gebracht. Man konnte Necroma sagen, sie solle nach rechts schauen und sie würde nur zu Boden blicken und dabei wahrscheinlich noch einen Handstand machen. Kurzum: Sie tat nur selten das, was man ihr sagte. So war sie schon immer gewesen. Wochenlang war die Zeit in Florenz ereignislos geblieben und Sharif hatte sich bereits in Sicherheit gewähnt, aber nun war mal wieder alles anders gekommen. Necroma hatte ein süßes Kind auf der Straße entdeckt und sich einfach unbeschwert über alle Regeln und Gesetze hinweggesetzt, wie sie es auch sonst immer tat. Und sie hatte sich nicht bloß einen gewöhnlichen Jungen gegriffen. Nein, sie musste sich ja unbedingt einen kleinen Werwolf unter den Nagel reißen! „Die Familie des Jungen wird sicher nicht erfreut sein, wenn sie ihren kleinen Augapfel bei Vampiren entdecken“, versuchte Sharif es erneut. Er hatte wirklich wenig Lust, sich mit einem Rudel Werwölfe zu streiten. Besonders die italienischen Exemplare hatten einen schrecklichen Ruf und galten als ausgesprochen temperamentvoll. Außerdem, so hatte Sharif vor nicht allzu langer Zeit erfahren, hatte es in Florenz vor etwa einem Monat eine größere Auseinandersetzung zwischen Werwölfen und den hier einheimischen Vampiren gegeben. Der Konflikt hatte mehrere Opfer gefordert, darunter unter anderem ein hohes Alpha-Tier, das von den Wölfen geradezu verehrt worden war. Somit war es kein großes Wunder, dass diese Wesen im Moment nicht besonders gut auf Untote zu sprechen waren. „Wenn sie ihre ‚Augäpfel’ einfach so auf die Straße setzen, ist das ihr Pech“, meinte Necroma schulterzuckend. „Die sollten besser auf ihre Kinder aufpassen.“ Sharif massierte sich stöhnend die Schläfen. Irgendwann, so war er sich ziemlich sicher, würde er wegen dieser Frau noch einen Gehirnschlag kriegen. „Necroma, denk doch mal bitte über das Ganze nach“, bat er sie. „Was willst du denn mit dem Kind anstellen? Es die ganze Zeit mitschleppen?“ „Warum nicht?“ Sie strich dem Jungen eine Strähne aus dem Gesicht und lächelte ihn an, woraufhin Jake wie benommen blinzelte. „Er ist doch so ein goldiger Spatz. Ich werde ab jetzt seine Mutter sein. Und du könntest sein Daddy sein, Sharif.“ Der Ägypter knurrte leise. „Nein, danke. Kein Bedarf.“ Aber Necroma hatte ihm nicht weiter zugehört, sondern sich hinüber zu Jake gebeugt. „Na, was sagst du dazu, mein Süßer? Ich gebe zu, Sharif kann manchmal etwas mürrisch sein, aber er ist wirklich ein lieber Kerl. Er wird ein toller Daddy.“ Sharif seufzte. So wie es aussah, stellte sich Necroma mal wieder quer. Er würde wohl schwerere Geschütze auffahren müssen, um sie von ihrem wahnwitzigen Vorhaben abzubringen. „Denkst du wirklich, Asrim wäre darüber sehr begeistert?“, hakte er deshalb nach. Asrim wenigstens hatte diese verrückte Lady unter Kontrolle und würde es ihr ausgesprochen schnell ausreden können, ein Werwolfkind zu adoptieren. „Asrim liebt mich“, meinte Necroma trotzig. „Er würde mir nie einen Wunsch abschlagen.“ Mit diesen Worten stand sie auf und wandte sich in Richtung Hausflur, Jake an der Hand gepackt. „Wo willst du denn jetzt hin?“, fragte Sharif genervt. „Was denkst du wohl?“ Necroma schnaubte. „Ich habe keine Lust hier zu sein, wenn es gleich ‚Bumm’ macht.“ „‚Bumm’?“ „Ja, ‚Bumm’.“ Necroma musterte ihn, als hielte sie ihn für geistig zurückgeblieben. „’Kawumm’, ‚Peng’, ‚Puff’ oder wie auch immer du das nennen willst. Ich kann dir auch gerne ein Bild zeichnen, damit du es dann vielleicht besser verstehst.“ Nicht nur Sharif starrte die Vampirin verwirrt an, auch Jake schien nicht so recht zu begreifen, was seine neue Mutter damit meinte. Er öffnete gerade den Mund und wollte offenbar nachfragen, worauf sie nun eigentlich hinauswollte, doch Necroma ließ ihm dazu keine Gelegenheit. Unvermittelt packte sie den Jungen und stieß ihn in den Hausflur. Jake schrie überrascht auf und strauchelte, sehr um Gleichgewicht bemüht, wie ein Betrunkener über den Teppich. Necroma rief ihm hastig eine Entschuldigung hinterher, ehe sie die Tür zuschlug und somit den kleinen Werwolf von ihnen abschottete. „Was sollte das nun wieder?“, wollte Sharif wissen. „‚Bumm’“, sagte Necroma bloß. Und bereits im nächsten Augenblick ließ ein ohrenbetäubender Knall den Vampir zusammenzucken. Die Fensterscheiben zerbarsten in tausend Teile und verteilten sich im ganzen Zimmer. Mehrere Blumentöpfe, die Couch und auch der Fernseher wurden arg in Mitleidenschaft gezogen, als die Scherben wie kleine Pfeile durch den Raum zischten. Sharif brummte übellaunig, während er in den Schatten tauchte, um den Geschossen auszuweichen. So etwas hatte er kommen sehen. Necroma hatte ihm mal wieder nichts als Ärger beschert. Es gab wahrlich nicht viele Geschöpfe, die sich unbemerkt an Untote anzuschleichen vermochten, doch Werwölfe waren wirkliche Meister darin. Geräusche verursachten sie keine, wenn sie es nicht wollten, und sie konnten ebenso gut eins mit der Dunkelheit werden wie Vampire. Nur allein an ihrem unverkennbaren Geruch hätte man sie ausmachen können, weswegen diese Wesen auch sehr penibel darauf achteten, sich immer einem potenziellen Opfer gegen den Wind zu nähern. Auch Sharif hatten sie auf diese Weise täuschen können. Er hatte die Anwesenheit der Werwölfe, die sich offenbar im gegenüberliegenden Appartement aufgehalten hatte, nicht bemerkt. Ungehindert hatten sie ihren kleinen Überraschungsangriff planen können. Und nun sahen sich die Vampire mit sechs äußerst wütenden Werwölfen konfrontiert. Drei hockten wegen des etwas spärlichen Platzes im Wohnzimmer wie Vögel auf den Fensterbrettern, während die restlichen sich im Raum verteilten und die Sa’onti umkreisten wie Raubtiere. Feindselig beäugten sie ihre Widersacher. „Überrascht?“, fragte einer der Werwölfe nach. Allesamt hatten sie ihre menschlichen Erscheinungen noch beibehalten, aber bei diesem einem waren schon die ersten Züge einer Verwandlung zu erkennen. Seine Augen glitzerten übernatürlich und auch die Haare an seinen Unterarmen waren zahlreicher und zotteliger, wie man es gewöhnlich von Menschen kannte. Sharif vermutete in ihm das Leittier. Zumindest wirkte er sehr autoritär und bestimmend. Auch die Tatsache, dass die anderen Wölfe ihm immer wieder kurz Blicke zuwarfen, um nachzuschauen, was er gerade tat und wie er sich verhielt, deutete darauf hin. „Wir sind keineswegs überrascht.“ Necroma hatte die Hände in die Hüften gestemmt und machte nicht den Eindruck, als ob zersprungene Fensterscheiben und offensichtlich hochgradig kampfbereite Werwölfe etwas Außergewöhnliches wären. Im Gegenteil, sie wirkte sogar recht gelangweilt. „Ihr hättet euch auch ruhig etwas beeilen können. Wie lange habt ihr jetzt schon dieser Wohnung gehockt und eure Strategie besprochen? Zwanzig Minuten? Meine Güte, ich dachte immer, ihr wärt so spontane Geschöpfe. Ich hätte nie angenommen, dass ihr dermaßen pläneschmiedend und trantütig sein könnt.“ Die uneingeladenen Gäste musterten Necroma aufmerksam und schienen nicht so recht zu wissen, ob sie nun irritiert oder verärgert sein sollten. Die Vampirin verstand es wirklich gekonnt, mit nur ein paar wenigen Worten selbst den stärksten Mann aus dem Konzept zu bringen. „Du wusstest, dass wir dort drüben sind?“, fragte das Alphatier schließlich nach. Seine Stimme war tief und erinnerte an die eines Bären, der gerade unsanft aus dem Winterschlaf gerissen worden war. „Wieso hast du dann nichts unternommen?“ Necroma zuckte bloß mit den Schultern, während sie gleichzeitig mit höchster Konzentration Dreck unter ihrem Fingernagel entfernte. „Ich wollte auf euren tollen Auftritt warten. Und ihr wart gar nicht so schlecht, Jungs, das muss ich ehrlich zugeben. Das nächste Mal wäre aber etwas mehr Zerstörung angesagt. Immerhin wollt ihr doch Angst und Schrecken verbreiten, nicht wahr?“ Der Alphawolf runzelte daraufhin bloß die Stirn. „Sag mal, bist du verrückt?“ „Aber natürlich“, meinte Necroma seufzend. „Was denkst du denn?“ Er war für einen Moment ehrlich verwirrt und wusste augenscheinlich nicht, was er angesichts dieses offenen Geständnisses erwidern sollte. Dann aber räusperte er sich vernehmlich und meinte: „Wo ist Jacobo?“ Necroma erhob tadelnd ihre Zeigefinger. „Also wirklich, was ist das denn für ein Benehmen? Hat dir deine Mutter denn nicht beigebracht, dass es unhöflich ist, einfach so mit der Tür ins Haus zu fallen?“ Nach einem Blick auf die zahllosen Glasscherben verbesserte sie sich rasch: „Oder auch mit dem Fenster ins Haus zu fallen. Kommt im Grunde aufs selbe hinaus. Auf jeden Fall könntest du etwas mehr Respekt zeigen. Wie wär’s zum Beispiel mit einem freundlichen ‚Hallo’? Und dann könntest du uns vielleicht auch deinen Namen verraten.“ Allmählich schien der Alphawolf zu glauben, dass Necroma ihn gewaltig auf den Arm nehmen wollte. Und an seiner wutverzerrten Miene war deutlich zu erkennen, dass ihm solch eine Behandlung nicht sonderlich gefiel. „Weißt du, Miststück …!“, zischte er aufgebracht. Necroma jedoch ließ ihn nicht aussprechen. „Okay, okay, schon gut. Vergessen wir das mit dem ‚Hallo’. Und dass dein Name Aros ist, weiß ich natürlich auch schon längst. Ich dachte nur, du willst dich womöglich selbst vorstellen.“ Sie schüttelte bloß seufzend den Kopf und murmelte: „Bei Hera und Athena, da will man nur mal freundlich sein und schon wird man angeblafft. Männer!“ Aros knirschte mit den Zähnen und schien sehr um Selbstbeherrschung zu ringen, war aber gleichzeitig, so erkannte Sharif, unsicher angesichts der Tatsache, dass Necroma seinen Namen kannte und darüber hinaus keinerlei Angst zeigte. Wahrscheinlich kam es außergewöhnlich selten vor, dass sich jemand dermaßen schnippisch ihm gegenüber verhielt. Vermutlich taten dies nur Lebensmüde und diejenigen, die ein Ass im Ärmel hatten. Und Aros fragte sich sicherlich gerade, zu welcher Kategorie Necroma hinzuzuzählen war. „Hört mal zu, Freunde.“ Sharif trat einen Schritt vor und hob beschwichtigend die Hände. „Wir wollen wirklich keinen Ärger. Die Sache mit Jacobo … ist nur ein dummes Missverständnis.“ „Ein Missverständnis?“ Aros schnaubte abfällig und seine fünf Kameraden taten es ihm gleich. Sie alle musterten die Vampire mit unverhohlener Verachtung. Offenbar saßen die blutigen Ereignisse vor gut einem Monat noch immer tief in ihren Knochen. Und auch wenn Necroma und Sharif zu jener Zeit gar nicht in Florenz zugegen gewesen waren, machte das für die Werwölfe keinen großen Unterschied. „Ihr habt den Jungen einfach mitgenommen!“, zischte Aros. „Wie könnt ihr es nur wagen? Habt ihr denn keine Ahnung, mit wem ihr euch da anlegt?“ Du hast offenbar auch keine Ahnung, mit wem du dich gerade anlegst, dachte Sharif bei sich, sprach es aber nicht aus. Er wollte den eh schon kurz vor der Explosion stehenden Mann nicht noch mehr aufregen. „Wir hatten wirklich keine bösen Absichten“, schwor Sharif. „Necroma hat den Knaben einfach gesehen und aufgelesen. Sie ist … na ja, absolut verrückt, wie ihr sicherlich bemerkt habt.“ Aros wirkte wenig beschwichtigt. „Und das soll deine Entschuldigung sein, Blutsauger? Eure ganze Brut ist so furchtbar arrogant und –“ Er hielt plötzlich mitten im Satz inne, seine Stirn nachdenklich in Falten gelegt, während er Necroma betrachtete. Schließlich fragte er zögerlich: „Necroma? Etwa … die Necroma?“ „Ganz recht.“ Die Vampirin warf Aros ein breites Lächeln zu. „Schön, dass du von mir gehört hast. Hoffentlich nur Gutes, ich bin nämlich wirklich ein ganz liebes Lämmchen. Nicht so schrecklich, wie vielerorts behauptet wird. Und Sharif ist auch ein ganz braver Bursche.“ Die Blicke der Werwölfe wanderten zu dem Ägypter. In ihren Augen war nun Unsicherheit zu lesen. Ganz offensichtlich hatten sie nicht erwartet, es mit derartig hochrangigen Vampiren zu tun zu haben. „Ihr seid wirklich … die Sa’onti?“, hakte der Wolf rechts von Aros vorsichtig nach. Er wirkte nun ein wenig blass um die Nase. Offenbar hatte er schon viele Geschichten über die Großen Sieben gehört. „So ist es.“ Necroma kicherte wie ein kleines Mädchen, als sie den Kopf schief legte und die Eindringlinge ausgiebig musterte. „Ihr wisst sicherlich, wozu wir fähig sind. Also bildet euch bloß nicht ein, ihr könntet uns in irgendeiner Weise beeindrucken. Jake bleibt bei mir und da gibt es nichts dran zu rütteln!“ Ohne eine Antwort abzuwarten, hob Necroma unvermittelt ihre Arme und richtete ihre Handinnenflächen auf die Werwölfe. Diese rissen entsetzt die Augen auf, als sie begriffen, was die Vampirin mit ihnen vorhatte. Und auch Sharif war völlig überrumpelt. Er wollte Necroma zwar noch hastig aufhalten, aber es war bereits zu spät. Eine riesige Magiewelle schoss aus ihren Händen direkt auf die Wölfe zu. Diejenigen auf den Fensterbänken ließen sich schnell nach hinten fallen und nahmen lieber einen Sturz aus dem vierten Stock in Kauf, als sich von Necromas Attacke frontal treffen zu lassen. Aros und seine zwei Freunde im Wohnzimmer hatten diese Chance hingegen nicht. Wie Stoffpuppen wurden sie von den Füßen gerissen und aus den Fenstern geschleudert, durch die sie vor keinen fünf Minuten noch uneingeladen hereingeplatzt waren. Mit einer ungeheuren Wucht trafen sie auf die Steinwände des gegenüberliegenden Appartementhauses, ehe sie wie Mehlsäcke zu Boden stürzten, gefolgt von der ehemaligen Inneneinrichtung des Wohnzimmers. Unten auf der Straße war daraufhin das Quietschen von Autoreifen zu hören, als ein Fahrer zu dieser nachtschlafenden Zeit von den herabregenden Wölfen und Möbeln überrascht wurde und rasch ein Ausweichmanöver einleiten musste. Der darauffolgende Knall ließ vermuten, dass er mit seinem Wagen in ein anderes Auto gerast war. „Was, zur Hölle, sollte das?“, fuhr Sharif Necroma an. Er trat nah an die Fenster heran und schaute hinab auf die Straße. Dort herrschte ein heilloses Chaos: verstreute Körper, eine zerstörte Couch, ein zersprungener Fernseher, noch allerlei anderes zerschmettertes Mobiliar und beschädigte Autos. „Was denn?“ Necroma blinzelte unschuldig. „Sie haben es verdient, glaub es mir. Sie hätten uns trotz alledem angegriffen. Ich konnte es in ihren Gedanken lesen.“ Sharif funkelte die Vampirin wütend an. „Und das alles wegen des Jungen? Beweist die Hartnäckigkeit der Werwölfe nicht, wie viel ihnen Jake bedeutet? Willst du ihn wirklich von seiner Familie trennen?“ Necroma zog beleidigt ihre Mundwinkel nach unten. „Spiel nicht den Moralapostel, Sharif. Du weißt, dass ich das nicht leiden kann.“ Bevor Sharif darauf in irgendeiner Weise reagieren konnte, öffnete sich zögerlich die Tür zum Hausflur. Jake steckte seinen Kopf durch den Schlitz und weitete erstaunt die Augen, als er das Durcheinander erblickte. „Was ist passiert?“, fragte er verdutzt. „Mommy hat nur ein bisschen gespielt, das ist alles“, meinte Necroma lächelnd. Sie trat an den Jungen und hob ihn auf ihren Arm. Jake ließ dies widerstandslos über sich ergehen und schlang sogar die Arme um Necromas Hals, den Blick ohne Unterlass auf das leicht umgestaltete Wohnzimmer gerichtet. „Was war das für ein Krach?“ Auch Tessa, Necromas engste Vertraute, tauchte wie aus dem Nichts auf. Im Gegensatz zu Jake schien sie aber alles andere als überrascht zu sein, als sie die Bescherung erblickte. „Hast du wieder die Wohnung in die Luft gesprengt, Necroma? Haben wir dir nicht schon tausendmal gesagt, du sollst das sein lassen?“ Die Angesprochene zog einen erstklassigen Schmollmund. „Es ist wie eine Sucht.“ Tessa stöhnte daraufhin bloß auf und machte auf dem Absatz kehrt. In die Wohnung hinein rief sie: „Leute, wir müssen umziehen.“ „Wieso?“, ertönte die Stimme eines weiteren Clanmitglieds aus den Tiefen des Appartements. „Hat Necroma etwa wieder das Haus in die Luft gejagt?“ Sharif hob eine Augenbraue. Offenbar kam solcherlei gar nicht so selten vor. Im Grunde hätte ihn bei einer Frau wie Necroma eigentlich nichts mehr überraschen können, aber dennoch schaffte sie es immer wieder, ihn in Erstaunen zu versetzen. Als er seinen Blick wieder auf die besagte Person richten wollte, merkte er, dass sie verschwunden war. Einen Moment lang verblüfft nahm er rasch ihre Spur auf, um eine noch größere Katastrophe zu vermeiden. Er folgte ihrem Weg übers Treppenhaus bis hinunter auf die Straße. Vom Nahen sah das Chaos noch verheerender aus. Die Möbel waren in hundert Stücke zersprungen, allein an der Couch konnte man noch erkennen, welchen Verwendungszweck sie vor ein paar Minuten noch gehabt hatte. Auch zahllose zersprungene Vasen, Keramikfigürchen und zerfledderte Zeitschriften verteilten sich auf dem Boden. Und dazwischen befanden sich die Werwölfe, die sich langsam wieder aufgerappelt hatten. Bis auf Aros hatten sie nun alle ihre Gestalt gewechselt. Riesige Wölfe starrten ihn nun mit mordgierigen Augen an. Auf ihren zwei Beinen stehend waren sie gut und gerne drei Meter hoch, ihre spitz zulaufenden Ohren nicht mitgerechnet. Ihr Fell war, typisch italienisch, in einem dunklen Braun gehalten. Die Werwölfe in Ägypten beispielsweise wiesen eher einen sandfarbenen Pelz auf, während ihre Brüder in verschneiten Gebieten wie etwa Nepal durch und durch weiß waren. Die wenigen Menschen, die sich noch auf den Straßen befunden hatten oder nach dem lauten Getöse neugierig nach draußen gekommen waren, nahmen nun einer nach dem anderen beim Anblick dieser riesigen Geschöpfe Reißaus. Schreiend rannten sie um ihr Leben, überall wurden hastig Fenster und Türen verschlossen. Von irgendwo hörte Sharif auch das typische Piepen von Handytasten. Offenbar benachrichtigte jemand die Polizei. Länger als nötig wollte Sharif hier nicht mehr verweilen. Zumindest hatte er keine Lust, sich mit Gesetzeshütern anzulegen. Allein schon die ganze Situation machte ihn unruhig. Immer war den magischen Geschöpfen viel daran gelegen gewesen, sich diskret zu verhalten und wenig Aufmerksamkeit zu erregen. Nur Necroma hatte von diesem Konzept noch nie viel gehalten. „Die großen Sa’onti oder nicht, wir wollen den Jungen wiederhaben!“, grollte Aros zornig. Seine fünf wölfischen Kumpanen knurrten daraufhin bedrohlich und funkelten Necroma, die inmitten von Einzelteilen eines zerstörten Regals stand und Jake immer noch auf ihren Arm hielt, herausfordernd an. Necroma hingegen kümmerte sich nicht um die feindseligen Werwölfe. Viel interessanter fand sie die zahlreichen Scherben auf der Straße. Es machte fast den Anschein, so erkannte Sharif, als würde sie sie durchzählen, vergnügt und unbekümmert wie ein Kind. „Hast du nicht gehört?“ Aros war drauf und dran, die Kontrolle über sich selbst zu verlieren. In seinen Augen loderte ein Feuer auf, welches deutlich machte, dass auch er bald seine Gestalt verändern und zum Angriff übergehen würde. Sharif seufzte und trat an Necroma heran. „Komm schon, Kleines“, drängte der Ägypter sie. „Gib ihnen den Jungen zurück.“ „Auf keinen Fall“, antwortete sie, ihren Blick immer noch fasziniert auf den Boden gerichtet. „Sie haben nicht mal ‚Bitte’ gesagt.“ Nun, zumindest hatte Necroma den Werwölfen doch zugehört. Das war immerhin ein Fortschritt. Doch das reichte für Aros nicht aus. Er stieß ein Brüllen aus, das an ein ganzes Rudel wütender Wölfe erinnerte. Seine Begleiter machten daraufhin einen gewaltigen Satz und rasten in einer Spitzengeschwindigkeit auf die Vampire zu. Ihre Körper bewegten sich dabei wie eine Einheit, beinahe so, als wären sie ein einziges, lebendiges Wesen. Sharif schluckte kurz bei diesem Anblick, aber Necroma ließ sich davon weiterhin nicht stören. Ihren Blick nun endlich von der Straße erhoben, lächelte sie amüsiert und schwenkte kurz mit der Hand. Fast zeitgleich schossen aus dem Boden riesige Wurzeln, die sich kraftvoll durch den Zement gebohrt hatten und die Werwölfe zu fassen bekamen. Mitten im Angriff wurden die großen Geschöpfe plötzlich abrupt gestoppt und versuchten winselnd, den Wurzeln, die sie immer weiter einwickelten, irgendwie zu entkommen. Doch je mehr sie sich bewegten, desto fester wurde ihre Verschnürung. Necroma lachte auf. „Das habe ich das letzte Mal im Zweiten Weltkrieg mit einer Gruppe von Nazis gemacht. Das war echt witzig.“ Die Werwölfe schienen das hingegen alles andere als amüsant zu finden. Sie grollten und knurrten aufgebracht, wahrscheinlich Necroma gerade tausend Flüche an den Kopf schmeißend. „Wir hassen es, wenn man sich über uns lustig macht“, zischte Aros. Er hatte bereits seinen langen Mantel abgestreift, offenbar bereit, sich ebenfalls zu verwandeln. Necroma aber schüttelte entschieden den Kopf. „Lass das lieber, Aros!“, sagte sie. „Du machst alles nur schlimmer.“ Der Alphawolf ballte seine Hände zu Fäusten. „Du dreckige Kindesentführerin! Wie kannst du es nur wagen, uns so zu behandeln? Hast du keinen Respekt vor uns?“ „Natürlich hab ich den“, meinte Necroma. Sie strich Jake, der sein Gesicht in ihrer Halsbeuge vergraben hatte, sanft über den Kopf. „Aber ihr seid nur zu blind, um ihn zu sehen. Ebenso wie ihr zu blind seid, um Jakes wahre Gefühle zu erkennen.“ Aros knirschte mit den Zähnen. „Wovon sprichst du, Miststück?“ „Er hat Angst vor euch“, erklärte Necroma nachdrücklich. „Seine Eltern sind bei den Kämpfen vor einem Monat umgekommen, nicht wahr? Und ihr habt ihn bei euch aufgenommen, immerhin seid ihr seine Familie. Aber ihr merkt gar nicht, wie sehr ihr ihn verängstigt. Er will nur jemanden, der ihn liebt, aber ihr seid durch den Hass auf die hiesigen Vampiren dermaßen aufgestachelt und aggressiv, dass ihr keine Augen für ihn habt.“ Die in den Wurzeln eingewickelten Werwölfe stellten ihren Widerstand ein und starrten Necroma einfach nur an. Auch das hasserfüllte Flackern in Aros’ Augen erlosch, als er ihre Worte hörte. „Ihr merkt gar nicht, wie sehr ihr ihn verletzt“, fuhr Necroma fort. „Nach dem Tod seiner Eltern hätte er Liebe und Zuneigung benötigt, aber ihr seid viel zu sehr von eurem Rachedurst besessen. Ihr redet von Schlachten, Blut und zerfetzten Vampirkörpern, während ihr den armen Jungen ganz allein gelassen habt.“ Aros schaute auf den kleinen Knaben in Necromas Armen, „Jacobo“, murmelte er. „Ist das wahr?“ Der Kleine wandte seinen Blick zu Aros. In seinen Augenwinkeln sammelten sich ein paar Tränen, als er schwach nickte. Die Wölfe winselten daraufhin jämmerlich auf und auch Aros machte den Eindruck, als wäre seine ganze Welt zusammengebrochen. „Oh, Jacobo …“, flüsterte er. „Es tut uns so furchtbar leid. Wir wollten doch nicht …“ Ihm versagte die Stimme. Schuldbewusst schaute er drein und wirkte plötzlich gar nicht mehr wie ein stolzes Alphatier, sondern wie jemand, der sich soeben eines großen Fehlers bewusst geworden war und alles dafür getan hätte, um diesen wieder rückgängig zu machen. „Tja, eure Erkenntnis kommt leider zu spät.“ Necroma drückte Jake noch enger an sich. „Der Junge bleibt jetzt bei mir. Das soll euch eine Lehre sein.“ Aros’ Blick verfinsterte sich daraufhin wieder. Sharif lehnte sich schnell zu Necroma herüber und sagte: „Jetzt sei doch nicht so, Necroma. Siehst du denn nicht, wie sehr sie es bereuen?“ Die Vampirin schnaubte. „Mir egal. Ich habe Jake gefunden und ich werde ihn auch behalten.“ Sharif musterte den Jungen, der sichtlich verwirrt schien. Auf der einen Seite hatte er Necroma offenbar sehr ins Herz geschlossen, aber auf der anderen Seite wollte er auch seine Familie nicht missen. Traurig schaute er hinüber zu Aros, nicht sicher, was er als nächstes tun sollte. „Du wirst damit einen Krieg heraufbeschwören“, meinte Sharif. „Die Werwölfe würden uns das nie verzeihen. Stell dir vor, einer von ihnen käme eines Tages und nähme Tessa mit, nur weil sie allein auf der Straße gestanden hat. Würdest du das einfach auf dir sitzen lassen?“ Necroma zog eine Schnute, schien aber nicht mehr ganz so halsstarrig zu sein. Offenbar hatte sie den Blick bemerkt, mit dem Jake Aros bedachte. Mitleid stieg in ihr auf, sosehr sie es augenscheinlich auch zu unterdrücken versuchte. „Nein, das würde mir nicht gefallen“, gab sie widerwillig zu. „Und du willst doch bestimmt nicht wirklich dieses kleine, lärmende Wölfchen behalten, oder? Im Moment ist er ja noch ein ganz ruhiger Geselle, aber irgendwann wird er herumschreien und auf deinem Bett herumhüpfen.“ Nun sah Necroma alles andere als begeistert aus. „Ich hasse es, wenn jemand auf meinem Bett herumhüpft.“ „Und er ist ein Karnivore“, fuhr Sharif fort. Ein Lächeln bildete sich auf seinen Lippen, als er merkte, wie Necromas Widerstand nach und nach brach. „Er frisst Fleisch ohne Ende.“ „Ich hasse totes Fleisch“, sagte sie daraufhin. „Es redet immer mit mir. Ich höre dauernd die Geister der verstorbenen Tiere, die mich vollquatschen. Es ist furchtbar.“ Sharif grinste, als er merkte, wie sich Resignation bei ihr breitmachte. Wie so oft hatte sie keinen Gedanken an die Konsequenzen ihrer Handlungen verschwendet. So mächtig sie auch war und so viel sie auch wusste, ab und zu war sie schlichtweg wie ein Kind, das einfach nur das tat, was es wollte, ohne an das Hinterher zu denken. Sie seufzte schwer, als sie den Jungen auf den Boden absetzte. „Wie sieht’s aus, Jake? Gibt’s du diesen Idioten noch eine Chance?“ Jake lächelte. „Ich mag dich, Mommy Necroma. Du bist echt lustig.“ Er umarmte die inzwischen in die Hocke gegangene Vampirin einmal kurz. „Aber Onkel Aros braucht mich.“ Necroma warf dem besagten Werwolf einen gehässigen Blick zu. „Stimmt. Ohne dich ist er aufgeschmissen.“ Jake grinste, als er sich von Necroma löste. Er schenkte ihr einen letzten, dankbaren Blick, ehe er sich Sharif zuwandte. „Tschüss, Daddy Sharif.“ Dieser schmunzelte. „Wiedersehen, Kleiner.“ Offenbar nun zufrieden mit sich und der Welt stürmte der Junge los, direkt in Aros’ Arme. Der große Werwolf hob den kleinen Knirps hoch und presste ihn so fest an sich, als wollte er ihn nie wieder loslassen. Auch die anderen traten zu der Szene hinzu, nachdem Necroma sie nach einem vorwurfsvollen Blick vonseiten Sharifs seufzend aus den Wurzeln befreit hatte. „Du hast das Richtige getan, Necroma“, meinte Sharif, als er der Vampirin den Arm um die Schulter legte und sie gemeinsam den Werwölfen den Rücken zudrehten. „Kinder sind am besten bei ihrer Familie aufgehoben.“ Necroma hatte die Arme vor der Brust verschränkt und musste sich augenscheinlich ziemlich beherrschen, sich nicht noch mal umzudrehen. „Beim nächsten Mal fällst du mir nicht so brutal in den Rücken, wenn ich etwas in Herz geschlossen habe, verstanden?“ Sharif schnaubte. „Also erstens bin ich dir sicherlich nicht in den Rücken gefallen. So etwas nennt man schlicht und ergreifend Schadensbegrenzung. Du bist nun mal völlig durchgeknallt, mein Herz, und tust dauernd irgendwelche verrückten Dinge, die nicht gut für dich sind.“ Er drückte Necroma enger an sich. „Und zweitens schließt du beinahe täglich irgendjemanden oder irgendetwas in dein Herz. Warst du nicht erst vor ein paar Tagen völlig besessen von einer Gänsefeder? Und wie war das damals mit dieser Polstergarnitur in Euskirchen? Du bist in das Möbelgeschäft eingestiegen und hast dabei die Fensterscheibe wie ein dreister Dieb zerstört, erinnerst du dich?“ Necroma verzog zornig ihr Gesicht. „Ich hasse dich.“ Sharif lächelte. „Ich liebe dich auch, Necroma.“ Die Vampirin knirschte verärgert mit den Zähnen, während ihr Begleiter nichts anderes konnte, als schief zu grinsen. Necroma konnte einem wirklich oft genug auf den Geist gehen und einem regelrecht zur Verzweiflung treiben, sodass man mehr als einmal beinahe den übermächtigen Wunsch verspürte, seinen Kopf gegen eine harte Wand zu donnern. Sie war wie ein Kind mit viel zuviel Macht: unberechenbar und gefährlich. Aber eines war ebenso sicher: Mit ihr wurde es nie langweilig. Kapitel 2: Dunkle Gerüchte -------------------------- Behedet, Ägypten (995 v. Chr.) Es gab Gerüchte in letzter Zeit. Gerüchte über dunkle Schatten, die sich im Hinterhalt versteckten. Die sich nach und nach über die ganze Stadt ausbreiteten, ohne dass es man es wirklich bemerkte. Lauernd und bösartig, wie der schleichende Tod. Allerdings konnte Sharif darüber nur milde lächeln. Gerüchte gab es viele in dieser riesigen Stadt und nur die wenigsten erwiesen sich letzten Endes als wahr. Was machte es schon, wenn Menschen spurlos von den Straßen verschwanden? Unter Umständen war tatsächlich ein mysteriöser Schatten daran schuld, aber viel wahrscheinlicher war immerhin, dass diese Menschen Opfer von gewöhnlichen Überfällen oder auch den Wachen geworden waren. Nichts Übernatürliches. Zugegeben, auch nicht unbedingt beruhigend, aber trotzdem ein bisschen erträglicher als tödliche Schatten. Mit Dieben, Halunken und Wachen wusste Sharif wenigstens umzugehen. Seufzend zog er die Beine enger an seinen Körper und vergrub seine Zehen im Sand. Es war Mittag, die Sonne hatte ihren höchsten Punkt erreicht. Die meisten Menschen hatten sich in die kühlen Gebäude zurückgezogen oder sich anderweitig im Schatten verkrochen. Alles wirkte wie ausgestorben. Sharif merkte, wie Müdigkeit in ihm aufstieg. Er hatte in letzter Zeit nicht besonders viel schlafen können, sosehr er sich auch danach gesehnt hatte. Zwar fielen ihm öfter die Augenlider zu, aber ins Land der Träume zu versinken, fiel ihm seit einigen Wochen unsagbar schwer. Speziell nachts fand er überhaupt keine Ruhe mehr. „Hey, Sharif“, drang eine bekannte Stimme an sein Ohr. Der Angesprochene blickte auf und sah sich Aja gegenüber, der ihm breit entgegen lächelte. „Ich habe gute Neuigkeiten.“ Sharif lächelte halbherzig. Aja hatte immer ‚gute Neuigkeiten‘, aber meist entpuppten sich diese als risikoreich und ausgesprochen gefährlich. So manches Mal hatte er Sharif schon zu irgendwelchen Dummheiten überredet, die ebenso gut tödlich hätten enden können, wäre es der Wille der Götter gewesen. Aja hingegen war schon immer ein Draufgänger gewesen. Genau wie Sharif war er auf der Straße geboren und hatte früh lernen müssen, sich durchzubeißen. Anfangs war er ein schwächlicher Knabe gewesen, von dem kaum jemand erwartet hatte, dass er lange überleben würde. Viele Krankheiten hatten ihn ereilt und auch seine Knochen schienen spröde und nicht besonders belastbar. Schon oft hatte er sich etwas gebrochen gehabt, sein linker Arm war durch mehrere Brüche im Laufe der Zeit versteift. Völlig nutzlos hing er nur noch an der Seite und war Aja mehr Hindernis als alles andere. Dennoch hatte er sich nicht davon unterkriegen lassen. Allen Erwartungen zum Trotz war er herangewachsen und hatte sich irgendwie durchgeschlagen. Inzwischen war er schon über zwanzig Jahre alt, ein paar Jahre jünger als Sharif, und hatte sich ganz gut gehalten. Zwar war er schmächtiger und kleiner als viele seiner Altersgenossen und wirkte auch noch eher wie ein junger Bursche als wie ein ausgewachsener Mann, aber daran störte er sich nicht sonderlich. Im Gegenteil, dadurch war er wendig und agil geblieben. Inzwischen schaffte er beinahe unglaubliche Geschwindigkeiten, die niemand bisher hatte überbieten können. Somit hatte er sich als Taschendieb einen nicht zu verachtenden Ruf erarbeitet. „Was sind denn das für Neuigkeiten?“, fragte Sharif minder interessiert. Eigentlich wollte er nur noch schlafen und sich nicht wieder auf eins von Ajas waghalsigen Manövern einlassen. „Es haben ein paar Händler hier angelegt“, erzählte er aufgeregt. „Sie waren wohl davor in Abdju[1], soweit ich gehört habe. Es scheint sich um Hellenen[2] mit einer Menge kostbarer Ware zu handeln. Schmuck, edle Stoffe … was du willst.“ Viele Händler und Geschäftsleute segelten den Nil herab und versuchten, in den verschiedenen ägyptischen Städten ihre Ware an den Mann zu bringen. Auch Behedet[3] gehörte zu einer wichtigen Anlaufstelle. Immer wieder brachten diese Männer wertvolle und zum Teil auch vielen Ägyptern unbekannte Produkte mit, die stets Interesse weckten. „Klingt verlockend“, meinte Sharif. „Aber weißt du noch, was letztes Mal geschehen ist, als du einen Händler bestehlen wolltest?“ Aja verzog missmutig sein Gesicht. „Konnte ich denn wissen, dass er soviel schwerbewaffnetes Sicherheitspersonal mit sich schleppt? Das hätten nicht mal die Götter vorhersehen können. Es ist natürlich schrecklich, dass sie den armen Penu erwischt haben, aber ich habe von diesem bärtigen Töpfer gehört, dass man ihn später wieder in der Stadt gesehen hat. Zwar nur noch mit einer Hand und ziemlich zugerichtet, aber wenigstens hat er überlebt.“ Während Aja diese Tatsache offenbar ausgesprochen aufmunternd fand, konnte Sharif bloß seufzend den Kopf schütteln. Dieser Kerl würde irgendwann einmal in einen qualvollen Tod rennen. „Die Händler sind bereits seit einigen Wochen hier“, fuhr Aja fort. „Keine Ahnung, wieso ich erst jetzt davon erfahren habe. Sie haben wohl zunächst einige Geschäfte mit Privatpersonen abgewickelt und alte Freunde besucht. Offenbar wollen sie ihre Anwesenheit nicht an die große Glocke hängen.“ Aja rieb sich über das stoppelige Kinn. „Vielleicht hat das ja was mit diesen Gerüchten zu tun. Unter Umständen wollen sie sich bedeckt halten, um nicht die Aufmerksamkeit irgendwelcher gefräßiger Schatten auf sich zu ziehen.“ Er lachte auf. „Abergläubisches Pack.“ Sharif rieb sich die Schläfen, während er die aufsteigenden Kopfschmerzen zu unterdrücken versuchte. „Aja, hör zu“, begann er beschwichtigend. „Vielleicht solltest du es alles was langsamer angehen. Denk nach, bevor du etwas tust. Plane sorgfältig und stürze dich nicht Hals über Kopf in die Gefahr.“ „Das tue ich niemals!“, meinte Aja eine Spur zu vehement. „Und was ist mit Thryphon?“, hakte Sharif nach. „Du solltest dich in nächster Zeit wirklich etwas bedeckt halten. Er hat es auf dich abgesehen.“ Sein alter Freund schüttelte entschieden den Kopf. „Vergiss den Mistkerl! Ich bin nicht annähernd wichtig genug, dass er sich mich mit mir abgeben würde.“ Sharif lachte spöttisch auf. „Hast du nicht in seinem Revier gewildert, ihn an der Nase herumgeführt und darüber hinaus auch noch mit seiner Frau geschlafen? Ich an seiner Stelle würde das nicht auf die leichte Schulter nehmen.“ Aja winkte bloß ab. „Das ist Kinderkram. Thryphon hat das längst wieder vergessen.“ Dessen war sich Sharif jedoch gar nicht so sicher. Thryphon war ein einflussreicher Mann in Behedet. Inoffiziell war er als ‚König der Diebe‘ bekannt, so zumindest wurde er von vielen Seiten bezeichnet. Er hatte es in den letzten Jahren geschafft, sich ein imposantes Netzwerk aufzubauen und einen beachtlichen Schlägertrupp um sich zu scharen. Sowohl Ladenbesitzer als auch Händler setzte er gewaltig unter Druck, während er kleinen Taschendieben wie Sharif und Aja das Leben schwer machte. Zunehmend verdrängte er sie aus dem Geschäft und hielt sie vor allen Dingen von den reicheren Vierteln Behedets fern. Die wertvolle Beute war nur für ihn bestimmt. Viele fürchteten ihn und Sharif schämte sich nicht, zuzugeben, dass er zu ihnen gehörte. Thryphon hatte genügend Macht und Einfluss, um einen Mann spurlos verschwinden zu lassen. Sharif hatte es bereits mehrere Male erlebt und wollte nicht riskieren, auch eines Tages solch ein Schicksal erleiden zu müssen. Aja hingegen hatte sich nie sonderlich daran gestört. Autoritäten begegnete er mit einer Aufmüpfigkeit, die ausgesprochen ungesund war. „Lass es lieber bleiben, Aja“, meinte Sharif. „Du kriegst nur Ärger.“ Aja schnaubte und richtete sich wieder auf. Sein altes und schon ziemlich zerfetztes Gewand schlackerte ihm um die dünnen Beine. „Sag Bescheid, wenn du es dir anders überlegst. Du weißt ja, wo du mich finden kannst.“ Und mit diesen Worten war er dann auch schon wieder weg. Lautlos und flink wie eine Katze. Sharif seufzte und lehnte seinen Kopf gegen die Wand in seinem Rücken. Aja mochte seine vorsichtige Art nicht unbedingt gutheißen, aber bisher war Sharif damit ziemlich gut durchgekommen. Er hatte niemals kurz vorm Verhungern gestanden und hatte es außerdem bislang vermeiden können, in allzu gefährliche Situationen zu geraten. Einzig eine tollkühne Aktion Ajas hatte ihm eine unansehnliche Verletzung an der Brust eingebracht, die sich später sogar entzündet und sich schließlich zu einer hässlichen Narbe entwickelt hatte, aber abgesehen davon war es Sharif immer gelungen, sich im Schatten zu halten und nicht weiter aufzufallen. Auf diese Weise lebte man länger. Eine Zeit lang döste Sharif vor sich hin, mit sich und der Welt im Einklang. Er schob die Gedanken an Aja, reiche Hellenen mit wertvoller Fracht und an die armen Wichte, die Aja zu einer waghalsigen Mission überreden würde, beiseite und entspannte sich vollends. Nach und nach merkte er, wie die Müdigkeit mehr und mehr von ihm Besitz ergriff. Womöglich würde er nun einige Stunden Schlaf finden. Er befand sich zwar nicht gerade in der besten Gegend dafür, aber er hockte in einer dunklen und verlassenen Ecke, die kaum jemand aufsuchen würde. Und etwas Wertvolles, das man ihm hätte stehlen können, hatte er auch nicht bei sich. Im Grunde war es ihm sowieso einerlei. Er wollte nur noch schlafen. Doch bereits im nächsten Moment riss Sharif die Augen auf und schaute sich um. Ein merkwürdiges Gefühl hatte sich plötzlich seiner bemächtigt. Ihm war fast so, als würde er beobachtet. Ein eisiger Schauer lief unvermittelt seinen Rücken hinab und hatte jegliche Möglichkeit an Schlaf vertrieben. Er sprang auf seine Füße und ließ den Blick schweifen. Nichts und niemand schien in der Nähe zu sein. Alles war ruhig, nichts bewegte sich. Und dennoch … Irgendwas war faul. Sharif spürte es in den Tiefen seiner Eingeweide. Er war nicht allein! Er richtete seine Aufmerksamkeit auf den Schatten, der durch die hohen Gebäude um ihn geworfen wurde. Er wirkte harmlos, aber gleichzeitig auch irgendwie nicht. Sharif erschien es beinahe, als würde er leises Flüstern daraus hören. Er wich einige Schritte zurück. Mit einem Mal kamen ihm die Gerüchte von hungrigen Schattenmonstern plötzlich gar nicht mehr so albern vor. Dort war tatsächlich irgendetwas! Und zwar sicher nicht Gutes! Ohne groß darüber nachzudenken, machte Sharif auf den Absatz kehrt und stürmte eilig davon. Fort von den finsteren Augen, die ihn beobachteten. * * * Es war bereits tiefste Nacht, als er langsam endlich wieder zur Ruhe kam. Stundenlang war er rastlos durch die Gegend gezogen und hatte kaum verschnaufen können. Immerzu hatte er das Gefühl gehabt, von etwas verfolgt zu werden. Inzwischen war alles in Dunkelheit gehüllt, während die Sterne am Himmel strahlend funkelten. Stets ein beeindruckendes Bild, wie Sharif fand. Die Schönheit der Natur hatte ihn schon immer fasziniert. Eine Weile ging er weiter seinen Weg, ohne rechtes Ziel, dann aber erreichte er das Ufer des Nils. Mehrere Schiffe, zum Teil ausländische, hatten dort angelegt. Sicher war eines davon von den Hellenen mit den verführerischen Waren. Zumindest erspähte Sharif einige Gefährte, die durchaus hellenisch hätten sein können. Obwohl es finster war, konnte er dies trotzdem ohne große Probleme erkennen. Ein Fakt, der ihn anfangs ziemlich verwirrt hatte. Etwa mit dem Beginn seiner zunehmenden Schlaflosigkeit war es geschehen, dass sich seine Nachtsicht von mal zu mal verbessert hatte. Womöglich hatte dies tatsächlich etwas mit dem Schlafmangel zu tun, möglicherweise war es auch einfach nur Zufall. So oder so war es auf jeden Fall ganz praktisch. Schritte hinter ihm ließen Sharif aufhorchen. Hatte Aja ihn etwa schon entdeckt? Zumindest trieb er sich oft am Hafen herum, immer auf der Suche nach dem ganz großen Coup. Und hier fand man ihn normalerweise auch immer. Sharifs Füße hatten ihn wie von selbst an diesen Ort getragen. „Hör zu, Aja, ich bin sicher nicht hier, um bei deinem mörderischen Plan –“ Er verstummte abrupt, als er sich umdrehte und merkte, dass es sich gar nicht um Aja handelte. Dass sein Gegenüber kein gebürtiger Ägypter war, erkannte Sharif sofort. Seine helle Haut schien geradezu das Mondlicht zu reflektieren, was ihm einen mystischen Eindruck verlieh. Auch seine Kleidung, die nur bedingt für die extremen Temperaturen Ägyptens geeignet waren, machten mehr als deutlich, dass er nicht aus der näheren Umgebung stammte. Sein Gesicht vermochte Sharif nicht richtig auszumachen, auch wenn er sich sehr darum bemühte. Sosehr er aber auch die Augen zusammenkniff und sich anstrengte, es wollte ihm einfach nicht gelingen. Als wäre das Gesicht des Unbekannten in Dunkelheit gehüllt. Sharif rückte ein paar Schritte zurück. Erneut beschlich ihn wieder dieses beklemmende Gefühl, das ihm fast die Kehle zuschnürte. Als hätte diese Mann eine Ausstrahlung, die alles um ihn herum lähmte. „Sei gegrüßt, mein Freund“, sagte er mit einem starken Akzent, den Sharif bisher nur von Leuten weit aus dem Osten gehört hatte. Sharif wich noch weiter zurück. Am liebsten wäre er einfach fortgerannt, aber seine Beine erlaubten es nicht. Als würde ihn eine fremde Macht gegen seinen Willen hier festhalten. „Mein Name ist Asrim“, stellte sich der Fremde unbekümmert vor. „Und du wirst Sharif genannt, nicht wahr?“ Sharif zuckte zusammen. Woher kannte dieser Mann seinen Namen? Und warum interessierte es ihn überhaupt? Er machte einen gepflegten und erhabenen Eindruck und stammte sicherlich aus einer höheren Schicht. Wieso also hätte er sich die Mühe machen sollen, Sharifs Namen zu erfahren? Was wollte er von einem unbedeutenden Taschendieb? Sharif spürte, wie sich Panik in ihm breit machte. Das Ganze schien ihm nicht mit rechten Dingen zuzugehen. „Du brauchst dich nicht zu fürchten, Sharif“, meinte der Mann namens Asrim beruhigend. Seine Stimme war wie Samt, die einen umschmeichelte. Ihr Klang fesselte Sharif, sosehr er sich auch dagegen wehrte. „Ich bin hier, um dir zu helfen.“ Sharif runzelte die Stirn. „Wieso …?“ Zu seinem Erstaunen stellte er fest, dass seine Stimme zitterte wie die eines aufgeregten Kindes. Asrim lächelte und bei diesem Anblick erschauerte Sharif. Es war ein unheilvolles Lächeln. Ein Lächeln, das Sharif schon oft bei anderen gesehen hatte und bloß Unheil versprach. „Wir sind von derselben Art, du und ich“, meinte der Fremde. Sharif blinzelte. Allmählich beschlich ihn die Überzeugung, dass er dies alles nur träumte. Dass ihn die Müdigkeit endlich besiegt und in eine bizarre Traumwelt entführt hatte. „Ich weiß nicht, wer Ihr seid …“ Er versuchte mühevoll, seiner Stimme einen kraftvollen Klang zu verleihen. „Aber Ihr müsst mich verwechseln. Ich bin bloß …“ „Ein Niemand?“, führte der Unbekannte seinen Satz zu Ende, als hätte er seine Gedanken gelesen. „Du unterschätzt dich, Sharif. Du unterschätzt dich sogar sehr. Was würdest du antworten, wenn ich dir sage, dass du eines Tages ein großer König sein wirst.“ Trotz der abstrusen Situation konnte Sharif spöttisch auflachen. Ein König? Absolut lächerlich! Eher würden die Götter herabsteigen und mit den Menschen zusammenleben. „Ich habe dir ein Angebot zu machen, Sharif“, fuhr der Unbekannte fort. Er trat näher an Sharif heran, sein reiches Gewand raschelte bei jeder Bewegung. Der Ägypter versuchte, sich selbst dazu zu zwingen, zurückzuweichen, aber sein Körper gehorchte ihm noch immer nicht. Festgewachsen und unbeweglich wie eine Statue stand er an Ort und Stelle. „Im Moment wird es dir nicht allzu verlockend erscheinen, aber in ein paar Tagen oder Wochen, wenn der Wahnsinn dich zu zerfressen beginnt, wirst du vermutlich anders darüber denken.“ Asrim war nur noch eine Armlänge von ihm entfernt, dennoch lag sein Gesicht immer noch im tiefsten Schatten. Einzig seine Augen stachen hervor. Sie leuchteten wie die eines Tieres. „Du kannst nicht schlafen, nicht wahr?“, sagte der Fremde. „Nacht für Nacht versuchst du, zur Ruhe zu kommen, aber es gelingt dir nicht. Dein Körper wird von Tag zu Tag schwächer. Eine menschliche Hülle kann so etwas nicht lange aushalten.“ Sharif spürte, wie sein Herzschlag sich beschleunigte. Woher wusste dieser Kerl von seinen Schlafproblemen? Er hatte niemanden davon erzählt, nicht mal Aja. Sich Schwächen einzugestehen, kam meist einem Todesurteil gleich. „Deine Nachtsicht wird schärfer“, fuhr Asrim fort, als würde er Sharif und dessen Lebensgeschichte schon seit Ewigkeiten kennen. „Einer der wenigen Vorteile, bevor es ungemütlich wird.“ Er lächelte schwach. „Schon bald aber wirst du Stimmen hören. Erst schwach, einem Flüstern gleich, sodass du denkst, du träumst. Aber der Chor wird immer lauter, immer aufdringlicher. Irgendwann hast du das Gefühl, dir platzt der Schädel. Du schreist dir die Seele aus dem Leib, während du dabei zusehen kannst, wie dein Körper jämmerlich zugrundegeht.“ Sharif schluckte. Er feuerte sich weiterhin mit aller Gewalt an, endlich wegzulaufen, aber immer noch rührte sich nichts. Somit konnte er nur dort stehen und den schrecklichen Prophezeiungen dieses Mannes lauschen. Normalerweise hätte er ihn für vollkommen verrückt gehalten, aber die Tatsache, dass er von seinen Schlafstörungen und der verbesserten Nachtsicht gewusst hatte, obwohl Sharif dies keiner Menschenseele anvertraut hatte, machte ihn mehr als stutzig. Er hatte das Gefühl, als könnte Asrim tief in sein Innerstes blicken. Als könnte er jedes noch so gut gehütete Geheimnis ohne Schwierigkeiten aufdecken. „Aber ich kann dir alles Leid ersparen“, meinte er. „Komm mit mir, Sharif, und wir können zusammen die Welt erstarren lassen.“ Sharif war absolut sicher, sich verhört zu haben. „Was …?“, fragte er stammelnd. Wollte dieser Kerl ihn auf den Arm nehmen? Sich auf seine Kosten lustig machen? „Ich weiß, dass du denkst, ein unbedeutender Taugenichts zu sein, aber das ist weit von der Wahrheit entfernt.“ Asrim vollführte eine weitausholende Armbewegung, als wollte er die ganze Welt darin einschließen. „Du bist ein Führer, ein Herrscher, ein König. Schon seit dem Tag deiner Geburt ist es dir bestimmt, Herr über alle niederen Wesen zu werden. Und ich kann dich auf diesen Weg führen!“ Asrim machte den Anschein, als wollte er seine Argumentation weiter ausführen, doch plötzlich wendete er seinen Kopf nach rechts. Er murmelte etwas in einer für Sharif unbekannten Sprache und trat einige Schritte zurück. Bereits im nächsten Augenblick war er von der Dunkelheit völlig verschluckt. Als hätte es ihn niemals gegeben. „Was ist los, Sharif?“ Es war Aja, der aus der Richtung auftauchte, in die Asrim zuvor geschaut hatte. „Ich hab dich mit jemanden reden hören.“ Hatte er das wirklich? Nun, wo dieser unheimliche Kerl fort war, erschien Sharif das Ganze nur noch irrealer. Hatte ihn tatsächlich ein wohlhabender und ihm absolut fremder Mann gerade eben gebeten, mit ihm zu kommen? „Du musst dich täuschen“, sagte Sharif geistesabwesend. Immer noch starrte er wie betäubt auf die Stelle, wo Asrim verschwunden war. „Da war niemand.“ Trotzdem hörte er immer noch Asrims verführerische Stimme in seinem Ohr, die ihn als König und Führer tituliert hatte. Die ihm eine große Zukunft prophezeit hatte, deren Bann sich Sharif kaum hatte entziehen können. Es hatte wahr geklungen. Aufrichtig. Asrim hatte felsenfest an das geglaubt, was er Sharif erzählt hatte. Er war tatsächlich der Meinung gewesen, einen großen Herrscher und keinen gewöhnlichen Taschendieb und Tagelöhner vor sich zu haben. War Asrim demnach ein armer, verwirrter Tropf mit einer verzerrten Ansicht der Realität? Er hatte auf Sharif in keiner Sekunde wie ein Verrückter ohne jedes bisschen Verstand gewirkt, aber was für eine andere Erklärung gab es dann? Ein Prophet? Jemand, der die Zukunft bestens kannte? Sharif verzog bei diesen Gedanken das Gesicht. Absoluter Humbug! Er hatte zwar schon von magischen Wesen gehört, die die Ströme der Zeit erspüren konnten, aber dennoch war es völlig unmöglich. Wieso auch hätte ausgerechnet Sharif etwas Besonderes sein sollen? „Du solltest dich in diesen Stunden nicht allein hier herumtreiben“, riss ihn Ajas Stimme aus seinen Überlegungen. „Schreckliche Gerüchte sind im Umlauf.“ Bevor Sharif in irgendeiner Weise darauf reagieren konnte, lachte Aja auf und hob abwehrend die Hände, als hätte Sharif seine Aussage in Frage gestellt. „Ich weiß, was du sagen willst. Habe ich das nicht erst heute Mittag als Aberglaube abgestempelt? Nun, das habe ich in der Tat. Aber zu diesem Zeitpunkt hatte ich auch noch nicht die Informationen, die ich jetzt habe.“ Ungeniert ergriff er Sharifs Arm und zog ihn hinter sich her. Seine Füße folgten dem alten Freund, aber seine Gedanken blieben weiterhin an der Stelle, an der er mit Asrim gesprochen hatte. Immer noch sah er diesen mysteriösen Mann mit dem dämonischen Lächeln vor sich und hörte Ajas Gerede nur mit halbem Ohr zu. „Ich habe mit einem der Hellenen gesprochen“, plapperte dieser munter weiter. „Rein zufällig, musst du wissen. Ganz galant und geschickt, wie ich bin, habe ich herauszufinden versucht, wie hoch ihre Sicherheit ist. Siehst du, Sharif, ich kann also doch planen!“ Er brüstete sich kurz, ehe er fortfuhr: „Der Mann wollte mir erst nichts sagen, aber dann sprudelte es aus ihm heraus wie aus einem Wasserfall. Er fing an zu jammern, dass alles ihre Schuld wäre und dass der Tod sie verfolgen würde.“ Aja führte Sharif am Ufer des Nils entlang. Ab und an begegneten sie einigen Leuten, meist Fischern und anderen Arbeitern, die sich auf den bevorstehenden Tag vorbereiteten, aber abgesehen davon war alles verlassen. „Er hat behauptet, sie hätten den gefräßigen Schatten nach Behedet gebracht“, erklärte Aja. „Zumindest könnte es von der Zeit her passen, die ersten Angriffe waren etwa zu jener Zeit, als die Hellenen mit dem Schiff hier ankamen. Er erzählte mir, sie hätten einen merkwürdigen Passagier gehabt. Ein Kerl mit fahler Haut, der die Dunkelheit bevorzugt hat. Er stammte wohl weit aus dem Osten.“ Nun horchte Sharif auf. „Aus dem Osten?“ „Er verschwand, kaum dass das Schiff in Behedet angelegt hatte. Ein unheimlicher Mann, wie mir der Hellene berichtete. Er schien Todesangst zu haben und erzählte mir, dass während der Fahrt über den Nil einer seiner besten Freunde auf dem Schiff spurlos verschwunden sei.“ Aja seufzte. „Tja, ich schätze mal, sie hatten einen Dämon an Bord.“ Sharif erschauerte. Ein Mann mit fahler Haut aus dem Osten? Merkwürdig und unheimlich? Ein Dämon? Sharif schluckte. Wenn er ehrlich zu sich war, wollte er gar nicht allzu sehr über das Ganze nachdenken. Ihm wäre es lieber gewesen, das alles zu vergessen. Asrims teuflisches Lächeln und die funkelnden Augen, die verführerisch anmutende Stimme und das in die Finsternis gehüllte Gesicht. Solche Gedanken bescherten einem nur Albträume. * * * „He, Sharif, wie findest du das?“ Ajas Stimme war nur am Rande seines Bewusstseins, kaum wahrnehmbar. Wie ein flüchtiges Aufbäumen, das sofort wieder verschwand und augenblicklich vergessen wurde. Erst als Sharif leicht an der Schulter gestupst wurde, blickte er auf. Er bemerkte, wie Aja ihn entnervt musterte. „Sag mal, Sharif, was ist in den letzten Tagen eigentlich los mit dir?“, fragte dieser nach. „Ständig bist du mit deinen Gedanken woanders, kannst dich auf nichts mehr konzentrieren. Gestern warst du sogar dermaßen in deinen Gedanken versunken, dass du beinahe schnurstracks gegen eine Wand gelaufen wärst, hätte ich dich nicht davon abgehalten.“ „Wirklich?“ Davon hatte Sharifs überhaupt nichts mitbekommen. Schuldgefühle übermannten ihn, als er realisierte, welchen Ärger er Aja verursachte. Sein alter Freund hatte sicherlich Besseres zu tun, als ständig ein Auge auf Sharif zu haben, damit dieser keine Mauern rammte oder sich versehentlich im Nil ertränkte. Aber Sharif schaffte es einfach nicht, seine Gedanken zu ordnen. Der Dämon spukte in seinem Kopf herum und machte ihn schier wahnsinnig. Andauernd fühlte er sich beobachtet. Er war angespannt und gereizt, nur um im nächsten Moment vollkommen geistesabwesend ins Nichts zu starren. Sharif vermochte Asrim einfach nicht zu vergessen. Immer noch schwirrten seine Worte in Sharifs Bewusstsein, immer noch spürte er diese lähmende Angst. Auch wenn dieser merkwürdige Mann seit ihrer Begegnung vor vier Tagen nicht mehr vor ihm in Erscheinung getreten war, hatte er das Gefühl, dass er sich irgendwo ganz in seiner Nähe aufhielt. „Also, wie findest du das nun?“, wiederholte Aja seine Frage. Unter seinem Umhang holte er ein glänzendes Schmuckstück hervor, welches er beinahe schon liebevoll betrachtete. Es handelte sich um eine funkelnde Kette, die er sicherlich nicht legal erstanden hatte. „Wo hast du das her?“, hakte Sharif nach. Das Schmuckstück sah ausgesprochen wertvoll aus, was vermuten ließ, dass er es nicht unbedingt einem einfachen Händler vom Markt gestohlen hatte. „Ist doch egal“, meinte Aja abwinkend. „Wichtig ist nur, dass es mir bestimmt einiges einbringen wird. Ich werde zumindest eine ganze Zeit nicht mehr hungern müssen.“ Sharif seufzte und schüttelte den Kopf. „Aja, du sollst doch in keine Häuser mehr einsteigen. Du weißt, wie empfindlich Thryphon darauf reagiert.“ „Thryphon“, schnaubte Aja verächtlich. „Das ist doch nur ein Idiot, der –“ Er hielt kurz inne, schaute an Sharif vorbei zur Straße, die die kleine Gasse kreuzte, in der sie sich gerade befanden, und riss entsetzt die Augen auf. „Ein Idiot, der uns offenbar gefunden hat!“ Sharif wirbelte herum. Sein Herz setzte einen Moment aus, als er Thryphon am Ende der Gasse stehen sah, flankiert von mehreren muskelbepackten Männern. Aja setzte sich sofort in Bewegung und wollte in die entgegengesetzte Richtung stürzen, rannte aber direkt in einen weiteren Hünen hinein, der sich von der anderen Seite genähert hatte. Er packte Aja grob am Arm, woraufhin dieser schmerzvoll aufstöhnte. Sharif ließ seinen Blick schweifen, während sein Puls immer höher stieg. Es sah alles andere als gut aus. Sie waren umzingelt, es gab keinen Fluchtweg. Und die glitzernde Kette in Ajas Hand musste wie eine Verhöhnung auf Thryphon wirken. „Wie schön, dass wir uns zufällig über den Weg laufen.“ Gemächlich schritt Thryphon auf sie zu, seine Lippen zu einem gehässigen Grinsen verzogen. Auch ohne die kräftigen Leibwächter hätte dieser Mann überaus bedrohlich gewirkt. Er war zwar kaum größer als Sharif, strahlte aber eine gewisse Autorität aus, die jedermann unweigerlich zurückweichen ließ. Sein Haar war lang und bereits etwas schüttern geworden und auch die ersten tieferen Falten zeigten sich schon auf seinem Gesicht, aber dennoch hatte er seine Wirkung auf keinen Fall verloren. Immer noch waren seine dunklen Augen stechend und sein harter Blick eine einzige Qual für jeden gestandenen Mann. Besonders angsteinflößend war die unansehnliche Narbe auf seiner rechten Wange, die sein Gesicht völlig entstellte. Sie war sein wunder Punkt, bei dem er immer furchtbar ausflippte, wenn er glaubte, dass jemand sie zu lange angestarrt hätte. „Aja, mein Freund.“ Thryphons Stimme war tief und trügerisch mitfühlend, als würde er Ajas Schicksal in irgendeiner Art bedauern. „Du bist ziemlich dreist, weißt du das? Wie oft hast du mich jetzt schon vorgeführt?“ „Thryphon …“, bat Aja, während er versuchte, sich aus dem Griff des Mannes zu befreien. Doch jeglicher Befreiungsversuch blieb erfolglos. Sharif drückte sich derweil an die Wand und sah von einem zum anderen. Bisher zeigte niemand übermäßiges Interesse an ihm, aber das konnte sich schnell ändern. „Ich habe allmählich genug“, sagte Thryphon kalt. „Ich habe dich bloß so lange verschont, weil meine Frau dich mochte. Immer wieder hat sie betont, was für ein gerissener Kerl du wärst. Und sie hatte nicht Unrecht, muss ich zugeben. Du bist wirklich ein schlaues Bürschchen.“ Sein intensiver Blick wurde nur noch durchdringender, sodass Aja aufquietschte. „Stimmt es tatsächlich, dass du mit meiner Frau auch privat verkehrt hast? Dieses Gerücht habe ich vor einigen Tagen aufgeschnappt und ich finde es wirklich sehr interessant. Sogar sehr, sehr interessant.“ Während Aja begann, herumzudrucksen, um sich irgendwie aus der Situation zu retten, konnte Sharif bloß für einen Moment die Augen schließen und tief Luft holen. Er hatte es kommen sehen, dass ihn Ajas Leichtfertigkeit eines Tages ins Verderben ziehen würde. „Und was war mit diesen hellenischen Kaufleuten?“, hakte Thryphon gefährlich zischelnd nach. „War dir eigentlich bewusst, dass ich hinter ihren Waren her bin, oder schmiedest du immer noch heimlich Pläne, um sie zu erleichtern.“ „Nein, ganz gewiss nicht“, versprach Aja. „Als ich hörte, dass du an den Waren interessiert bist, habe ich mich sofort zurückgezogen.“ Sharif konnte daraufhin nur die Stirn runzeln. Er selbst war zwar in den letzten Tagen etwas unkonzentriert gewesen, hatte aber dennoch mitbekommen, dass Aja die ganze Sache sicherlich nicht einfach aufgegeben hatte. Immer noch hatte er Recherchen angestellt und sich mit einigen potenziellen Komplizen beraten. Auch Thryphon schien offenbar über diese Informationen zu verfügen, denn er machte nicht den Eindruck, als würde er Aja auch nur ein Wort glauben. „Elende Lügner wie dich kann ich auf den Tod nicht ausstehen“, fauchte er. „Ich habe dich schon unzählige Male davonkommen lassen, aber nun habe ich genug. Du musstest mich ja unbedingt herausfordern.“ Mit grimmiger Miene nickte er dem Mann zu, der Aja festhielt. Dieser verstand die Geste sofort und holte unter seinem Umhang einen funkelnden Gegenstand hervor. Sharif brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass es sich um einen Dolch handelte. „Nein!“, rief er erschrocken aus. Ohne recht darüber nachzudenken und die Konsequenzen abzuwägen, wollte er nach vorne stürmen und den Mann aufhalten, doch einer der muskulösen Leibwächter stellte sich ihm in den Weg. „Sieh an, sieh an“, meinte Thryphon mit einem leicht amüsierten Unterton in der Stimme. „Wie mutig und dumm. Keine sehr gesunde Kombination.“ Er schnaubte. „Willst du etwa deinen Freund retten? Vielleicht ist es dir noch nicht aufgefallen, aber dieser Hund ist deines Mitgefühls nicht wert.“ Er lachte auf. Ein kaltes und herzloses Lachen. Und dann drehte er sich um und ging einfach davon. Zwei seiner Leibwächter folgten ihm, der Rest jedoch verharrte an Ort und Stelle. Einen Augenblick war die Luft zum zerreißen gespannt, niemand rührte sich. Als Thryphon jedoch um die Ecke verschwand, war dies offenbar ein Zeichen für die Männer, in Aktion zu treten. Aja warf Sharif einen letzten entschuldigenden Blick zu, ehe der Kerl mit dem Dolch ausholte und ihm die Waffe in den Rücken rammte. Aja riss entsetzt die Augen auf und gab ein gurgelndes Geräusch von sich, ehe seine Knie nachgaben und er zu Boden sank. „Aja!“, schrie Sharif. Er wollte zu ihm stürzen, aber Hände hielten ihn davon ab. Schreiend und fluchend wand er sich wie ein Fisch im Netz, während er schockiert seinen Freund betrachtete. Aja rührte sich zwar noch, aber unglaublich viel Blut quoll aus seiner Wunde hervor und versickerte im Sand. „Hör auf, zu zappeln“, zischte ihm jemand ins Ohr. Ehe Sharif sich versah, spürte er furchtbare Schmerzen, als ihm eine Faust in den Magen gerammt wurde. Alle Luft entwich aus seinen Lungen, ächzend sank er vornüber und stürzte zu Boden. Er stöhnte auf, als weiter auf ihn eingetreten wurde. In den Rücken, in den Bauch und sogar einmal ins Gesicht. Sharif wurde einem kurzen Moment schwarz vor Augen, woraufhin er regelrecht zu hoffen begann, das Bewusstsein zu verlieren. Dann hätte er wenigstens diese Schmerzen nicht ertragen müssen. Aber letztendlich ließen sie von ihm ab. Wahrscheinlich hatte das Ganze höchstens ein paar Sekunden gedauert, aber ihm kam es wie eine Ewigkeit vor. Eine schreckliche und quälende Ewigkeit. Sharif hörte schließlich, wie sich die Männer entfernten. Lachend zogen sie ab, offenbar stolz auf sich, es zwei Kerlen gezeigt zu haben, die in der Unterzahl gewesen waren. Und schon bald verklangen ihre Stimmen. Eine ganze Weile blieb Sharif regungslos liegen. Sein gesamter Körper schmerzte furchtbar und schon der Gedanke daran, sich irgendwann wieder bewegen zu müssen, ließ ihn erschauern. Falls er überhaupt irgendwann wieder aufstehen würde. Sharif konnte nicht recht daran glauben. Er spürte den Geschmack von Blut in seinem Mund, fühlte die unendliche Qual, die sein Körper zu erleiden hatte. Schon öfter hatte er Männer gesehen, die zusammengeschlagen worden waren. Viele hatten sich zwar erholt, aber einige von ihnen waren irgendwann Stunden oder auch Tage später wimmernd und weinend gestorben. Sharif wusste zwar nicht, ob er wirklich dermaßen schwer verletzt war, dass bloß der Tod seine einzige Erlösung würde sein werden, aber großartig verwundert hätte es ihn nicht. Zumindest hatte er nicht das Gefühl, sich jemals wieder aufrappeln zu können. Er schaute unweigerlich zu Aja. Sein Körper war seltsam verkrümmt und voller Blut, sein Blick war ins Nichts gerichtet. Seine Augen, die sonst immer voller Leben gesprüht hatten, waren leer und tot. Bei diesem Anblick stiegen Sharif unwillkürlich Tränen in die Augen. Das Ganze kam ihm wie ein entsetzlicher Albtraum vor. Eben noch hatte Aja ihm stolz seine erbeutete Kette präsentiert und breit gegrinst, nun aber lag er blutbesudelt auf dem Boden und würde nie wieder lachen. Nie wieder. „Die Menschen sind grausam.“ Sharif zuckte nicht einmal zusammen, als er diese wohlbekannte Stimme hörte, die er die letzten Tage und Nächte immer wieder in seinen unruhigen Träumen vernommen hatte. Er hatte nicht mal Kraft, sich zu fürchten. Wovor hätte er auch jetzt noch Angst haben sollen? Sharif richtete mühsam seine Aufmerksamkeit auf die dunkle Gestalt, die regelrecht aus dem Schatten zu treten schien. Sie kam direkt auf ihn zu und kniete sich neben ihm nieder. „Menschen sind grausam“, flüsterte Asrim erneut. Er fuhr mit seiner eiskalten Hand kurz über Sharifs Stirn. „Sie töten sich gegenseitig für Nichtigkeiten. Nicht einmal Dämonen würden so etwas Niederträchtiges tun.“ Fast schon verträumt schaute er zu Ajas Leichnam hinüber, ehe er sagte: „Ich kann dir helfen, Sharif. Du brauchst nur einzuwilligen.“ Sharif ächzte leise, sagte aber nichts. Er hätte wahrscheinlich sowieso keinen Ton über die Lippen gebracht. Er schmeckte bloß das Blut auf seiner Zunge und wusste plötzlich mit felsenfester Gewissheit, dass er nun sterben würde. „Ich kann dir die Macht geben, dich zu rächen.“ Asrims Stimme war eine einzige Verlockung, der sich Sharif nur schwer entziehen konnte. „Du wirst ein König sein, ein Gott. Und du wirst dich an jenen Männern rächen können, die dich und deinen bemitleidenswerten Freund vorhin noch ausgelacht haben.“ Seine Lippen verzogen sich zu einem dämonischen Grinsen. „Möchtest du sie schreien hören? Möchtest du hören, wie sie jammern und um Gnade betteln?“ Wie von selbst erwiderte Sharif Asrims Lächeln, wenn auch ein wenig kraftloser. Er vernahm bereits förmlich die Todesschreie der Männer, die Aja ohne weiteres getötet hatten, als wäre er ein Stück Dreck gewesen. Als hätte sein Leben keinerlei Bedeutung gehabt. Sharif merkte, wie er selbst schwach nickte. Asrim wirkte daraufhin überaus zufrieden. Er strich dem Ägypter noch einige Strähnen aus dem Gesicht, ehe er seine Finger zu Sharifs Hals wandern ließ. „Wunderbar“, flüsterte er. „Dann sei willkommen, mein Sohn.“ ________________________________________________________ [1] Abdju = ägyptisch; heute bekannt als Abydos [2] Hellenen = Griechen [3] Behedet (oder Neset-Netjeru) = ägyptisch; heute bekannt als Edfu Kapitel 3: Euthalía ------------------- Theben, Griechenland (419 v. Chr.): „Warum sind wir eigentlich nochmal hier?“ Sharifs Stimme klang überaus genervt. Er hockte auf dem Rand des Brunnens und schaukelte sein Bein ungeduldig hin und her, während er finster dreinschaute. „Asrim hat uns hierherbestellt, schon vergessen?“ Alec musste sich bemühen, nicht allzu amüsiert zu klingen. Normalerweise war Sharif ein besonnener und ruhiger Mann, aber im Moment wirkte er wie ein trotziges Kleinkind. Ein Anblick, den man nur äußerst selten zu Gesicht bekam. „Also sei brav und hör auf, zu nörgeln.“ Sharif warf ihm daraufhin einen giftigen Blick zu. „Pass auf, was du sagst!“ Alec grinste breit, verkniff sich aber jeglichen Kommentar. Stattdessen ließ er seinen Blick schweifen. Es war zwar erst früher Morgen, aber in der Stadt herrschte bereits viel Betrieb. Überall verkehrten die Menschen und gingen ihrem Tagwerk nach. Alec entdeckte gewöhnliche Arbeiter und auch Sklaven, die sich mit zielgenauer Sicherheit durch die Straßen und Gassen bewegten, aber ebenso betuchtere Männer, welche sich in edle Stoffe gehüllt hatten, um aus der Masse herauszustechen. Am Erfreulichsten empfand Alec jedoch die jungen Mädchen, die zum Brunnen geschickt worden waren, um Wasser zu schöpfen. Eine beliebte Taktik von Eltern, um ihre hübschen und vor allen Dingen heiratsfähigen Töchter der Männerwelt zu präsentieren. Im Moment zwar ziemlich sinnlos, da sich ein Großteil der Männer nicht in der Stadt befand, aber dennoch immer wieder eine vielgenutzte Strategie. Alec lächelte einem besonders schönen Exemplar zu, das gerade an den Brunnen getreten war. Sie war vielleicht vierzehn Jahre alt, hatte hohe Wangenknochen, eine zarte Haut und wirkte allgemein wie das Sinnbild der Unschuld und Keuschheit. Als sie Alecs Blick bemerkte, errötete sie sofort und senkte rasch ihren Kopf. „Jetzt starr das arme Ding doch nicht so an“, meinte Sharif tadelnd. „Am Ende stolpert sie noch über einen Kieselstein, plumpst in den Brunnen und ertrinkt jämmerlich.“ Das Mädchen hob leicht seinen Blick und musterte Sharif neugierig. Wahrscheinlich war es der starke fremdländische Akzent, der ihr Interesse geweckt hatte. Sharif war zwar noch nicht lange in Griechenland, beherrschte die Sprache aber schon ausgesprochen gut. Seine ägyptische Herkunft konnte er hingegen nicht verleugnen. Zumindest noch nicht. Ein paar Monate oder auch Jahre des Trainings und sein Griechisch würde dermaßen tadellos sein, als hätte er noch nie zuvor ein anderes Land auch nur betreten. Alec hingegen befand sich schon mehrere Monate in diesem Land und hatte es irgendwie ins Herz geschlossen. Er mochte die Art der Menschen und besonders ihr Andersdenken. Sie gaben sich den schönen Dingen hin, liebten Philosophie, Literatur und Kunst, waren auf der anderen Seite aber auch erbitterte Krieger. Besonders in diesen turbulenten Zeiten, in denen sich die Athener und Spartaner gnadenlos bekriegten, wurde dies mehr als deutlich.[1] Auch Theben hatte sich dem Kampf verschrieben und sich entschieden gegen Athen gestellt. Auffällig war dies vor allem wegen dem Fehlen vieler Männer in der Stadt. Zwar war Theben immer noch reich bevölkert, aber zurzeit begegneten einem fast nur ausschließlich Junge, Alte und Frauen. „Und warum hat uns Asrim überhaupt hierherbestellt?“, fragte Sharif zischend. „Da hätte ich ja ebenso gut mit Oscar, Yasmine und den Zwillingen in Delphi bleiben und mir mal das Orakel anschauen können.“ Alec lächelte leicht. „Du weißt doch ganz genau, weswegen wir hier sind, nicht wahr?“ Sharif verzog sein Gesicht. „Ja“, gab er schließlich zu. „Aber warum müssen wir uns darum kümmern? Immerhin ist es sein Schicksal, nicht unseres. Soweit ich mich erinnere, stand im Ty’lyar nirgends geschrieben, dass wir beide eine entscheidende Rolle bei dem Ganzen spielen würden. Wir wurden in der Passage nicht mal erwähnt.“ „Diskriminierend, ich weiß“, entgegnete Alec grinsend. „Aber Asrim musste nun mal spontan weg. Er hat irgendetwas von einem alten Freund erzählt, der in Schwierigkeiten steckt. Keine Ahnung, was da los ist.“ Asrim hatte sogar leicht besorgt gewirkt. Offenbar war ihm dieser Jemand, den er aufsuchen musste, ausgesprochen wichtig. „Und wir armen Schweine müssen jetzt die Stellung halten.“ Er klopfte Sharif aufmunternd auf die Schulter, erntete daraufhin aber nur einen verärgerten Blick. „Jetzt schau nicht so verdrießlich. Ich glaube, dass Asrim einfach Angst hat, dass in der Zwischenzeit hier in Theben irgendwas geschehen könnte. Wir sind hier als … Aufpasser.“ „Und was soll passieren? Greifen die Athener bald an? Oder wieder die Perser?“ Alec zuckte mit den Schultern. „Alles ist möglich.“ Sharif schnaubte bloß und wandte sich schließlich ab. Eine Weile saßen sie einfach stumm nebeneinander und beobachteten das Treiben der Thebaner. In einem solch heißen Land wie Griechenland wurden besonders die Morgen- und Abendstunden für die Arbeit genutzt, während man sich mittags zurückzog. Alec hatte sich erst an diesen seltsamen Rhythmus der Menschen gewöhnen müssen, stammte er selbst immerhin aus einem Land, wo es morgens und abends meistens viel zu kalt war, um sich aus dem warmen Bett zu quälen. Sharif hingegen hatte damit offensichtlich keinerlei Probleme, was aber bei einem Ägypter auch nicht weiter verwunderlich war. Zum Teil war er sogar noch extremere Temperaturen gewöhnt. „Lass uns unsere Beine was vertreten“, schlug Sharif schließlich nach einer Zeit vor. Er war bereits aufgestanden und blickte Alec erwartungsvoll an. „Asrim wird uns so oder so wiederfinden, ob wir hier nun warten oder uns ein bisschen umsehen.“ Alec nickte zustimmend, ehe er sich ebenfalls hochhievte und seinem alten Freund folgte. Gemeinsam schritten sie gemächlich durch die Straßen, betrachteten interessiert die hellenische Baukunst und machten keinen Hehl daraus, dass sie nicht aus Theben stammten. Einige musterten sie zwar argwöhnisch – in Kriegszeiten waren viele misstrauischer als in Perioden des Friedens –, aber niemand sprach sie direkt an. Entweder erweckten die beiden Vampire auf die Einheimischen einen recht harmlosen Eindruck oder sie spürten unterschwellig, dass sie sich mit den zwei Fremden besser nicht anlegen sollten. Auch Menschen konnten sehr sensibel auf ihre Umgebung reagieren, auch wenn sie es selbst nicht immer bewusst merkten. Alecs Blick ruhte gerade auf einer prächtigen, bunten Statue, als er laute Stimmen vernahm. Die Wortgefechte hallten durch die Gassen und ließen nicht nur die Vampire aufhorchen. Interessiert näherten sich Alec und Sharif dem Tumult und entdeckten eine Straße weiter eine kleine Gruppe von Menschen, die lebhaft miteinander diskutierte. Sie redeten wild durcheinander, sodass selbst Alec Probleme hatte, dem Gespräch zu folgen. „Wirklich traurig, das Ganze“, meinte plötzlich ein alter Mann neben ihnen seufzend. Er war, zusammen mit einigen anderen Schaulustigen, neugierig nähergetreten und musterte die Szenerie. Sein zerfurchtes Gesicht wirkte mitleidig, während er die streitenden Männer beobachtete. „Wisst Ihr, worum es bei diesem Streit geht?“, erkundigte sich Alec bei ihm. Der Alte schaute ihn einen Augenblick verwirrt an, beinahe, als hätte er die Anwesenheit der Untoten gar nicht bemerkt. Dann aber meinte er: „Seht Ihr diesen Mann? Das ist Alkeós. Er lebt in meiner Nachbarschaft und ist schon immer ein guter und ehrbarer Mann gewesen. Er war zwar niemals vermögend und kann sich nicht mal einen Sklaven leisten, aber das schien ihn nie gestört zu haben. Er kam mir trotz allem immer glücklich vor.“ Er hielt einen Moment inne und hustete leise. „Aber dann starb vor wenigen Jahren seine Frau. Und nun auch noch das.“ Alec musterte den besagten Mann. Er war etwas älter, hatte bereits zahllose grauen Strähnen in seinem Haar und trug einen gestutzten Vollbart. Er war muskulös und kräftig, was auf ein Leben voller harter Arbeit schließen ließ. Und sein Blick war über alle Maßen entschlossen, als er die Männer anschrie, die ihn den Weg in das hinter ihnen gelegene Gebäude versperrten. Alkeós machte den Anschein, als wollte er unter allen Umständen ins Innere gelangen. „Was ist das für ein Gebäude?“, fragte Sharif. „Eine Art Gefängnis“, erklärte der alte Mann. „Dort werden die schlimmsten Verbrecher wie Mörder und Verräter festgehalten, bis die hohen Herrschaften entschieden haben, was mit ihnen passiert.“ Alec hob eine Augenbraue. „Und ist in dem Gebäude jemand, den Alkeós kennt?“ Der Greis seufzte. „Seine Tochter.“ „Seine … Tochter?“ Alec warf einen Blick zu Sharif, der ebenso verwundert schien wie er selbst. Der Alte nickte bestätigend. „Ein armes Ding. Ein armes, kleines Kind. Alkeós liebt seine Euthalía über alles und ich kann ihn durchaus verstehen. Sie ist ein Sonnenschein, war immer sehr freundlich zu mir. Aber leider ist sie …“ Als er nicht weitersprach, hakte Alec nach: „Ist sie was?“ „Krank“, erwiderte er seufzend. „Schwach im Kopf. Schon immer gewesen. Viele fürchten sich vor ihr, halten sie für verrückt und wahnsinnig. Alkeós hat das Kind immer so gut wie möglich vor anderen beschützt, nun aber sind Dinge geschehen, die alles zum Einsturz gebracht haben. Diogénis ist tot und niemand kann ihn wieder zum Leben erwecken. Nicht mal Alkeós.“ Alec runzelte die Stirn. „Habe ich das gerade richtig verstanden? Ist diese Euthalía etwa für den Tod eines anderen Menschen verantwortlich?“ Der alte Mann seufzte schwer und stützte sich auf seinen Gehstock. „Ich kann es selbst nicht glauben, aber die Beweise sprechen eine unmissverständliche Sprache. Und wenn ich ehrlich bin, ist das Ganze nicht mal verwunderlich. Euthalía ist ein durch und durch ungewöhnliches Mädchen. Meistens erscheint sie harmlos, singt vor sich hin, versinkt in ihre eigene Traumwelt, aber manchmal … manchmal ist sie einfach nur unheimlich. Dann grinst sie wie Hades, der sich eine Seele in die Unterwelt geholt hat. Sie wirkt in solchen Augenblicken wie ein Dämon.“ Alec lächelte leicht. Das klang nach einer Frau ganz nach seinem Geschmack. Als jedoch der alte Mann seine bereits etwas trüben Augen erneut ihm zuwandte, setzte er wieder eine neutrale Miene auf. „Sie redet dauernd merkwürdiges Zeug“, fuhr der Alte fort. Obwohl seine Stimme gemächlich war, erkannte Alec, dass es ihm Freude bereitete, dies alles zu erzählen. Er gehörte offenbar zu der Sorte Mensch, die gerne Klatsch verbreitete und sich in der Neugierde der anderen sonnte. Es waren inzwischen sogar einige weitere Thebaner näher herangetreten, um der Geschichte interessiert zu lauschen. „Und vor wenigen Tagen hat sie die Warnung ausgesprochen, dass Diogénis sterben würde“, meinte der Greis. „Der Sohn eines ansässigen Händlers. Ein netter Mann, aber auch ziemlich streng.“ Er zog eine Grimasse, was Alec vermuten ließ, dass er mit dem Besagten in der Vergangenheit bereits unangenehm zusammengestoßen war. „Natürlich glaubte niemand Euthalías Geschwätz. Wieso auch hätten wir das tun sollen? Aber dann …“ „Dann wurde Diogénis tot aufgefunden“, mutmaßte Sharif. „In einer dunklen Gasse. Von hinten erstochen.“ Der Alte nickte kräftig. „Und selbstverständlich hat jeder sofort Euthalía in Verdacht gehabt. Woher sonst hätte sie es auch wissen sollen, wenn sie es nicht selbst geplant hat?“ „Aber warum hätte sie es dann vorher herausposaunen sollen?“, erkundigte sich ein kleiner Knabe, der zuvor fasziniert zugehört hatte. „Wer ist denn so dumm und verrät sich bereits im Voraus?“ „Wie gesagt, Euthalía ist schwachen Geistes“, sagte der alte Mann. „Sie hat sich wahrscheinlich nichts dabei gedacht. Im Grunde kann sich niemand vorstellen, was im Kopf dieses Mädchens vorgeht. Fakt ist jedoch, dass es einen Augenzeugen gibt. Kleantes, der Bruder des Opfers. Er schwört beim Leben der Götter, dass er gesehen hat, wie Euthalía Diogénis erstach.“ Mit diesen Worten deutete er auf einen kleinen, rundlichen Mann, der direkt vor Alkeós stand und ihm den Weg versperrte. Sein Haar war schüttern, sein Gesicht verkniffen und gerötet. Die Arme vor der Brust verschränkt, musterte er den verzweifelten Vater intensiv. In seinen dunklen Augen lag Verärgerung. Jedoch wahrscheinlich weniger wegen des Ablebens des Bruders, als vielmehr wegen der unnötigen Aufmerksamkeit, die Alkeós erregte. Ab und zu huschte sein unruhiger Blick über die Menge an Schaulustigen, die sich versammelt hatte. Alec trat unauffällig etwas näher an die Szene heran, dicht gefolgt von Sharif, der offenbar froh war, endlich ein bisschen Ablenkung zu haben und nicht beim Warten auf Asrim vor Langeweile zu vergehen. „Jetzt hör auf mit dem Theater, Alkeós“, meinte Kleantes soeben. Seine Stimme war schneidend, während er den Mann, der gut einen Kopf größer war als er selbst, scharf ins Visier nahm. „Deine Aufregung ist durch und durch unnötig und beleidigt außerdem das Ansehen meines Bruders. Wie kannst du es überhaupt wagen, dich auf die Seite einer Mörderin zu stellen?“ „Mörderin?“ Alkeós zischelte inzwischen dermaßen leise, dass nur Kleantes und die Vampire mit ihrem empfindlichen Gehör ihn noch zu verstehen vermochten. „Jeder hier weiß, dass du deinen Bruder gehasst hast. Dass du vor Neid zerfressen warst. Sein Tod kommt dir ziemlich gelegen, nicht wahr? Ich persönlich finde das ausgesprochen verdächtig, zumal du außerdem der einzige Augenzeuge bist.“ Kleantes lief bei dieser Anschuldigung rot an. „Sei vorsichtig mit dem, was du sagst! Die Götter bestrafen Lügner sofort.“ Alkeós lachte freudlos auf. „Dann muss sich ja jede Sekunde ein tiefer Abgrund unter dir auftun.“ Kleantes war offenbar kurz davor, die Beherrschung zu verlieren. Sein feistes Gesicht gewann zusehends an Farbe, sodass man fast hätte befürchten können, er würde in der nächsten Sekunde einen Herzanfall erleiden. Etwas, das sich anscheinend auch Alkeós erhoffte, wenn man seine Miene betrachtete. „Was hätte Euthalía für einen Grund gehabt, Diogénis zu ermorden?“, wollte dieser wissen. „Sie kannte ihn doch nicht mal wirklich. Sie haben höchstens ein paar Worte miteinander gewechselt.“ „Deine Tochter ist nun mal verrückt!“, stieß Kleantes aufgebracht hervor. „Sie braucht nicht mal einen Grund, sie hat es einfach getan. Oder kannst du mir sagen, aus welchem Grund sie immer so verträumt durch die Gegend schaut und mit Leuten redet, die gar nicht existieren?“ Er wartete einen Augenblick ab, ehe er fauchte: „Siehst du? Du magst deine Tochter vielleicht lieben, aber du verstehst sie nicht! Niemand tut das. Nicht mal deine Frau. Sie kam vor mehreren Jahren zu mir und klagte weinend ihr Leid, dass sie manchmal Angst vor ihrer eigenen Tochter hätte. Schon damals hätte ich erkennen müssen, dass sie eine Gefahr darstellt. Man hätte sie wegsperren sollen.“ Alkeós schrie wutentbrannt auf und wollte sich auf Kleantes stürzen, doch zwei der Wachtposten ergriffen ihn bei den Armen und hielten ihn zurück. Beruhigend redeten sie auf ihn ein, um seinen Zorn zu beschwichtigen. Kleantes derweil lächelte selbstzufrieden. „Euthalía ist geisteskrank, sieh es endlich ein! Schon seit wir sie gefangen genommen haben, erzählt sie ohne Unterlass irgendwelchen Quatsch. Davon, dass tote Menschen in der Stadt umherwandeln, dass Zauberwesen mit Namen Sharif und Alec sie retten würden …“ Alec spürte, wie Sharif unwillkürlich zusammenzuckte und schließlich einen verblüfften Blick mit seinem Freund wechselte. Einen Moment sahen sie sich nur schweigend an, dann aber zogen sie sich langsam zurück. Als sie die Menschenmenge schließlich hinter sich gelassen hatten, meinte Sharif: „Was hältst du davon?“ Alec legte den Kopf schief. „Ich denke, wir sollten dieser Euthalía einen Besuch abstatten.“ * * * Es war bereits stockdunkel, als die Vampire das Gefängnis betraten. Nichts und niemand stellte sich ihnen hierbei in den Weg. Zwar trafen sie vereinzelt einige Männer an – besonders schon etwas ältere, da viele der jüngeren in den Krieg gezogen waren –, aber da sich Alec und Sharif in den Schatten bewegten, nahm man sie nicht wahr. Alec ging sogar bloß wenige Zentimeter an einem Wächter vorbei, der daraufhin nicht mal blinzelte. Das Gebäude erwies sich als größer, als es von außen den Anschein gemacht hatte. Alec vermutete stark, dass es eigentlich nicht vorrangig als Gefängnis gedacht gewesen war. Dafür war die Ausstattung viel zu edel, die Architektur viel zu aufwendig. Wahrscheinlicher war einfach, dass das eigentliche Gefängnis zurzeit aus irgendeinem Grund nicht zur Verfügung stand und somit kurzerhand ein anderes Gebäude umfunktioniert worden war. Die Gefangene zu finden, war wahrlich nicht schwer. Alec folgte einfach dem Geruch, den er auch schon vage an Alkeós wahrgenommen hatte. Außerdem war Euthalía die einzige weibliche Person in dem Gebäude, was es für den Vampir nicht sonderlich schwer machte, ihre Spur aufzunehmen. Binnen weniger Augenblicke standen sie bereits vor einer schweren Eisentür, die man mit einem großen Riegel verschlossen hatte. Sharif schaute kurz den leeren Gang hinunter, ob nicht doch irgendwo ein unerwünschter Besucher auftauchte, ehe er mit Leichtigkeit das Schloss öffnete und die Tür aufstieß. Trotz der durchdringenden Dunkelheit konnte Alec das Innere des dahinterliegenden Zimmers bestens erkennen. Es war mit Marmor verkleidet, besaß einige extravagante Möbel und hohe Fenster. Dieser Raum war sicherlich normalerweise nicht dafür vorgesehen gewesen, Verbrecher zu beherbergen. Es war jedoch nicht die Inneneinrichtung, die Alecs Interesse weckte, sondern die zierliche Gestalt, die auf einer Decke auf dem Boden hockte und die Eintretenden neugierig musterte. Es handelte sich um eine Frau, etwa Mitte zwanzig, mit langen, dunklen Haaren und unglaublich intensiven Augen. Gehüllt war sie bloß in einen luftigen Chiton[2] und ein dünnes Mäntelchen, was den Schluss zuließ, dass man sie zu nachtschlafender Zeit unsanft aus ihrem Bett gezerrt hatte. „Ihr habt euch Zeit gelassen“, sagte sie, nachdem Sharif die Tür hinter sich wieder geschlossen hatte. Elegant stand sie auf und ging auf sie zu. Dabei fixierte sie sie genau, als würde sie die Finsternis nicht im Geringsten stören. Alec schenkte ihr ein breites Lächeln. Wenn alle geistesgestörten Damen dermaßen aufreizend waren, musste er dringend noch ein paar mehr kennenlernen. „Du hast uns also schon erwartet?“, erkundigte sich Sharif. Er verhielt sich völlig ruhig, als Euthalía vor ihm stehenblieb und ihm sanft über die Wange strich, als wollte sie in der Dunkelheit die Konturen seines Gesichts erahnen. „Ihr mich etwa nicht?“, fragte sie lächelnd. Sharif murmelte daraufhin etwas, doch Alec hörte ihm gar nicht zu. Stattdessen bemerkte er, wenig überrascht, die Aura der Magie, die Euthalía umgab. Offenbar handelte es sich bei ihr um eine Magierin, die die Ströme der Zeit zumindest ansatzweise fühlen konnte. Deswegen hatte sie auch den Tod Diogénis‘ vorausgesehen, obwohl sie selbst wahrscheinlich überhaupt nichts damit zu tun gehabt hatte. „Du bist eine Magierin“, stellte Alec fest, während er sich gleichzeitig wünschte, Euthalía würde auch mal zu ihm kommen und ihn in der Finsternis ertasten. Aber sie verharrte neben Sharif, als könnte nichts auf der Welt sie von ihm losreißen. „Gut erkannt, Alec“, sagte sie in einem Tonfall, als würde sie ein Kleinkind loben. „Schon mein Leben lang bin ich anders als die anderen. Sie halten mich für verrückt und irre, aber in Wahrheit sehen sie einfach nicht das, was ich sehe. Sie sind dumm, blind und bloß von beschränktem Verstand. Im Grunde bemitleidenswert.“ Alec wurde das Gefühl nicht los, dass sie dabei auch die Vampire nicht ausschloss. Eigentlich hätte er sich gekränkt fühlen müssen, doch er sah darüber hinweg. Ihr Lächeln war dermaßen bezaubernd und glich tatsächlich einem schadenfrohen Hades, sodass er ihr einfach nicht böse sein konnte. „Und du bist eine Sa’onti“, meinte Sharif plötzlich. „Der Prozess hat bei dir zwar gerade erst angefangen, aber ich kann es fühlen. Zumindest vage.“ Alec spürte zwar nichts, aber das verwunderte ihn nicht weiter. Sharif stand immerhin direkt neben Euthalía. Alec hingegen konnte nur ihre magische Aura wahrnehmen, die wahrscheinlich momentan ihre erwachten Fähigkeiten einer Sa’onti überschatteten, sofern man sie nicht aus nächster Nähe untersuchte. „Ich weiß, was ich bin“, meinte Euthalía. Sie klang sogar ein wenig beleidigt, als hätte Sharif in irgendeiner Weise ihren gesunden Menschenverstand angezweifelt. „Magierin, Sa’onti, Kind Asrims und der Schrecken der zukünftigen Welt. Und ich freue mich schon sehr darauf. Man wird vor mir erzittern.“ Sharif runzelte die Stirn und schien augenscheinlich nicht zu wissen, was er von der Frau halten sollte. Auch Alec musste zugeben, dass er ein wenig überfordert war. Mit so etwas hatte er einfach nicht gerechnet. „Na ja …“, meinte er schließlich zögernd. „Dann müssen wir dir ja wohl nichts mehr erklären, was? Eine angenehme Abwechslung.“ Hierbei kam ihm vor allen Dingen Oscar in den Sinn. Er war damals fast schon am Ende seiner Kräfte gewesen, halb wahnsinnig und kaum mehr als ein Schatten. Dennoch hatte er sich mit aller Macht gegen Asrims Worte gewehrt, hatte ihn als Dämon und Monster beschimpft. Asrim hatte lange gebraucht, um ihn zu überreden. Über mehrere Stunden hatte er neben dem leidenden Oscar gesessen und ihm alles erzählt: Das Wesen der Sa’onti, seine eigene Geschichte und die Verwandlung von Sharif und Alec. Auch Yasmine und die Zwillinge waren nicht so einfach zu überzeugen gewesen. Immerhin war es zunächst schwer zu verkraften, zu erfahren, dass man im Grunde für ein untotes Leben bestimmt war. Ebenso bei Alec hatte sich der Prozess länger hingezogen, auch wenn er sich ungern an seine menschliche Zeit erinnerte. Zuerst war er geschockt gewesen und hatte sich vehement gesträubt, ehe die Umstände seine Meinung geändert hatten. Euthalía hingegen machte nicht den Anschein, als würde sie sie für Dämonen und Monster halten. Im Gegenteil, sie strahlte sie überglücklich an. Alec war sicher, dass sich noch niemand jemals dermaßen gefreut hatte, sie zu sehen. „Also, wenn das so ist …“, begann Sharif, „dann würde ich sagen, dass wir von hier verschwinden. Asrim ist sicher gespannt, dich kennenzulernen.“ „Oh ja, bestimmt. Immerhin bin ich einzigartig.“ Euthalía kicherte wie ein kleines Mädchen. „Aber wir können noch nicht gehen.“ „Wieso nicht?“, hakte Alec nach. Euthalía musterte ihn daraufhin, als hätte er eine selten dumme Frage gestellt. „Na, weil mein Vater noch kommt“, erklärte sie in einem Tonfall, als würde sie mit einem begriffsstutzigen Kind reden. „Dein … Vater?“ „Natürlich.“ Sie rutschte etwas näher zu Sharif und schenkte ihm ein umwerfendes Lächeln, welches dieser jedoch nur gequält erwiderte. „Er kommt, um mich zu retten. Und ich will ihm den Spaß sicher nicht nehmen.“ „Aber wir können dich hier herausholen“, entgegnete Alec. „Dein Vater braucht sich wirklich nicht in Gefahr zu begeben. Das wäre völlig unnötig.“ „Ich weiß“, meinte Euthalía nickend. „Aber trotzdem muss es geschehen.“ Alec schaute mit gerunzelter Stirn zu Sharif, der nur hilflos mit den Schultern zucken konnte. „Aber … das ergibt keinen Sinn.“ „Ich weiß“, gab Euthalía zu. „Das Wenigste, was ich tue, wird für euch einen Sinn ergeben. Daran müsst ihr euch einfach gewöhnen.“ Sie schwieg kurz und wiegte ihren Kopf hin und her. „Mein Vater hat das Gefühl, mich retten zu müssen. Er denkt, es wäre alles seine Schuld. Er glaubt, mich niemals richtig geliebt, mir niemals die nötige Aufmerksamkeit geschenkt zu haben. Das ist zwar alles Quatsch, aber er ist davon besessen. Seine Schuldgefühle kann ich schon den ganzen Tag mehr als deutlich spüren.“ Sie wickelte eine Strähne ihres Haares um ihren Finger. „Er ist von dem Wunsch beseelt, mich zu befreien. Also lasse ich ihn gewähren. Um seinetwillen. Damit er vielleicht endlich wieder ruhig schlafen kann.“ Alec hob eine Augenbraue. „Aber das ist … völlig idiotisch!“ „Das ist es“, stimmte Euthalía zu. „Menschen verhalten sich oft ausgesprochen unlogisch. Und jetzt ab mit euch in die Ecke!“ Sie stieß Sharif wenig sanft gegen die Wand und zerrte auch Alec von seinem Platz fort. „Seid einfach still, in Ordnung? Wenn ihr brav seid, bekommt ihr nachher auch ein Leckerchen und Streicheleinheiten.“ Sie lachte auf und hüpfte summend zu ihrer Decke zurück. Alec hatte sich derweil zu Sharif gedreht und fragte, leicht beunruhigt: „Leckerchen?“ „Streicheleinheiten?“, erwiderte der Ägypter daraufhin. Alec schüttelte bloß seinen Kopf. „Bei allen Göttern, die Frau ist absolut wahnsinnig.“ „Das kannst du laut sagen“, meinte Sharif, während er bekräftigend nickte. Sein Blick ruhte unablässig auf Euthalía, die wieder im Schneidersitz auf dem Boden saß, sich durch ihr Haar strich und leise vor sich hinmurmelte. Alec konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. „Du stehst auf sie, nicht wahr?“ „Ach, halt die Klappe!“ Alec wollte mit seinen Sticheleien weiter fortfahren, verstummte aber, als plötzlich von außen jemand die Tür öffnete. Knarrend bewegte sie sich und eine große Gestalt schlüpfte in den Raum. Atemlos, mit einem erhöhten Herzschlag und sichtlich aufgeregt. Der Geruch von Unruhe und Nervosität stieg Alec sofort in die Nase. „Euthalía!“, flüsterte Alkeós, als er seine Tochter entdeckte. Sofort stürmte er zu ihr und nahm sie in den Arm. „Es tut mir leid. Es tut mir so leid.“ „Warum entschuldigst du dich denn?“, fragte Euthalía. „Du hast doch überhaupt nicht verbrochen.“ Sie lachte unterdrückt. „Du bist so merkwürdig, Vater. Willst du die Schuld der ganzen Welt auf dich nehmen?“ „Mich bezeichnest du als merkwürdig?“, hakte Alkeós ungläubig nach. Und auch Alec fand, dass dies eine überaus berechtigte Frage war. „Jeder in diesem Raum ist merkwürdig, abgesehen von mir“, meinte Euthalía mit einem verschlagenen Lächeln. Alkeós schüttelte bloß den Kopf und half ihr auf die Beine. Unruhig ließ er seinen Blick schweifen, konnte aber die beiden Vampire nicht erspähen, die sich in der Dunkelheit versteckt hielten. Im Irrglauben, völlig allein zu sein, hob er die Decke vom Boden und legte sie auf die Schulter seiner leicht bekleideten Tochter, ehe er sie zur Tür schob und mir ihr nach draußen ging. Sharif starrte den beiden derweil hinterher. „Und was machen wir jetzt? Trotten wir ihnen nach, bis dieser glückliche Vater-Tochter-Moment vorbei ist?“ Alec zuckte mit den Schultern. „Warum nicht? Hast du was Besseres vor?“ Sein Freund wusste darauf keine Antwort, sodass er sich wortlos in Bewegung setzte und den zwei Menschen unauffällig folgte. Auch Alec tat es ihm nach. Während sie sich auf dem Weg nach einem Ausgang befanden, veranstalteten Alkeós und Euthalía dermaßen viel Lärm, dass Alec bloß den Kopf schütteln konnte. Zwar waren sie für menschliche Verhältnisse wirklich extrem leise, doch der Vampir fragte sich immer wieder erneut, wie man dermaßen zurückgebliebene Sinne haben konnte, dass man solch einen Krach nicht zu hören vermochte. Das Rascheln ihrer Gewänder, das Schlurfen ihrer Sandalen, Alkeós‘ schnelle Atmung, sein laut klopfendes Herz … Und offenbar, sehr zu Alecs Überraschung, hatte man sie doch gehört. Sie standen direkt hinter der nächsten Biegung. Dermaßen aufgereiht und erwartungsvoll, dass man annehmen konnte, dass sie nur auf die Flüchtenden gewartet hatten. „Ich hatte mir schon gedacht, dass du eine Dummheit begehen würdest, Alkeós.“ Kleantes‘ Stimme troff geradezu über vor Gehässigkeit. Selbstzufrieden trat er einen Schritt nach vorne und betrachtete Vater und Tochter herablassend. „Du hättest es besser wissen sollen. Niemand schafft es, ungesehen von hier zu fliehen.“ Alkeós schnaubte, während er Euthalía schützend in seine Arme zog. „Ich musste es wenigstens versuchen. Man kann von einem Vater nicht verlangen, dass er tatenlos zusieht, wie sein Kind zu Unrecht bestraft wird.“ „Zu Unrecht?“ Kleantes lachte spöttisch auf. „Wir beide wissen sehr wohl, dass deine Tochter keine unschuldige Blume ist, wie ihr Name es vermuten lässt[3]. Sie ist eine Gefahr für sich und andere. Erzählt sie nicht immer wieder, dass sie die Menschen eines Tages in Angst und Schrecken versetzen wird?“ Alkeós verengte seine Augen zu Schlitzen, während Kleantes weiterhin überlegen lächelte und sich offenbar wie der König der Welt fühlte. Die versammelten Wachtposten hinter ihm sahen hingegen nicht allzu erfreut aus. Ihnen missfiel wohl der Gedanke, Alkeós seine Tochter aus dem Arm reißen zu müssen. Sie konnten wahrscheinlich sehr gut nachempfinden, was er in diesem Moment fühlte, und spürten im Gegensatz zu Kleantes bei dieser Vorstellung keine Genugtuung. „Du bist ein Narr, Kleantes.“ Euthalías Stimme klang wie ein scharfes Messer. „Ein dummer, fetter Narr.“ Der Angesprochene lief bei dieser Beleidigung rot an. „Wie kannst du es wagen, du mörderisches Miststück?“ Euthalía aber ließ sich nicht einschüchtern. Sie rückte ein Stück von ihrem Vater ab und musterte Kleantes von oben herab, als wäre er nur ein bedeutungsloser Wurm. „Denkst du wirklich, du könntest mich aufhalten? Du bist nur ein wertloses Stück Dreck, das es nicht verdient, dieselbe Luft wie wir anderen zu atmen. Deine Worte sind wie Gift. Schleichendes, schleimiges Gift.“ Das war eindeutig zu viel für Kleantes. Es machte den Anschein, als würde in der nächsten Sekunde sein Kopf explodieren, dermaßen aufgebracht war er. Er wollte das Kurzschwert eines Wächters packen und sich wohl ohne Rücksicht auf Verluste auf Euthalía stürzen, doch bevor er überhaupt dazu kam, den Griff zu packen, hielt er plötzlich inne. Wie zur Steinstaue erstarrt stand er dort, auf seinem Gesicht ein Ausdruck großen Erstaunens. „Du solltest mich nicht unterschätzen, Kleantes“, sagte Euthalía lächelnd. „Das bekommt dir nicht gut.“ Kleantes wollte etwas sagen, aber aus seinem Mund kamen keine verständlichen Worte. Dafür hatte ihn Euthalías Magie viel zu sehr im Griff. Sie hatte seinen Körper unter Kontrolle und hätte ihn wahrscheinlich dazu bringen können, in der Nase zu bohren oder einen Handstand zu vollführen. Es gab sogar Magier, die ihre Opfer dazu zu bewegen vermochten, von einer Klippe zu springen oder sich einen Dolch ins Herz zu jagen, doch so viel Macht besaß Euthalía nicht. Zumindest noch nicht. Wäre sie erst mal eine Vampirin, sähe das Ganze vielleicht schon anders aus. „Aber ich bin im Moment nicht dein Problem“, fuhr Euthalía fort. „Sondern vielmehr die Götter. Du hast eine schwere Sünde begangen und musst bestraft werden.“ Sie blickte auffordernd zu den Vampiren, die sie trotz alledem offenbar bestens erkennen konnte. Alec nickte verstehend und grinste teuflisch, ehe er Kleantes an der Schulter packte und in den Schatten zog. Der feiste Mann stieß einen überraschten Schrei aus, war aber ansonsten viel zu schockiert, um in irgendeiner Weise zu reagieren. Die anwesenden Menschen derweil blickten angesichts von Kleantes‘ plötzlichen Verschwinden erstaunt drein und wussten offenbar nicht, was vor sich ging. Nur Euthalía lächelte wissend und beobachtete amüsiert das Tun der Vampire. „Wer … wer seid ihr?“, fragte Kleantes erstickt. Mit zunehmender Panik musterte er die Untoten, während sein Körper unaufhörlich zu zittern begann. Die Menschen horchten inzwischen auf, als sie Kleantes‘ Stimme vernahmen. Zwar durch die Dunkelheit etwas gedämpft und bei weitem nicht so klar und dröhnend wie noch vorhin, dennoch hatten sie ihn deutlich gehört. „Wer wir sind?“, fragte Alec grinsend. „Hm, was denkst du denn, kleiner Mensch?“ Kleantes bebte, während er ängstlich Alecs Augen musterte, die denen eines hungrigen Raubtieres nicht unähnlich waren. Wahrscheinlich malte er sich gerade sehr fantasievoll aus, wie die Vampire ihn in tausend Stücke zerfetzten. Und wenn Alec ehrlich zu sich war, hätte er dazu nicht übel Lust gehabt. Solche niederträchtigen und skrupellosen Kerle waren ihm immer schon zuwider gewesen. „Dike[4] ist im Moment nicht besonders gut auf dich zu sprechen“, sagte Alec unheilvoll. Kleantes wimmerte beim Namen der Göttin der Gerechtigkeit auf. Offenbar konnte er sich sehr gut vorstellen, weswegen Dike verärgert sein könnte. „Hat … hat sie euch etwa geschickt?“, fragte Kleantes winselnd, während er panisch von einem zum anderen blickte. „Vielleicht“, meinte Alec, dem dieses Katz-und-Maus-Spielchen mit jeder Sekunde besser gefiel. Die furchtbare Angst dieses Mannes vor der göttlichen Strafe war unglaublich berauschend. „Aber um Dike geht es eigentlich nicht. Sie ist viel zu weise und gerecht, als dass es ein dreckiger Hund wie du verdient hättest.“ Er lächelte dämonisch. „Dafür hast du aber Tisiphones[5] Interesse geweckt.“ Kleantes zuckte zusammen. Er sah die Rachegöttin vermutlich deutlich vor sich, die nicht gerade für ihr Mitleid bekannt geworden war. „Du weißt ja, wie Tisiphone ist“, meinte Alec theatralisch seufzend. „Es fällt ihr unsagbar schwer, seelenlosen Mördern zu verzeihen, wie du einer bist. Schmutziges Gewürm wie dich verbannt sie normalerweise in die Tiefen des Hades, wo grausame Qualen auf die Verbrecher warten.“ Kleantes wimmerte leise, während er mit jedem Augenblick winziger zu werden schien. „Vielleicht wird sie dich zwingen, deine eigenen Innereien zu verspeisen.“ Alec zuckte mit den Schultern. „Oder sie wird dir bei lebendigen Leib die Haut abziehen, immer und immer wieder, bis die Schmerzen dich völlig wahnsinnig machen. Aber sie wird keine Gnade zeigen, sondern unaufhörlich weitermachen. Nicht mal der Tod wird eine Erlösung für dich sein.“ „Du wirst schreien und weinen und jammern wie ein Baby, doch niemand wird kommen, um dich zu retten“, stieg nun auch Sharif mit ein. Seine Augen leuchteten hell und bedrohlich. „Du wirst vollkommen alleine sein. Keinen wird dein Leid interessieren.“ „Und das bis in alle Ewigkeit“, schloss Alec lächelnd. „Und glaube mir, mein mörderischer Freund, die Ewigkeit ist lang. Unsagbar lang. Als würdest du Millionen Leben leben. Millionen schmerzerfüllte und unglaublich schreckliche Leben.“ Nun war es endgültig um Kleantes geschehen. Tränen der Furcht rannen seine roten Wangen hinunter, während seine Augen tiefe und blanke Angst widerspiegelten. „Wie … wie kann ich …?“ „… das Ganze widergutmachen?“ Alec legte den Kopf schief. „Mit der Wahrheit, Kleantes. Nimm die Schuld auf dich und gib Euthalía frei. Dann werden dir die Götter vielleicht noch verzeihen können.“ Kleantes schloss die Augen und nickte heftig. Alec ließ ihn daraufhin los und er stolperte aus dem Schatten, was er jedoch gar nicht wahrzunehmen schien. Stattdessen sank er auf die Knie und faltete seine Hände wie zum Gebet. „Ich bin ein Mörder und Lügner“, gestand Kleantes mit zittriger Stimme. „Ich habe meinen Bruder getötet! Ich ganz allein. Schon immer hat Diogénis mich übertrumpft, ich konnte es einfach nicht mehr ertragen. Lange schon habe ich mir ausgemalt, wie ich ihn umbringe. Als ich dann hörte, dass Euthalía den Tod meines Bruders vorhergesagt hätte, sah ich meine Chance gekommen. Ich erstach Diogénis und gab Euthalía die Schuld an allem.“ Er wimmerte leise. „Bitte vergebt mir!“ Die Götter sandten jedoch keinerlei Zeichen, das darauf hindeutete, ob sie dem Mann verzeihen konnten oder nicht. Stattdessen starrten die versammelten Menschen den am Boden knienden Kleantes entsetzt an. „Du hast was?“, stieß schließlich einer der Wächter fassungslos hervor. „Wie konntest du nur?“ „Dein eigener Bruder?“, meinte nun auch ein zweiter Mann geschockt. Einen Augenblick beratschlagten sich die Wachen noch untereinander, zeigten offen ihre Bestürzung und schüttelten immer wieder ungläubig ihre Köpfe. Dann aber zwangen sie Kleantes grob auf seine Beine und führten ihn davon, während sie zahlreiche Verwünschungen ausstießen. „Das war lustig“, meinte Euthalía amüsiert, die zusammen mit ihrem Vater völlig unbeachtet zurückgelassen worden war. „Lustig?“ Alkeós runzelte die Stirn. „Es war eher seltsam.“ Euthalía zuckte mit den Schultern. „Die göttliche Strafe folgt nun mal auf dem Fuße“, sagte sie gelassen. „Und jetzt muss ich gehen. Leb wohl, Vater.“ Sie hauchte dem überraschten Mann einen Kuss auf die Wange und wandte sich um, doch Alkeós packte sie noch rechtzeitig am Arm und zog sie wieder zurück. „Wovon redest du?“, fragte er verwirrt. Euthalía lächelte. „Wir haben doch oft genug darüber geredet. Und nun ist es soweit.“ Alkeós jedoch schien sie nicht zu verstehen und starrte sie weiterhin irritiert an, woraufhin Euthalía hinzufügte: „Asrim ist gekommen. Asrim und seine Kinder.“ Alec wechselte einen Blick mit Sharif. Diese Frau schien wirklich gut informiert zu sein. Bereits im Ty’lyar hatte er gelesen, dass sie über seherische Kräfte verfügen würde, aber niemals hätte er gedacht, dass diese ein solches Ausmaß annehmen würden. „As…rim?“ Alkeós wirkte geschockt, schien auf der anderen Seite aber genau zu verstehen, was das bedeutet. Euthalía hatte ihn wahrscheinlich schon lange vorher auf diesen Moment vorbereitet. „Ich habe dir doch gesagt, dass er bald kommen wird.“ Sie tätschelte seine Hand. „Und du weißt, dass ich gehen muss, nicht wahr? Wenn ich bei dir bleibe, werde ich nur einen grausamen Tod sterben. Und das willst du sicherlich nicht, oder?“ Alkeós wusste im ersten Augenblick nicht, was er sagen sollte, dafür war er von den Erlebnissen viel zu überwältigt. Schließlich aber schüttelte er schwach den Kopf. „Ich will … dass es dir gut geht“, sagte er leise. „Dann musst du mich gehen lassen“, meinte Euthalía. Alkeós machte nicht den Anschein, als würden ihn diese Worte sonderlich begeistern, andererseits konnte er aber auch nicht widersprechen. Er lebte sicherlich schon lange genug mit seiner Tochter zusammen, um zu wissen, dass alles, was sie vorhersagte, auch Wirklichkeit wurde. Und würde er Euthalía den Sa’onti vorenthalten, würde sie eher früher als später qualvoll zugrunde gehen. Ein Schicksal, dass kein Vater der Welt seinem Kind wünschte. „Ich werde nochmal wiederkommen“, versprach Euthalía grinsend. „Es ist nicht das letzte Mal, dass du mich sehen wirst. Ich kann dir auch gerne sosehr auf die Nerven fallen, dass du zu den Göttern betest, ich würde endlich verschwinden.“ Alkeós‘ Mundwinkel zuckten kurz nach oben. „Du kannst zu mir kommen, so oft und so lange du willst. Meine Tür steht dir immer offen.“ Er schwieg einen Moment, ehe er zögerlich hinzufügte: „Ich liebe dich.“ „Ich liebe dich auch, Vater“, meinte Euthalía schmunzelnd. Sie befreite sich sanft aus seinem Griff. „Ich komme morgen nochmal vorbei. Wir sehen uns.“ Sie winkte enthusiastisch wie ein Kleinkind, ehe sie sich den Vampiren umwandte und ihren Arm erwartungsvoll ausstreckte. Alec musterte sie zunächst etwas verwirrt, doch Sharif verstand sofort. Er ergriff Euthalías Hand und zog sie in den Schatten. Ihr Vater keuchte bei diesem Anblick zwar auf, blieb aber verhältnismäßig gefasst. Offenbar hatte Euthalía ihn tatsächlich sehr intensiv auf diesen Augenblick vorbereitet. „Ihr wart echt klasse, Jungs“, meinte sie lachend, an die Vampire gerichtet. „Kleantes war nur noch ein zitterndes Nervenbündel. Genauso, wie ich es in meinen Träumen gesehen habe.“ Alec nickte, bevor sein Blick wieder auf Alkeós fiel. Dieser starrte auf die Stelle, wo seine Tochter in die Dunkelheit gezogen worden war, und wirkte ziemlich mitgenommen. „Sorg dich nicht um ihn“, flüsterte Euthalía, die seinen Blick bemerkt hatte. „Er wird noch eine Weile traurig sein, aber schon bald wird ihm Tyche[6] wieder hold sein. Er wird eine nette Frau kennen lernen und mein Bruder wird samt seiner Familie zurück nach Theben ziehen. Er ist nicht lange allein.“ Sharif musterte sie wohlwollend. „Du bist wirklich erstaunlich, Euthalía. Gibt es überhaupt irgendetwas, das du nicht weißt?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Wenig“, meinte sie grinsend. „Aber nenn mich Necroma, denn das wird in Zukunft der Name sein, unter dem man mich lieben und fürchten wird.“ Alec lächelte. Das Ganze versprach zumindest eine recht interessante Zukunft zu werden. ___________________________________________ [1] Eine Anspielung auf den Peloponnesischen Krieg (431-404 v. Chr.) zwischen dem Delisch-Attischen-Seebund unter Führung Athens und dem von Sparta angeführten Peloponnesischen Bund. Sparta ging letztlich als Sieger aus dieser Auseinandersetzung hervor und konnte Athens Hegemoniebestrebungen Einhalt gebieten. [2] Chiton = in der griechischen Antike oft getragenes Unterkleid [3] Euthalía bedeutet übersetzt „Blume“ [4] Dike = Verkörperung der Gerechtigkeit [5] Tisiphone = Rachegöttin, die vorwiegend Mordtaten bestraft; gehört zur Gruppe der Erinnyen (in der römischen Mythologie als ‚Furien‘ bekannt) [6] Tyche = Schicksalsgöttin Kapitel 4: Lydia ---------------- London, England (1888): Es gab Dinge im Leben, die man einfach nicht vorhersehen konnte. Unwetter, die ohne die geringste Vorwarnung aufzogen und selbst einen wackeren Vampir zu erschrecken vermochten. Ein Donner, so dröhnend, dass man vor Überraschung aus dem Bett fiel. Und ein heller Blitz, der die Nacht zum Tage machte. Alec hatte im Moment auch das Gefühl, im erbarmungslosen Regen zu stehen. Dabei war der Himmel relativ wolkenlos, was für englische Verhältnisse fast schon ein Wunder war. Und dennoch war es Alec, als würde ein schweres Gewitter über ihm toben. „Ich hab dir doch gesagt, dass du aufpassen musst.“ Ling-Nis Stimme war eindeutig zu heiter. Er machte sich nicht mal ansatzweise die Mühe, sowas ähnliches wie Mitgefühl zu heucheln. Alec bedachte ihn mit einem düsteren Blick. „Halt bloß deine Klappe, Li!“ Der Angesprochene jedoch war nicht gewillt, dem Folge zu leisten. „Schon immer habe ich dich davor gewarnt, jedem einzelnen Rock hinterherzulaufen. Aber nein, warum sollte der Casanova auch auf mich hören? Wieso sollte er überhaupt daran denken, den Ratschlag eines Klügeren anzunehmen?“ Ling-Ni grinste eindeutig viel zu schadenfroh, als er hinzufügte: „Das hast du nun davon!“ Alec kniff seine Augen zusammen und wollte zu einer passenden Antwort ansetzen, wurde aber plötzlich von einem kleinen Jungen in dreckiger Kleidung unterbrochen, der aus dem Nichts hervorzuspringen schien und ihnen die neuste Ausgabe der London Times unter die Nase hielt. „Extrablatt!“, brüllte er ihnen entgegen, als würde er sie für schwerhörig halten. „Jack the Ripper hat wieder zugeschlagen! Lesen Sie alles über sein neustes Verbrechen.“ Alec bugsierte den aufdringlichen Knaben wenig liebevoll zur Seite und ging an ihm vorbei. „Wie die Schmeißfliegen“, zischte er Ling-Ni zu. „London ist mit der Zeit wirklich viel zu bevölkert geworden. Wie viele Menschen leben jetzt hier?“ „Keine Ahnung“, meinte der andere. „Auf jeden Fall viel zu viele.“[1] Alec ließ seinen Blick schweifen. Die Straße war uneben und dreckig, ebenso wie die Gebäude, die rechts und links von ihnen emporragten. Unzählige Menschen in dunkler Kleidung und mit den typischen Melonenhüten auf den Kopf huschten über die Gehwege und versuchten, der eisigen Kälte des Winters durch Bewegung oder dem schnellen Hineilen in eine wärmere Behausung zu entkommen. „Die Menschen sollten eigentlich langsam gemerkt haben, dass die Zustände immer schlechter werden, je enger sie sich zusammenrotten.“ Alec schüttelte verständnislos den Kopf. „Und jetzt verhungern sie hier in den schmutzigen Gassen, während sie eigentlich nur in die Natur zu gehen bräuchten, um zu überleben.“ Ling-Ni zuckte mit den Schultern. „Die Menschen sind mit der Zeit nur dumm und verweichlicht geworden. Irgendwann werden sie es allesamt bitter bezahlen.“ Alec konnte dem nur uneingeschränkt zustimmen. „Idioten“, murmelte er. Er schwieg einen Augenblick und beobachtete eine ärmliche Frau, die mühsam versuchte, ranzige Schuhcreme zu verkaufen, ehe er sich wieder zu Ling-Ni beugte und fragte: „Wer ist überhaupt Jack the Ripper?“ „Ich glaube, irgendein Serienmörder“, meinte dieser desinteressiert. „Ist sowieso unwichtig. In ein paar Wochen kann sich bestimmt niemand mehr an diesen Kerl erinnern.“ Alec nickte verstehend. „Ist eh ein selten dämlicher Name …“ Gemeinsam schritten sie weiter die Straßen hinab. Alec selbst hatte keine Ahnung, wohin sie gingen, Ling-Ni aber schien den Weg genau zu kennen. Er grüßte sogar einige Menschen und plauderte auch kurz mit einem Fischverkäufer, der sehr nach Meerestieren roch und einen ungemein starken Akzent hatte. Ling-Ni hielt sich auch schon seit ungefähr zwei Jahren kontinuierlich in London auf und hatte die Stadt in den Jahrzehnten zuvor immer wieder sporadisch besucht, sodass er dessen Straßen und Gassen fast wie seine Westentasche kannte. Alec war das letzte Mal in Englands Hauptstadt gewesen, als noch niemand geglaubt hatte, dass es in Frankreich eine Revolution geben würde. „Du bist sicher, die alte Hexe kann mir helfen?“ Er massierte sich die Hände und versuchte, die bohrenden Blicke einiger Passanten so gut wie möglich zu ignorieren. Er hasste diese ungewollte Aufmerksamkeit der letzten Wochen über alle Maßen. „Bestimmt“, meinte Ling-Ni derweil zuversichtlich. „Niemand weiß mehr über die Magie als sie. Na ja, abgesehen von Asrim und Necroma vielleicht.“ Alec schnaubte. Am liebsten hätte er sich mit seinem Problem auch an einen von ihnen gewandt. Doch Asrim trieb sich mal wieder irgendwo in der Weltgeschichte herum und würde erst wieder auftauchen, wenn ihm der Sinn danach stand, und Necroma war vor gut fünfzig Jahren in die Neue Welt aufgebrochen. Und sosehr sich Alec auch ihre Hilfe wünschte, eine Überquerung des Atlantiks war wirklich nur der Notfallplan. Wenn es gar nicht mehr anders ging. „Dort ist es“, meinte Ling-Ni unvermittelt und deutete auf ein Reihenhaus, das zwischen anderen Häusern derselben Machart eingequetscht war. Es war ein neumodisches Gebäude, das höchstens zwanzig Jahre alt sein konnte, aber an manchen Stellen den Eindruck erweckte, als hätte es schon mehrere Jahrhunderte auf dem Buckel. Alec war es einerlei. Solange das Ding nicht über seinem Kopf zusammenstürzte, war alles in Ordnung. Und wenn er ehrlich zu sich war, hatte er selbst auch schon in weitaus schlimmeren Behausungen gelebt. Ohne zu zögern kletterte er die paar Stufen zur Haustür hoch und klopfte mehrere Male ungeduldig. Dabei interessiert gemustert von einem Nachbarn, der die Hausbesitzerin wahrscheinlich bestens kannte und sich fragte, was ein Fremder wohl bei ihr wollen könnte. Ling-Ni zumindest hatte ihm erzählt, dass das Treiben der alten Hexe ein offenes Geheimnis in diesem Viertel war. „Vergiss nicht, sei höflich“, rief Ling-Ni ihm nochmal in Erinnerung. Er begann, Alec am Kragen herum zu zupfen und ihn zurechtzurücken. „Schau ihr immer in die Augen und halte deine Antworten so kurz wie möglich. Sie hält nichts von Leuten, die um den heißen Brei herumreden oder gar Smalltalk mit ihr führen wollen. Sei charmant, aber nicht dreist. Und starr ihr vor allen Dingen nie auf die Hände.“ „Warum nicht?“ „Keine Ahnung“, entgegnete Ling-Ni. „Es regt sie einfach auf.“ Alec wollte noch weiter nachhaken, doch plötzlich öffnete sich die Tür und er sah sich einer gedrungenen Gestalt gegenüber, die ihn argwöhnisch musterte. Ihr Blick huschte von einem Vampir zum anderen, als sie herrisch fragte: „Was wollen Sie?“ „Ich bin’s“, meinte Ling-Ni und winkte kurz, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. „Du hast mich doch sicher nicht vergessen, oder?“ Die alte Frau betrachtete ihn aus ihren milchigen Augen und schien tatsächlich zu überlegen, wer da gerade vor ihr stand. Dann aber schien die Erinnerung sie wieder einzuholen. „Ling-Ni, chinesischer Edelmann, Waffen- und Kampfexperte, besserwisserisch und nervig, aber an und für sich ganz süß. Manchmal jedoch extrem ungehobelt, was man aber getrost der unsympathischen und aggressiven Zwillingsschwester zur Last legen kann.“ Sie schaute an ihnen vorbei auf die Straße. „Leyal ist doch nicht mit euch gekommen, oder?“ „Nein.“ „Gut“, meinte die alte Frau erleichtert. „Ich kann das Miststück absolut nicht ausstehen.“ Alec hob eine Augenbraue. Die Dame hinterließ einen interessanten ersten Eindruck, das musste er ihr schon lassen. Äußerlich wirkte sie wenig auffällig – wie eine Frau in den späteren Jahren mit weißem Haar, faltiger Haut, getrübten Augen und gebückter Haltung –, aber man spürte deutlich, dass noch mehr dahintersteckte. Dass ihre Erscheinung bloß Fassade war und ihre wahre Macht versteckte. „Das hier ist Alec“, stellte Ling-Ni seinen Freund vor. „Wir haben über ihn gesprochen. Du erinnerst dich?“ „Muss ich?“ „Das wär wirklich nicht schlecht, Lydia.“ Die Angesprochene seufzte tief, ehe sie Alec näher in Augenschein nahm. Normalerweise war der Vampir gewöhnt, dass die Damen bei seinem Anblick lächelten, aber Lydias Mundwinkel zogen sich stattdessen nach unten. Ihr schien der Besuch gar nicht zuzusagen. „Für mich sieht er aus wie ein dreckiger Lump“, lautete schließlich ihr Ergebnis. „Ein dreckiger Lump und gleichzeitig ein arroganter Schönling, der sich für etwas Besseres hält.“ Alec überlegte, ob er auf diesen Kommentar eingehen sollte, entschied dann aber, dass er schon bei weitem schlimmer beleidigt worden war. Wenn man bedachte, was die Römer bei der Invasion Galliens über ihn gesagt hatten, war Lydias Bemerkung sogar regelrecht liebenswert. „Alec ist ein netter Kerl“, entgegnete Ling-Ni und klang dabei unglücklicherweise nicht ganz so überzeugt, wie Alec sich das gewünscht hätte. Lydia machte derweil den Eindruck, als würde sie kein einziges Wort glauben. Und dennoch trat sie zur Seite und bedeutete ihnen damit, einzutreten. „Weil du es bist, Ling-Ni.“ Ling-Ni grinste zufrieden und setzte sich in Bewegung. Dicht gefolgt von Alec, der immer noch nicht ganz sicher war, was er von dem Ganzen halten sollte. Würde diese alte und unhöfliche Schachtel ihm wirklich helfen können? Das Innere des Hauses wirkte beengt und dunkel, hatte Lydia immerhin so gut wie alle Vorhänge zugezogen und von dem Wort ‚Aufräumen‘ offenbar noch nie etwas gehört. Es herrschte das komplette Chaos, sodass es selbst Alec, der schon so einiges in seinem Leben gesehen hatte, fürs erste die Sprache verschlug. Er bemühte sich jedoch, sich sein Erstaunen nicht anmerken zu lassen, um Lydias eh schon miese Stimmung nicht noch weiter zu belasten. „Was also wollt ihr hier?“, verlangte die alte Frau zu erfahren. Sie begab sich in einen Raum, der wohl das Wohnzimmer darstellen sollte, und nahm auf einem Sessel Platz. „Na ja …“, meinte Ling-Ni zögerlich. „Es ist doch mehr als offensichtlich, oder?“ Und damit deutete er auf Alec. Lydia verzog spöttisch ihre Mundwinkel. „Ja, es ist tatsächlich ziemlich offensichtlich. Da hat sich der kleine Vampir wohl ganz schön in die Scheiße geritten, was?“ Alec zog seine Mundwinkel nach unten. Er mochte ihre Wortwahl nicht, konnte aber unglücklicherweise nicht widersprechen. Er warf einen Blick zur Seite, direkt auf einen Spiegel, und betrachtete sich selbst. Früher hatte ihm immer ein ansehnlicher Bursche entgegengeblickt, der sich trotz seines hohen Alters nicht verändert hatte. Aber nun schaute er auf einen Witz. Sein ganzes Gesicht war mit hässlichen Flecken übersät, die in den verschiedensten Farben schillerten. Blau, grün, rot, violett, gelb – es kam einer Farbpalette gleich. Jeder Maler wäre begeistert gewesen. Und es war nicht nur das Gesicht. Hätte sich Alec seiner Kleidung entledigt, hätte man bemerkt, dass sein ganzer Körper davon betroffen war. Es gab kaum noch einen Zentimeter Haut, der normal war. „Wirklich ein Kunstwerk“, meinte Lydia anerkennend. Alec knurrte. „Eher eine furchtbare Plage.“ Die alte Frau schüttelte aber ihren Kopf. „Na, na, jetzt übertreib aber nicht, Bürschchen. Die alten Ägypter haben damals weitaus schlimmeres durchgemacht. Die wären mehr als nur froh gewesen, wenn man sie bloß angemalt hätte.“ Angemalt? Alec knirschte mit den Zähnen. Lydia benahm sich, als wäre er aus Versehen in einen Farbtopf geplumpst. „Wie ist das denn passiert?“, erkundigte sie sich daraufhin. „Er hat sich mit der falschen Frau eingelassen, wie üblich“, antwortete Ling-Ni, bevor Alec überhaupt den Mund aufmachen konnte. „Ein Zigeunermädchen, soweit ich weiß. Hübsch, verführerisch und leider auch fürchterlich eifersüchtig. Als sie Alec mit einer anderen Frau erwischte, ist sie offenbar ausgerastet.“ Alec wurde nicht gerne daran erinnern. Sophia war eine Schönheit gewesen, wohlwahr, aber auch besitzergreifend und klammernd. Schnell hatte er sich von ihr zu befreien zu versucht, nur um festzustellen, dass sie ausgesprochen hartnäckig war. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, dass Alec ihr Traummann war, und war nicht bereit gewesen, ihn gehen zu lassen. Der Vampir hätte ihr natürlich einfach die Kehle aufreißen und ihr Blut trinken können. Aber Alec hatte schon immer Skrupel gehabt, schöne junge Frauen aus dem Leben zu reißen. Und so nervig sich Sophia auch verhielt, sie hatte immer noch ein gutes Herz. So zumindest hatte Alec es angenommen. „Du weißt ja, wie diese Zigeuner sind“, meinte Ling-Ni. „Magier und Schamanen tummeln sich bei denen zuhauf. Auch besagte Sophia selbst war in der Hexenkunst sehr bewandert.“ Lydia nickte verstehend. „Sie hat dich verflucht.“ „Wie ist das überhaupt möglich?“, zischte Alec. „Ich bin ein Vampir! Magie gegen uns einzusetzen, ist zwecklos.“ Lydia streichelte gedankenverloren über etwas, das erschreckend nach dem Schädel eines Tieres aussah. „Es ist nicht zwecklos“, erwiderte sie. „Es ist nur nicht besonders effektiv. Untote sind stärker im Nehmen und können der Magie länger trotzen als andere Wesen. Der Fluch, den das Zigeunermädchen ausgesprochen hat, sollte dich wahrscheinlich regelrecht pulverisieren und auslöschen, aber dank der Tatsache, dass du ein Vampir bist, hat er nur …“ Sie hielt inne und suchte nach den richtigen Worten: „Na ja, er hat dir nur ein bunteres und fröhlicheres Äußeres verpasst.“ Alec blieb eine Weile still und ließ diese Information erst einmal sacken. Schließlich fragte er zögernd: „Sophia wollte mich tatsächlich umbringen?“ Er hätte eigentlich überrascht und schockiert sein sollen. Zwar hatten ihm schon viele nach dem Leben getrachtet, aber dies auch meist aus annehmbaren Gründen. Alec zumindest hatte ihnen niemals einen Vorwurf gemacht. Allerdings hatte noch nie eine Frau einen Mordanschlag auf ihn verübt, nur weil er sie zurückgewiesen hatte. Andererseits erstaunte es Alec nicht allzu sehr. Sophia hatte sich, nachdem er sie ein bisschen besser kennen gelernt hatte, als psychisch gestört herausgestellt. Wenn sie etwas nicht bekam, setzte sie alles daran, damit auch niemand anderes es kriegte. Ob es das Kleid ihrer Cousine war oder doch ihr Liebhaber. Da machte sie anscheinend keinerlei Unterschied. „Der Fluch muss ausgesprochen stark gewesen sein, damit es bei einem Vampir solch eine Wirkung zeigt“, meinte Lydia und betrachtete Alec erwartungsvoll. „Und das hat sie wirklich nur gemacht, weil sie dich mit einer anderen erwischt hat?“ Der Vampir wiegte seinen Kopf hin und her. „Na ja, vielleicht habe ich auch noch ihre Schwester verführt, ihren Vater bei der örtlichen Polizei verpfiffen und ihr Lieblingspferd gestohlen.“ Er hob die Schultern. „Rechtfertigt das einen Mord?“ Lydia schnaubte. „Ich an Sophias Stelle hätte dir den Kopf abgehackt und deine Überreste verbrannt.“ Alec verzog sein Gesicht. Diese Frau hätte ihn wahrscheinlich auch schon geköpft und eingeäschert, wenn er bloß eine Vase umgestoßen hätte. „Kannst du mir nun helfen oder nicht?“, wollte er ungeduldig wissen. Lydia musterte ihn eine Zeit lang und schien zu überlegen, ob er die Mühen wert war. Alec biss sich derweil auf die Zunge und hütete sich davor, irgendeinen dreisten Kommentar abzugeben, der sie vor den Kopf gestoßen hätte. „Ich wüsste da vielleicht etwas, das helfen könnte“, meinte sie schließlich sehr zu Alecs Erleichterung. „Allerdings musst du dich darauf einlassen, ohne irgendwelche dummen Fragen zu stellen.“ Der Vampir nickte sofort. „Kein Problem.“ Lydias spröde Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, das mehr als schadenfroh wirkte. „Sehr gut. Dann mach einen Handstand.“ Alec blinzelte verdutzt. „Bitte?“ „Ein Handstand!“, wiederholte sie mit Nachdruck. „Du weißt doch hoffentlich, was das ist, oder?“ Alec schnaubte abfällig. „Natürlich. Aber warum soll ich …?“ „Es hilft“, meinte Lydia. „Es regt deinen Blutkreislauf an, sodass das Gegenmittel später besser wirken kann. Zwanzig Minuten sollten fürs erste genügen.“ Alec runzelte die Stirn. Meinte die Alte das wirklich ernst? „Das ist doch …“ „Lächerlich?“, vollendete Lydia seinen Satz. „Ich weiß, es klingt vielleicht etwas merkwürdig, aber glaub mir, es bewirkt wahre Wunder. Würde ich dich anlügen? Ihr Vampire könnt es doch erkennen, wenn euch jemand einen Bären aufbindet.“ Dem konnte Alec nicht widersprechen. Und ebenso vermochte er in Lydias Worte keinerlei Lüge zu erkennen. Es war zwar seltsam und eigenartig, aber offenbar wirklich hilfreich. Somit blieb Alec keine andere Wahl. Er hätte alles getan, um diesen hartnäckigen Fluch wieder loszuwerden. Die nächsten zwanzig Minuten verbrachte er daher auf dem Kopf und kam sich ziemlich lächerlich vor. Lydia verkniff sich zwar jedweden spöttischen Kommentar, dafür war Ling-Ni umso lebhafter. Er amüsierte sich königlich und war schließlich schon drauf und dran, loszuziehen und einen Fotografen von der London Times zu entführen, die alle mit diesen neumodischen Kameras durch die Gegend liefen, um das Bild von Alec für alle Ewigkeiten festzuhalten. Alec währenddessen nutzte die Zeit, um sich allerlei kreative Foltermethoden auszudenken, die er an Ling-Ni ausprobieren würde. „Und jetzt brauche ich ein paar Zutaten“, meinte Lydia, als Alec endlich wieder auf seinen Füßen stand. Sie überreichte ihm einen kleinen Zettel. Der Vampir musterte die Notizen. „Kartoffeln, Zwiebeln …? Was soll das denn für ein Gegenzauber sein?“ „Bist du der Magier hier oder ich?“, zischte sie. „Tu einfach, was ich dir sage. Und geh am besten nicht an die üblichen Stellen. Ein paar Sachen auf der Liste sind sehr exotisch und um diese Jahreszeit nur ausgesprochen schwer zu bekommen. Aber ich kenne jemanden, der ein wirklich beeindruckendes Repertoire hat. Er wohnt in Whitechapel. Sagt ihm, dass ich euch schicke, und dann wird er euch alles geben.“ „Whitechapel?“, hakte Ling-Ni nach, während er sein Gesicht verzog. „Das ist ja eine Weltreise. Abgesehen von der Tatsache, dass dieses Viertel alles andere als einen guten Ruf hat.“ Lydia zuckte aber nur mit den Achseln. „Sei nicht zimperlich, Vampir. Es geht hier immerhin um Alecs makellose Haut, damit er sich wieder unter Leute trauen kann.“ Sie lächelte schief. „Und seid vorsichtig. Ich hab gehört, im East End soll sich ein Serienmörder herumtreiben.“ Alec schnaubte, ehe er sich umdrehte und sich mit Ling-Ni im Schlepptau in Bewegung setzte. Jack the Ripper oder irgendeinem anderen offensichtlichen Mörder begegneten sie auf ihrem Weg zwar nicht, dafür allerlei anderen zwielichtigen Gestalten, auf deren Gesellschaft Alec sehr gut hätte verzichten können. Wäre er noch ein Mensch gewesen, hätte er diese Personen zu seiner eigenen Sicherheit partout gemieden. Lydias Freund erwies sich als grobschlächtiger und unfreundlicher Riese, der nicht allzu viel von Hygiene zu halten schien. Aber die Lebensmittel, die er unter der Hand vermittelte, machten dennoch einen guten Eindruck, sodass Alecs Bedenken ein wenig abnahmen. Auch als sie Stunden später wieder mit ihren Einkäufen bei Lydia auftauchten, war diese sehr zufrieden. „Wunderbar“, sagte sie. „Dann werde ich jetzt alles vorbereiten. Und du kannst dich was nützlich machen, Alec.“ Der Vampir hob eine Augenbraue. „Nützlich …?“ „Körperliche Arbeit“, erklärte Lydia, als hätte sie es mit einem Zurückgebliebenen zu tun. „Das regt deinen Kreislauf und deinen Organismus an. Gute Voraussetzungen, damit das Gegenmittel besser wirkt.“ Sie schwieg einen Moment. „Du kannst natürlich auch zwei Stunden einen Handstand machen, das dürfte in etwa denselben Effekt für den Gegenzauber haben.“ Alec hob sofort abwehrend die Hände. Nicht noch einmal wollte er sich vor dem schadenfrohen Ling-Ni diese Blöße geben. „Ich mache mich gerne nützlich“, meinte er daraufhin und versuchte sich an einem einigermaßen überzeugenden Lächeln. Und so verbrachte Alec die nächsten Stunden damit, das löchrige Dach abzudichten, Leitungen zu reparieren und quietschende Fenster und Türen zu reparieren. Ling-Ni beobachtete ihn dabei eine Weile tatenlos und gab nur ab und an einen Kommentar zum besten, aber schließlich erbarmte er sich und ging seinem Freund zur Hand. Aber weniger, um Alec wirklich zu unterstützen, sondern eher aus der Tatsache heraus, dass er irgendwann anfing, sich zu langweilen. Schließlich begaben sie sich wieder ins Wohnzimmer und wurden von einem bestialischen Gestank begrüßt. Alec hielt sich sofort die Hand vor Mund und Nase und fluchte: „Du heilige Hera, was hast du gemacht, alte Hexe? Verwest du allmählich?“ Lydia kam aus der Küche, in ihrer Hand eine Flasche mit einem grünlichen Inhalt und auf ihrem Gesicht ein Ausdruck tiefsten Missfallens. „Verkneif dir deine dummen Sprüche, Vampir, sonst werfe ich das hier in den Müll und du darfst für immer und ewig als Farbpalette durch die Gegend laufen.“ Alec schaute auf die Flasche, die ganz offensichtlich der Auslöser des Gestanks war. „Das ist das Gegenmittel?“, fragte er entsetzt und hoffte im selben Moment, dass Lydia ihren Kopf schütteln würde. Doch sie tat ihm den Gefallen nicht. „Ganz recht. Das ist eine Salbe, die deinem hübschen, bunten Ausschlag entgegenwirken wird.“ Alec riss die Augen auf. „Aber …!“, begann er. „Das stinkt furchtbar! Als wäre The Great Stink zurückgekommen und hätte sich in der Flasche niedergelassen.“[2] Ling-Ni warf ihm einen Seitenblick zu. „Du warst doch zu dieser Zeit gar nicht in London.“ „Aber ich hab davon gehört“, erwiderte Alec. „Und schon die Geschichten haben mir mehr als gereicht. Und jetzt soll ich eine Salbe …?“ Er konnte nicht weitersprechen, es war alles zu viel. „Drei Wochen“, meinte Lydia. „Oder besser vier, um wirklich alles auszumerzen. Einmal am Tag auftragen und dich am besten von Lebewesen fernhalten.“ „Dadurch wirkt es besser?“ „Nein, es wäre einfach nur nett von dir, dass du nicht deine Umgebung verpestet, wenn du wie eine Kloake riechst.“ Ling-Ni nickte bei diesen Worten bestätigend, woraufhin Alec ihn mit einem düsteren Blick bedachte. „Verdammt, ich hätte nie gedacht, dass Kartoffeln und Zwiebeln dermaßen stinken können“, zischte er übellaunig. Lydia schwieg einen Augenblick, ehe sie sagte: „Oh, das sind nicht die Zutaten, die ihr aus Whitechapel geholt habt. Das, was ich für die Salbe brauchte, hatte ich alles noch hier.“ Alec blinzelte. Hatte er das gerade richtig verstanden? „Aber warum mussten wir dann …?“ „Ich wollte mir heute Abend eine Suppe machen“, verkündete Lydia lächelnd. „Und ohne Lebensmittel geht das ja etwas schlecht, nicht wahr?“ Alec knirschte mit den Zähnen. „Deswegen hast du uns ins East End geschickt?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Warum hätte ich mir selbst die Mühe machen sollen, wenn mich zwei so leichtgläubige Gentlemen besuchen?“ Alec holte einmal tief Luft und rang um Fassung, als ein Verdacht in ihm hochstieg. „Was ist mit dem Handstand? Dem Hämmern und Zimmern?“ Lydias darauffolgendes Lächeln gefiel dem Vampir überhaupt nicht. „Für dein kleines Fluch-Problem völlig unnötig. Aber es war extrem lustig, wie du die ganze Zeit so emsig auf deinem Kopf standest.“ Sie musterte ihn eindringlich. „Und was das Hämmern und Zimmern angeht … das wollte ich schon lange mal einen Handwerker anvertrauen. Aber dann kamt ihr und wart so naiv, da musste ich einfach zuschlagen.“ Alec überkam das unbändige Verlangen, dieser Frau an den Hals zu fallen. Und er benötigte all seine Willensstärke, um ruhig zu bleiben. Lydia grinste derweil spöttisch. „Tja, dumm, dass ich die Fähigkeit besitze, Vampire anzulügen, wie es mir passt, nicht wahr?“ Alec knirschte mit den Zähnen und ballte seine Hände zu Fäusten. Plötzlich kam ihm sein schon seit Jahrtausenden befolgter Vorsatz, alten Menschen nichts anzutun, überholt und vorsintflutlich vor. Es wäre so leicht gewesen, Lydia den Hals umzudrehen. Ihr das gehässige Grinsen von den Lippen zu wischen. So einfach … Doch Alecs Rachegedanken wurden jäh unterbrochen, als Ling-Ni amüsiert auflachte. „Oh Mann, Lydia, das hätte ich eigentlich kommen sehen müssen. Schon die Sache mit dem Handstand fand ich merkwürdig … doch ich hab nichts gesagt.“ Alec funkelte ihn zornig an. „Das hättest du aber vielleicht mal tun sollen!“ Ling-Ni zuckte bloß unbekümmert die Schultern. „Es sah aber wirklich verdammt witzig aus!“ Alec knurrte übellaunig, ehe er Ling-Ni einen Klaps auf den Hinterkopf verpasste. Dann ergriff er ungeniert die Flasche mit dem stinkenden Inhalt aus Lydias Händen und zischte: „Wehe, wenn das hier nicht funktioniert!“ „Es wird funktionieren“, sagte sie dermaßen überzeugt, dass man ihr zwangsläufig einfach glauben musste. Alec schnaubte daraufhin wutentbrannt. „Wenn wir uns das nächste Mal sehen, werde ich dir den Kopf abreißen und ihn falschrum wieder aufsetzen!“ Lydia lächelte bei dieser Drohung nur unbeeindruckt. „Nein, wirst du nicht“, meinte sie, bevor sie sich abwand und in Richtung Küche verschwand. Alec hörte, wie sie Fenster öffnete, um den furchtbaren Gestank aus ihren vier Wänden zu vertreiben. Ling-Ni beugte sich derweil zu seinem Freund und grinste breit. „Sie gefällt dir, nicht wahr?“ Alec warf ihm hierauf einen drohenden Blick zu. „Sei froh, dass Leyal mich anzünden würde, wenn ich dir etwas antue. Ansonsten wärst du in der nächsten Minute tot!“ Mit diesen Worten drehte er sich um und ging. Weg von der alten und schadenfrohen Hexe. Die nächsten Wochen sah Alec sich genötigt, tagein tagaus wie die Hölle auf Erden zu stinken. Isoliert und abgeschottet vom Rest der Welt. Selbst die Blutopfer, die ihm die anderen Vampire hin und wieder mit zugehaltenen Nasen vorbeibrachten, fürchteten sich mehr vor dem Gestank als vor seinem dämonischen Antlitz. Es waren lange Wochen. Lange, lange Wochen. Die schließlich aber auch den gewünschten Erfolg erzielten. Allerdings benötigte Alec noch zwei weitere Monate, um den Geruch, der sich tief in seinen Körper gefressen hatte, vollends loszuwerden. Und das alles nur, um letztlich von Necroma, die gut zehn Jahre später wieder nach Europa zurückgekehrt war, zu erfahren, dass ein einfacher und unkomplizierter Gegenzauber ohne jeglichen Gestank völlig ausgereicht hätte. ________________________________________ [1] Wen’s interessiert: London hatte zu dieser Zeit knapp 5 Millionen Einwohner. [2] The Great Stink von 1858: Damals war das Abwasser in die Themse geleitet worden. Und im Jahr 1858 war der Sommer dermaßen heiß, dass … na ja, man kann es sich vorstellen. Kurz gesagt: Eine sehr eklige und bestialisch stinkende Angelegenheit. Kapitel 5: Angelus Mortis ------------------------- Salzburg, Fürsterzbistum Salzburg (1704): „Nein, bitte nicht! … Bitte nicht!“ Das Betteln der jungen Frau dröhnte in Alecs Ohren. Ihre Stimme, so leise und flüsternd und gleichzeitig so ohrenbetäubend laut, als würde sie ihm direkt ins Ohr schreien. Als würde sie versuchen, sein Trommelfell zu zerreißen. Alec betrachtete das Mädchen, das vor ihm auf dem Boden kniete. Katarina war ihr Name, ein blutjunges Ding, das gerade dem Kindesalter entwachsen war und noch nicht so recht wusste, wie man damit umzugehen hatte. Man merkte es an ihren Bewegungen, ihren Gesten, an unbedeutenden kleinen Dingen. Sie registrierte die wachsende Aufmerksamkeit der Männer, fühlte sich geschmeichelt und sichtlich wohl angesichts all des Interesses, aber zur gleichen Zeit war sie unsicher und offenbar von all den Neuerungen in ihrem Leben überfordert. Man sah ihr dies nicht direkt an, aber einem Vampir wie Alec entging es ganz gewiss nicht. Er bemerkte die verstohlenen Blicke, die sie immer wieder durch den Raum schickte, und den geradezu unauffälligen Rückzug, wenn sich ein Mann ihr zu sehr näherte. Alec hatte all dies beobachtet und es überaus genossen, diesem unerfahrenen Ding dabei zuzusehen, wie es eine völlig neue und überwältigende Welt entdeckte. Dieses ahnungslose und winzige Geschöpf, das sich nach außen hin so selbstbewusst und gewandt gab, doch im Grunde kaum mehr war als ein verschrecktes Mäuschen. „Bitte … nicht.“ Ihre Stimme war inzwischen nur noch ein Hauch. Ohne Kraft und Energie. Tränen benetzten ihr Gesicht, liefen ihre Wangen hinab und tropften auf den teuren Teppich. Ebenso wie das Blut, das aus der Wunde an ihrer Kehle strömte. Fast schon fasziniert betrachtete Alec, wie der rote Lebenssaft sich langsam über ihre rosige Haut bewegte. „Mein … Vater … er kann dir alles geben“, flüsterte sie schluchzend. Ihr Blick war gen Boden gesenkt, während sich ihre Hände zu Fäusten verkrampften und ihr ganzer Körper zu beben begann. „Er … ist reich.“ Alec legte seinen Kopf schief. „Ich weiß, mein Herz“, meinte er. „Aber materielle Dinge interessieren mich nicht. Ich kann mir alles nehmen, wonach es mir beliebt.“ Er hockte sich neben sie und strich ihr leicht über das helle Haar. Bei der Berührung spannte sie sich nur noch mehr an, ihr Atem ging schnell und stoßweise. Sie rechnete wohl mit einem weiteren plötzlichen Angriff. „Hübsche, kleine Katarina“, wisperte er. „So voller Angst. Wie ein Lämmchen auf der Schlachtbank.“ Es war ein leichtes gewesen, sie zu überfallen. Keine fünfzehn Minuten zuvor hatte sie noch auf der Feier ihres Vaters getanzt. Ein Mann nach dem anderen hatte sie aufgefordert, alles unter den strengen Augen der Mutter, die wahrscheinlich bereits geeignete Heiratskandidaten ausgewählt hatte. Katarina hatte gelacht und sich ihre Unsicherheit nicht anmerken lassen, während sie sich zum Takt der Musik bewegt hatte. Brav war sie der Etikette gefolgt, hatte jedermann begrüßt, sich an Gesprächen beteiligt und versucht, so strahlend und wunderschön wie ein Stern zu sein. Alles hätte sie getan, um ihren Vater stolz zu machen. Und als ihr Blick den von Alec gestreift hatte, war sie sofort nähergetreten. Sie hatte sich nicht daran gestört, dass seine Kleidung nicht zu der schicken Abendgarderobe der anderen Gäste passte. Ebenso hatte sie sich auch nicht um sein leicht fremdländisches Aussehen gekümmert. Stattdessen hatte sie sich bereitwillig von ihm überreden lassen, eine etwas stillere Umgebung aufzusuchen. Blind war sie wie eine Motte ins Licht geflogen. Dummes, junges Ding! „Du bist es selbst schuld, Katarina“, erklärte Alec. „Weißt du denn nicht, dass die Welt ein düsterer und grausamer Ort ist?“ Weiterhin zitternd machte sie Anstalten, ihren Kopf zu heben und ihn anzusehen, unterließ es aber letztlich doch. Womöglich befürchtete sie, dass sie ihre Angst vollkommen überwältigen würde, wenn sie ihm in die Augen schaute. Und Alec vermutete, dass dies gar nicht mal so weit hergeholt war. Seine animalischen Instinkte hatten ihn übernommen, kontrollierten ihn. Er war inzwischen mehr ein blutgieriges Monster und hatte kaum noch Ähnlichkeit mit dem charmanten Mann, der Katarina zu sich in die Falle gelockt hatte. Er beugte sich näher zu ihr und leckte über die Wunde an ihrem Hals. Sofort begann sie wieder zu wimmern, doch sie rührte sich keinen Millimeter. Panik hatte ihren Körper versteinern lassen. Vielleicht hoffte ein Teil von ihr, dass das alles bloß ein furchtbarer Albtraum war und sie jede Minute aufwachen würde. Alec spürte ihr köstliches Blut auf seiner Zunge, wurde davon berauscht. Mit aller Gewalt musste er das Verlangen unterdrücken, sie hier und jetzt bis auf den letzten Tropfen auszusaugen. Alles in seinem Inneren gierte danach, machte es ihm schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Aber gleichzeitig behielt er ständig im Hinterkopf, weswegen er eigentlich wirklich hierhergekommen war. Was seine wahren Absichten waren. Es ging ihm nicht um Katarinas Tod. Es ging ihm nicht mal um das Mädchen selbst. Nein, es war etwas vollkommen anderes. Somit zog er sich langsam wieder ein Stück von ihr zurück, den Geschmack ihres Blutes immer noch auf der Zunge. „Weißt du, es ist seltsam, Katarina“, erhob er wieder seine Stimme. Er sprach zwar leise, aber die Frau an seiner Seite zuckte zusammen, als hätte er sie angebrüllt. „Seltsam, was in letzter Zeit alles anders ist. Ich bin schon sehr alt, musst du wissen. Ich hatte eigentlich angenommen, dass mich nichts mehr überraschen könnte. Dass ich auf alles vorbereitet wäre, was in Zukunft noch kommen würde.“ Er schwieg einen Moment, betrachtete das Mädchen nachdenklich, dass immer noch zu Boden starrte und seinen Blick mied. „Aber ich habe mich geirrt.“ Und wie er sich geirrt hatte. Alec gab es zwar ungern zu, aber man hatte ihn hereingelegt. Ihn in die Beute verwandelt. Er hatte es nicht kommen sehen, nicht mal im entferntesten damit gerechnet. Und das schlimmste war, dass er nicht mal genau wusste, wie es überhaupt geschehen war. Wie man ihn hinters Licht geführt hatte. Er erinnerte sich bloß an Fragmente. An verschwommene, unzusammenhängende Bilder, die ihn eher verwirrten, als dass sie ihm eine klare Antwort gaben. Als hätte er eine durchzechte Nacht hinter sich und könnte sich nur bruchstückhaft entsinnen, was am Abend zuvor geschehen war. „Ich bin in einer Gruft aufgewacht“, erklärte Alec dem zusammengekauerten Mädchen, das wahrscheinlich gerade zu seinem Gott betete und wenig Interesse an der ganzen Geschichte hatte. Der Vampir störte sich jedoch nicht weiter daran, sondern fuhr ihr stattdessen mit dem Finger wenig liebevoll über ihre Bisswunde und leckte das Blut davon ab. „In einer Gruft, kannst du dir das vorstellen? Das ist so pathetisch und klischeehaft. Ein Turm, der von einem Drachen bewacht wird, wäre wenigstens noch originell gewesen, aber ein stinkendes, feuchtes Loch tief in einem Kellergewölbe …? Bar jeglicher Kreativität!“ Katarina hatte währenddessen ihre Hände gefaltet und offenbar all ihren Mut zusammengenommen, als sie mit angsterfüllter Stimme fragte: „Und was … was hat das mit mir … zu tun?“ Alec grinste schief. „Eine ausgezeichnete Frage, Schatz“, lobte er sie wie ein Kleinkind. „Nun, im Grunde gar nichts. Du hast mich zuvor nie gesehen, kennst wahrscheinlich nicht mal meinen Namen und so oder so wärst du sicher nicht so dumm, dich mit mir anzulegen. Zugegeben, du erscheinst mir ein bisschen einfältig, aber derart nun auch wieder nicht.“ Katarina sagte hierauf nichts, presste bloß ihre Lippen aufeinander und hoffte wohl nicht zum ersten Mal an diesem Abend, dass das alles bald ein Ende finden würde. „Du warst ein braves Mädchen“, fuhr Alec fort, während er ihr eine Strähne ihres honigfarbenen Haares hinter ihr Ohr strich. „Aber dein Vater … nun, der war nicht gerade anständig.“ Darauf sah sich Katarina doch genötigt, ihren Kopf zu heben. Ihre hellblauen Augen suchten die seinen, in ihrem Blick Verwirrung und auch eine nicht zu übersehende Angst, dass ein zutiefst geliebter Mensch ebenfalls in tödlicher Gefahr schweben könnte. „Mein … Vater?“ Alec lächelte dämonisch, was Katarina offenbar überaus ängstigte, weswegen sie sich hastig wieder abwandte und sich wahrscheinlich inständig wünschte, dass das raubtierhafte Leuchten in Alecs Augen bloß eine Reflektion des Lichts war und kein Anzeichen dafür, dass sie es mit einem gottlosen Monster zu tun hatte. „Wenn man vom Teufel spricht …“, flüsterte Alec daraufhin, als er Schritte auf dem Flur vernahm. Der Geruch des Mannes, der sein eigentliches Ziel war, schlug ihm selbst durch die geschlossene Tür entgegen. So penetrant und aufdringlich, dass es einen förmlich ansprang. Geduldig wartete er, dass der besorgte Vater seine Tochter fand. Wahrscheinlich war Joseph zunächst überhaupt nicht aufgefallen, dass seine geliebte Katarina verschwunden war. Stattdessen hatte er seine Kontakte gepflegt und sich so sehr bemüht, sich auch nach außen hin als Edelmann zu präsentieren, ganz so, wie es seine Titel vorschrieben. Er hatte sich welterfahren und charmant gegeben, als ein Mann der Elite. Und man hatte an der Anerkennung der meisten Gäste gemerkt, dass er seine Rolle perfekt spielte. Nicht mal, als einer der Bedienstete einige Gläser aus Versehen hatte fallen lassen, hatte er seine Stimme erhoben, sondern stattdessen wie ein verständnisvoller Vater reagiert. Aber Alec hatte hinter die Fassade blicken können. Joseph war ein aufgewühlter und leicht reizbarer Mann, dessen Lächeln eingemeißelt wirkte. Sich derart elegant zu geben, kam ihm einen Kraftakt gleich, der ihn von Minute zu Minute schwächte. Dennoch hatte er nicht nachgegeben. Hatte all die Energie mobilisiert, die ihm zur Verfügung stand, auch wenn man ihm angesehen hatte, dass er am liebsten irgendwo anders gewesen wäre. „Katarina, bist du hier drin?“ Die Tür zu dem kleinen Salonzimmer öffnete sich und eine sanfte Brise brachte den Geruch unzähliger Menschen und die Geräusche der feierenden Meute mit hinein. Josephs dunkle Falkenaugen untersuchten mit einer einstudierten Akribität den Raum, bis sein Blick schließlich auf seine auf dem Boden kniende Tochter fiel. Sofort spannte sich sein Körper an, während er in großen Schritten auf sie zueilte. „Katarina, was ist los?“, fragte er, eindeutig aufgebracht. „Warum versteckst du dich hier so ganz allein? Du beleidigst die Gäste.“ Alec, der zuvor in die Dunkelheit getaucht war, beobachtete den Neuankömmling genau, ehe er sich langsam auf die Tür zubewegte und diese lautlos schloss. Der Lärm der Festlichkeit wurde automatisch stark gedämpft, was Joseph jedoch nicht zu bemerken schien. „Katarina, nun sprich endlich!“, verlangte er stattdessen. „Was tust du -?“ Er unterbrach sich jäh, als er das Blut an ihrer Kehle erblickte. Entsetzt schnappte er nach Luft und schien von einem Moment auf den anderen wie eingefroren. Jeder einzelne Muskel rührte sich plötzlich nicht mehr. Stattdessen harrte er an Ort und Stelle und schaute entgeistert auf seine zu Tode verängstigte Tochter hinab. „Vielleicht solltet Ihr sie was trösten“, schlug Alec aus der Finsternis heraus vor. „Sie ist ein kleines bisschen verstört.“ Joseph wirbelte herum und betrachtete mit schreckgeweiteten Augen den Vampir, der sich behände aus dem Schatten schälte und den Mann vor sich teuflisch anlächelte. „Schön, Euch mal kennenzulernen“, fuhr Alec in einem vollkommen normalen Plauderton fort. „Ich habe schon so viel von Euch gehört.“ Amüsiert sah er dabei zu, wie in Sekundenschnelle alle Farbe aus Josephs Gesicht wich, als ihm klar wurde, mit wem er es zu tun hatte. Er wollte etwas sagen, irgendwie reagieren, das konnte man deutlich an seinen Augen erkennen. Doch kein einziges Wort verließ seine Lippen. Er brachte es nur zustande, einen kleinen Schritt zurückzuweichen. „Ihr habt sicher auch schon von mir gehört, nicht wahr?“, erkundigte sich Alec. Er spürte, wie die Bestie in seinem Inneren bei dem Anblick dieses Mannes wieder zu schreien begann. Wie sie nach Blut und Rache gierte. „Unter welchem Namen kennt ihr mich nochmal? Angelus Mortis, oder? Der Todesengel.“ Er lachte auf. „Ich liebe diese Spitznamen, die ihr Menschen mir immer wieder verpasst.“ Joseph trat noch ein Stück zurück, während er sich offenbar mit aller Macht dazu zwang, sich zusammenzureißen. Mühsam verdrängte er das Entsetzen aus seinen Zügen und machte einer harten Miene Platz. Man roch zwar immer noch die Angst an ihm, aber wenigstens äußerlich wusste er sie perfekt zu verbergen. „Was tust du hier?“, verlangte er zu erfahren. Seine Stimme war klar und fest, sodass bloß das überaus sensible Gehör eines Vampirs das Zittern darin heraushören konnte. „Du solltest doch …“ „In einer süßen, kleinen Gruft vor mich hinvegetieren, bis nicht mal mehr die Ratten an mir nagen wollen?“ Alec legte seinen Kopf schief, als würde er tatsächlich über das Ganze nachdenken. „Hm, wisst Ihr, ich habe es versucht. Diese ganze Ich-sitz-im-Dunkeln-und-hab-bloß-mich-und-meine-Gedanken-Nummer, aber ehrlich gesagt ist das nicht wirklich mein Stil. Es war … einfach viel zu langweilig.“ Joseph schluckte. Sein Blick huschte kurz zu seiner Tochter, er wagte es jedoch nicht, sich ihr weiter zu nähern. „Und wie bist du …?“ „Rausgekommen?“, half Alec ihm auf die Sprünge, nachdem Joseph seine Frage abbrach. „Tja, das liegt einzig und allein an der Tatsache, dass ihr dummen Kreaturen noch nicht sehr viel über Vampire wisst. Was habt ihr gedacht, als ihr mich da unten in den Kerker eingesperrt habt? Dass mich sowieso niemand vermissen würde? Dass so ein herzloses Ungeheuer wie mich keiner suchen würde? Dass wir bösen und grausamen Vampire allesamt hoffnungslose Einzelgänger sind?“ Er beobachtete vergnügt, wie sich Josephs Gesichtsausdruck nach und nach veränderte, als er begriff, worauf sein Gegenüber hinauswollte. „Ehrlich gesagt sind wir Vampire ausgesprochen gesellig“, setzte ihn Alec mit einem breiten Lächeln zur Kenntnis. „Und mein Fehlen ist den anderen schon sehr bald aufgefallen. Sie suchten und fanden mich.“ Joseph knirschte leise mit den Zähnen. Offenbar waren er und seine Komplizen sich ziemlich sicher gewesen, dass Vampire so etwas wie Freunde oder Gefährten überhaupt nicht besaßen und es demnach so oder so niemanden kümmern würde, wenn ein Vampir von der Bildfläche verschwand. „Und jetzt bist du hier“, stellte er fest. Er klang gefasst, fast schon völlig normal. „Und ich nehme an, die Männer in dem Kloster …“ Alec schmunzelte, was für Joseph anscheinend Antwort genug war. Kurz schloss er seine Augen und holte tief Luft. „Sie haben versucht, mich zu vernichten!“, fuhr Alec fort. Seine Stimm erhob sich, als er sich daran erinnerte, wie sehr diese Menschen ihn gedemütigt hatten. „Sie schlitzten mich auf, um das letzte bisschen Blut aus mir rauszuholen, ehe sie mir einen Pflock ins Herz rammten und die schwere Eisentür hinter sich schlossen.“ Dreiundzwanzig Tage. Bloß dreiundzwanzig Tage war er laut Aussage seiner Clanmitglieder dort unten in der Gruft gewesen. Aber Alec war es vorgekommen wie Jahre. Wie endlose, qualvolle und gleichzeitig verschwommene Jahre. Er hatte die ganze Zeit auf dem feuchten Boden gelegen, mehr tot als lebendig, und sich gefragt, was eigentlich geschehen war. Mühevoll hatte er versucht, sich an irgendwas zu entsinnen. Etwas, das all dies hätte erklären können. Doch sein Verstand war bereits viel zu angeschlagen gewesen. Er hatte bloß noch mitbekommen, dass seine Peiniger, die ihn wie ein Stück Dreck in die Gruft geworfen hatten, in Priestergewänder gehüllt gewesen waren. Die ganze Zeit über hatten sie das „Vater Unser“ auf Lateinisch gemurmelt und Alec angestarrt, als würden sie ihn für den Teufel persönlich halten. Als wäre er ein Monster, das die gesamte Welt zu verschlingen drohte. „Sie haben gejammert und geweint, als ich sie tötete“, meinte Alec schließlich, dem die Erinnerung an die Todesschreie dieser Männer wieder zum lächeln brachte. „Sie hatten gedacht, einen Dämon bezwungen zu haben, und mussten dann letzten Endes doch einsehen, dass sie stattdessen einen erschaffen hatten.“ Alec näherte sich langsam Joseph, dessen Gesicht erneut deutlich an Farbe verlor. „Wisst Ihr eigentlich, was mit einem ausgehungerten Vampir passiert?“, hakte er nach. „Mit einem, der im Grunde so gut wie keinen Tropfen Blut mehr in seinem Körper hat?“ Er schnaubte. „Ich war immer bescheiden, tötete nur dann, wenn ich Lust und Laune dazu hatte. Aber nachdem, was diese Männer mir angetan haben … ich war nicht viel mehr als ein Tier, Joseph! Ein ausgehungertes, verletztes Tier! Mein Blutdurst machte mich schier wahnsinnig.“ Er schwieg einen Augenblick, bevor er hinzufügte: „Und er tut es immer noch.“ Kaum hatte er nach seiner Befreiung das erste Blut zu sich genommen, war alles vorbei gewesen. Er hatte sich nicht mehr beherrschen können, sondern war stattdessen wie eine Bestie durch das kleine Konvent gestürmt und hatte sich an jedem genährt, der ihm begegnet war. Ihm war völlig die Kontrolle entglitten, stattdessen hatten seine animalischen Instinkte Überhand genommen. Er hatte sich an dem Flehen der Sterbenden gelabt, an ihrer Angst und Panik. Es hatte ihn berauscht, eine Leidenschaft in ihm geweckt, wie er es nie für möglich gehalten hätte. Und selbst, als kurze Zeit später wieder genügend Blut in seinem Organismus gewesen war, hatte es nicht aufgehört. Nachdem er auf offener Straße beinahe ein kleines Kind angegriffen hätte, hatte er sich zunächst zurückgezogen und versucht, wieder die Kontrolle über seine niederen Triebe zu erlangen. Ein Unterfangen, das sich als ausgesprochen schwierig erwiesen hatte und vielleicht sogar noch Monate in Anspruch nehmen würde. „Es ist, als würde das Blut mich rufen“, erklärte Alec leise. „Ich kann ihm nur schwer widerstehen. Und ein Teil von mir will es auch gar nicht.“ Mit einer übernatürlicher Schnelligkeit, die Joseph erschrocken nach Luft schnappen ließ, befand sich Alec wieder bei Katarina und kniete sich neben sie. „Sie ist so köstlich“, flüsterte er, während er ihr Haar nach hinten kämmte und sich langsam der Wunde an ihrer Kehle näherte. „So unsagbar köstlich.“ Zuvor noch so versteinert wie eine Statue, erwachte nun Josephs Beschützerinstinkt. Ohne groß darüber nachzudenken, holte er einen edlen Dolch hervor, der schon die ganze Zeit an seinem Gürtel befestigt gewesen war, und stürzte sich schreiend auf den Vampir. Um nichts in der Welt wollte er dabei zusehen, wie seiner Tochter von einem Untoten das Leben genommen wurde. Aber Alec durchschaute ihn, noch bevor er überhaupt seine Waffe gepackt hatte. Flink griff er zuerst an, entriss Joseph den Dolch und schlug mit seiner Faust auf dessen Unterarm, sodass man daraufhin Knochen brechen hörte. Joseph schrie vor Schmerz und Überraschung auf, ehe er das Gleichgewicht verlor und zu Boden stürzte. Er landete unangenehm mit der Schulter auf einem Holzhocker, schaffte es aber, sich seinen Kopf nirgends anzustoßen. „Du willst mir zuvorkommen, kleiner Mensch?“, zischte Alec. „Du bist doch bloß eine Made ohne Macht und Verstand!“ Ohne das geringste Mitleid stellte er seinen Fuß auf Josephs rechtes Bein und trat fest zu. Erneut vernahm man das Geräusch von splitternden Knochen, als die schwache menschliche Hülle unter der Kraft des Vampirs nachgab. Joseph brüllte dermaßen laut, dass wahrscheinlich jeder in der prachtvollen Villa es vernommen hätte, wenn nicht im großen Saal laute Musik gespielt worden wäre und unzählige Menschen wild durcheinandergeredet hätten. Katarina war wahrscheinlich die einzige in der näheren Umgebung, die es ohne Zweifel hörte. Der Schrei ihres Vaters riss sie aus der Lethargie. Verschreckt wollte sie auf ihn zustürmen, sich an ihn drücken, seinen Schutz suchen und gleichzeitig Trost spenden, doch noch bevor sie überhaupt Joseph berühren konnte, packte Alec sie unsanft am Oberarm und schleuderte sie wieder zurück. Sie fiel zu Boden, wo sie daraufhin auch liegenblieb und sich nicht traute, sich erneut auch nur ein kleines bisschen zu bewegen. „Ihr habt es euch selbst zuzuschreiben!“, fuhr Alec derweil aufgebracht fort. „Ihr habt euch mit Mächten angelegt, von denen ihr keine Ahnung habt.“ Herausfordernd nahm er Joseph ins Visier. „Wie kommt es eigentlich, dass auch Ihr involviert seid, werter Graf? Einer der Priester nannte mir Euren Namen, kurz bevor er starb. Er behauptete, das Ganze wäre Eure Idee gewesen.“ Joseph antwortete nicht. Stattdessen drückte er schweigend seinen verletzten Arm näher an sich und wich den bohrenden Blicken des Vampirs aus. „Ihr seid einer von diesen Dämonenjägern, nicht wahr?“, hakte Alec nach. „Von diesen Lebensmüden, die in ihrem Größenwahn glauben, uns gewachsen zu sein.“ Schon immer hatte es einzelne Personen oder gar ganze Gruppen gegeben, die mehr schlecht als recht versucht hatten, sich gegen das Übernatürliche zur Wehr zu setzen. Doch seit gut einem Jahrhundert hatte es sich wie eine Krankheit auf der ganzen Welt ausgebreitet. Die Menschen organisierten sich, rotteten sich zusammen. Netzwerke und Verbindungen wurden geknüpft, kluge Köpfe und Erfinder angeheuert, die die neusten Waffen zur Dämonenbekämpfung entwickeln sollten. Alec hatte sie zwar trotz alledem nie für eine wirkliche Bedrohung gehalten, er war jedoch nun fast gewillt, seine Meinung zu revidieren. „Von wem hast du deine Befehle?“, verlangte er zu erfahren. „Von der Hauptzentrale in Wien? Ich habe zumindest gehört, dass sich dort ein Stützpunkt befinden soll.“ Als Joseph immer noch nicht reagierte, fügte er hinzu: „Vielleicht sollte ich dort einfach mal vorbeischauen und die netten Leute vor Ort ausquetschen. Womöglich sind die was gesprächiger.“ Daraufhin kam wieder Leben in Josephs Körper. Er schaute auf und erwiderte in einem beinahe verzweifelten Tonfall: „Niemand hat mir irgendwelche Befehle gegeben. Ich habe auf eigene Initiative gehandelt.“ Bemüht unauffällig rückte er ein Stück von Alec weg. „Ich hörte, dass ein überaus gefährlicher Vampir in der Stadt wäre. Und ich entschied mich, die Sache in die Hand zu nehmen.“ „Und die Priester?“, erkundigte sich Alec. „Offiziell sind …“ Er unterbrach sich selbst und atmete einmal tief ein, als er sich rasch korrigierte: „Sie waren offiziell keine Dämonenjäger. Aber ihnen lag viel daran, die gottlosen Geschöpfe dieser Welt wieder zurück in die Hölle zu schicken. Sie haben uns oft unterstützt.“ Alec knirschte mit den Zähnen. Es war in der Vergangenheit nicht gerade selten geschehen, dass Geistliche sich im Namen Gottes gegen das Übernatürliche stellten. Bisher hatte der Vampir diesen Umstand eher amüsant gefunden, da die Versuche der Kleriker meist nicht von Erfolg gekrönt gewesen waren, doch nun war Alec mehr als je zuvor gewillt, diese Männer unter keinen Umständen zu unterschätzen. „Dämonenjäger“, zischelte er herablassend. „Weißt du eigentlich, wie unsagbar dämlich es ist, sich mit uns anzulegen? Hast du überhaupt eine Ahnung, in welche Gefahr du dich damit bringst?“ Intensiv musterte er Joseph, dessen Gesicht vor Schmerz stark verzerrt war. „Du hast doch alles, Jo. Einen Haufen Geld, eine Frau, eine Tochter. Warum gehst du dieses dumme Risiko ein?“ Joseph hob seinen Blick und starrte Alec mit einem solchen Hass an, dass so gut wie jeder andere zurückgewichen wäre. „Du und deinesgleichen, ihr seid schreckliche Monster!“, fauchte er. Er schien sogar kurz zu erwägen, Alec, der neben ihm kniete, brutal am Kragen zu packen, unterließ es dann jedoch. „Mörder und Bestien ohne Gewissen! Wie könnte ich mich da euch nicht entgegenstellen?“ Über Alecs Lippen huschte ein Lächeln, als er begriff, worauf Joseph anspielte. „Dir wurde jemand genommen, nicht wahr?“ Sein Gegenüber zuckte kurz zusammen. Einen Moment schien er sich wohl zu fragen, ob Alec Gedanken lesen konnte, ehe er schließlich schnaubte und sein Gesicht abwandte. Der Vampir packte ihn jedoch am Kinn und zwang ihn, ihn anzusehen. „Wer war es?“, hakte er grinsend nach. „Deine liebe Mami? Angegriffen und getötet, während sie unschuldig wie ein Engel in ihrem Bettchen geschlafen hat? Oder doch dein großer Bruder, den du immer so bewundert hast? Der dir Geschichten von Kriegen aus fernen Ländern erzählt hat, obwohl er eigentlich selbst nie hier aus Salzburg herausgekommen ist?“ Er lachte auf. „Komm schon, erzähl es mir!“ Die Abscheu, die Joseph erfüllte, war nun fast greifbar. Alec hatte das Gefühl, sie war kurz davor, ihn zu attackieren, ihn zu Boden zu werfen und all die Lebensenergie aus ihm herauszusaugen, bis er nichts mehr war als eine ausgetrocknete Mumie. Als eine Erinnerung. Aber Hass allein hatte bisher noch nie ausgereicht und so war es auch bei Joseph. Er konnte sosehr hoffen, dass seine funkelnden Blicke den Vampir töteten, es würde einfach niemals geschehen. „Meine Töchter“, meinte Joseph schließlich flüsternd, als Alec den Druck ein wenig verstärkte und dessen Kieferknochen bereits unheilvolle Geräusche von sich gaben. „Meine beiden ältesten. Sie waren … noch so jung und unschuldig. So voller Leben.“ Jedes einzelne Wort kam ihm unglaublich schwer über die Lippen. „Sie waren auf dem Weg zu einem Nachbarort, um ihren Onkel zu besuchen, als es geschehen ist. Der Kutscher hat mir alles berichtet. Dieses … dieses Monster hat sie einfach mitgenommen! Und sie … und sie …“ Er brach ab. Bittere Tränen rannen seine Wangen hinab. „Man fand ihre Leichen erst Wochen später.“ Alec warf einen Blick zu Katarina, die bei der Erwähnung dieses alten und gleichzeitig noch so präsenten Schmerzes ihren Kopf gesenkt hatte und ebenfalls zu weinen begann. Unwillkürlich fragte sich der Vampir, ob das Mädchen überhaupt gewusst oder zumindest geahnt hatte, was ihr Vater inzwischen trieb, um mit dem Verlust seiner Kinder irgendwie klarzukommen und seiner Rache freien Lauf zu lassen. „Hm, das erklärt natürlich so einiges“, musste Alec eingestehen. „Ich nehme mal an, den verantwortlichen Vampir hat man nie gefunden?“ Er wartete gar nicht erst auf Josephs Kopfschütteln, sondern fuhr fort: „Tja, sowas ist im Nachhinein auch ziemlich schwer. Zugegeben, ich könnte es wahrscheinlich herauskriegen, aber ehrlich gesagt verspüre ich irgendwie wenig Lust, dir zu helfen. Vielleicht noch vor der ganzen Sache mit der Gruft. Ich habe öfters Anwandlungen, weißt du, und wenn mir langweilig ist, kann sowas eine ganz nette Abwechslung sein. Aber jetzt …“ Alec hob eine Augenbraue und schmunzelte, während er Joseph dabei beobachtete, wie er langsam realisierte, dass er womöglich seine einzige Chance verspielt hatte, den wahren Mörder seiner Töchter zu finden. Doch schnell verdüsterte sich seine Miene wieder, als er erwiderte: „Du bist doch nur ein Lügner und Betrüger, wie all die anderen. Wieso hätte ich dir vertrauen sollen?“ „Gute Frage“, meinte nun auch Alec. Er richtete sich wieder auf. „Und im Grunde ist es auch gleich. Mich interessieren deine toten Töchter nicht, ebenso wenig wie dein noch halbwegs lebendes Mädchen dort drüben.“ Er deutete auf Katarina, die unwillkürlich ein Stück von ihm wegkroch. „Ich schere mich nicht um dich und dein jämmerliches Leben. Das einzige, was ich unbedingt wissen will, ist: Wie hast du es geschafft?“ Joseph rührte sich im ersten Moment nicht, immer noch viel zu überwältigt von der Erinnerung an die schmerzhafte Vergangenheit. Schließlich aber, als Alec schon kurz davor stand, erneut Gewalt anzuwenden, blickte er auf und fragte verwirrt: „Was …?“ „Wie habt ihr es angestellt?“, wiederholte der Vampir mit Nachdruck. „Wie habt ihr mich …“ Die Worte blieben ihm im Halse stecken, als er an die Ereignisse zurückdachte. Joseph hingegen lächelte leicht. „Du meinst, wie wir dich überrumpeln konnten? Wir kleinen, jämmerlichen Menschen?“ Ein raubtierhaftes Knurren stieg aus Alecs Kehle, ehe er Joseph am Hemd packte und unsanft näher zog, dessen gebrochene Knochen dabei völlig ignorierend. Dieser sog daraufhin vor Schmerz scharf die Luft ein, während er gleichzeitig offenbar mühevoll dagegen ankämpfte, das Bewusstsein zu verlieren. „Du solltest dich nicht über mich lustig zu machen, schwächlicher Wurm!“, drohte Alec wütend. „Ich könnte dir die Kehle aufreißen, bevor du überhaupt merkst, was passiert ist. Also sei lieber brav, wenn du den Wunsch hegst, noch länger zu leben.“ Scharf nahm er sein Gegenüber ins Visier. „Und jetzt beantworte meine Frage!“ Joseph aber schnaubte verächtlich. „Denkst du wirklich, ich verrate Geheimnisse? Ich habe immer unterbewusst damit gerechnet, dass eines Tages ein Vampir vor meiner Haustür stehen würde. Glaub mir, ich habe keine Angst vor dem Tod.“ Alec jedoch lächelte daraufhin bloß dämonisch. „Oh doch, das hast du.“ Und mit diesem Worten ließ er von dem überraschten Joseph ab und wandte sich Katarina zu. Diese registrierte sofort die sich nähernde Gefahr und unternahm einen verzweifelten Versuch, irgendwie von ihm wegzurobben, doch Alec ließ ihr keine Gelegenheit. Binnen einer Sekunde war er neben ihr, vergrub seine Hand in ihren Haaren und riss gewaltsam ihren Kopf nach hinten, sodass die Bisswunde an ihrem Hals frei lag. Katarina schrie und weinte, hatte aber nicht mal ansatzweise genügend Kraft, um sich angemessen zur Wehr zu setzen. „Vielleicht hast du keine Angst vor deinem Tod“, meinte Alec, an Joseph gerichtet. „Aber vor ihrem ganz sicher, nicht wahr?“ Joseph schnappte entsetzt nach Luft. Er wollte aufspringen und seiner Tochter augenblicklich zur Hilfe eilen, doch sein Bein erlaubte es ihm nicht. Kaum hatte er sich nur ein Stückchen nach oben gehievt, brach er auch schon wieder zusammen. „Also, was ist jetzt?“, hakte Alec herausfordernd nach. „Ist das Geheimnis derart wichtig, dass du deine süße Katarina dafür opfern würdest? Wäre es das wert?“ Um Joseph weiter zu provozieren, neigte sich Alec über das zitternde Mädchen und leckte das Blut auf, das ihr in Rinnsalen über den Hals und das Dekolleté lief. Ihr Herz raste wie wild, sich sehr wohl gewahr, dass sie dem Tod näher war als dem Leben. „Bitte …“, vernahm Alec daraufhin Josephs Flehen. „Bitte, tu das nicht.“ Der Vampir drehte sein Gesicht zur Seite und präsentierte ihm seine scharfen Reißzähne. „Sei artig und mach, was ich dir sage. Dann wird deine Prinzessin vielleicht überleben.“ Joseph zögerte einen Moment, sich offenbar nicht sicher, ob man dem Wort eines Untoten glauben sollte. Schließlich aber senkte er seinen Kopf und meinte leise: „Die Frau … in der Gaststätte …“ Alec runzelte verwundert die Stirn und wusste zunächst nicht, worauf sein Gegenüber hinauswollte. In den letzten Wochen war derart viel geschehen, dass er sich wahrlich nicht an jedes weibliche Wesen erinnern konnte, das ihm über den Weg gelaufen war. Dann jedoch rief er sich die besagte Nacht nochmal vor Augen. An viel entsann er sich nicht mehr, bloß an Bruchstücke. Er war auf der Jagd gewesen. Schon längere Zeit hatte er kein Blut mehr zu sich genommen und war dementsprechend hungrig gewesen. Und auf seiner Suche war er zu diesem Wirtshaus gekommen. In einer dunklen Ecke, mäßig besucht und perfekt geeignet, um jemanden zu entführen, ohne dass jemand es bemerkte. Und kaum war er durch die Tür getreten, war diese Frau zu ihm gekommen. Im mittleren Alter, aber immer noch schön. Sie hatte sich ihm förmlich aufgedrängt, ihn umschmeichelt und ihn ganz eindeutig zu verführen versucht. Es war so einfach gewesen, sie in eine düstere Gasse zu ziehen und von ihrem Blut zu kosten. Aber unter Umständen … zu einfach? „Sie war auf dich angesetzt“, erklärte Joseph. „Es hat uns sehr viel Zeit und Mühe gekostet, dich zu lokalisieren, doch irgendwann hat es tatsächlich funktioniert. Und die Frau sollte als Köder fungieren.“ Alec hob seine Augenbrauen. „Als Köder?“ „Du solltest von ihr trinken“, meinte Joseph. „Das war der Plan.“ Alec war ehrlich irritiert. Es passierte zwar durchaus öfters, dass sich Menschen Vampiren anboten, aus Wollust oder aus dummer Abenteuerlust. Aber noch nie hatte er davon gehört, dass ausgerechnet Dämonenjäger in so etwas verwickelt gewesen waren. „Wir haben sie … vorbereitet“, schilderte Joseph zögernd. „Ihr Blut präpariert.“ Alecs Miene verdüsterte sich, als er langsam begriff. „Ihr habt mich vergiftet?“ Ein Teil von ihm konnte es einfach nicht fassen, doch andererseits war keinerlei Lüge in Josephs Stimme zu erkennen gewesen. Er sprach die Wahrheit. Alec versuchte sich mühsam an die Frau aus der Gaststätte zu erinnern, aber ihr Antlitz war wie verzerrt. Er sah ihre ausdrucksstarken Augen, hörte ihre weiche Stimme, die ständig auf ihn eingeredet hatte, und roch das Duftwasser, das sie benutzt hatte. Aber er entsann sich nicht mehr wirklich an ihr Gesicht. An ihre Züge, an ihr Lächeln. Es war alles fort. Ebenso war es mit ihrem Blut. Vage wusste er noch, dass er von ihr getrunken hatte. Und eine Stimme in seinem Hinterkopf sagte ihm, dass ihr Blut seltsam geschmeckt hatte. Nicht unbedingt schlecht, sondern einfach nur anders. „Wie?“, zischte Alec. „WIE, zur Hölle?“ Joseph hatte seinen Blick auf Katarina gerichtet, als er antwortete: „Verschiedene Kräuter. Einer der Priester wusste sehr gut, was übernatürlichen Wesen schadet. Was sie schwächt und ihren Verstand vernebelt.“ Joseph seufzte. „Ich habe keine Ahnung, woher er all dieses Wissen hatte. Einer seiner Mitbrüder verriet mir, dass es Gerüchte gäbe, er wäre mit einer Hexe verwandt. Vielleicht hat er von ihr …“ Er versuchte, mit den Schultern zu zucken, ächzte jedoch leidlich, als er merkte, wie schmerzhaft dies in seiner Situation war. „Ich weiß nicht, was er alles genommen hat. Er hat dauernd die lateinischen Ausdrücke benutzt. Ich glaube, es war unter anderem Eisenhut dabei, aber ich bin mir nicht sicher. Ich kann dir wirklich nicht mehr dazu sagen.“ Alec runzelte die Stirn. Es gab tatsächlich einige Kräuter, die einen Effekt auf Vampire hatten. Manche waren berauschend, andere kräftezehrend. Aber dennoch reichte es nicht, um einen solch mächtigen Untoten wie ihn einfach auszuschalten. „Das ist nicht alles, oder?“, hakte Alec ungeduldig nach. „Du verschweigst doch etwas.“ Joseph senkte den Blick, fühlte sich ertappt. Im ersten Moment antwortete er nicht, sodass Alec sich genötigt sah, Katarina unsanft ein wenig näher an sich zu zerren, um seine Zunge zu lockern. Sofort öffnete Joseph daraufhin den Mund und erklärte: „Außerdem haben wir in die Adern der besagten Frau noch das Blut eines Werwolfs injiziert.“ Alec war über diese Aussage ehrlich überrascht. „Werwolfblut?“ Joseph nickte widerwillig. „Es war meine Idee“, fügte er hinzu. Trotz der angespannten Lage hörte man deutlich aus seiner Stimme, wie stolz er darauf war. „Ich mag vielleicht nicht so viel über Vampire wissen wie manch anderer, aber mir war klar, dass die Feindschaft zwischen euch und den Werwölfen noch viel tiefgehender ist. Ich las in einem Buch, dass der Biss eines Wolfes ungemein schmerzhaft für ein Monster wie dich ist und auch deutlich langsamer heilt als normale Wunden. Ein Werwolf kann sogar einen Vampir töten, wenn er es darauf anlegt, nicht wahr?“ Er schaute Alec direkt an, schien auf eine Bestätigung zu warten. Doch der Angesprochene schwieg. „Mir war nicht ganz klar, wie viel von dem, was ich aus Büchern herausgefunden hatte, der Wahrheit entsprach und wie viel bloß Legende war“, fuhr er fort. „Aber ich erhielt mehrere positive Antworten von Experten, die ich zu diesem Thema befragt hatte. Viele waren der Ansicht, dass sich Vampire und Werwölfe gegenseitig erheblichen Schaden zufügen können. Und deshalb habe ich entschieden, dass es einen Versuch wert war.“ Ein Lächeln umspielte seine Lippen. „Und wie es scheint, habe ich goldrichtig gelegen.“ Alec verspürte plötzlich das unbändige Verlangen, diesem Kerl bei lebendigem Leib das Herz herauszureißen. Mordlust stieg in ihm auf, seine niederen Instinkte versuchten erneut, die Überhand zu gewinnen. „Ihr habt diese Frau – den Köder – also mit all diesen netten Zutaten bestückt?“, fragte er herausfordernd nach. „Hat sie das überhaupt überlebt?“ „Sie hat sich freiwillig gemeldet“, meinte Joseph augenblicklich, als wollte er unter allen Umständen sein Vorgehen verteidigen. „Ihr Mann wurde von einem Vampir getötet, sodass sie nur allzu gewillt war, es einem von euch heimzuzahlen. Sie kannte das Risiko und war bereit, es einzugehen.“ Alec legte seinen Kopf schief. „Mit anderen Worten: Sie ist tot.“ Joseph wich dem Blick des Vampirs aus, als er widerstrebend zugab: „Die Kombination ist auch für Menschen nicht besonders gesund. Wir haben sie zwar zur Ader gelassen und versucht, die Gifte wieder aus ihrem Körper zu spülen, aber …“ Er presste seine Lippen aufeinander. „Sie starb ein paar Tage, nachdem wir dich in der Gruft eingesperrt hatten.“ „Ihr habt also diese Frau vergiftet, um an mich heranzukommen. Und dann habt ihr mich aufgeschlitzt und wie ein dreckiges Tier in dieses Loch geworfen.“ Während Alec die Ereignisse Revue passieren ließ, erhob sich seine Stimme merklich. „Und ich werde hier als Monster bezeichnet?“ „Wir dachten, du wärst tot!“, versuchte sich Joseph rasch zu verteidigen. Alec hob eine Augenbraue. „Tot?“, hakte er nach. „Meine Güte, ihr habt ja echt keine Ahnung von Vampiren!“ Joseph verzog sein Gesicht. „Es gibt so viele Legenden und Mythen“, meinte er widerwillig. „Außerdem wollte ich dich noch verbrennen. Nur, um wirklich sicherzugehen. Aber einige der anderen waren überzeugt, dass wir dadurch deine schwarze Seele befreien und vom irdischen Fleisch erlösen würden.“ Er schwieg einen Moment, ehe er anfügte: „Wir waren noch am verhandeln, was weiter mit dir geschieht.“ Alec spürte, wie der Zorn in ihm immer weiter wuchs. Er stellte es sich bildlich vor, wie diese Männer an einem Tisch zusammensaßen und darüber beratschlagten, wie sie als nächstes mit dem schwachen Vampir unten im Keller verfahren würden. Ob Feuer oder die immerwährende Dunkelheit die endgültige Lösung wäre. Alec hatte es schon immer gehasst, wenn andere über ihn bestimmten. Und noch mehr hatte er es verabscheut, wenn er nicht mal etwas dagegen hatte tun können. „Hast du es jemanden erzählt?“, wollte Alec wissen. „Die Sache mit dem Werwolfblut?“ Joseph schaute auf. „Ich …“, begann er zögerlich, sich offenbar sehr wohl gewahr, dass der Vampir unter allen Umständen eine ehrliche Antwort erwartete. „Ich habe, wie gesagt, mit den Experten darüber debattiert. Aber das war alles nur Theorie.“ „Hast du jemanden gesagt, dass es funktioniert?“, konkretisierte Alec ungeduldig seine Frage. Joseph holte einmal tief Luft, ehe er offenbarte: „Noch nicht. Ich habe zwar schon einen Brief für die Zentrale in Wien aufgesetzt, aber bisher noch nicht abgeschickt.“ „Und die Priester?“ Joseph senkte erneut seinen Blick. „Ich weiß nicht, ob sie jemanden unterrichtet haben. Allerdings haben sie sehr zurückgezogen gelebt und wenig Kontakt zur Außenwelt gehabt. Es ist also zumindest durchaus möglich, dass sie es für sich behalten haben.“ Er seufzte. „Aber ich kann es dir nicht uneingeschränkt versichern.“ Alec nickte. Diese Information war mehr als genug. Es gab zwar immer noch ein Restrisiko, aber damit würde er leben müssen. „Wirst du mich jetzt töten?“, fragte Joseph nach. Seine Stimme war ausgesprochen ruhig, aber in seinen Augen stand die Angst. So sehr er sich auch brüstete, den Tod nicht zu fürchten, war es doch etwas völlig anderes, ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen. Da war er nicht der erste, der einknickte, und er würde ganz sicher nicht der letzte sein. Alec hatte derweil seinen Kopf zur Seite gelegt, als würde er ernsthaft über seine Worte nachdenken. Schließlich hob er seine Schultern und meinte in einem heuchlerisch-bedauernden Tonfall: „Ja, das werde ich.“ Bevor Joseph noch etwas sagen, tun oder überhaupt auf irgendeine Weise reagieren konnte, stand Alec plötzlich neben ihm und fasste ihm an Stirn und Hinterkopf. Es benötigte nur einen kurzen Ruck des Vampirs und das schwächliche Genick des Mannes brach auseinander, als wäre es bloß ein kleiner Zweig. Joseph riss die Augen auf, doch bereits in der nächsten Sekunde erlosch das Licht in ihnen für immer. Sein verkrampfter Körper entspannte sich, bevor er schließlich leblos zur Seite sackte. Nichts mehr als eine Hülle, die ebenfalls bald vom Antlitz der Erde verschwinden würde, als hätte sie nie existiert. Unbedeutend, unwichtig und vergessen. Alec betrachtete befriedigt den toten Mann zu seinen Füßen. Vor mehr als einem Monat war er derjenige gewesen, der herablassend auf den Vampir hinuntergeblickt hatte und sich absolut sicher gewesen war, gewonnen zu haben. Triumphiert über ein Wesen, das ihm eigentlich haushoch überlegen war. Er hatte im Siegestaumel geschwelgt und das Gefühl gehabt, das nichts und niemand auf der Welt ihn je würde besiegen können. Er hatte sich geirrt. Alec lächelte zufrieden, ehe er sich Katarina zuwandte, die geschockt auf den regungslosen Körper ihres Vaters blickte. Tränen rannen ihre Wangen hinunter, als sie allmählich begriff, was soeben geschehen war. „Sei mir nicht böse, Liebes“, meinte Alec amüsiert. „Er musste einfach sterben. Er war dumm und selbstgerecht. Es war sein Schicksal, auf diese Art zu enden.“ Als der Vampir sich hinkniete und dem verstörten Mädchen sanft über das Kinn strich, wich sie zurück und bedachte ihn mit einem Blick, der wie eine Mischung aus tiefsitzender Angst und leidenschaftlichen Hass wirkte. Alec genoss ihn über alle Maßen und hätte sich am liebsten den ganzen Abend darin gesonnt. „Weißt du, ich bin immer noch hungrig“, meinte Alec, seine Aufmerksamkeit auf die Wunde an ihrem Hals gerichtet. „Ich könnte dich von deinem Schmerz befreien. Hier und jetzt. Es würde nur kurz wehtun und dann wäre alles vorbei.“ Er grinste. „Ansonsten werden dich diese Bilder bis an dein Lebensende verfolgen. Nacht für Nacht wirst du deinen Vater sterben sehen, wirst die Hilflosigkeit und die Panik fühlen. Du wärst machtlos, so wie du es jetzt bist.“ Er musterte sie eindringlich. „Also, was sagst du? Soll ich dich erlösen?“ Katarina starrte den Vampir eine halbe Ewigkeit an, bevor sie sich schließlich zu Joseph wandte. Schmerz und Trauer schienen sie bei seinem Anblick schier zu überwältigen, sodass sie hastig nach Luft schnappte. Dennoch drehte sie sich nicht weg. Sie sah ihn einfach nur an. Als wartete sie darauf, dass Joseph ihr die Antwort gab. Schließlich aber atmete sie einmal tief ein. „Nein!“, meinte sie mit einer Entschlossenheit, die Alec ihr nicht zugetraut hätte. „Ich möchte leben und dich bis zu meinem Todestag hassen.“ Alec rührte sich im ersten Moment nicht, dann aber zog er seine Mundwinkel nach oben. „Gute Antwort.“ Er richtete sich auf und warf einen letzten Blick auf Joseph. „Dann erinnere dich an mich. Ich habe viele Namen, aber dein Vater kannte mich als Angelus Mortis. Einer meiner Lieblingsnamen, wohlgemerkt.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Möchtest du wissen, wie ich wirklich heiße?“ Katarina schüttelte ihren Kopf. „Du bist der Todesengel. Mehr brauche ich nicht.“ Alec lächelte, als er sich langsam in die Dunkelheit zurückzog. Dieses Mädchen würde ihn ohne Zweifel bis ans Ende ihrer Tage hassen. Sie würde ihn in ihren Albträumen sehen, ihn fürchten und verachten, und sich nichts sehnlicher wünschen, als dass sie irgendetwas gegen ihn hätte tun können. Gegen diese Bestie, die ihren Vater so grausam ermordet hatte. Sie würde ihn nie vergessen. Den Todesengel. _________________________________________________ Verzeihung, aber ich hatte einfach mal Lust, ein bisschen Evil!Alec zu schreiben *fg* Die Begebenheit mit den Priestern und der Gruft, die hier angesprochen wird, ist auch schon in Kapitel 31 von "Vergeltung" erwähnt worden. Ich wollte das Ganze mal ein bisschen ausbauen ^^ Anm.: Das Fürsterzbistum Salzburg war damals noch eigenständig. Erst im 19. Jahrhundert wurde es an Österreich angegliedert. Kapitel 6: Dämon ---------------- Hallo zusammen! Ich weiß, ich habe mich schon länger nicht mehr gemeldet und das tut mir auch wirklich furchtbar leid <.< Ich hoffe/versuche/strenge mich an, dass das in Zukunft etwas anders wird. Hier habt ihr schon mal einen kleinen Appetithappen! Nichts Besonderes, nur ein kleines Intermezzo, aber ich wollte einfach mal ein Lebenszeichen von mir geben. Ich hatte diesen OS schon vor Ewigkeiten angefangen, dann aber irgendwie vergessen. Letztens hab ich ihn rausgekramt und mal wieder weitergeschrieben. Ich hoffe, er gefällt euch ein wenig ^^ Alles Liebe Nochnoi ________________________________________________________ Cookstown, Irland (1847): Ian O’Neal hatte in seinem Leben schon viele Dämonen zu Gesicht bekommen. Oft waren die Begegnungen wenig amüsant gewesen, im Grunde hatte er stets um sein Leben bangen müssen. Selbst die schwächsten und verhältnismäßig machtlosesten Geschöpfe waren den Menschen meist an Kraft und Geschick weit überlegen. Meister darin, ihre Opfer in raffiniert ausgefeilte Fallen zu locken, aus denen es kein Entkommen gab. Oft genug wussten die Menschen nicht einmal, was mit ihnen geschah, und bemerkten es erst, wenn es zu spät war. Dämonen waren Monster. Verführer. Amoralische Wesen, die es liebten, Unschuldige in die ewige Verdammnis zu locken. So zumindest lautete der Standpunkt der Kirche. Ian selbst vermochte dem eigentlich nicht zu widersprechen, hatte er doch in seinem gut vierzigjährigen Leben mehr höllische Kreaturen gesehen als so manch anderer. Wovor der Großteil instinktiv zurückwich und engeren Kontakt tunlichst vermied, darauf ging Ian hingegen regelrecht zu. Er war auf der Suche. Auf der Jagd. Und das würde sich bis an sein Lebensende nicht ändern. „Wann habt ihr das Geschöpf eingefangen?“, wandte er sich an den hageren Mann neben sich, der mit düsterer Miene auf den Käfig vor sich starrte und seinen dunklen Gedanken nachhing. In seiner Hand hielt er eine ramponierte Mistgabel, die er geradezu mit aller Macht umklammerte, als befürchtete er, ohne die Waffe von einer unheilvollen Macht in Stücke gerissen zu werden. Als würde sein Leben davon abhängen, dass er sie unter keinen Umständen losließ. „Letzte Nacht“, brummte er nach einer Weile des Schweigens zur Antwort, nachdem Ian fast schon angenommen hatte, er hätte ihn nicht verstanden, und im Begriff gewesen war, seine Frage zu wiederholen. „Und wie?“, hakte er daraufhin nach. Der Mann mit Namen Hugh blinzelte, als wäre ihm dies ein ebensolches Rätsel wie Ian. Sein Blick schien für einen Augenblick in der Ferne zu verschwinden, ehe er schließlich murmelte: „Vielleicht ist es schwach und hungrig. Genauso wie wir.“ Ian betrachtete das Wesen in dem Käfig genauer, den Hugh eigentlich für seine Hunde angelegt hatte und niemals dafür gedacht gewesen war, einen Dämon zu beherbergen. Er war recht eng und abgesehen von einer kleinen Hütte für die Tiere und einem Wassernapf auch ziemlich spärlich ausgestattet. Nicht unbedingt eine noble Unterkunft. Das Geschöpf in seinem Inneren wiederum machte einen weitaus angenehmeren Eindruck. Ian hatte schon oft gelesen oder sogar am eigenen Leib erfahren müssen, dass diese Kreaturen sich gerne harmlose und ansprechende Hüllen aussuchten, um ihre Umgebung zu verwirren. Sie versteckten sich hinter einem hübschen Gesicht und einem strahlenden Lächeln, sodass die wahre Hässlichkeit verborgen blieb. Nur manchmal sah man ein Glitzern in ihren Augen, das zumindest erahnen ließ, mit welcher Art von Ungeheuer man es zu tun hatte. Ebenso der Dämon, dem Ian nun gegenüberstand, hatte sich eine ansehnliche Fassade aufgebaut. Genaugenommen hatte er sich sogar in atemberaubende Schönheit gehüllt, die, so fesselnd und verlockend sie auch erschien, ganz sicher nicht natürlich war. „Willst du mich noch lange anstarren?“, fragte das Geschöpf nach. Seine Stimme klang weder herausfordernd noch zornig, sondern vielmehr amüsiert. Ein Umstand, der Ian ganz und gar nicht behagte. So selbstbewusst und überlegen, wie es sich gerade gab, schien es überzeugt davon zu sein, alles unter Kontrolle zu haben. Mochte es auch eingesperrt in einen Hundezwinger sein. Blieb nur die Frage, ob dies auch der Wahrheit entsprach. „Woher wusstet Ihr, worum es sich handelt?“, fragte Ian bei Hugh nach, die Frage der Kreatur vollkommen ignorierend. Diese zog daraufhin seine Mundwinkel nach unten, sichtlich beleidigt, dass man ihr keine Aufmerksamkeit schenkte. „Es kam mir schon seltsam vor, als es hier ankam“, erklärte der Bauer. Seine Stimme klang tief und ruhig, als könnte nichts auf der Welt ihn erschüttern. „Ich meine, seht es euch doch an! Es passt überhaupt nicht hierher.“ Dem konnte Ian uneingeschränkt zustimmen. Sie befanden sich auf einem ärmlichen Anwesen, am alleräußersten Stadtrand von Cookstown. Nichts Interessantes schien es in der näheren Umgebung zu geben, alles wirkte karg und trostlos. Die Felder Hughs, die sich weit über das Land erstreckten, waren zerwühlt und leer. Die Ernte war vor ein paar Wochen gewesen, doch Ian wettete, dass sie, genauso wie im Rest Irlands, mehr als nur knapp ausgefallen war. Die verheerende Hungersnot hatte das Land immer noch mit aller Gewalt im Griff und schien es nie wieder loslassen zu wollen. Und hier, inmitten dieses Elends, stand die Kreatur in Gestalt einer jungen Frau, die sich durch Anmut und Grazie auszeichnete, und in ihren farbenfrohen Kleidern absolut fehl am Platz erschien. Wie ein seltsamer und grotesker Traum. „Und dann habt Ihr es überwältigt?“, fragte Ian bei Hugh nach. „Zuerst haben wir noch gedacht, es wär einfach ‘ne feine Lady, die sich verlaufen hat“, fuhr dieser mit seiner Erzählung fort. „Mein Bruder, meine zwei Jungs und ich. Wir fanden es zwar komisch, eine solche Frau ganz ohne Transportmittel oder Begleitung, aber zurzeit müssen wir ja alle hungern.“ Er schwieg einen Moment, während er gedankenverloren mit seiner Schuhspitze in der feuchten Erde stocherte. „Doch dann haben wir es gesehen. Dieses Licht in ihren Augen. Wie bei einem Wolf.“ Ian nickte verstehend. „Und dann kam es zum Kampf?“ „Na ja, nicht wirklich“, lenkte Hugh ein. „Ich mein‘, wir haben schnell nach Waffen gegriffen und so, und wir waren wirklich zu allem bereit, doch das Ding offenbar nicht. Es hat sich gleich gefangen nehmen lassen. Hat wohl gedacht, dass es einen Kampf nicht überlebt, und lieber gleich kapituliert.“ Er grinste daraufhin schief und entblößte dabei sein kärgliches Gebiss, das nur noch wenige, gelbliche Zähne aufwies. Er war eindeutig stolz auf seine Leistung und würde wahrscheinlich noch seinen Enkelkindern davon erzählen, wie er einst vor langer Zeit einen Dämon überrumpelt hatte. Nicht sehr viele Menschen konnten so etwas von sich behaupten. Selbst Ian musste zugeben, dass seine eigene Erfolgsrate mehr als nur minimal war. Allerdings bezweifelte er, dass es dieser Bauer und seine Familie einzig und allein ihrem couragierten Auftreten zu verdanken hatten, dass das Geschöpf kleinbeigegeben hatte. Vielmehr ließ das selbstsichere Schmunzeln der Kreatur darauf schließen, dass alles zu ihrer Zufriedenheit verlief. „Und was habt Ihr jetzt vor?“, erkundigte sich Hugh. Er musterte sein Gegenüber mit einem harten Blick, als wäre er bereit, jede Antwort zu ertragen, mochte sie auch noch so schrecklich sein. „Ich mein‘, es gibt ‘ne Menge Gerüchte über Euch, aber …“ Er hielt inne, wusste nicht, wie er seine Bedenken formulieren sollte. Daher entschloss er sich stattdessen, sich über seinen verfilzten Bart zu fahren und in ernstes Schweigen zu hüllen. „Ihr solltet lieber gehen, mein Herr“, meinte Ian. Er war nicht überrascht, als Hugh angesichts dieser für einen armen Mann aus der Unterschicht wie ihn eher untypischen Anrede seine Stirn runzelte, doch aufgrund des Mangels an Spott in Ians Stimme schien er zumindest ansatzweise erwogen, dies nicht als eine versteckte Kränkung zu sehen. Somit zuckte er kurz mit den Schultern und wandte sich murmelnd von ihm ab. „Was hast du mit mir vor, dass du die Augenzeugen wegschickst?“, hakte das Wesen amüsiert nach, nachdem Hugh außer Hörweite war. „Willst du ein unanständiger Junge sein?“ Ian warf dem Käfiginsassen einen düsteren Blick zu. „Sei lieber still, Dämon!“ Die Kreatur verdrehte seine Augen. „Dämon, Dämon, Dämon“, wiederholte sie genervt. „Ist euch Menschen eigentlich klar, wie überaus beleidigend das ist? Ich bezeichne dich ja auch nicht als Affe, obwohl du einem doch sehr ähnlich siehst.“ Ian entschied sich, nicht näher darauf einzugehen. Es war nie sinnvoll, sich in ein Gespräch verwickeln zu lassen. Meist führte es zu nichts außer Verwirrung und Unsicherheit. Diese Wesen verstanden es meisterlich, die Schwächen des anderen zu erkennen und sie gekonnt gegen einen auszuspielen. „Du willst also nicht mit mir reden, verstehe“, schnaubte das Geschöpf. „Wirklich tragisch, wie wenig Manieren heutzutage noch geachtet werden.“ Insgeheim musste Ian sogar bei dem letzten Satz zustimmen, doch er sah darüber hinweg, auch nur einen Ton seine Lippen verlassen zu lassen. Stattdessen ging er in die Knie und öffnete seine Tasche, die er zuvor neben sich abgestellt hatte und ohne die er so gut wie nie aus dem Haus ging. Sie war sein Schutz, seine Waffenkammer. Sein Grund, warum er jederzeit bereit war, das Böse zu bekämpfen. Leicht fuhr er mit den Fingern über das wertvolle Eisenkruzifix, das ihm einst ein dankbarer Priester geschenkt hatte. Es brachte zwar nicht viel im Kampf gegen das Übernatürliche, aber seine Nähe schenkte Ian Trost. Als wäre Gott mit jedem Schritt bei ihm und würde über ihn wachen. Ihn beschützen vor dem, was in der Dunkelheit lauerte. „Und damit willst du mich bezwingen?“, hakte derweil der Dämon skeptisch nach. Mit hochgezogenen Augenbrauen besah er sich den Inhalt der Tasche und schüttelte leicht den Kopf. „Irgendwie ist es ja niedlich, dass du daran tatsächlich glaubst. Aber lass mir dir gleich Ärger und Enttäuschung ersparen, indem ich dir sage, dass deine kleinen Spielzeuge bei mir nicht funktionieren.“ Ian blickte auf die eisernen Dolche, die Rosenkränze, die hölzernen Pflöcke und das in Flaschen abgefüllte Weihwasser und konnte sich eines Lächelns nicht erwehren. „Du hast wohl Angst, Dämon.“ Ein Knurren war daraufhin zu hören. „Hör auf mit diesem Dämon-Mist! Ich habe auch einen Namen.“ „Den der Teufel dir bei deiner Geburt gegeben hat?“ Das Geschöpf runzelte die Stirn. „Ich bin dem Teufel nie begegnet. Und ehrlich gesagt habe ich das auch in Zukunft nicht vor. Ich hörte, er wäre sadistisch und psychopathisch und das sind wirklich die schlimmsten Kerle, glaub es mir.“ Es hob kurz seine Schultern. „Nein, meinen Namen habe ich vom Schicksal bekommen.“ „Faszinierend“, murmelte Ian, während er bereits in seiner Tasche nach der geeigneten Waffe zu kramen begann. Er war sich nicht ganz sicher, mit welcher Art von Ungeheuer er es zu tun hatte. Unterschiedliche Spezies reagierten auf die unterschiedlichsten Dinge. Es gab Geschöpfe, die nicht mal geweihten Boden betreten konnten, während es andere gab, denen es nicht das Geringste ausmachte. Ebenso existieren Wesen, für die das Sonnenlicht wie brennendes Feuer war, wohingegen wiederum die nächsten Kreaturen keinerlei Probleme damit hatten. Die Monster der Finsternis waren facettenreicher, als es so mancher ahnte, und jedes musste individuell betrachtet werden. Manchmal schien es fast, als gäbe es gar keine Gesetze. Als wäre das, was dem einen schadete, gleichzeitig eine Wohltat für den anderen. „Hör zu, Ian, das bringt dir alles nichts“, fuhr der Dämon in einem fast trügerisch verständnisvollen Tonfall fort. „Du verschwendest bloß deine Zeit.“ Der Angesprochene hob bei diesen Worten ruckartig seinen Kopf. „Ich habe dir meinen Namen nicht genannt.“ Das Wesen lächelte. „Ich weiß.“ Ian versuchte, Ruhe zu bewahren, aber der intensive Blick seines Gegenübers ließ automatisch seinen Herzschlag in die Höhe schnellen. Irgendetwas war an dieser Kreatur, dass es selbst ihn beunruhigte. „Hat Hugh ihn dir verraten?“ „Ich kannte deinen Namen schon, als deine Eltern noch kleine Kinder waren“, sagte der Dämon. „Ich kannte ihn sogar schon, als ich in Alexandria die Bibliothek brennen sah und als Jesus ans Kreuz genagelt wurde.“ „Jesus?“ Das Geschöpf gab ein amüsiertes Lachen von sich. „Na gut, bei der Jesus-Sache war ich nicht wirklich anwesend. Ich habe es nur in meinen Träumen gesehen und frage mich immer noch, ob es tatsächlich geschehen ist oder bloß eine Art Metapher sein sollte. Vielleicht war es auch nur ein stinknormaler Traum. Von denen habe ich immerhin ab und zu auch ein paar. Zwar selten, aber …“ Ian wusste im ersten Augenblick nichts zu sagen, aber schnell zwang er sich, sich wieder zusammenzureißen. Es war nicht ungewöhnlich, dass diabolische Kreaturen religiöse Themen ansprachen, um gottesfürchtige Männer wie ihn zu provozieren. Einst vor vielen Jahren, als er noch ein junger und unerfahrener Bursche gewesen war, hatte ihn ein Dämon mit der Aussage, dass Gott bloß ein machtloses und unbedeutendes Gespenst wäre, derart aus dem Konzept gebracht, dass er Ian beinahe hätte überwältigen können. Seither war er sehr bemüht, sich nicht durch solcherlei Gerede ablenken zu lassen. „Du willst mich nicht töten, Ian“, sagte das Wesen sanft. Es trat ganz nahe an die Käfigstäbe und betrachtete Ian auf eine irritierend wohlwollende Weise. „Ach nein?“, hakte dieser nach. „Und wie kommst du auf diesen Gedanken, Dämon?“ „Necroma!“, verbesserte sie ihn. „Ich heiße Necroma!“ Ian hielt daraufhin unwillkürlich inne. Bei der Nennung des Namens kitzelte etwas in dem hintersten Teil seines Gedächtnisses. Vage erinnerte er sich, ihn – oder auch eine Variation davon – schon mal gehört zu haben. Allerding wusste er absolut nicht mehr, in welchem Zusammenhang dies gewesen war oder wer ihm überhaupt davon erzählt hatte. Er spürte bloß, wie sich ein unangenehmes Gefühl in seinem Magen ausbreitete, als könnte sich sein Körper noch bestens an alles entsinnen und würde ihn unter allen Umständen warnen wollen. „Dein Name ist mir einerlei“, entgegnete Ian jedoch entschieden. Und in der Tat entsprach dies auch unumstößlich der Wahrheit. So schrecklich und furchtbar manche Kreaturen aus seiner Vergangenheit auch gewesen waren, so hatte er sich doch immer davor gesträubt, ihre Namen zu erfahren. Denn diese machten sie, auch wenn man wie Ian stets heftig gegen dieses Gefühl ankämpfte, fast schon eine Spur menschlich. „Ganz wie du willst, Affe!“, zischte der Dämon und schien tatsächlich zu erwägen, ihm wie ein Kleinkind die Zunge rauszustrecken. Doch stattdessen verschränkte sie bloß die Arme vor der Brust und funkelte ihn herausfordernd an. Ian versuchte, so gut wie möglich ihren Blick zu ignorieren, während er weiter in seiner Tasche wühlte. Schließlich zog er eine Flasche mit Weihwasser heraus, öffnete sie und verspritzte den Inhalt derart hastig in die Richtung des Wesens, dass es zumindest die meisten überrascht hätte. Die Kreatur mit Namen Necroma schien hingegen keineswegs erstaunt. Sie rührte sich keinen Zentimeter, als das Wasser sie traf, ihre Haut und ihr Kleid benetzte. Sie verzog bloß unmutig das Gesicht, als wäre sie Opfer eines dummen Jungenstreichs geworden. „Danke für die Dusche“, meinte sie sarkastisch. „Aber wie ich bereits sagte: Das – funktioniert – nicht!“ Ian ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen, als er einen Dolch an seinem Gürtel befestigte, eine Armbrust aus den Tiefen der Tasche hervorzog und sich wieder aufrichtete. „Wenn du mir sagst, welche Art von Dämon du bist, würdest du uns beiden viel Zeit ersparen“, schlug Ian vor. „Gehörst du zu denen, die die Körper von Menschen besetzen?“ Necroma schnaubte abfällig. „Es ist wirklich traurig, dass du über einen solch bescheidenen Verstand verfügst, Affe.“ Ian rieb sich nachdenklich am Kinn. „Du bist eine Unsterbliche, nicht wahr?“ Nun zeichnete sich ein Lächeln auf den Lippen der Kreatur ab. „Oh, du bist also doch imstande, Eins und Eins zusammenzuzählen. Gratulation! Es gibt noch Hoffnung für dich.“ Sie nickte zufrieden. „Ja, ich bin in der Tat ein Vampir. Und kein verfluchter Dämon!“ Ian verschränkte seine Arme vor der Brust. „Im Grunde sind Vampire nichts anderes als Dämonen, die sich in den Körpern von Toten einnisten.“ Necroma verengte daraufhin ihre Augen zu Schlitzen und musterte ihn mit solch einer Intensität, dass ihm unweigerlich ein jäher Schauer über den Rücken jagte. Gleichzeitig schien ihm plötzlich eine Kälte zu bemächtigen, die nicht natürlich wirkte. Vielmehr hatte er den Eindruck, als würde für einen Augenblick sein Innerstes völlig gefrieren. Als würde das Blut in seinen Adern von einem Moment zum anderen zu Eis erstarren. „Ihr dummen, kleinen Menschen habt nicht die geringste Ahnung“, zischelte das Wesen unheilvoll. „Und eure Unwissenheit wird euch eines Tages den Kopf kosten. Warte es nur ab, Ian.“ Der Angesprochene zwang sich, ihre Warnung zu ignorieren, auch wenn das beileibe nicht einfach war. Etwas in ihrer Stimme wirkte derart fesselnd und überzeugend, dass es einem schwerfiel, ihr zu widersprechen. Doch Ian riss sich mit aller Macht zusammen und wandte seine Aufmerksamkeit wieder auf das akute Problem zu. Das ein oder andere Mal hatte er bereits mit Untoten zu tun gehabt, jedoch vermochte man diese Begegnungen an einer Hand abzuzählen. Er war eigentlich ein Exorzist, ein Dämonenaustreiber, ein Streiter für die Kirche und Gott. Seitdem sein Vater vor über zwanzig Jahren von einem Monster besessen gewesen war, das ihn nach qualvoller Folter schließlich in den Tod gestürzt hatte, hatte sich Ian mit Leib und Seele seiner Berufung verschrieben. Im Laufe der Jahre hatte er seine Methoden verfeinert und sich einen gewissen Ruf aufgebaut, auch wenn er selbst zugeben musste, dass seine Erfolgsrate relativ gering war. Dennoch riefen die Menschen immer wieder nach ihm, meist in Ermangelung einer Alternative. So hatte es auch Hugh getan, als er diese Kreatur in seinen Hundezwinger gesperrt und letztlich nicht mehr weitergewusst hatte. Im Glauben, es mit einem gottlosen und kaltherzigen Ungeheuer zu tun zu haben, war es ihm sicherer erschienen, Ian um Hilfe zu bitten, als einen schlimmen Fehler zu begehen und in die Falle des Wesens zu geraten. Ian jedoch gestand sich ein, dass Vampire nicht unbedingt zu seinem Spezialgebiet gehörten. Auch wenn viele die Unterschiede zu Dämonen nicht sahen oder sehen wollten, so waren sie dennoch vorhanden. Ihre Intentionen mochten sich nicht großartig unterscheiden, aber gerade die Art, wie sie letzten Endes vernichtet werden konnten, variierte stark. Dämonen wichen generell religiösen Symbolen aus – ob nun christlichen, jüdischen, muslimischen oder anderweitigen –, manche von ihnen wurden dadurch sogar geschwächt oder gar verletzt. Unsterbliche hingegen störten sich in keinster Weise daran. Ob man sie nun mit Weihwasser bespritzte oder ihnen einen geweihten Dolch in die Eingeweide rammte, es machte ihnen nichts aus. Dafür zählte Feuer zu ihren Schwächen, wie Ian schon von vielen Seiten gehört hatte. Während Dämonen in den Flammen der Hölle geboren wurden und sich darin wohlfühlten, war es für Vampire oftmals der sichere Tod, wenn sie es nicht schafften, rechtzeitig zu entkommen. „Du willst mich verbrennen, nicht wahr?“, hakte Necroma fast schon genervt nach. Ian hob seinen Kopf und fragte sich unwillkürlich, ob sie vielleicht Gedanken lesen konnte. Er hatte einst irgendwo gelesen, dass manche Untote zu erstaunlichen Dingen fähig waren. „Sagst du mir vorher denn wenigstens, warum?“, wollte sie wissen. „Was habe ich dir getan, dass ich ein solches Ende verdiene?“ Ian runzelte die Stirn. In seiner langen Laufbahn hatte ihm noch nie eine Kreatur diese Frage gestellt. „Mir persönlich hast du vielleicht nichts getan“, gab er schließlich zu. „Aber dafür hast du sicherlich zahllose andere Leben auf dem Gewissen, nicht wahr?“ Sie wiegte langsam ihren Kopf hin und her. „Fein, du hast unter Umständen recht“, meinte sie. „Aber wenn man es genau betrachtet, bin ich immer sehr maßvoll und bescheiden gewesen. Du hast keine Ahnung, wozu ich alles imstande wäre. Ich könnte die Königreiche dieses Universums stürzen und anstatt ihrer eine Welt erschaffen, in der es Butterkuchen vom Himmel regnet.“ Einen Moment blieb sie still und blickte ihn ernst an, dann aber begann sie zu kichern wie ein hyperaktives Kind. Ian musterte sie derweil mit hochgezogener Augenbraue. Er vermochte sich nicht zu helfen, ihr Lachen klang einfach verrückt und hochgradig furchteinflößend. Als wäre sie ein unberechenbares Geschöpf, das in der nächsten Sekunde summend eine Blumenkette bastelte oder einem skrupellos die Kehle aufriss. Je nachdem, wie ihm gerade der Sinn danach stand. „Denkst du wirklich, ich hätte mich auf dieses gottverlassene, trostlose Stück Erde begeben, um hier zu sterben?“, fragte das Wesen nach. „Wohl kaum“, antwortete Ian. Daraufhin zögerte er einen Moment, nicht sicher, ob er auf ihre Worte eingehen sollte. Sein Verstand riet ihm, ihre funkelnden Augen und ihr breites Grinsen einfach zu ignorieren und weiter seinem Plan nachzugehen, ganz gleich, was diese Kreatur auch sagen oder tun mochte. Stets war es von Vorteil, es so schnell wie möglich hinter sich zu bringen, ohne sich in irgendwelche langschweifenden Diskussionen verwickeln zu lassen. Im Grunde war es simpel. Und dennoch konnte Ian nicht an sich halten. Ehe er wusste, wie ihm geschah, öffnete sich wie von selbst sein Mund und die Worte purzelten automatisch heraus: „Und warum bist du überhaupt hier?“ Necroma schmunzelte, merklich zufrieden, dass er seine Neugierde nicht hatte zurückhalten können. „Ist das nicht offensichtlich, Affe?“, meinte sie. „Ich bin hier, um dich zu retten.“ Verwundert runzelte Ian seine Stirn. „Mich zu retten?“ Er hatte mit vielem gerechnet – mit einem grauenvollen Geständnis, dass sie hier irgendwo ein Massengrab unterhielt, bis hin zu der schlichten Tatsache, dass sie sich lediglich verlaufen hatte –, aber so etwas hatte er eigentlich nicht erwartet. „Weißt du, Schatz, ich bin bloß ein Vorwand, nichts weiter“, fuhr sie fort. „Wäre ich nicht zufällig hier, hätte er sich irgendeine andere Entschuldigung einfallen lassen, um dich herzulocken.“ Ian wusste im ersten Augenblick nicht, was er darauf erwidern sollte. Verwirrung überfiel ihn, während er gleichzeitig mühsam versuchte, irgendwie aus diesem Wesen schlau zu werden. Doch sosehr er es auch probierte, er schaffte es nicht, den Sinn ihrer Aussage zu erfassen. „Wovon redest du eigentlich?“, fragte er schließlich nach. „Wer wollte mich herlocken?“ „Der Dämon.“ Ian blinzelte einige Male verdutzt, sich fragend, ob er sich vielleicht verhört hatte. „Der … Dämon?“, hakte er zögernd nach. „Meinst du damit etwa dich selbst?“ Necroma verdrehte stöhnend ihre Augen. „Ich bin kein Dämon, Affe!“, zischte sie. „Das hatten wir doch schon geklärt. Und wieso sollte ich dich überhaupt vor mir selbst retten? Das ergibt doch keinen Sinn.“ Dem konnte Ian nur zustimmen, allerdings hatte er das Gefühl, dass der gesunde Menschenverstand angesichts dieser Frau nicht viel zu bedeuten hatte. „Und von wem sprichst du dann?“, wollte er wissen. „Na, der Dämon, der dich hergelockt hat“, wiederholte Necroma in einem Tonfall, als würde sie ihn für geistig ziemlich beschränkt halten. Ian bekam derweil das Gefühl, dass sich die Gedanken in seinem Kopf förmlich überschlugen. „Mich hat kein Dämon hergelockt“, meinte er entschieden. „Ich bin hier, weil Hugh mich bei seinem kleinen Vampir-Problem um Hilfe –“ Er hielt plötzlich im Satz inne. Ein jäher Schauer lief ihm über dem Rücken, als ihn die schreckliche Erkenntnis befiel. „Begreifst du es jetzt, Äffchen?“, hakte die Untote nach. „Ich bin bloß Mittel zum Zweck. Ein Werkzeug. Eine Figur in dem kleinen Spielchen.“ Sie verzog kurz ihr Gesicht. „Normalerweise hasse ich es, Mittel zum Zweck, ein Werkzeug und eine Figur in dem kleinen Spielchen zu sein, aber diesmal finde ich es ganz amüsant. Zumal dieser dämliche Dämon tatsächlich glaubt, er hätte mich im Griff.“ Ians Blick wanderte automatisch zu dem heruntergekommenen Holzhaus, in dessen Richtung sich Hugh keine zehn Minuten zuvor begeben hatte. Konnte es wirklich sein? Steckte hinter dieser harmlosen Fassade ein schreckliches Monster, das ihn derart leicht in eine Falle zu locken vermocht hatte? Natürlich war es im Bereich des Möglichen, doch ebenso gut war es selbstverständlich sehr gut vorstellbar, dass das Wesen in dem Käfig log, um ihn zu verwirren und dabei zuschauen zu können, wie seine Zweifel immer weiter wuchsen. Sie liebten es, Menschen gegeneinander auszuspielen. Unter Umständen war es dieser Kreatur nur daran gelegen, ihn dazu zu bringen, einen völlig unschuldigen Bauern umzubringen, dessen einziges Verbrechen sein Mangel an Hygiene darstellte. „Sieh doch selbst nach“, ermunterte ihn Necroma mit einem verschlagenen Lächeln. „Immerhin hat er von seinem Bruder und seinen zwei Söhnen gesprochen, aber gesehen hast du diese Gentlemen noch nicht, nicht wahr?“ Unwillkürlich schüttelte er den Kopf, auch wenn er es sofort wieder bereute. Eigentlich hatte er sich vorgenommen, sich von ihr nicht einwickeln zu lassen. Doch ihre Stimme hatte irgendetwas verführerisches und hypnotisches an sich, dass er wie von selbst darauf reagierte. „Schau nach“, flüsterte das Wesen verheißungsvoll. Ian kaute unruhig auf seiner Unterlippe herum. Wenn er einfach so nachgab, würde er Necroma damit gewinnen lassen. Ihren Triumph würde sie feiern wie eine siegreiche Schlacht. Diesen Geschöpfen bereitete es unglaubliches Vergnügen, andere zu manipulieren und ihrem Willen unterzuordnen. Somit tendierte Ian eher dazu, ihre Worte einfach zu ignorieren und stattdessen damit fortzufahren, ihre Vernichtung vorzubereiten. Im Grunde war es absolut simpel, sie auszublenden wie eine lästige Fliege. Aber er konnte nicht verhindern, dass der Funke des Misstrauens, den sie gesät hatte, in seinem Inneren aufzukeimen begann. Er rief sich Hughs Gesicht in Erinnerung, seine Stimme, seine Sprechweise, seine Bewegungen. Alles hatte vollkommen normal und wenig bedrohlich gewirkt. Völlig unauffällig. Und dennoch … Wenn man genau darüber nachdachte, war es schon irgendwie seltsam, dass es ihm gelungen war, eine Unsterbliche einzufangen. Es war sogar relativ ungewöhnlich, dass er sie überhaupt erkannt hatte. Menschen bemerkten eigentlich erst, mit was sie zu tun hatten, wenn es bereits zu spät war. Wenn nichts mehr blieb außer dem Tod. Wieso also hatte es Hugh geschafft? Ohne so recht zu begreifen, was eigentlich geschah, setzte sich Ian unweigerlich in Bewegung und marschierte auf die Holzhütte zu. Halb rechnete er damit, Necroma triumphierend auflachen zu hören, doch er vernahm nicht den kleinsten Laut. Trotzdem war er sich sicher, dass sie ihm hinterher schaute und ein beunruhigendes Lächeln auf den Lippen hatte. Doch Ian versuchte, das alles hinter sich zu lassen. Er redete sich selbst ein, dass er Hugh bloß aufsuchte, um ihm zu bitten, ihm bei der Suche nach Feuerholz behilflich zu sein. Um einen Vampir zu verbrennen, war deutlich mehr nötig als ein paar kümmerliche Zweige. Und für Ian allein wäre es mühsame Arbeit gewesen, alles in der näheren Umgebung zu sammeln. Und auch wenn er im Grunde tief in seinem Inneren wusste, dass es sich dabei bloß um eine scheinheilige Ausrede handelte, half es ihm, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Als er die heruntergekommene Hütte schließlich erreicht hatte, hämmerte er nach einem kurzen Zögern gegen die schief in den Angeln hängende Tür und rief: „Hugh?“ Es kam keine Antwort. Ian wiederholte es einige Male in noch höherer Lautstärke, doch es folgte immer noch keinerlei Reaktion. Keine Stimme ertönte, die Tür wurde nicht geöffnet. Stattdessen lag das Innere in tiefer Dunkelheit, als würde dort kein Leben existieren. Ian spürte, wie zunehmend Unruhe ihn bestürmte. Necromas Worte dröhnten wie eine schreckliche Warnung in seinen Ohren und der rationale Teil seiner Selbst riet ihm dringend, sofort umzudrehen und zu verschwinden. Mit der Kreatur im Käfig würde er noch alleine fertig werden, aber wenn tatsächlich ein zweites Wesen in irgendeiner Weise involviert sein sollte, standen seine Überlebenschancen denkbar schlecht. In solch einem Fall war Rückzug eine absolut vertretbare Option. Andererseits war es hingegen auch möglich, dass Necroma ihn bloß zur Flucht antreiben wollte, um sich ganz und gar ihrer Skrupellosigkeit hingeben und ein Massaker ganz nach ihren Wünschen veranstalten zu können. Und Ian würde dann den Rest seines Lebens Hughs Blut an seinen Händen kleben haben. Eine Schuld, die nicht mal das Fegefeuer würde reinwaschen können. Und somit atmete Ian einmal tief durch, öffnete die nicht verriegelte Tür und trat ein. Sofort begrüßte ihn eine schummrige Finsternis und abgestandene Luft, gemischt mit einem Geruch, den Ian im ersten Moment nicht einzuordnen wusste, der aber unangenehm in der Nase kribbelte. Schnell ließ er seinen Blick über die karge Einrichtung schweifen, welche von einem Leben von Armut und Entbehrung zeugte. Alles schien selbst gebaut – vermutlich mit alten Brettern und Holz, die man irgendwo gefunden hatte – und mehr schlecht als recht zusammengefügt. Zumindest war es für Ian glatt ein Wunder, dass der Tisch in der kleinen Essecke nicht schon längst auseinandergebrochen war. „Hugh?“, fragte Ian erneut, diesmal aber deutlich leiser. Er fühlte sich furchtbar unwohl, als würde er von der angespannten Atmosphäre förmlich erdrückt werden. Als würde er schreckliche Monster heraufbeschwören, wenn er zu auffällig auf sich aufmerksam machte. Dennoch nahm er all seinen Mut zusammen und überprüfte die wenigen Räume gründlich auf Anzeichen irgendwelchen Lebens, ganz gleich, was es auch sein mochte. Ob nun Menschen oder auch bloß Ratten, die sich an den spärlichen Nahrungsmitteln zu schaffen machten. Aber nicht mal Fliegen vermochte Ian zu entdecken, obwohl der penetrante Geruch sie eigentlich hätte anziehen müssen. Das Haus schien wie tot. Erst, als er eine klapprige Holzleiter erklomm und die stickige Kammer im ersten Stockwerk erreichte, wurde er fündig. Er erblickte zwei Gestalten – junge Knaben, der älteste vielleicht gerade mal sechszehn –, die nebeneinander auf einer schmalen Pritsche saßen, aneinander gelehnt und die Augen geschlossen, als würden sie bloß friedlich schlafen. Doch dass kein Funken Leben mehr in ihnen steckte, vermochte Ian sofort zu erkennen. Hughs Bruder entdeckte er nur einen Herzschlag später auf dem Boden unter dem Fenster. All seine Gliedmaßen von sich gestreckt und seine Augen vor Angst und Schrecken geweitet, als hätte er kurz vor seinem Ableben etwas derart Schreckliches gesehen, dass es einem selbst im Tod nicht losließ. Etwas, das einen auf immer und ewig verfolgte. Ian schluckte schwer, während ihm Necromas Worte durch den Kopf rasten und seinen ganzen Körper zum erzittern brachte. Er hatte in seinem Leben bereits schon viele unschöne Dinge gesehen und der Anblick dieser Leichen gehörte sogar noch zu den harmloseren Dingen, doch trotzdem vermochte er nicht zu verhindern, dass Panik ihn ergriff, sich an ihn klammerte und sich tief in seine Knochen hineinfraß. „Die Schattengängerin hat wohl geplaudert, was?“, erklang plötzlich eine gehässige Stimme direkt hinter Ian. Dieser schaffte es gerade mal, sich umzudrehen und in Hughs vergnügte Miene zu sehen, als er plötzlich von den Füßen gerissen und gegen die nächste Wand geschleudert wurde. Für einen kurzen Moment wurde Ian schwarz vor Augen, sodass er nur am Rande mitbekam, wie er zu Boden sackte und dabei direkt auf dem Leichnam von Hughs Bruder landete. „Es verwundert mich ehrlich gesagt, dass so ein klappriger Wurm wie du als erfahrener Exorzist bekannt ist“, fuhr der Dämon ungerührt fort. „Aber das habe ich dir ja schon bei unserer letzten Begegnung gesagt, nicht wahr?“ Ian war bemüht, den Gestank von den verwesenden Körpern nicht zu sehr einzuatmen, und schaffte es demnach zunächst nicht, die Worte der Kreatur in einen sinnvollen Kontext zu bringen. Erst nach einer Weile, die ihm wie eine Ewigkeit schien, gelang es ihm, einen wieder einigermaßen klaren Gedanken zu fassen. „Du … du kennst mich?“, hakte er nach. „Von früher?“ „1838, Dublin“, erklärte der Dämon ruhig. „Da war dieser Junge, ein pickliger Bengel, den man ins Irrenhaus gesteckt hatte. Du erinnerst dich?“ Ian musste daraufhin unweigerlich nicken. Es war ein schwerer und trauriger Fall gewesen. Aus irgendeinem Grund war jener Junge anfällig für Dämonen gewesen. Offenbar hatte er eine leichte, magische Aura gehabt, die diese Wesen angezogen hatte wie das Licht die Motten. Mehrere Dämonen hatten ihn bereits im zarten Kindesalter befallen, hatten sich seines Körpers bemächtigt und in seinem Namen entsetzliche Dinge angestellt. Irgendwann hatte man ihn in eine spezielle Anstalt gebracht, da die zahllosen Verbrechen seine unschuldige Seele völlig zerstört und bloß ein verstörtes Kind zurückgelassen hatten. Aber auch in dem Sanatorium war er nicht sicher gewesen. Ständig hatten Dämonen von ihm Besitz ergriffen und ihn zu Taten gezwungen, die ihn noch tiefer in den Wahnsinn geführt hatten. Am Ende war man zu der Überzeugung gekommen, dass es so nicht weitergehen konnte, und man hatte Ian kontaktiert. Er hatte alles gegeben, alles versucht, jeden noch so unwichtigen Text durchblättert, um einen Ausweg zu finden, doch seine Suche war ergebnislos geblieben. Somit war am Ende nur der Tod die Antwort gewesen. Als er erneut von einem Dämon besessen gewesen war, hatte Ian nicht gezögert, sondern den Jungen von seinen Qualen erlöst. Er hatte sich zwar selbst gehasst, als er den Dolch in das Herz des Kindes gerammt hatte, aber ihm war keine andere Wahl geblieben. Nichts hätte den Jungen retten können. „Du warst damals dieser Dämon, nicht wahr?“, hakte Ian nach. „Derjenige, der noch in ihm war, als ich ihn tötete.“ Die Kreatur schnaubte. „Weißt du eigentlich, wie unangenehm es ist, zu sterben? Noch dazu durch die Hand eines blassen Menschleins?“ Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich habe dir schon damals gesagt, dass du es bereuen würdest. Dieser Junge hätte uns eines Tages sehr viel Macht bescheren können. Aber du musstest ja eingreifen!“ Plötzlich hatte Ian das Gefühl, ihm würde die Luftzufuhr zugeschnürt. Im ersten Moment glaubte er, dies wäre bloß eine Reaktion auf seine Panik, aber schnell realisierte er, dass der Dämon seine Finger im Spiel hatte. Er wollte Ian tatsächlich für diesen Verrat angemessen büßen lassen. Zunächst schaffte er es noch, einigermaßen nach Luft zu schnappen, doch der Dämon war nicht gewillt, ihn zu verschonen. Als wäre eine unsichtbare Hand um seinen Hals gelegt und würde fest zudrücken, gelang es Ian nicht mehr, zu atmen. Panisch tastete er nach den Waffen in seiner Manteltasche, doch er wurde nicht fündig. Stattdessen bemerkte er nur einen Augenblick später, dass diese am anderen Ende des Zimmers lagen, direkt vor den Füßen der toten Söhne. Offenbar war es dem Dämon gelungen, sie Ian zu entreißen, ohne dass er auch nur das Geringste bemerkt hatte. Und somit war er völlig wehrlos. Er würde sterben, hier, in einer trostlosen Einöde, wo man ihn vermutlich erst nach vielen Jahren finden würde. Wenn überhaupt. „Ich hoffe sehr, dass du für den Mord an diesem armen, jämmerlichen Jungen in die Hölle kommst“, meinte der Dämon inzwischen amüsiert. „Du hast es vielleicht aus ehrenvollen Gründen getan, aber ein Mord bleibt nun mal ein Mord.“ Ian vermochte dem nicht mal zu widersprechen. Für die Sünden, die er in seinem Leben begangen hatte, würde er auch noch nach seinem Tod schrecklich büßen müssen. Und gerade, als er diese Erkenntnis verinnerlicht hatte, ließ der Druck um seinen Hals nach und er bekam wieder Luft. Während er alles an Sauerstoff einatmete, was er in der kleinen Kammer zu finden vermochte, und sich nicht mal an dem Verwesungsgestank störte, überschlugen sich seine Gedanken. War er bereits tot? In einer entsetzlichen, nach Tod und Fäulnis stinkenden Hölle? Aber als er mühevoll seine Augen aufschlug und seine Sicht sich langsam klärte, bemerkte er, dass er sich noch immer in der düsteren Kammer befand, zusammen mit dem Dämon, der sich Hughs Körper bemächtigt hatte, und einer weiteren Gestalt, die mit ihrer edlen Kleidung und dem Lächeln auf den Lippen absolut nicht ins Bild passen wollte. Necroma! „Sie sind so winzig und klein, nicht wahr?“, erhob sie soeben ihre Stimme. „So nah am Tod. Wäre ihnen bewusst, wie zerbrechlich sie eigentlich sind, würden sie in ständiger Angst leben.“ Der Dämon betrachtete sie derweil mit einer Mischung aus Argwohn und Abscheu. „Du hast dich befreien können?“ „Glaubst du wirklich, der süße Zauber, den du auf das Schloss gelegt hast, hätte mich irgendwie aufhalten können?“ Sie wedelte geistesabwesend mit ihrer Hand. „Da hättest du eher einen Drachen davor postieren sollen, das hätte mich vermutlich ein bisschen länger aufgehalten. Oder ein paar Zwerge. Man vermag nicht an ihnen vorbeizugehen, ohne dass die Trompeten Feuer fangen und sich mit den Kaninchen verbünden.“ Ian war im ersten Moment überzeugt, dass der Mangel an Sauerstoff seinem Gehirn zugesetzt hatte und Necromas Worte deshalb für ihn keinen Sinn ergaben, aber als er in die ratlose Miene des Dämons schaute, wurde ihm klar, dass er sich ganz sicher nicht verhört hatte. „Du weißt, wer ich bin, nicht wahr?“, fragte die Vampirin schließlich herausfordernd nach. „Eine Wahnsinnige?“ Necroma hob eine Augenbraue, ehe sie kurz mit ihren Fingern schnipste. Bereits im nächsten Moment verzog die Kreatur schmerzvoll das Gesicht und sackte ächzend auf die Knie, als würde sie von einem Moment auf den anderen plötzlich von einer unerträglichen Pein heimgesucht werden. „Ich könnte hier und jetzt deinen Kopf explodieren lassen“, erklärte Necroma in einem fast schon heiteren Tonfall. „Und zwar deinen Kopf, Dämon, und nicht den deiner Hülle! Das wäre wirklich ein Spaß.“ Sie lachte daraufhin auf eine Art und Weise, die Ian einen eisigen Schauer über den Rücken jagte. „Also, wie sieht’s aus? Möchtest du einen explodierenden Kopf oder doch lieber kochende Organe? “ Mit einer theatralischen Geste verkrampfte sie ihre Hand zu einer Faust, woraufhin der Dämon vor Schreck seine Augen aufriss und sich vor Schmerzen vornüberbeugte. Blut tropfte aus seinen Ohren und Mundwinkeln, während er keuchte und mühsam nach Luft rang, wie Ian keine paar Minuten zuvor. Man sah, wie er versuchte, sich zu wehren, wie er all seine Kräfte mobilisierte, um die übernatürliche Magie, auf die Necroma offenbar zugreifen konnte, irgendwie zu blockieren. Doch es hatte bloß zur Folge, dass sich die Tränen, die sich unkontrolliert ihren Weg bahnten, ebenfalls alarmierend rot verfärbten. „Denk jetzt bitte nicht, dass ich sadistisch wäre“, meinte Necroma, ein irres Lächeln auf den Lippen und das qualvolle Stöhnen der Kreatur am Boden vollkommen ignorierend. „Ehrlich gesagt bin ich sogar ziemlich gnädig.“ Wenn diese Behandlung ihre Form von Erbarmen darstellen sollte, wollte selbst Ian lieber nicht erfahren, wie es aussehen würde, wenn sie ihrer Mordlust freien Lauf ließ. „Also hau am besten ab, bevor ich doch das Verlangen verspüre, dir die Haut von den Knochen zu schälen!“ Necroma öffnete ihre Hand wieder und der Dämon entspannte sich sofort. Einen Moment sah er sie noch an, schien zu überlegen, wer oder was dieses Wesen wohl sein mochte, doch schließlich entschied er, dass diese Frage bloß von zweitrangigem Interesse wäre. Stattdessen hievte er sich stöhnend auf die Beine und machte sich mehr schlecht als recht davon. Bevor er die Leiter hinunterkletterte, wandte er sein blutverschmiertes Gesicht noch einmal Ian zu und schien Anstalten zu machen, noch einige letzte Worte an ihn zu richten, doch letzten Endes schwieg er und entschloss sich zur eiligen Flucht. „Warum lässt du ihn einfach entkommen?“, fragte Ian aufgebracht, als er hörte, wie der Dämon im Stockwerk unter ihm hastig durch den Flur eilte und schließlich die Haustür hinter sich zuwarf. „Er hat mir doch nichts getan“, erklärte Necroma schulterzuckend. „Es wäre extrem unhöflich, ihn trotzdem einfach zu töten, findest du nicht auch?“ „Aber …“ „Außerdem wird er in gut hundertfünfzig Jahren noch eine Rolle spielen, wenn wir Shadyn gegenüberstehen“, meinte sie in einem Tonfall, als ginge sie davon aus, dass er genau wusste, wovon sie eigentlich sprach. „Ich kann mich doch nicht in die Zukunft einmischen.“ Ian schloss die Augen und holte tief Luft. Wer auch immer diese mysteriöse Frau sein mochte, sie war zweifellos das seltsamste, verrückteste und furchteinflößendste Wesen, das ihm jemals untergekommen war. „Warum …?“, hob er zu einer Frage an, schaffte es dann aber schließlich nicht, sie auch zu formulieren. In seinem Inneren baute sich eine Sperre auf, die ihm die Kehle zuschnürte. „Warum ich dich gerettet habe?“, hakte Necroma nach. Sie trat auf ihn zu und strich einmal kurz über seine Wange. Ian erwartete automatisch, dass die Berührung kalt sein würde, doch zu seinem Erstaunen fühlten sich ihre Finger warm und unheilvoll angenehm an. „Ist das nicht offensichtlich?“ „Nicht für mich“, erwiderte Ian. Niemals im Leben wäre er auf den Gedanken gekommen, dass eine Kreatur der Nacht, für deren Ausrottung er beinahe alles gegeben hätte, ausgerechnet ihn davor bewahren könnte, von einem Dämon getötet zu werden. „Gut, jetzt verstehst du es vielleicht wirklich nicht, Affe“, meinte Necroma nickend. „Aber in gut zwei Jahren, mein Hübscher. Dann wirst du anfangen, Stimmen zu hören, keinen Schlaf mehr zu finden und dann werde ich da sein und dich fragen, ob du zu uns gehören willst.“ Ian runzelte die Stirn. „Was?“ „In zwei Jahren!“, wiederholte die Vampirin, während sie bereits wieder auf die Leiter zusteuerte. „In zwei Jahren sehen wir uns wieder. Versuch bis dahin, dich nicht umbringen zu lassen, ja, Affe?“ Sie lächelte ein letztes Mal – unschuldig wie ein kleines Kind –, ehe sie plötzlich von der Dunkelheit verschluckt wurde und vollkommen von der Bildfläche verschwand, als hätte sie niemals existiert. Ian blinzelte mehrere Male, versuchte, seine Augen besser an die Schwärze der Nacht zu gewöhnen, doch sie war tatsächlich weg. Es gab nur noch ihn und die drei Leichen, die unter anderen Umständen wahrscheinlich niemand vermisst hätte. Langsam, fast schon vorsichtig, rappelte sich Ian wieder in eine aufrechte Position und war gleichzeitig bemüht, das soeben Geschehene irgendwie zu verarbeiten. Aber sosehr er es auch von allen Seiten betrachtete, es ergab einfach keinen Sinn. Vielleicht war es im Zusammenhang mit dieser Vampirin aber auch schlichtweg Zeitverschwendung, überhaupt nach einem Sinn zu suchen. Möglicherweise gab es gar keinen. Oder er würde sich erst in zwei Jahren erschließen. Dann, wenn er sie wiedersah. * * * * * * * * * * * * [1] Cookstown liegt im Norden Irlands, rund 70 km westlich von Belfast, und hatte um 1840 ca. 3000 Einwohner. [2] Die große Hungersnot in Irland zwischen 1845 und 1849 führte zu katastrophalen Verhältnissen, die den Tod oder die Auswanderung zahlloser Iren zur Folge hatte. Ursache war u.a. die sogenannte „Kartoffel-Fäule“, die einen Großteil der Ernte vernichtete und somit das wichtigste Hauptnahrungsmittel vernichtete. Nicht nur Irland litt unter schweren Missernten, auch ganz Europa war davon betroffen, was schließlich, neben einigen anderen Faktoren, in vielen europäischen Städten 1848 zu Unruhen und Revolutionen führte. Kapitel 7: Joseph Bell ---------------------- Irgendwie wieder schon ewig lange her, dass ich was hochgeladen habe <.< Tut mir ehrlich leid. Hier jetzt zumindest wieder ein kleiner Oneshot. Wer den Namen ‚Joseph Bell‘ bereits kennt, kann sich vielleicht ungefähr denken, in welche Richtung diese kleine Geschichte geht. Wem dieser Name nichts sagt (wie mir, bis zu Anfang dieses Jahres, auch), wird es unter Umständen womöglich im Laufe der Story erkennen :D Ich bin zumindest gespannt, wann bei dem ein oder anderen der Groschen fällt ;p So, dann hoffe ich, dass es euch wenigstens ein bisschen gefällt! Joseph Bell Edinburgh, Schottland (1879): Der Tag konnte eigentlich nie gut beginnen, wenn Necroma einen um einen Gefallen bat. Das war Sharif schon klar, als sie sich zu ihm setzte, auf eine unschuldige und gleichzeitig auch irgendwie versteckt verschlagene Weise lächelte und zu rekapitulieren begann, wie oft sie ihm schon unter die Arme gegriffen, geholfen oder gar das Leben gerettet hätte, zum Teil, ohne dass er überhaupt etwas davon bemerkt hatte. Sharif nickte, hörte ihr mit halbem Ohr zu und fragte sich, welcher Gefallen es wohl sein könnte, den sie von ihm einfordern würde. Unter Umständen etwas normales, wie etwa einen Krieg zu beginnen oder einfach jemanden zu töten, der tags zuvor Necromas Frisur kritisiert hatte. Aber vielleicht würde sie, wie so oft bei ihr, wieder eine sonderbare Bitte äußern, der Sharif niemals im Leben hätte nachkommen können, selbst wenn er es wirklich gewollt hätte. Somit rechnete er bereits damit, dass sie ihn bat, die Wäsche der Zwerge auf einem blauen Scheiterhaufen zu verbrennen und dabei die Nationalhymne rückwärts zu singen oder sich auf die Suche nach dem Heiligen Gral von Hinterlandhausen zu begeben, der aussah wie ein schimmeliges Stück Brot. Als sie ihm jedoch einen Brief übergab und ihn ganz freundlich danach fragte, ob er ihn bei einem Professor in der Universität abgeben könnte, war Sharif sofort überrascht angesichts dieses seltsam normalen Gefallens, aber gleichzeitig auch wieder misstrauisch. „Gib ihn Prof. Bell“, erklärte Necroma nachdrücklich. „Und richte ihm von Harriett Potter liebe Grüße aus.“ Sie begann zu kichern, als sie ihren falschen Namen benutzte, den sie seit ihrer Ankunft in Großbritannien vor einigen Jahren verwendete, um lästigen Fragen zu entgehen. „Harry Potter! Ich liebe diesen Namen!“ Erneut grinste sie, als wüsste sie etwas, das allen anderen verborgen blieb. „Aber er wird dich durchschauen, Sharif. Oh, er wird dich sowas von durchschauen!“ Sharif runzelte verwundert die Stirn. „Wer? Dieser Bell?“ „Und er wird einen Namen suchen“, fuhr Necroma fort, ohne auf seine Frage einzugehen. „Einen guten und starken Namen. Du solltest ihm von diesem Zwerg aus Manchester erzählen, der immer so lustig gelispelt hat. Und von dem Hund, den Oscar hier in Edinburgh beim alten Brunnen gefunden hat.“ Sharif hatte, wie eigentlich immer, absolut keine Ahnung, worauf Necroma eigentlich hinauswollte. Aber anstatt weiter nachzuhaken und trotzdem keine Antwort zu bekommen, nickte er einfach und würde tun, wie ihm geheißen. Denn am Ende ergab vieles, was sie sagte, trotz alledem einen Sinn. Und sei es nur, indem er Polizisten und Hunde erwähnte. „Dann mach dich auf, ehe der gute Herr Feierabend hat!“, meinte Necroma lächelnd. „Geh und schreib Geschichte.“ Sharif hielt inne und musterte sie skeptisch. „Bitte was?“ Er verengte seine Augen zu Schlitzen. „Schickst du mich etwa da hin, weil dort irgendetwas geschehen wird? Ein Krieg, eine Bombe, irgendwas?“ Necroma wirkte vollkommen unschuldig, als sie erwiderte: „Es wird dort wirklich nichts Gewalttägiges passieren.“ „Sondern? „Du wirst es schon sehen. Irgendwann, in ein paar Jahren.“ Weitere Ausführungen blieben aus. Und somit konnte Sharif im Grunde nichts anderes tun, als ihrer Bitte nachzukommen und zu hoffen, dass er tatsächlich in einigen Jahren die Antwort erhalten würde. Die Universität befand sich am George Square, wie Sharif bereits vor geraumer Zeit erfahren hatte. Früher waren die einzelnen Fakultäten und Lehrstellen eher lose ohne richtigen Campus verteilt gewesen, doch vor ein paar Jahren hatte man ein großes Gebäude am besagten Standort errichtet, wo unter anderem auch die Medizin untergebracht war. Prof. Joseph Bell, so erzählte der Hausmeister dem Vampir, als dieser sich nach dem Büro des Gesuchten erkundigte, war eine Koryphäe auf seinem Gebiet und schon regelrecht eine Berühmtheit an der Universität. Ein Mediziner und ausgezeichneter Chirurg, der mit seinem Wissen sogar ab und an den zuständigen Behörden dabei half, Unfälle oder Verbrechen aufzuklären. Sharif selbst hatte von dem Mann noch nie zuvor gehört, was aber, wie der Hausmeister ihm versicherte, auch kein Wunder war. „Er mag’s nicht, wenn viel von ihm geredet wird. Er ist ein Genie, hasst es aber, seinen Namen in der Zeitung oder so zu lesen. Bescheiden, der Mann, absolut bescheiden.“ Bells Büro mochte man auch als bescheiden oder zumindest als nicht allzu extravagant bezeichnen können. Es war großzügig geschnitten, mit wahrscheinlich Dutzenden von Regalen, die mit Lehrbüchern zu den verschiedensten Themen nur so überquellten. Der Großteil war verständlicherweise medizinischer Natur, soweit das Sharif nach einem kurzen Blick zu erkennen vermochte, aber auch geistes- und rechtswissenschaftliche sowie theologische Abhandlungen fanden sich unter seiner Sammlung. Ebenso befanden sich in dem Raum zahlreiche chirurgische Gerätschaften, deren Sinn und Zweck Sharif bei den meisten nicht direkt erfassen konnte und, wenn er ehrlich zu sich war, auch gar nicht wollte. Begrüßt wurde Sharif von einem jungen Burschen, vielleicht gerade mal zwanzig Jahre alt, der sich zuvor mit einigen Studien beschäftigt hatte und sich nun von seinem Platz erhob, als sich die Tür öffnete. „Ich bin Prof. Bells Assistent“, stellte er sich mit einem Lächeln vor. „Wie kann ich Ihnen helfen?“ „Mein Name ist Ethan Smith“, sagte er, während ihm sein falscher Name immer noch etwas holprig über die Lippen kam. Er mochte ihn nicht mal besonders gern, hatte aber schon früh gelernt, dass ein englischer Name sehr viel weniger Fragen oder argwöhnische Blicke nach sich zog als ein ägyptischer. „Eine Freundin schickt mich. Harriet Potter.“ „Harriet?“, ertönte eine Stimme aus dem hinteren Bereich des Zimmers. Ein Mann schaute hinter einer geöffneten Schranktür hervor und musterte Sharif. Der Vampir hatte schon beim Eintreten dank seiner übersinnlichen Fähigkeiten bemerkt, dass sie nicht alleine im Zimmer waren, doch, um seine Tarnung auch weiterhin zu wahren, zuckte er ein wenig zusammen, als wäre er tatsächlich überrascht. Joseph Bell entpuppte sich als Mann in den frühen Vierzigern mit markanten Gesichtszügen, die ihn ernst und seriös, aber gleichzeitig auf gewisse Weise auch wieder sympathisch wirken ließen, einer Kurzhaarfrisur und einem drahtigen Körperbau, der zumindest darauf schließen ließ, dass er dem leiblichen Wohl nicht ganz so überschwänglich zugeneigt war wie manche seiner Kollegen. „Es freut mich wirklich sehr, von Harriet zu hören“, meinte er, als er Sharifs Hand ergriff und dabei einen festen Händedruck erkennen ließ. „Wie geht es ihr?“ „Bestens.“ Bell schien ehrlich erfreut angesichts dieser Nachricht, auch wenn Sharif nicht entging, dass sein Blick kurz zur Tür huschte, als erwartete er, dass Necroma doch noch hereintreten würde. „Sie ist eine wahrhaft bemerkenswerte Frau“, fuhr Bell in einem Tonfall fort, der Sharif sich sofort wundern ließ, was Necroma wohl angestellt haben mochte, dass er auf diese Art und Weise von ihr schwärmte. „Aber das wissen Sie sicherlich selbst, nicht wahr?“ Sharif konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. „Absolut.“ Bell nickte, ehe er sich an seinen Assistenten wandte. „Würden Sie uns bitte einen Tee bringen, Mr. Doyle?“ Der Junge machte sich sofort an die Arbeit, während Bell Sharif zu einer kleinen Sitzgruppe führte. „Ich wollte eigentlich nur einen Brief abgeben“, versuchte sich der Vampir zu erklären, auch wenn er wusste, dass es im Grunde keinen Sinn machte. Die Briten waren stets über die Maßen gastfreundlich und gerade mit ihrem Tee alles andere als geizig. Es wäre Bell wahrscheinlich niemals im Leben eingefallen, Sharif ohne jedes bisschen Freundlichkeit einfach wieder seiner Wege gehen zu lassen. „Sie hat mir von Ihnen erzählt, Mr. Smith“, sagte Bell. „Sie nannte Sie ‚Familie‘, auch wenn ich ehrlich gesagt nicht sehr viel Familienähnlichkeit erkennen kann.“ „Wir sind nicht blutsverwandt“, entgegnete Sharif. „Und dennoch sind wir Familie.“ Bell nickte. „Es gibt sicher zahlreiche Menschen auf dieser Welt, die sich sehr gerne ihre Familie aussuchen würden.“ Er lachte auf und musterte Sharif einen Augenblick. „Sie haben keine genaue Ahnung, warum Sie überhaupt hier sind, Mr. Smith, nicht wahr?“ Sharif schmunzelte. „Harriet hat Sie bisher noch niemals erwähnt gehabt.“ Bell wirkte nicht besonders verwundert. „Wir sind uns vor zwei Monaten begegnet. Sie tauchte aus heiterem Himmel hier in meinem Büro auf und erzählte mir, dass sie einigen meiner Vorlesungen gelauscht hätte. Sie schien ganz fasziniert und ich war es ehrlich gesagt schon sehr bald von ihr. Sie hat eine enorme Auffassungsgabe, begreift Gedankengänge außergewöhnlich schnell und war in vielen Dingen weit informierter als meine besten Studenten. Man könnte fast annehmen, sie wäre nicht menschlich.“ Er lachte auf angesichts seines Witzes, während Sharif sich fragte, warum Necroma ihre neuste Leidenschaft für Medizin ihm gegenüber bisher nicht erwähnt hatte. „Besonders interessiert sie sich für Rechtsmedizin und Diagnostik“, erklärte Bell. „Wir tauschen uns inzwischen regelmäßig über dieses Thema aus. Ich weiß zwar nicht, woher eine junge Frau wie sie solch ein Wissen herhat, aber im Grunde ist es mir einerlei, solange es mir anregende und inspirierende Gespräche beschert.“ Während Doyle daraufhin den Tee auftrug und sich kleinlaut dafür entschuldigte, dass er wohl nicht das Teekochtalent seiner Mutter geerbt hatte, öffnete Bell Necromas Brief und begann, ihre anscheinend langen und ausführlichen Notizen zu lesen. Mit jeder Minute schien sein Lächeln ein wenig breiter zu werden, ehe er plötzlich innehielt und verwundert seine Stirn runzelte. „Sie schreibt mir hier, dass ich mich die nächsten Wochen von Kirschen fernhalten soll“, meinte er. „Wissen Sie, was das bedeutet?“ Das bedeutet, dass Sie ansonsten wahrscheinlich in absehbarer Zeit an einem Kirschkern ersticken würden, dachte Sharif bei sich. Doch stattdessen lächelte er leicht und sagte: „Hören Sie am besten einfach auf sie. Das ist in der Regel viel gesünder.“ Bell schien noch immer verwirrt, entschied sich aber, nicht weiter darauf einzugehen, sondern stattdessen den Brief zu Ende zu lesen. „Und wieder einmal beweist sich, dass Ms. Harriett Potter ein Genie ist“, lautet schließlich sein Fazit, während er gleichzeitig den Kopf schüttelte, als könnte er es nicht fassen, dass jemand auf seinem Spezialgebiet besser Bescheid wusste als er selbst. „Sie könnte eine Meisterin ihres Faches werden.“ „In der Medizin?“, hakte Sharif skeptisch nach. Necroma war gut darin, Dinge zu zerstören. Heilung gehörte hingegen nicht zu ihren Stärken. Bell hob seinen Blick. „Mr. Smith, ich bin im Grunde nicht die Art von Arzt, die Husten und Schnupfen behandelt“, erklärte er. „Ich bin Chirurg und Rechtsmediziner und es ist meine Aufgabe, mehr zu sehen als alle anderen.“ Sharif hob eine Augenbraue. „Und das wäre genau?“ Bell blieb einen Moment still und lehnte sich zurück, während er den Vampir gleichzeitig konzentriert musterte. „Manchmal sind es Kleinigkeiten, die uns alles über einen Menschen verraten. Nehmen wir Sie und Harriett zum Beispiel. Sie wirken gewöhnlich und würden in einer großen Menschenmenge absolut nicht auffallen. Niemand würde erkennen, dass Sie Ihre wahre Identität verschleiern und falsche Namen benutzen.“ Sharif wurde auf der Stelle hellhörig, ebenso wie Bells Assistent, der bereits in seinem Notizbuch zu schreiben begann und ausgesprochen interessiert erschien. „Hat Ihnen Harriett das erzählt?“, wollte Sharif wissen. Es wäre sicher nicht allzu verwunderlich gewesen, hätte sich Necroma diesem Mann, zu dem sie offenbar derart engen Kontakt pflegte, anvertraut. „Sie musste mir gar nichts erzählen“, erwiderte Bell. „Aber es ist offensichtlich.“ Sharif runzelte die Stirn. „Und wie kommen Sie darauf?“ Bell hielt kurz inne und schaute dem Ägypter nun direkt in die Augen. „Viele Menschen sehen nur das, was sie sehen wollen, Mr. Smith“, meinte er und klang dabei beinahe so, als würde er eine seiner Vorlesungen halten. „Aber dabei gibt es so viel mehr. Indizien, winzige Kleinigkeiten, die uns mehr über eine Person verraten können als alles andere.“ Seine Miene wurde ernst. „Sie wirken wie ein einfacher Mann in Ihrer Arbeiterkluft, doch allein an Ihrer Haltung und der Tatsache, dass Sie selbst mit Autoritätspersonen wie mir, einem anerkannten Universitätsprofessor, Blickkontakt halten, lässt auf etwas anderes schließen. Sie sind es gewohnt, dass man Ihnen gegenüber Respekt walten lässt, Ehrfurcht, vielleicht sogar Angst.“ Er legte seinen Kopf schief. „Aber das war nicht immer so, nicht wahr? Sie haben alte Narben an den Händen, kaum wahrnehmbar. Man könnte natürlich vermuten, dass sie – angesichts Ihrer Kleidung – ein Resultat von den Arbeiten in den hiesigen Fabriken sind, doch die Schwielen sind überaus untypisch. Nein, es scheinen eher Zeugnisse eines harten und anstrengenden Lebens zu sein, fernab jeder Fabrik. Sie waren wirklich einst am Rande der Gesellschaft, ein Mann, der tagtäglich um sein Überleben kämpfen musste.“ Sharif betrachtete den Mann eine Weile stillschweigend. Wenn er nicht absolut sicher gewesen wäre, dass Bell durch und durch menschlich war, hätte er ihn glatt für einen Hellseher gehalten. „Sie wissen sehr viel, Prof.“, sagte er schließlich und konnte dabei seine Bewunderung nicht völlig verbergen. Und plötzlich musste er wieder an Necromas Worte denken: Aber er wird dich durchschauen, Sharif. Oh, er wird dich sowas von durchschauen! Bell zeigte keinerlei Reaktion, als wäre er solcherlei lobende Worte bereits gewohnt. Stattdessen erwiderte er: „Es würde Sie unter Umständen überraschen, was ich alles über Sie weiß.“ Sharif lächelte leicht. „Dann versuchen Sie’s. Ich werde gerne überrascht.“ Bell sagte zunächst nichts, doch seine Mundwinkel verzogen sich leicht nach oben. Dass sich in seiner Gesellschaft ein Mann befand, der vorgab, jemand zu sein, der er gar nicht war, schien ihn derweil gar nicht zu stören. „Dass Ihr Name nicht Ethan Smith lautet, ist mehr als offensichtlich“, begann er daraufhin in einem gefassten Tonfall. „Auch wenn es Ihnen vielleicht nicht bewusst ist, reagieren Sie einen Sekundenbruchteil zu langsam, wenn Sie jemand anspricht. Als wären Sie diesen Namen einfach nicht gewohnt. Es fällt kaum auf, das gebe ich zu, sodass man annehmen darf, dass Sie dieses Pseudonym in der Vergangenheit bereits öfters verwendet haben, aber dennoch haben Sie sich noch nicht völlig angepasst. Dies ist mir ebenso bei Harriett aufgefallen.“ Bell verschränkte die Arme vor der Brust und intensivierte seinen Blick. „Ganz abgesehen von der Tatsache, dass Sie gewiss nicht europäischen Ursprungs sind. Vielleicht aus einer der britischen Kolonien, das wäre durchaus möglich. Sie haben einige indische Merkmale, aber viel zu schwach, um wirklich dieser Abstammung zu sein. Vermutlich haben Sie bloß indische Vorfahren, deren Namen Sie gewiss nicht einmal mehr kennen. Nein, ich würde Sie eher in den afrikanischen Raum einordnen, wahrscheinlich Libyen oder Ägypten. Es ist natürlich durchaus möglich, dass Sie dennoch hier geboren sind und Ihre Eltern Ihnen einen britischen Namen gegeben haben, das will ich gar nicht bestreiten. Zumindest scheinen Sie eine längere Zeit in England verweilt oder sich wenigstens mit englischen Menschen umgeben zu haben, da Sie einen starken Londoner Akzent besitzen, den man nicht mal eben übernimmt, wenn man zwei Wochen im Lande ist. Ich würde sagen, Sie haben zumindest ein paar Jahre in der Nähe der Hauptstadt gewohnt und sind aber bereits auch seit einiger Zeit hier in Schottland, wie man an manchen Ihrer Ausdrücke feststellen kann. Aber für eine genauere Untersuchung müsste ich Sie schon etwas mehr als fünf Minuten kennen.“ Sharif schmunzelte. All diese winzigen Kleinigkeiten – die Art, wie er sprach oder wie er auf seinen falschen Namen reagierte – waren ihm persönlich absolut nicht aufgefallen, hatten Bell aber offensichtlich völlig ausgereicht, um mindestens seine halbe Lebensgeschichte daran analysieren zu können. „Die meisten Menschen sind nicht so mysteriös und geheimnisvoll, wie sie es gerne hätten“, erklärte Bell. „Auch Sie nicht, Mr. Smith. Die Salzverkrustungen an Ihren Stiefeln verraten mir, dass Sie erst kürzlich am Meer waren, wahrscheinlich beim Hafen von Leith. Ihre Kleidung ist, wie bereits gesagt, eine typische Arbeiterkluft, obwohl Sie nicht in den Fabriken arbeiten. Wahrscheinlich haben Sie sie irgendwo günstig aus zweiter Hand erstanden. Generell scheint Ihnen nichts, was sie an Ihrem Körper tragen, großartig am Herzen zu liegen, abgesehen von diesem Lederarmband an Ihrem rechten Handgelenk. Es ist alt und abgenutzt, aber dennoch tragen Sie es weiterhin und berühren es immer wieder instinktiv. Ich schätze, es war ein Geschenk von jemandem, der Ihnen sehr wichtig ist.“ Sharifs Blick wanderte automatisch auf das schon leicht ramponierte Armband, das ihm Necroma vor einer halben Ewigkeit geschenkt hatte. „Sie wissen wohl alles über mich, Prof. Bell“, meinte er amüsiert. Bell schmunzelte leicht. „Wie gesagt, ich kenne Sie ja erst fünf Minuten.“ „Und nach einer halben Stunde könnten Sie wahrscheinlich anhand der Krümel auf meinem Hemd erkennen, welchen Mädchennamen meine Mutter hatte, nicht wahr?“ Sharif hätte das nicht mal wirklich überrascht. Dieser Mann brauchte nicht mal Magie oder andere übersinnliche Fähigkeiten, um sein Gegenüber zu durchschauen. Und mit einem Mal verstand er, warum Necroma diesen Mann sosehr mochte. „Und, wissen Sie auch, weswegen wir unsere wahre Identität verbergen?“, hakte Sharif interessiert nach. Bell nippte ganz ruhig an seinem Tee und ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. „Ich könnte höchstens Mutmaßungen anstellen und das tue ich eigentlich relativ ungern. Sie sind ein Mann, der wahrscheinlich auf eine gewisse Art wichtig ist, nicht etwa als Geschäftsleiter, Unternehmer oder dergleichen, sondern auf eine andere Weise. Ich kann es schlecht beurteilen, aber unter Umständen hat es etwas mit Beziehungen zu tun und wie andere Menschen Sie selbst sehen. Zumindest kann ich mir nicht vorstellen, dass es um Geld geht, eher um Status und Macht. Gleichzeitig sind Sie sich aber nicht zu fein, sich kleiner zu machen und das Leben eines einfachen Fabrikarbeiters zu führen. Vielleicht wurden Sie durch bestimmte Umstände dazu gezwungen, das wäre durchaus möglich, aber warum sollten Sie sich zum Beispiel dann dazu herablassen, Botengänge für Harriett zu unternehmen? Nein, Sie haben keinerlei Probleme mit Ihrer derzeitigen Situation und haben es sich wahrscheinlich sogar selbst so ausgesucht.“ Bell rieb sich nachdenklich am Kinn. „Warum also? Ich weiß es nicht. Leider kann ich diese Antwort nicht an ihrem Gesicht oder Ihren Schuhen ablesen. Im Grunde kann ich nur so viel sagen: Sie sind ein seltsamer Mann, der ein Leben unterhalb dessen führt, was er eigentlich haben könnte, aber erstaunlicherweise nicht unglücklich darüber zu sein scheint.“ Sharif lachte auf. In der Tat fasste ihn das ganz gut zusammen. Er trug die Kleidung eines Arbeiters und hatte sich mit seiner Sippe in einer bescheidenen Wohnung einquartiert, wo er doch den Buckingham Palace in seine Gewalt hätte bringen können, wenn er es nur gewollt hätte. „Sie denken jetzt bestimmt, ich bin verrückt.“ „Ich denke, Sie sind ein weiser Mann, Mr. Smith“, entgegnete Bell und betonte dabei Sharifs falschen Namen nochmal überdeutlich. „Nicht viele vermögen einzusehen, dass Glück wichtiger ist als alles andere.“ Sharif schmunzelte. „Und nicht viele vermögen mich zu beeindrucken, Prof. Bell. Und dennoch sitzen Sie hier und tun es.“ Bell ließ nicht erkennen, ob er sich in irgendeiner Weise geschmeichelt fühlte. „Das haben mir schon viele Leute gesagt“, entgegnete er. Jedoch nicht großspurig oder arrogant, sondern bloß, als würde er eine nüchterne Tatsache widergeben. „Mr. Doyle will aus mir sogar eine Romanfigur machen.“ Sharifs Blick wanderte augenblicklich zu Bells Assistenten, der die ganze Zeit über auf seinem Stuhl gesessen und eifrig in sein Notizbuch geschrieben hatte, offenbar sehr erpicht, kein einzelnes Wort seines Mentors zu verpassen. Nun, bei der Erwähnung seines Namens, hob er den Kopf und musterte die beiden Männer neugierig. „Werde ich dann bald Die Abenteuer des Joseph Bell an jeder Straßenecke zu lesen bekommen?“, hakte Sharif amüsiert nach, während er aus den Augenwinkeln bemerkte, dass Bell seine Mundwinkel leicht nach unten verzog. Doyle währenddessen schien sich ein wenig zu zieren. „Ich suche noch nach einem Namen für meine Figur, Sir“, gab er zu. Erneut kamen Sharif daraufhin wieder Necromas Worte in den Sinn: Und er wird einen Namen suchen. Einen guten und starken Namen. Sie hatte damit offensichtlich gar nicht Bell gemeint, sondern Doyle. Doyle, der nach Namen für seinen Romancharakter Ausschau hielt. Sharif seufzte und versuchte, sich wie so oft nicht über Necromas Fähigkeiten zu wundern. Stattdessen tat er, wie sie ihm aufgetragen hatte, und dachte an den besagten Liliputaner aus Manchester, dem sie vor einigen Jahren begegnet waren und der trotz seines Sprachfehlers und seiner O-Beine eine erstaunlich autoritäre Figur abgegeben hatte, als er Alec wegen dessen dreisten Sticheleien kleinwüchsiger Menschen gegenüber mit beeindruckender Kraft gegen das Schienbein getreten hatte. „Sherlock“, schlug Sharif somit dem jungen Mann vor. Der Angesprochene zögerte einen Moment und wiegte seinen Kopf leicht hin und her, als würde er in Gedanken austesten, ob dieser Name passte. Schließlich schlich sich ein Lächeln auf seine Lippen. „Sherlock“, murmelte er. „Ja, das ist nicht schlecht. Ganz und gar nicht.“ Er rieb sich am Kinn. „Es hat zumindest einen guten Klang.“ „Außerdem habe ich einen Freund, dessen Hund Watson heißt.“ „Ein Hund?“ Sharif zuckte mit den Schultern. „Es ist ein schöner Name“, entgegnete er und ignorierte dabei Bells Blick, der deutlich machte, dass er es nicht unbedingt belustigend fand, dass Sharif das Vorhaben des jungen Mannes auch noch unterstützte. „Sie sollten zumindest darüber nachdenken.“ Immerhin hat mich eine Hellseherin darauf gebracht, dachte er bei sich. Doyle schien von der Idee angetan und begann sogleich, die Namen in sein kleines Buch zu schreiben, während Bell sich räusperte und somit Sharifs Aufmerksamkeit wieder auf sich lenkte. „Wie auch immer, es freut mich wirklich sehr, dass Sie sich die Mühe gemacht haben, mir Harriets Brief zu überreichen“, erklärte er auf typisch höfliche Art und Weise. „Ich weiß es sehr zu schätzen.“ Der Ägypter schmunzelte. „Nicht der Rede wert.“ „Und richten Sie ihr aus, dass sie brillant ist!“ Sharif musste sich wirklich zusammenreißen, um nicht laut aufzulachen. „Glauben Sie mir, Prof. Bell, dessen ist sie sich durchaus bewusst.“ Bell zog seine Mundwinkel kurz nach oben. „Oh, das weiß ich, Mr. Smith. Das weiß ich nur zu gut.“ Er schwieg einen Moment, lehnte sich zurück und musterte den Vampir eingehend. „Wird sie mir eines Tages ihren wahren Namen verraten?“ Sharif zögerte einen Augenblick. „Eigentlich trägt sie ziemlich viele. Den, den ihre Eltern ihr gegeben haben. Den, den sie sich selbst gegeben hat. Und dann noch zahllose andere, die man sich in dunklen Gassen hinter vorgehaltener Hand zuraunt.“ Sharif bemerkte, wie Doyle beim letzten Satz innehielt und offenbar zu erfassen versuchte, was damit eigentlich gemeint war. Bell hingegen ließ sich nicht das Geringste anmerken. „Ich würde nur gerne den Namen kennen, der ihr am wichtigsten ist“, sagte er leise. Sharif lächelte. „Und Sie haben eine gute Chance, ihn zu erfahren. Und wenn es auf ihrem Totenbett sein sollte.“ Bell lachte auf. „Dann habe ich etwas, auf das ich mich freuen kann.“ Er streckte Sharif die Hand entgegen. „Es hat mich sehr gefreut, Mr. Smith!“ „Mich ebenso, Sherlock.“ Und mit diesen Worten stand er auf, nickte dem jungen Doyle noch einmal kurz zu und verschwand aus dem Büro. „Und, inwiefern haben wir jetzt die Geschichte verändert?“, fragte er schließlich sofort bei Necroma nach, als er wieder in seiner Wohnung angekommen war. Diese hatte es sich auf einem Sessel bequem gemacht und lachte auf, als sie seine Frage hörte. „Du wirst es schon bald verstehen. Zumindest den einen Teil der Geschichte. Der andere wird noch ein paar Jahrzehnte auf sich warten lassen.“ Sharif schüttelte seufzend den Kopf, ehe er meinte: „Es hat gar nichts mit Bell zu tun, sondern mit dem Jungen, nicht wahr? Dieser Doyle.“ „Es hat mit beiden zu tun“, erwiderte Necroma amüsiert. „Sein geplanter Roman“, führte Sharif die Puzzleteile zusammen. „Seine Charaktere, die er wahrscheinlich nach Zwergen und Hunden benennen wird. Es wird irgendwie Einfluss auf die Zukunft nehmen, habe ich nicht Recht?“ Necroma antwortete zunächst nicht, man sah jedoch an dem Blick, dem sie ihn daraufhin zuwarf, dass er mit seiner Vermutung nicht allzu falsch lag. „Bell ist irgendwie beeindruckend, nicht wahr?“, hakte sie schließlich nach, nachdem sich Sharif seufzend auf dem gegenüberliegenden Sessel niedergelassen und einmal tief durchgeatmet hatte. „Ein Meister der Forensik. Richtig CSI-mäßig!“ Sharif runzelte die Stirn. „Bitte was?“ „Er braucht nur ein Staubkorn, mehr nicht, und schon weiß er so gut wie alles über einen“, fuhr Necroma fort und ignorierte seine fragende Miene vollkommen. „Und Doyle wird ihn berühmt machen, auch wenn Bell das gar nicht gefallen wird. Ganz und gar nicht. Aber so ist nun mal das Schicksal.“ Sharif lehnte sich zurück und nickte bloß, während er merkte, dass eine Müdigkeit seinen Körper ergriff, die ihm zuvor gar nicht aufgefallen war. „Aber es ist wirklich zu schade, dass niemand den Witz hinter dem Ganzen erkennen wird“, warf Necroma ein. Sharif hob seine Augenbrauen. „Welchen Witz?“ Sie kicherte. „Es war Harry Potter, der soeben Sherlock Holmes seinen Namen gegeben hat!“ Daraufhin grinste sie derart breit, dass Sharif nicht umhin kam, ebenfalls zu lächeln, auch wenn er absolut keine Ahnung hatte, was daran lustig sein sollte. Und es dauerte noch sehr viele Jahre, ehe er es vollends begreifen sollte. _________________ Joseph Bell (1837-1911) war Mediziner, Chirurg und lehrte von 1874-1901 an der University of Edinburgh. Wegen seines kriminaltechnologischen Gespürs wurde er auch des Öfteren für die Aufklärung von Verbrechen oder Unfällen zur Hilfe gerufen. 1888 unterstützte er etwa u.a. Scotland Yard bei der Suche nach Jack the Ripper. Er gilt allgemeinhin als Pionier der heutigen Forensik. 1878 wurde ein junger Student namens Arthur Conan Doyle zu seinem Assistenten. Doyle war von Bells Fähigkeiten sehr beeindruckt und nutzte ihn u.a. als Vorbild für seine spätere Romanfigur Sherlock Holmes (1887 Erstveröffentlichung A Study in Scarlet). Kapitel 8: Regen ---------------- Lutetia, Gallien (78 n. Chr.): „Du bist verrückt, weißt du das eigentlich?“ Sharif trat auf die weitläufige Terrasse, die zu dem luxuriösen Herrenhaus gehörte, das er und sein Clan vor gut einem Monat besetzt hatten. Sein Blick war auf seinen Schöpfer gerichtet, der er sich auf einem Gartenstuhl gemütlich gemacht hatte, die Beine auf einen Tisch gelegt und sich nach hinten lehnte, als würde er sonnenbaden. Nur dass es bereits seit gut einer halben Stunde regnete. Asrim war inzwischen, obwohl der Regen eher Nieselcharakter besaß, schon reichlich durchnässt, schien sich daran aber nicht wirklich zu stören. „Ich weiß“, meinte dieser, ohne sich zu bewegen. „Das wird mir irgendwie schon mein ganzes Leben lang gesagt.“ Sharif blieb unter der Überdachung des Dachvorsprungs stehen und beobachtete den Regen. Er war in der Wüste geboren, an extreme Temperaturschwankungen gewöhnt, doch Feuchtigkeit dieser Art war ihm seit jeher ein Graus. Stets fühlte es sich für ihn so an, als würden seine Glieder versteifen und sich die Kälte bis in seine Knochen durchfressen. Asrim hingegen verspürte eine merkwürdige Faszination für das Wasser, das vom Himmel fiel. Sharif hatte schon sehr früh bemerkt, dass sich automatisch ein Lächeln auf die Lippen des Vampirs legte, sobald die ersten Regentropfen zu Boden fielen. „Warum liebst du ihn so?“, hakte der Ägypter nach. „Den Regen?“ Immer noch regte sich Asrim keinen Millimeter. „Über eintausend Jahre und du hast mir diese Frage noch niemals zuvor gestellt.“ Sharif beobachtete, wie die Mundwinkel des anderen kurz nach oben zuckten. „Es gibt viele Fragen, die ich dir noch nie gestellt habe“, entgegnete dieser daraufhin. „Ich habe zum Beispiel keine Ahnung, warum du Pflasterstraßen nicht leiden kannst oder warum du immer anfängst zu summen, wenn du einen längeren Text liest. Und was ist das überhaupt mit Rothaarigen? Du starrst sie immer an, als könntest du nicht glauben, dass sie existieren.“ Nun endlich wandte Asrim seinen Blick Sharif zu. Seine Augen funkelten amüsiert, während er seinen Kopf zur Seite legte. „Ich erzähle dir gerne alles, was du wissen willst“, bot er großzügig an. „Sofern du dich traust, dich zu mir zu setzen.“ Und damit klopfte er auf den nassen Stuhl neben sich, auf seinen Lippen ein hämisches Grinsen, wie man es sonst nur von Alec gewohnt war, wenn er erneut Oscar bis aufs Blut reizte. Sharif verzog missfällig sein Gesicht und dachte ernsthaft darüber nach, einfach kehrtzumachen und ins trockene Innere zu flüchten. Im Grunde hielt ihn nichts davon ab, seinen Schöpfer einfach alleine zurückzulassen, anstatt dabei zuzusehen, wie er sich langsam im Wasser auflöste. Wäre da nicht diese verdammte Neugierde. Sharif gab sich nach außen hin immer als gefasster Mann, den nichts in Aufregung versetzen konnte, aber ab und zu kam doch das Kind in ihm durch, das fasziniert einen Schmetterling betrachtete. Er wusste selbst, dass das nicht unbedingt zum Image eines mächtigen Vampirfürsten passte, doch er vermochte nichts dagegen zu tun. Und auch diesmal war der Drang in seinem Inneren stärker. Somit setzte er sich auf den nassen Stuhl, seine Muskeln derart verkrampft, als würde er voller Anspannung auf einen ungemütlichen Kampf warten. „Man könnte fast den Eindruck gewinnen, ich hätte dich gezwungen, dir ein Schwert in den Bauch zu rammen“, stellte Asrim belustigt fest. „Es ist doch nur Wasser.“ Sharif schnaubte. „Es ist nicht nur Wasser!“, entgegnete er schnippisch. „Es ist überall, unaufhaltsam, es … es ist wie die feuchte Version von Sand. Und ich hasse Sand!“ Asrim gab daraufhin ein Geräusch von sich, das wie ein unterdrücktes Auflachen klang. „Und diese Worte von einem Ägypter.“ „Nur weil ich in der Wüste geboren bin, muss ich sie nicht automatisch lieben“, erwiderte Sharif. „Ich meine, hattest du an deiner Heimat nichts auszusetzen?“ Für einen Moment wurden Asrims Augen ganz glasig, als würden sich seine Gedanken fortbewegen, weg in diese längst vergangene Zeit. Sharif war schon früh aufgefallen, dass er stets einen etwas wehmütigen Gesichtsausdruck aufsetzte, wenn man auf seine Heimat zu sprechen kam. Bis heute hatte er auch niemals genau konkretisiert, woher er eigentlich genau stammte. Einst hatte er einmal erwähnt, dass seine Familie Handel mit Dakern betrieben hätte, aber darauf war er niemals weiter eingegangen.[1] „Es war sehr schön dort“, sagte Asrim schließlich nach einer kurzen Pause. „Es war nur etwas störend, dass die Ziegen unseres Nachbarn immer wieder bei uns eingebrochen sind und unsere Kleidung angenagt haben.“ Sharif spürte, dass er noch mehr sagen wollte, etwas tiefsinnigeres und düstereres als irgendwelche Tiere, die ihre Grenzen nicht kannten, doch wie so oft verschloss sich sein Schöpfer nach diesem kurzen Ausflug in seine Vergangenheit als Mensch. Stattdessen atmete Asrim einmal tief ein und sagte: „Sie verstärken den Verkehrslärm.“ Sharif blinzelte verdutzt, absolut nicht sicher, worauf sein Gegenüber nun eigentlich hinauswollte. „Bitte was? Die Ziegen?“ „Pflasterstraßen“, erklärte Asrim in einen Tonfall, als wäre dies völlig offensichtlich gewesen. „Du hast mich doch gefragt, warum ich sie nicht leiden kann.“ Er strich sich einige feuchte Haarsträhnen aus dem Gesicht. „Die Karren, die Hufe der Pferde – alles ist so furchtbar laut, wenn es über Pflastersteine donnert. Wie ein schreckliches, ohrenbetäubendes Gewitter.“ Dem vermochte Sharif nichts entgegenzusetzen. Er nickte zustimmend, doch bevor er dazu kam, Asrim auch verbal beizupflichten, fuhr dieser ungerührt fort: „Und warum ich summe, wenn ich etwas lese? Keine Ahnung, ehrlich gesagt. Es ist so eine seltsame Macke von mir, die ich einfach nicht erklären kann. Ich hab es schon immer getan und werde es wahrscheinlich bis an mein Lebensende tun.“ Sharif konnte sich eines Lächelns nicht erwehren. Asrim mochte sicher mächtig und berüchtigt sein, ein Wesen, das von vielen anderen bewundert und gefürchtet wurde, doch wenn er gedankenverloren über einem Text saß und dabei vor sich her summte – Volkslieder, Lieder von Barden und den Spielleuten, und manchmal sogar Kinderlieder –, wirkte er beinahe wie ein unbedarfter und unschuldiger Junge, der nicht einmal einer Fliege etwas zuleide tun konnte. „Und was ist mit Rothaarigen?“, hakte der Vampir nach. Asrim blieb daraufhin einen Moment still und wiegte seinen Kopf hin und her. „Du willst es wirklich wissen?“ Er schnalzte kurz mit der Zunge. „Es ist eigentlich ziemlich absurd.“ Sharif lächelte und störte sich nicht mal daran, dass ihm etwas Regenwasser in die Augen lief. „Umso besser.“ „Im Grunde sogar lächerlich.“ „Ich habe Alec bei dem armseligen Versuch zugesehen, auf einer Panflöte zu spielen“, entgegnete Sharif. „Und es gibt sicher nichts lächerlicheres als das!“ Asrim verzog seine Mundwinkel nach oben. „Meine Mutter hat mir damals als Kind erzählt, dass die Götter rote Haare hätten.“ In seinen Augen blitzte etwas Seltsames auf. „Und ich weiß, es ist dumm, aber ich habe es lange Zeit geglaubt. Und als ich das erste Mal einem rothaarigen Menschen begegnet bin – bloß ein fahrender Händler in heruntergekommener Kleidung und mit keinem einzigem Zahn mehr im Mund – war ich wie erstarrt. Ich dachte wirklich, es würde ein leibhaftiger Gott vor mir stehen.“ Sharif wusste darauf im ersten Moment absolut keine Antwort. Er wusste nicht mal, ob er lachen sollte oder nicht. Stattdessen erinnerte er sich an all die unzähligen Begegnungen in den vergangenen Jahrhunderten. Stets hatte Asrim rothaarige Männer und Frauen immer mit einer gewissen Intensität angestarrt. Einer seltsamen und schon fast unheimlichen Intensität, als würde er darauf warten, dass im nächsten Moment etwas geschah. Etwas Einzigartiges, etwas Sonderbares, etwas … Göttliches? Sharif musste unweigerlich schmunzeln, als er daran dachte, wie sehr doch die Dinge, die man als Kind erlebt und erfahren hatte, einen noch über eine lange Zeit weiterbegleiten konnten. „Und der Regen?“, fragte Sharif nach, sehr bemüht, sich sein schweres Missfallen nicht anmerken zu lassen. Auf seiner Kleidung lag bereits ein funkelnder Wasserfilm und über kurz oder lang würde sich das Nass auch einen Weg durch die Stoffbahnen bahnen. Viel schlimmer war jedoch die Feuchtigkeit in seinem Gesicht, die ihn inzwischen dazu zwang, seinen Kopf zu senken und die Augen zuzukneifen. „Warum liebst du ihn?“ „Weil er immer da war“, erklärte Asrim mit einer ungewohnten Samtheit in der Stimme. „Immer da?“ „An jedem einzelnen Geburtstag.“ Sharif hob daraufhin seinen Blick und musterte seinen Schöpfer verwundert. „Wie bitte?“ „Aus irgendeinem Grund wusste ich immer, wann mein Geburtstag war, auch wenn diese Art von Ereignis damals absolut keine Rolle für die Menschen gespielt hat. Die meisten hatten noch nicht mal eine Ahnung, wie alt sie überhaupt selbst waren, geschweige denn, an welchem Tag sie geboren waren. Aber ich spürte es, tief in meinem Inneren.“ Asrim lächelte. „Und an jedem einzelnen meiner Geburtstage hat es geregnet. Als wäre der Himmel neben mir der einzige, der sich daran erinnerte.“ Sharif musste ehrlich zugeben, dass er mit solch einer Antwort nicht gerechnet hatte. Er hatte eigentlich angenommen, Asrims Liebe für den Regen wäre bloß eine merkwürdige Verrücktheit, einfach etwas, das man unmöglich zu erklären vermochte, so gern man dies vielleicht auch wollte. Der Ägypter sah hinauf und blickte auf die graue Wolkendecke. „Jeder einzelne Geburtstag? Jedes Jahr?“ Asrim nickte. „Jedes Jahr.“ „Und so auch dieses Jahr, nicht wahr? Genau heute!“ Mit einem Mal entsann sich Sharif wieder, wie Necroma früher an jenem Tag zu Asrim getreten war, ihn in den Arm genommen und anschließend mit einem breiten Grinsen den abgetrennten Finger eines vormals dreisten römischen Soldaten geschenkt hatte. Sharif hatte gedacht, es wäre bloß wieder eine von Necromas typischen Marotten, aber unter Umständen war dieses kleine Präsent tatsächlich als Geburtstagsgeschenk gedacht gewesen. Immerhin wusste diese wahnsinnige, chaotische, verrückte Frau weit mehr über die Welt und ihre Bewohner als jeder andere. Asrim bedachte Sharif kurz mit einem amüsierten Blick, ehe er wieder die Augen schloss und die Tropfen auf seiner Haut genoss, als wären es wärmende Sonnenstrahlen. „Also dann …“, begann Sharif nach einem Moment des Schweigens. „Herzlichen Glückwunsch.“ Asrim lachte leise auf. „Vielen Dank.“ „Ich habe aber leider kein Geschenk für dich“, warf Sharif sofort darauf ein. „Ich meine, ich könnte dir zu dem Finger, den du von Nec gekriegt hast, noch eine passende Hand oder so besorgen, wenn du willst …“ „Sharif?“ „Ja?“ Asrim wirkte mit sich und der Welt völlig im Reinen, als er sagte: „Ich habe wirklich alles, was ich brauche. Der Regen ist mein Geschenk und wird es auch immer sein.“ Sharif betrachtete seinen Schöpfer eine Weile stillschweigend, wie er sich zurücklehnte und das Nass auf seiner Haut genoss. Nichts schien ihn in diesem Moment aus der Ruhe bringen zu können. „Du bist wahrlich ein seltsamer Mann, Asrim.“ Asrim schmunzelte daraufhin. „Hab Dank für das Kompliment, Wüstenmann.“ Seine Augen blitzten einen Augenblick merkwürdig auf, als er Sharif kurz musterte. „Und wenn du es noch schaffst, weitere zwanzig Minuten hier im Regen zu verbringen, erzähle ich dir, warum ich immer wieder und überall auf der Welt von Kaninchen attackiert werde.“ Sharif blinzelte. „Kaninchen?“ „Die sind überall“, erklärte Asrim mit todernster Stimme. „Und sie kommen wie aus dem Nichts.“ Und so konnte der Ägypter einfach nicht anders, als noch weitere zwanzig Minuten sitzen zu bleiben. Neben dem Mann, der gerne Lieder vor sich her summte, in Rothaarigen weit mehr sah als alle anderen und als kontinuierliche Zielscheibe für angriffslustige Kaninchen fungierte. Und der den Regen sosehr liebte. ************************************************************ [1] Daker: Ein thrakischer Volksstamm, der auf dem Gebiet des heutigen Rumäniens angesiedelt war. Tada, mal wieder ein kleines Lebenszeichen von mir xD Gut, ich weiß, es ist nichts Besonderes, aber ich persönlich mag solche kleinen, harmlosen Episoden total gerne, also von daher könnt ihr euch bestimmt noch auf ein paar mehr einstellen ;p Und wie immer vielen lieben Dank für eure Kommentare! Ihr seid das Salz in der Suppe meiner Stories ... oder so ähnlich :D Kapitel 9: Ausgeliefert ----------------------- München, Deutschland (1923): Sie war schwach. Das war das erste, was Alec auffiel. Früher waren ihre Bewegungen fließend gewesen, einer Tänzerin gleich, die selbst das Hochheben einer Kaffeetasse in etwas Spektakuläres und Bühnenreifes hatte verwandeln können. Der Vampir hatte ihr stets mit Vergnügen dabei zugesehen, wie sie leichtfüßig und elegant durchs Leben geschritten war. Nun aber schien es all ihre Kraft zu erfordern, sich auf den Boden zu knien und die toten Blätter einzusammeln, die sich nun im tiefsten Herbst überall verteilten. Ihre Hand zitterte, als sie das bunte Laub zusammenfegte und in den Eimer neben sich beförderte. Und bereits einen Moment später hielt sie inne und holte tief Luft, als hätte allein dieser eine kleine Akt derart viel Energie verbraucht, dass eine kurze Pause unumgänglich geworden war. Alec hatte schon Großmütter im hohen Alter gesehen, die deutlich mehr Dynamik gezeigt hatten. Aber Erinya war ganz sicher keine Großmutter. Zugegeben, sie ging stark auf die sechzig zu, sah aber eher aus wie Anfang zwanzig. Ein netter Bonus, wenn man das Leben einer Magierin führte. Der Körper alterte langsamer und verschließ erst sehr viel später. Oftmals konnte man dies sogar mithilfe von Magie zusätzlich eindämmen oder gar völlig aufhalten. In der Welt, in die Erin hineingeboren war, gab es kaum etwas, das nicht möglich war. Sie könnte noch gute zweihundert Jahre leben. Möglicherweise sogar länger, wenn sie es schaffte, ihre Macht sinnvoll zu nutzen. Aber das Schicksal hatte es anders mit ihr gemeint. „Willst du mich etwa die ganze Zeit aus dem Schatten heraus beobachten wie ein dreckiger Spanner?“ Ihre Stimme war scharf, während sie gleichzeitig ungerührt die Blätterte einsammelte, als wäre es etwas Alltägliches, einen Vampir im Garten zu haben. Alec konnte sich derweil eines Lächelns nicht erwehren. Mochte sie auch noch so schwach und hilflos wirken, stets hatte sie es verstanden, seine Gegenwart wahrzunehmen. Sogar besser als viele andere Wesen. „Du könntest wahrscheinlich noch in der tiefsten Dunkelheit merken, wenn dich jemand aus fünfzig Kilometer Entfernung beobachtet, nicht wahr?“ Alec lachte auf, als er zu ihr trat und sich neben sie kniete. „Hallo, Erinya!“ Weder Angst noch Unsicherheit waren in ihren Gesichtszügen zu erkennen, als sie sich dem Besucher zuwandte. „Hallo, Alec!“, sagte sie stattdessen kalt. „Wie überaus unangenehm, dich wiederzusehen.“ Alec schmunzelte. „Immer noch ein Sonnenschein.“ Erin schnaubte. „Ich habe dir doch gesagt, dass ich es hasse, wenn du dich einfach so anschleichst.“ „Und ich habe dir doch gesagt, dass es mir total egal ist, was andere mir erzählen wollen.“ Erin musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen, ehe sie sich abrupt wegdrehte und aufstand. Wäre sie in einer gesunden Verfassung gewesen, hätte sie einen verächtlichen Kommentar zum Besten gegeben und hätte ihn einfach zurückgelassen, doch stattdessen schaffte sie es nicht, auch nur einen Fuß vor den anderen zu stellen, ohne beinahe das Gleichgewicht zu verlieren. Sie begann zu schwanken und wäre sicherlich zusammengebrochen, wenn Alec mit vampirischer Schnelligkeit nicht sofort an ihrer Seite gewesen wäre und sie gestützt hätte. „Du solltest dich nicht so überanstrengen, Sonnenschein“, entgegnete er. „Ohnmächtige Frauen machen nur Scherereien.“ Erin schnaubte und hätte ihn wahrscheinlich grob von sich gestoßen, wenn sie die Kraft dazu gehabt hätte. Doch stattdessen ließ sie ihn gewähren, als er sie zu der nahegelegenen Bank führte und sie darauf Platz nehmen ließ. Einzig ihr Gesichtsausdruck, der deutlich ihr Missfallen kundtat, machte deutlich, wie sehr ihr die Situation widerstrebte. „Was machst du hier?“, wollte sie wissen. „Du hast mir mal gesagt, du kannst Deutschland nicht leiden.“ „Eine Lüge“, meinte Alec schulterzuckend. „Hast du dir dieses Land schon mal angesehen? Hier gibt es wirklich wunderschöne Orte. Es wäre eine Schande, so etwas nicht angemessen zu würdigen.“ Erin musterte ihn, als könnte sie nicht glauben, dass er tatsächlich etwas für schöne Landschaften übrighatte. Schließlich aber seufzte sie und wiederholte ihre Frage mit mehr Nachdruck: „Was. Willst. Du. Hier?“ Alec ging in die Knie und betrachtete sie intensiv. „Das weißt du doch genau.“ Erin schien im ersten Moment seinem Blick ausweichen zu wollen, entschied sich dann aber doch anders und hielt ihm stand. „Du bist ein hartnäckiger Bastard!“, zischte sie. „Meine Mutter ist bereits seit über dreißig Jahren tot und dennoch stalkst du mich immer noch?“ Alec verzog keine Miene. „Ich habe ihr versprochen, dein Leben zu retten. Und das werde ich auch, so wahr mir die Götter helfen mögen.“ Erin lächelte. Bitter und frustriert. „Du konntest meine Mutter nicht mal ausstehen!“, erwiderte sie vehement. „Du hast sie immer ‚alte, dreckige Hexe‘ genannt, erinnerst du dich? Sie hat deinen gottverdammten Arsch mindestens fünfzigmal verflucht und du hast ihr sicherlich doppelt so oft das Leben zur Hölle gemacht. Ihr wart wie Katz und Maus, nur wesentlich – wesentlich – schlimmer!“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Warum sollte dich irgendein dummes Versprechen interessieren, das sie dir auf ihrem Totenbett abgerungen hat? Du bist ein Lügner, Alec, also wieso bleibst du nicht dabei, lässt ihre arme Seele ruhen und machst dich vom Acker?“ Alec legte seinen Kopf schief. „Du willst also sterben?“ „Nein, natürlich nicht!“ „Was willst du also dann?“ Erin sagte daraufhin nichts, schien selbst nicht genau zu wissen, wie sie mit der Situation umzugehen hatte. Es war ein Fluch, eine Krankheit, die ausgesprochen selten war und nur Magier befiel. Nichts konnte sie stoppen, weder Magie noch anderweitige Arzneimittel. Bei Erins Mutter Melina hatten sich 1884 die ersten Symptome gezeigt. Kurz darauf hatte sie bereits in ihrer Familiengeschichte zu forschen begonnen und herausgefunden, dass einige ihrer Vorfahren ebenfalls krank geworden und gestorben waren, der letzte gerade mal gut zehn Jahre zuvor. Melina hatte sich selbst dafür gehasst, ihrer Familie, mit der sie niemals zurechtgekommen war, so früh den Rücken zugedreht zu haben, ohne überhaupt mehr über sie zu wissen. Ihr war damals bloß wichtig gewesen, dass sich ihre Moralvorstellungen nicht gedeckt hatten und natürlich ganz besonders dass ihre Eltern versucht hatten, den armen Fischersohn, in den sie sich verliebt hatte, umzubringen. Melina hatte es ihnen niemals verzeihen können und war gegangen. Hatte sie einfach zurückgelassen und nie wieder ein Wort mit ihnen gewechselt. Es war für sie nicht schwer gewesen, ihre kalte und herzlose Familie einfach aus dem Gedächtnis zu streichen. Stattdessen hatte sie sich erlaubt, mit ihrem Fischersmann glücklich zu werden und eine eigene Familie zu gründen. Aber hätte sie gewusst, dass diese besagte Krankheit in ihrem Blut lag, so hatte sie Alec einst anvertraut, hätte sie niemals Kinder bekommen. Schlimmer als ihr eigener Tod war für sie gewesen, dass sie Erin zu einem möglichen Leben voller Qualen verurteilt hatte. Und seit Erin vor einigen Monaten die ersten Symptome gezeigt hatte, war mehr als deutlich, dass sich Melinas schlimmste Befürchtungen bewahrheitet hatten. „Du weißt, dass nur ich dich retten kann“, ergriff Alec wieder das Wort. „Ich kann dir ein besseres Leben verschaffen.“ „Ein untotes!“, zischelte Erin. „Ich würde nur noch existieren, nicht leben.“ Alec zog seine Mundwinkel nach unten. „Du glaubst also, mein Leben ist erbärmlich?“ Erin zögerte einen Moment und schien tatsächlich zu überlegen, zuzustimmen, ehe sie entgegnete: „Du bist ein Sa’onti, Alec. Dir war es vorherbestimmt, mir aber nicht. Ich würde bloß sterben und als etwas anderes wiedergeboren werden.“ „So ist es nicht …“ „Versuch nicht, es irgendwie schönzureden“, fiel ihm Erin ungehalten ins Wort. „Es mag sein, dass es wirklich nicht so schlimm ist, wie ich es mir vorstelle, aber ehrlich gesagt würde ich lieber hier und jetzt sterben, als einen schrecklichen Fehler zu begehen.“ Alec schnalzte mit der Zunge. Erin war immer schon ein unverbesserlicher und dummer Dickkopf gewesen, fast noch schlimmer als er selbst. „Du hast deine Mutter gesehen, ganz am Ende“, rief er ihr ins Gedächtnis. „Sie war nur noch ein Schatten. Willst du wirklich auf diese Weise enden?“ Erins Miene blieb hart. „Was gut genug für meine Mutter war, ist auch gut genug für mich.“ Unwillkürlich stöhnte Alec auf, frustriert angesichts solcher Starrköpfigkeit. Er hätte wahrscheinlich noch stundenlang darüber reden können, wie beeindruckend und großartig das Leben als Vampir war, es hätte ihre Meinung trotzdem nicht geändert. Dennoch wollte er nicht so schnell aufgeben. Er lehnte sich vor, ganz nah, und wisperte ihr ins Ohr: „Hast du eine Ahnung, was Unsterblichkeit dir bringt? Was für eine Macht du bekommst?“ Er strich ihr sanft über die Hände, die sosehr zitterten. „Erzähl mir nicht, dass du keine Angst vor dem Tod hast. Er wird dich von nun an begleiten, für den Rest deines Lebens. Du wirst keine Ruhe mehr haben und in ständiger Furcht leben. Das kannst du nicht ernsthaft wollen.“ Erin zog sich ein wenig zurück, sodass sie ihm direkt in die Augen zu sehen vermochte. „Nein, das will ich sicher nicht.“ „Warum bist du also so dumm und lehnst mein Angebot ab?“ Erin hob eine Augenbraue. „Weißt du, wenn du versuchen willst, mich zu verführen, würde ich Wörter wie ‚dumm‘ nun wirklich nicht benutzen.“ Alec schmunzelte. „Wer sagt, dass ich dich verführen will?“ „Auf die ein oder andere Weise versuchst du es doch gerade, nicht wahr?“ Sie musterte ihn herausfordernd. „Du setzt deinen Charme ein und was sonst noch alles, das Frauen normalerweise schwach werden lässt, um mich dazu zu bringen, zu tun, was du willst. Wenn das keine Verführung ist, dann weiß ich auch nicht.“ Dem konnte Alec nicht widersprechen. „Funktioniert es denn?“ Erin schnaubte. „Nein!“ Und dennoch schwang in ihrer Stimme ein unsicherer Ton mit, als wüsste sie selbst nicht ganz genau, ob es nicht doch einen gewissen Einfluss auf sie hatte. Alec zog sich derweil wieder ein Stück zurück und meinte mit Nachdruck: „Dann verlass wenigstens Deutschland.“ Erin blinzelte daraufhin nur verwundert. Anscheinend hatte sie mit solch einer Wendung des Gespräches nicht gerechnet. „Warum das denn?“ „Hier ist es gefährlich.“ Erin starrte ihn einen Augenblick sprachlos an, dann aber zuckten ihre Mundwinkel nach oben. Es schien fast, als stünde sie kurz davor, ihn schamlos auszulachen. „Ich weiß, hier geht es gerade ein bisschen drunter und drüber, aber das ist doch nur eine Phase. Das vergeht wieder.“[1] „Die ganzen Aufstände beunruhigen dich also nicht?“, hakte Alec verblüfft nach. Seitdem er in Deutschland angekommen war, war ihm von allen Seiten nur Sorge und Verzweiflung entgegengeschlagen. Die Menschen hungerten, gingen zugrunde und entwickelten einen extrem ungesunden Hass gegen die neue Republik. „Das wird bald ein Ende haben“, sagte Erin abwinkend. Sie klang dabei derart überzeugt, dass sie beinahe Necroma hätte sein können, die einen Blick in die Zukunft hatte werfen dürfen. „Ein Ende?“ Alec schnaubte. „Hast du gemerkt, dass in der Innenstadt Tausende von Menschen auf den Beinen sind? Ich kann sie hier sogar noch hören. Sie schreien und kreischen und machen mich ganz wahnsinnig.“ Es dröhnte wie verrückt in seinen Ohren. Meistens wurde behauptet, Vampire würden von Unruhen, Tumulten und Kriegen geradezu magisch angezogen, aber in Wahrheit war es allzu oft viel zu laut, als dass es ein Untoter lange hätte ertragen können. Auch dieser verhältnismäßig kleine Putschversuch machte Alec bereits zu schaffen. Erin zuckte derweil mit den Schultern. „Das ist nur dieser Hitler und seine fehlgeleiteten Anhänger. Die brauchst du nicht allzu ernst zu nehmen.“[2] Alec verengte seine Augen zu Schlitzen. „Nichtsdestotrotz solltest du aus Deutschland verschwinden. Ein Krieg wird kommen.“ „Hast du das in deinem tollen Büchlein gelesen?“, spottete sie. „Ein Krieg hier in Deutschland? Super! Wo soll ich mich denn deiner Meinung nach verkriechen? Frankreich? England? Timbuktu?“ „Ein Krieg, der fast die ganze Welt umspannt“, erklärte Alec und zitierte damit die besagte Passage aus dem Thy’lar. „Sogar noch größer als der letzte.“ Erin hob eine Augenbraue und musterte ihn, als sei er komplett wahnsinnig. „Du glaubst doch nicht wirklich, dass die Menschen so dumm sind, einen zweiten Weltkrieg anzuzetteln, oder etwa doch?“ Alec verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich glaube, dass die Menschen extrem dumm sind.“ Erin erweckte zunächst den Anschein, als wollte sie protestieren, als wollte sie ihn dafür schelten, dass es so töricht war, dies auch nur eine Millisekunde zu glauben, aber schließlich ließ sie davon ab. Ihr war sehr wohl bewusst, dass Alec sowohl ein Buch gelesen hatte, dass bekanntlich die Zukunft voraussagte, als auch eine Vampirin kannte, die mehr über das Mysterium von Zeit und Raum wusste als vermutlich irgendein anderes Wesen auf diesem Planeten. Somit musste selbst Erin zugeben, dass man seine Voraussagen nicht einfach mit einem Schulterzucken abtun konnte. „Du willst mich also retten?“ Sie schüttelte ihren Kopf, als wäre dies eine absolut lächerliche Vorstellung, der man nicht mal eine Sekunde lang Glauben schenken sollte. „Ich kenne dich nicht mal.“ Alec schnaubte abfällig. „Was redest du denn da? Wir kennen uns schon seit Ewigkeiten, schon vergessen? Weißt du noch, wie deine Mutter mir bei unserer ersten Begegnung Säure ins Gesicht geschleudert hat? Und du standest daneben, noch ein ganz kleiner Stöpsel, und hast dich königlich amüsiert. Deine sadistische Ader war schon damals sehr ausgeprägt.“ Erin runzelte die Stirn. „Ich rede davon, dass ich dich nicht kenne, du Narr!“, zischelte sie. „Du bist wie ein Schatten, der nichts von sich preisgibt. Du redest gerne von Morden und Massakern, von den Dummheiten der Menschen und den Verrücktheiten der Welt. Du zählst gerne deine Eroberungen auf und die Lügen, mit denen du all diesen Frauen den Kopf verdreht hast. Du bist ein Krieger, ein Charmeur, ein Lausbub und ein Psychopath. Das weiß ich alles!“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Und doch kenne ich nicht den wahren Alec. Der, der sich hinter der Maske versteckt und sich nur ab und zu für ein paar Millisekunden zeigt. Der, der wahrscheinlich sogar so etwas ähnliches wie Gefühle oder zumindest ein einigermaßen annehmbares Gewissen hat.“ Alec verengte die Augen zu Schlitzen. Ihm gefiel die Richtung, in die das Gespräch ging, ganz und gar nicht. Sie hätte ihn nach der größten Peinlichkeit seines Lebens fragen können, nach seinen törichten und schwachen Momenten, die selbst ein Monster wie er an und ab hatte … doch das, was sie wissen wollte, lag so viel tiefer. „Woher kommst du?“, fragte sie nach. „Und wie lautet überhaupt dein Name? Dein richtiger Name!“ Alec knirschte mit den Zähnen. „Ich denke nicht –“ „Denken ist nicht unbedingt deine Stärke“, fiel sie ihm aufgebracht ins Wort. „Und für dich mag das heute vielleicht alles unwichtig sein, aber für mich ist es das nicht.“ „Was damals war, hat mit dem Hier und Jetzt nicht mehr das Geringste zu tun!“, erklärte Alec bissig. Er hasste es, darüber zu reden oder auch nur daran zu denken. „Es war eine andere Zeit, ein anderes Leben.“ Sie schwieg eine Weile und betrachtete ihn mit solch einer Intensität, dass es selbst einen Vampir wie ihm unangenehm wurde. Ohne dass er es wirklich kontrollieren konnte, wich er ihrem bohrenden Blick aus. „Warum fällt es euch so schwer, über eure Vergangenheit zu reden?“, wollte sie wissen. Alec verspürte plötzlich das dringende Bedürfnis, einfach zu gehen. Mochte er auch Melina noch so hoch und heilig versprochen haben, alles daran zu setzen, ihre Tochter zu retten, so hatte er sicherlich nicht damit gerechnet, dafür in die tiefen Abgründe seiner Seele eintauchen zu müssen. Er war ein Vampir und ein gegebenes Versprechen konnte ihm im Grunde einerlei sein. Er besaß ja nicht einmal so etwas wie Ehre. Doch er brauchte nur in Erins Augen zu schauen und schon fühlte er sich wie der letzte Dreckskerl, überhaupt nur darüber nachzudenken, sie im Stich zu lassen. Er hatte sie als kleines Mädchen kennengelernt, als junges Ding, das sich mit ungewöhnlichem Mut den Missständen der Zeit entgegengestellt hatte. Und je reifer sie geworden war, desto mehr hatte man sie bewundern müssen. Selbst Alec, der schon so manche beeindruckende Geschöpfe gesehen hatte, war es nicht anders ergangen. Und er verabscheute den Gedanken, dieses dumme und sture Mädchen einfach zugrunde gehen zu sehen. „Du bist eine Tortur, weißt du das eigentlich?“, hakte Alec nach. Erin lächelte leicht. „Das ist mir absolut bewusst.“ Alec blieb einen Augenblick stumm und beobachtete, wie sie sich kurz durch die Haare fuhr. Im Grunde eine banale Geste, doch ihre Hand zitterte derart stark, als hätte sie an jedem Finger ein Zehn-Kilo-Gewicht hängen. Es stand wirklich nicht gut um sie. Wenn die Krankheit weiter so rasch voranschritt, würde sie sehr viel eher im Grab landen als ihre Mutter. „Neyo!“, meinte er somit schließlich. Es war schwer, diesen Namen auszusprechen, wie er sogleich merkte. Ein Knoten entwickelte sich automatisch in seinem Hals, als wollte sein Körper ihn davon abhalten, weiterzureden. „Bitte was?“ Erin musterte ihn verwirrt, offenbar geistig ganz weit fort gewesen. „Neyo!“, wiederholte Alec zähneknirschend. „Das ist der Name des Idioten, den du unbedingt wissen wolltest.“ Erin blinzelte, anscheinend durchaus überrascht, dass der Vampir ihrer Aufforderung gefolgt war. Dann aber legte sich ein Lächeln auf ihre Lippen, das ein naiver Beobachter als harmlos und nett bezeichnet hätte, während ihm das spöttische Aufblitzen in ihren Augen völlig entgangen wäre. „Neyo war also ein Idiot?“, hakte sie nach, nicht mit einer gewissen Genugtuung in der Stimme. „Der größte von allen“, erklärte Alec schnaubend. „Aber er hatte einen sehr schönen Namen.“ „Wenn du meinst.“ Sie bedachte ihn daraufhin mit einem Blick, den er nicht so recht einzuordnen wusste. In ihren Zügen lag immer noch ein wenig Belustigung, aber auch etwas anderes schien durchzuscheinen. Nur kurz und schwach, aber dennoch präsent. „Wo ist Neyo geboren?“ Alec hatte Mühe, seine Hände nicht zu Fäusten zusammenzuballen, als er sagte: „Keine Ahnung. In irgendeiner schäbigen Gasse wahrscheinlich.“ Erin lehnte sich zurück. „Geht das auch was genauer?“ Alec knirschte lautstark mit den Zähnen. „Du stellst eine Menge lästiger Fragen, Erin!“ „Das ist eine meiner positivsten Eigenschaften“, erklärte sie mit einem Grinsen, das sicher strahlend wie die Sonne gewesen wäre, hätte sie noch genügend Kraft dafür aufbringen können. Stattdessen wirkte es matt und machte mehr als deutlich, dass ihr Körper immer schwächer wurde. „Schon einmal von Mystica gehört?“, wollte Alec wissen, während er mühevoll das dumpfe Gefühl in seiner Magengegend zu ignorieren versuchte. „Ich glaub, meine Mutter hat mir mal von diesen geheimen Provinzen erzählt“, entgegnete Erin zögernd. „Aber ich weiß nicht genau …“ „Es lag auf keltischem Gebiet“, meinte Alec. „Na ja, wenn man’s genau nimmt, nannte man es damals noch nicht wirklich keltisch. Das haben erst die Römer eingeführt. Die Menschen damals hatten keinen universellen Namen für das Gebiet.“ Er schwieg einen Moment. „Aber Mystica lag im Norden des heutigen Frankreich, ganz in der Nähe des Stammes der Morini.“[3] Erin sah ihn einen Augenblick einfach nur, ehe sie schließlich zu kichern begann. „Du bist Franzose?“ Alec rümpfte die Nase. „Kelte, Erin! Kelte!“ Er schüttelte den Kopf. „Konzentrier dich.“ Erin wirkte, als wollte sie noch etwas hinzufügen, vielleicht eine spitze Bemerkung oder irgendein stereotypisches Klischee, indem sie von Baguettes und Baskenmützen zu erzählen begann, doch sie hielt sich zurück. Stattdessen fragte sie, nun wieder deutlich ernster: „Hatte Neyo ein gutes Leben?“ Alec zog seine Mundwinkel nach unten. Er hasste es aus tiefstem Herzen, überhaupt darüber nachzudenken. „Manchmal schon“, antwortete er schließlich. „Eine Zeit lang war er fast schon überzeugt, endlich mal glücklich zu sein. Aber es war nicht von Dauer.“ Erin nickte leicht. „Hat er vieles in seinem Leben bereut?“ Alec ließ es sich nicht nehmen, lautstark mit den Zähnen zu knirschen und ihr somit mehr als deutlich zu machen, dass ihm der Verlauf des Gesprächs mit jeder Minute immer weniger zusagte, doch wie so oft ließ sich Erin nicht davon beeindrucken. Sie starrte ihn erwartungsvoll an und schien absolut bereit, eher hier und jetzt zu sterben, als Alec die Antwort zu ersparen. „Weißt du, Erinya, ich brauche deine Erlaubnis nicht, um dich zu verwandeln“, erinnerte sie der Vampir in einem drohenden Unterton. „Treib es also am besten nicht zu weit!“ Sie musterte ihn daraufhin unbeeindruckt. „Du würdest dich niemals gegen meinen Willen an mir vergreifen! In dieser Hinsicht hast du ein viel zu weiches Herz, auch wenn du das niemals zugeben würdest.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Also, hat Neyo vieles in seinem Leben bereut?“ Alec seufzte auf. „So einiges.“ „Was zum Beispiel?“ Alec rieb sich die Schläfen. „Na ja, er hat es bereut, nicht mehr aus seinem Leben gemacht zu haben. Er war ein ziemlicher Nichtsnutz, musst du wissen. Er lebte am Rande der Gesellschaft und selbst, als ein wohlhabender Mann ihn bei sich aufnahm, war er immer noch ein Diener. Er hat es niemals geschafft, sein Potenzial voll auszuschöpfen. Ein Narr, ohne jeden Zweifel.“ „Und doch klingt er sympathisch“, erwiderte Erin. „Ich hätte ihn gerne kennengelernt.“ Alec spürte, wie sich in seinem Inneren alles verkrampfte. Er wusste, dass sie nur darauf herumritt, um ihn zu quälen und aus der Reserve zu locken. Bei jedem anderen hätte er schon längst einen Schlussstrich gezogen und wäre gewalttätig geworden oder hätte sich zumindest zurückgezogen. Aber bei Erin war ihm das einfach nicht möglich. Stets sah er das kränkliche und ausgemergelte Gesicht von Melina vor sich, wie sie ihn mit letzter Kraft geradezu anflehte, ihrer Tochter einen schrecklichen Tod zu ersparen. Und sosehr ihm dieses Mädchen auch auf die Nerven fiel, so wollte er sie doch um nichts in der Welt auf diese grausame Art und Weise sterben sehen. „Wie war er so?“, wollte sie wissen. „Neyo? Wie gesagt, ein Nichtsnutz und ein Narr!“ Erin schnaubte. „Ein bisschen mehr brauche ich schon, Alec!“, entgegnete sie. „Haben die Leute ihn gemocht? Hat man sich bei Problemen und Sorgen an ihn gewandt? Oder war er ein Charmeur und Lügner, so wie du?“ Alec lehnte sich zurück. „Er war ganz und gar nicht wie ich“, zischte er. „Er hatte zwar ein freches Mundwerk, aber er war zuvorkommend und freundlich. Ihn hat es interessiert, wie es anderen Menschen ging. Er hat sich für die eingesetzt, die er liebte.“ Alec verengte seine Augen zu Schlitzen. „Wie gesagt, ein Narr!“ Erin aber lächelte, als sie sich näher zu ihm beugte und flüsterte: „Ich glaube, ihr beide habt mehr gemeinsam, als du ahnst.“ Alec verengte seine Augen zu Schlitzen. „Habe ich dir schon einmal gesagt, dass ich dich hasse, Erinya?“ Erin lachte auf, aber es war weder spöttisch noch herablassend, sondern es klang ehrlich und herzlich. Ehe er sich versah, strich sie mit ihrer Hand sanft über seine Wange und entgegnete: „Danke, Alec. Ich bin sicher, du hast noch nicht mit vielen über Neyo gesprochen, nicht wahr? Ich weiß es wirklich zu schätzen, dass ich eine Ausnahme bin.“ „Aber es ändert nichts, stimmt’s?“ Alec vermochte es bereits an ihrem Tonfall zu hören. „Ich werde mich niemals in einen Vampir verwandeln lassen“, stellte sie noch ein letztes Mal klar. „Auch wenn es wirklich süß ist, dass du es so angestrengt versuchst.“ Alec knirschte mit den Zähnen. „Und warum musste ich dir dann diesen ganzen Mist erzählen? Wolltest du mich einfach nur quälen?“ „Ich wollte einfach nur mal den wahren Alec kennenlernen, verstehst du?“, hakte sie nach. „Ich wollte nicht sterben, ohne zu wissen, wie du wirklich bist.“ Sie beugte sich vor und legte ihre Lippen auf die seinen. Nur ganz kurz, ein winziger Augenblick. Und es fühlte sich an wie ein Abschiedskuss. „Ich hasse dich immer noch“, flüsterte Alec, nachdem sie sich wieder etwas zurückgelehnt hatte. Erin lächelte daraufhin. „Dann wirst du mich wenigstens niemals vergessen.“ Sie starb am 24. Januar 1926. ******************************************** [1] Das „Krisenjahr“ 1923 war der erste große Tiefpunkt der noch jungen Weimarer Republik. Die Ruhrbesetzung durch französische und belgische Truppen, die immer stärker werdende Hyperinflation und die damit einhergehende Entwertung des Geldes sowie die zahllosen Aufstände im ganzen Land stürzten die Demokratie in eine schwere Krise. [2] Der „Hitler-Ludendorff-Putsch“ am 9. November 1923 in München war der Versuch der Nationalsozialisten, die krisengeschüttelte Regierung umzustürzen. Der Aufstand scheiterte jedoch und Hitler wurde für mehrere Monate ins Gefängnis geschickt, wo er begann, „Mein Kampf“ zu verfassen. [3] Die Morini waren ein keltischer Volksstamm, der am nördlichen Küstengebiet Galliens angesiedelt war und 53 v. Chr. durch Julius Caesar in das Römische Reich eingegliedert wurde. So, mein zweiter Oneshot innerhalb weniger Tage! Gut, diesen hier (und auch den letzten) hatte ich schon vor Ewigkeiten angefangen und jetzt auch endlich mal die Muse gefunden, sie zu beenden ^^ Ich hab auch noch ein paar andere angefangene OS auf meinem PC liegen, wo es mich gerade unter den Finger kitzelt, sie zu beenden - mal schauen, wie weit ich damit komme ;) Dann hoffe ich, dass dieser Oneshot einigermaßen gefallen hat! Ich hatte den Charakter von Erinya schon vor einiger Zeit ausgearbeitet und hatte überlegt, ihn in "Vergeltung" zu verwenden, fand dann aber, dass er nicht so wirklich da rein passt. Zumindest nicht unbedingt als Hauptprotagonist. Ein Gastauftritt ist dennoch im Bereich des Möglichen ;p So, euch dann noch einen schönen Sonntag! Kapitel 10: Das Monster im Inneren ---------------------------------- Manche Wahrheiten konnte man einfach nicht verstecken, sosehr man es sich vielleicht auch wünschte. Neyo hätte gerne einige Tatsachen aus seinem Leben vollkommen verbannt. Zum Beispiel der Fakt, dass seine Mutter ihn nicht genug geliebt hatte, um ihm einen Namen oder überhaupt eine Identität zu geben. Oder die Gewissheit, dass die ersten fünfzehn Jahre seines Lebens ein harter und unerbittlicher Überlebenskampf gewesen waren, was ihn zu Dingen gezwungen hatte, an die er nur ausgesprochen ungern dachte und die er gegenüber jemanden anderen noch niemals auch nur angedeutet hatte. Dinge, deren er sich schämte, die jedoch unabwendbar gewesen waren, um seinen Tod zu verhindern. Nun hingegen lebte Neyo in einer schönen Villa, und hatte Freunde, denen wirklich etwas an ihm lag und die ihn sicherlich nicht tot in einem Straßengraben liegen gelassen hätten. Eigentlich hätte er glücklich sein können. Zumindest so glücklich, wie es ein ehemaliges, misstrauisches und durchaus auch etwas traumatisiertes Straßenkind zu sein vermochte. Aber so hatte es nicht sein sollen. Seitdem er vor ein paar Tagen vor Claires Tür zusammengebrochen war und man ihm kurz darauf eröffnet hatte, dass ihm das Schicksal eines Untoten oder alternativ sein eigenes Ende bevorstand, hatte sich wieder alles verändert. Die kurze Phase der Zufriedenheit hatte sich aufgelöst, war wie weggeblasen. Erneut sah er sich einer ungewissen Zukunft gegenüber, die härter und grausamer war als jemals zuvor. Jyliere gab sich zuversichtlich, dass er eine Lösung für das Problem finden würde, aber Neyo konnte es nicht so recht glauben. Allein die Tatsache, dass sich Claire ab und an richtiggehend freundlich ihm gegenüber verhielt, machte mehr als deutlich, dass sein Tod wohl unmittelbar bevorstand. Wem sonst hätte sie etwas Nettigkeit entgegengebracht, wenn nicht einem Sterbenden? Und so war er offenbar verdammt, von dieser Welt zu scheiden. Im Grunde hätte es ihm nicht mal etwas ausmachen müssen, er war in seinen jungen Jahren dem Tod schon oft begegnet, doch wenn er an die Schmerzen dachte, an die Stimmen, die seinen Kopf beinahe zum explodieren gebracht hatten, wurde ihm wieder ganz schwindelig. So etwas hatte er noch nie zuvor empfunden, solch eine Qual, solch ein Leid. Und der Gedanke, auf diese Art und Weise zu sterben, ob es nun Tage, Stunden oder gar Minuten dauern würde, war einfach zu viel für ihn. Ein Albtraum, wie ihn sich niemand vorzustellen gedachte. Und so war es geschehen, dass er sich die letzten Tage regelrecht an Claires Fersen geheftet hatte. Er wusste, wie sehr es sie nervte, wie sehr sie seine Nähe hasste, aber gleichzeitig fügte sie sich Jylieres Anweisung, ohne sich übermäßig zu beschweren. In einem schwachen Moment hatte sie Neyo gegenüber sogar zugegeben, dass sein Tod ein unnötiges Übel sein würde, das allerlei unschöne und lästige Konsequenzen nach sich ziehen würde, auf die sie eigentlich keinerlei Lust hatte. Und aus ihrem Mund war diese Aussage tatsächlich ein Kompliment. Aber Neyo hatte auch etwas anderes in ihren Augen gesehen als das bloße Missfallen, eine Beerdigung organisieren zu müssen. Manchmal glaubte er, so etwas ähnliches wie Mitleid zu erkennen. Und auch Angst. Angst, dass er sich für ein untotes Leben entscheiden und ihr schließlich auflauern könnte wie Gorsco. Eine Furcht, die absurd und weit hergeholt und leider auch absolut real war. Denn die Alternativen, die Neyo offenstanden, waren nicht gerade rosig. Mochte die Magie, die Claire ausstrahlte, zunächst noch reichen, um wenigstens die Schmerzen zu unterdrücken, so war es doch nicht genug, um die Träume und Trugbilder zu verscheuchen. Schatten, die er in den Augenwinkeln sah. Eine kalte Brise, die ihm eine Gänsehaut einjagte und sicherlich mehr war als ein harmloser Luftzug. Neyo hatte Claire und auch Jyliere gegenüber nichts dergleichen erwähnt. Hatte nicht mal ansatzweise angedeutet, dass er drauf und dran war, seinen Verstand zu verlieren. Er hatte diese Gestalt immer und immer wieder in seinen Träumen gesehen und das schon seit dem Beginn seiner Schlaflosigkeit vor ein paar Monaten. Anfangs nur vage und undeutlich, aber je mehr Zeit verstrichen war, desto mehr Konturen hatte die Halluzination angenommen. Anfangs nur ein menschliches Antlitz hatte es inzwischen auch charakteristische Gesichtszüge entwickelt. Neyos Gesichtszüge! Ein Spiegelbild seiner Selbst. Tief verborgen in den hintersten Winkeln seiner Gedanken. Ein bedrohlicher Schatten, der immer mehr an Größe und Stärke gewann. „Du hast keine Macht über mich.“ Das sagte Neyo inzwischen jedes mal, wenn er dieser Gestalt gegenüberstand. Es gab ihm auf eine gewisse Weise Kraft und zumindest die Illusion, noch Kontrolle über sich selbst zu haben. Das letzte, woran er sich erinnerte, war, dass er sich in Claires Schlafzimmer auf die Couch gelegt hatte, die diese so weit wie möglich von ihrem Bett weggestellt hatte, gleichzeitig aber auch nah genug war, um Neyos Schmerzen nicht wieder hervorzurufen. Mit der üblichen, allabendlichen Ansprache, dass er seinen Blick am besten bloß auf den Boden richten sollte, wenn er an seinem Augenlicht hing, war sie schließlich ins Bett geschlüpft und unter der Decke verschwunden. Und dann war Neyo plötzlich ganz allein mit seinem finsteren, nächtlichen Begleiter gewesen. „Ich habe keine Macht über dich?“ Das Wesen lachte. Kalt. Herablassend. „Du kannst mir nicht entkommen, ganz gleich, wohin du auch gehst. Dein Ersatz-Papi und deine Magier-Freundin können nichts dagegen tun.“ Neyo rückte ein wenig zurück. Er saß immer noch auf der Couch in Claires Schlafzimmer, doch die Umgebung war schwarz und in tiefste Dunkelheit gehüllt, sodass sich Neyo gleich wie ein Gefangener vorkam. „Du weißt, wer ich bin, nicht wahr?“ Das Wesen trat zu ihm und kniete sich ein wenig hin. Neyo beobachtete jede seiner Bewegungen, während ihm die Tatsache, dass dieses Geschöpf sein Gesicht trug, beinahe wahnsinnig machte. Er sah die Überheblichkeit in seinen eigenen Augen, eine Rücksichtslosigkeit, die ihm selbst absolut fremd war. Neyo wandte seinen Blick ab und sagte nichts. Stets die Hoffnung, dass dieses Monster verschwand, wenn er es einfach ignorierte. „Wie nennst du mich in deinem kleinen Köpfchen? Albtraum?“ Man konnte förmlich spüren, wie es seine Lippen zu einem boshaften Grinsen verzog. „Und dabei schläfst du nicht einmal.“ Neyos Magen verkrampfte sich bei diesen Worten. Es mochte stimmen, dass er bereits seit Monaten Schlafprobleme hatte und gerade in der Nacht niemals Ruhe fand, dennoch weigerte er sich vehement, dieses Geschöpf als „Wahnvorstellung“ und „Halluzination“ zu bezeichnen. Denn wenn er sich dies eingestand, dann musste er auch zugeben, dass er allmählich seinen Verstand verlor. Und dabei war sein gesunder Menschenverstand mitunter das letzte, was ihm geblieben war. „Du bist wirklich ein sturer Bock, Neyo“, sagte das Wesen amüsiert. „Aber das gefällt mir an uns.“ Neyo hasste es, wie er stets das Wort uns aussprach. Es zeigte eine Verbindung, eine dunkle und unheilvolle Verknüpfung, die allgegenwärtig war. „Ich bin nicht du!“, zischte er daraufhin mit all der Überzeugung, die er noch übrig hatte. Und zu seinem eigenen Schrecken war das nicht mehr besonders viel. „Nur wenigen Lebewesen wird das Privileg zuteil, seine eigene Zukunft zu sehen, mein kleiner Freund“, fuhr das Wesen ungerührt fort. „Ich bin das, was aus dir wird. Das musst du einfach akzeptieren.“ Neyo schüttelte den Kopf, während er seinen Blick auf Claire heftete, die dort irgendwo unter der Decke verborgen war und friedlich schlief. Nichtsahnend, dass sie einen Mann in ihrem Zimmer beherbergte, der langsam verrückt wurde. „Du bist nur der dunkle Teil in mir, der versucht, mich zu verführen“, entgegnete Neyo bissig. „Du willst, dass ich dieses Leben aufgebe und dafür ein anderes wähle.“ „Ein besseres Leben!“, fügte die Kreatur an. „Ein totes Leben!“, zischte Neyo und kümmerte sich nicht darum, dass er seine Stimme erhob und somit unter Umständen Claire wecken würde. „Ich werde dann ein Untoter sein, ein Unsterblicher, ohne Gewissen oder einen Funken Liebe im Herzen. Ich habe diesen Gorsco mit meinen eigenen Augen gesehen und will ganz sicher nicht so werden wie er! Wie er oder Sharif oder sonst irgendwer dieser grausamen Monster!“ Das Wesen mit Neyos Gesicht verzog seine Lippen zu einem spöttischen Lächeln. „Du hast absolut keine Ahnung, wovon du sprichst. Du denkst, du würdest alles aufgeben, aber in Wahrheit gewinnst du so viel dazu!“ Neyo schnaubte abfällig. „Ich würde zu dir werden!“, meinte er zähneknirschend. „Und du wirst es gewiss nicht zulassen, dass ich noch weiter existiere, nicht wahr? Du würdest mich völlig auslöschen, während du gleichzeitig mein Gesicht trägst und mit meiner Stimme sprichst. Aber ich – ich wäre tot! Endgültig!“ Das Wesen lachte auf. „Ja, das wärst du“, stimmte es amüsiert zu. „Aber glaube mir, wenn es soweit ist, bist du glücklich darüber.“ Neyo verengte seine Augen zu Schlitzen. „Das wird niemals geschehen!“ Und dennoch spürte er Zweifel tief in seinem Inneren. Niemand wusste, was die Zukunft bringen würde, und so konnte auch er sich nicht ganz sicher sein, was das Schicksal für ihn bereithielt. Im Moment kam es ihm tatsächlich noch absolut unmöglich vor, dass er sich für das Leben als Vampir entscheiden würde, aber andererseits hatte er vor vielen Jahren auch niemals geglaubt, er könnte je von einem Edelmann aufgenommen werden. Manchmal kam alles anders, als man es sich vorstellte. „Es wird geschehen, Neyo“, flüsterte das Monster. „Es steht im Buch, es steht in den Sternen, es steht einfach überall.“ „Mein Name wird in diesem verdammten Buch nicht erwähnt“, zischte Neyo und wiederholte damit Jylieres Worte, die der Magier so voller Zuversicht ausgesprochen hatte. Für ihn war es ein Beweis gewesen, dass alles gut werden würde, und auch Neyo wollte unbedingt daran glauben. „Natürlich stehst du drin“, erwiderte die Kreatur belustigt. „Das weißt du doch schon von dem Moment, als du den Namen gehörst hast, nicht wahr? Den Namen, den du in Zukunft tragen wirst.“ Neyo fühlte, wie sich sein Magen verkrampfte. Er wollte einfach nicht daran denken, auch wenn ihm im Grunde seit geraumer Zeit kaum etwas anderes im Kopf herumspukte. Das Wesen lachte. Herzlos. „Also komm schon!“, forderte es ihn auf. „Nenn mich einfach Alec und damit hat es sich dann erledigt.“ Es blieb einen Augenblick ruhig, ehe es sich korrigierte: „Nenn uns einfach Alec!“ Neyo drehte sich angewidert weg. Er hatte zwar bisher noch nicht viel über die Sa’onti oder speziell Alec in Erfahrung gebracht, einfach weil er sich dagegen gesperrt hatte, tiefer nachzuforschen, aber dennoch wusste er mehr als genug, um den Gedanken, auch nur im entferntesten damit in Verbindung gebracht zu werden, als unerträglich zu empfinden. Es würde niemals dazu kommen! Es durfte einfach nicht sein. Aber das Monster hatte durchaus Recht, wenn es andeutete, dass Neyo bereits beim ersten Mal, als er Alecs Namen gehört hatte, sofort etwas gespürt hatte. Es war wie eine Erinnerung und gleichzeitig eine Vision von der Zukunft. Als würde man etwas per Zufall irgendwo erblicken – eine Skulptur, eine Kette, ein Schwert oder auch etwas vollkommen anderes – und man augenblicklich wusste, dass es einem eines schönen Tages gehören würde. Als wäre man füreinander bestimmt. „Du kannst dich solange dagegen auflehnen, wie du willst, es nützt dir alles nicht.“ Die Kreatur – Alec! – erhob sich und trat neben Claires Bett. „Eines Tages wirst du sie alle verraten. Deine Freunde, deine Familie – alle, die dir wichtig sind! Du wirst von Hass und Schmerz zerfressen sein und dich um nichts mehr scheren.“ Es streckte den Arm aus und war im Begriff, seine Hand auf Claires Haarschopf zu legen, der unter der Decke hervorlugte. Neyo war zwar bewusst, dass dieses Geschöpf nur in seiner Fantasie existierte und demnach keine feste Materie hatte, dennoch meldeten sich all seine Alarminstinkte, als er sich sofort ruckartig aufrichtete und bedrohlich zischte: „Lass sie in Frieden!“ Das Monster lachte amüsiert. „Du bist wirklich süß, Neyo! Und so naiv.“ Dennoch zog es seinen Arm zurück. „Du kennst nicht mal deinen eigenen Gefühle hier und jetzt, woher willst du also wissen, wie du in einigen Tagen oder Wochen empfinden wirst?“ Neyo knirschte mit den Zähnen. „Ich mag vielleicht nicht der moralischste Mensch auf der Welt sein, aber ich bin sicher kein Verräter!“ Alec schmunzelte. „Aber ich!“ Seine Stimme war bei diesen Worten derart leise, dass Neyo sie kaum zu verstehen vermochte. Dennoch hörte er die Drohung und auch die Versprechung daraus sofort. „Wir sind eins, Neyo, und daran wirst du nichts ändern können“, wisperte das Wesen, während es langsam begann, seine Form zu verlieren. „Das Buch hat sich noch niemals geirrt. Also genieße die Menschen-Zeit, die dir noch bleibt. Denn schon bald gehörst du mir!“ Neyo beobachtete, wie das Monster – die Halluzination, seine Zukunft – sich vor seinen Augen auflöste. Eigentlich hätte er Erleichterung empfinden sollen, doch der Knoten in seiner Brust blieb bestehen. Eher früher als später würde die Kreatur wieder zurückkommen, sodass es keinerlei Grund gab, sich über ihre kurze Abwesenheit zu freuen. Neyo schloss kurz die Augen, versuchte, das alles irgendwie zumindest für einen klitzekleinen Moment von sich wegzuschieben, doch es gelang ihm nicht. Die Stimme in seinem Kopf – seine eigene Stimme! – war einfach immer noch viel zu laut. Er blickte hinüber zu Claire, die sich in der Zwischenzeit keinen Zentimeter bewegt hatte. Offenbar hatte sie von dem Gespräch oder, wenn man es von ihrem Standpunkt aus betrachtete, von Neyos Selbstgespräch nicht das Geringste mitbekommen. Dort lag sie, so friedlich, so harmlos. Und Neyo fragte sich, ob es imstande sein könnte, sie zu verraten. Sie zu hintergehen, als wäre sie völlig bedeutungslos. Man kann nur die verletzen, die einen lieben, flüsterte die dämonische Stimme. Neyo rieb sich die Schläfen. Auch wenn Jyliere es immer wieder betonte, immer und immer wieder wiederholte, dass alles gut werden würde, so wusste Neyo doch, dass seine Zukunft dunkel und blutig sein würde. Er sah es in seinen Träumen, hörte es von seinen Halluzinationen, spürte es einfach tief in sich drin. Es blieb nur die Frage, wessen Blut letzten Endes fließen würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)