Die Welt im Wandel von Nochnoi (Oneshot-Sammlung zu "Dunkelheit/Vergeltung") ================================================================================ Kapitel 3: Euthalía ------------------- Theben, Griechenland (419 v. Chr.): „Warum sind wir eigentlich nochmal hier?“ Sharifs Stimme klang überaus genervt. Er hockte auf dem Rand des Brunnens und schaukelte sein Bein ungeduldig hin und her, während er finster dreinschaute. „Asrim hat uns hierherbestellt, schon vergessen?“ Alec musste sich bemühen, nicht allzu amüsiert zu klingen. Normalerweise war Sharif ein besonnener und ruhiger Mann, aber im Moment wirkte er wie ein trotziges Kleinkind. Ein Anblick, den man nur äußerst selten zu Gesicht bekam. „Also sei brav und hör auf, zu nörgeln.“ Sharif warf ihm daraufhin einen giftigen Blick zu. „Pass auf, was du sagst!“ Alec grinste breit, verkniff sich aber jeglichen Kommentar. Stattdessen ließ er seinen Blick schweifen. Es war zwar erst früher Morgen, aber in der Stadt herrschte bereits viel Betrieb. Überall verkehrten die Menschen und gingen ihrem Tagwerk nach. Alec entdeckte gewöhnliche Arbeiter und auch Sklaven, die sich mit zielgenauer Sicherheit durch die Straßen und Gassen bewegten, aber ebenso betuchtere Männer, welche sich in edle Stoffe gehüllt hatten, um aus der Masse herauszustechen. Am Erfreulichsten empfand Alec jedoch die jungen Mädchen, die zum Brunnen geschickt worden waren, um Wasser zu schöpfen. Eine beliebte Taktik von Eltern, um ihre hübschen und vor allen Dingen heiratsfähigen Töchter der Männerwelt zu präsentieren. Im Moment zwar ziemlich sinnlos, da sich ein Großteil der Männer nicht in der Stadt befand, aber dennoch immer wieder eine vielgenutzte Strategie. Alec lächelte einem besonders schönen Exemplar zu, das gerade an den Brunnen getreten war. Sie war vielleicht vierzehn Jahre alt, hatte hohe Wangenknochen, eine zarte Haut und wirkte allgemein wie das Sinnbild der Unschuld und Keuschheit. Als sie Alecs Blick bemerkte, errötete sie sofort und senkte rasch ihren Kopf. „Jetzt starr das arme Ding doch nicht so an“, meinte Sharif tadelnd. „Am Ende stolpert sie noch über einen Kieselstein, plumpst in den Brunnen und ertrinkt jämmerlich.“ Das Mädchen hob leicht seinen Blick und musterte Sharif neugierig. Wahrscheinlich war es der starke fremdländische Akzent, der ihr Interesse geweckt hatte. Sharif war zwar noch nicht lange in Griechenland, beherrschte die Sprache aber schon ausgesprochen gut. Seine ägyptische Herkunft konnte er hingegen nicht verleugnen. Zumindest noch nicht. Ein paar Monate oder auch Jahre des Trainings und sein Griechisch würde dermaßen tadellos sein, als hätte er noch nie zuvor ein anderes Land auch nur betreten. Alec hingegen befand sich schon mehrere Monate in diesem Land und hatte es irgendwie ins Herz geschlossen. Er mochte die Art der Menschen und besonders ihr Andersdenken. Sie gaben sich den schönen Dingen hin, liebten Philosophie, Literatur und Kunst, waren auf der anderen Seite aber auch erbitterte Krieger. Besonders in diesen turbulenten Zeiten, in denen sich die Athener und Spartaner gnadenlos bekriegten, wurde dies mehr als deutlich.[1] Auch Theben hatte sich dem Kampf verschrieben und sich entschieden gegen Athen gestellt. Auffällig war dies vor allem wegen dem Fehlen vieler Männer in der Stadt. Zwar war Theben immer noch reich bevölkert, aber zurzeit begegneten einem fast nur ausschließlich Junge, Alte und Frauen. „Und warum hat uns Asrim überhaupt hierherbestellt?“, fragte Sharif zischend. „Da hätte ich ja ebenso gut mit Oscar, Yasmine und den Zwillingen in Delphi bleiben und mir mal das Orakel anschauen können.“ Alec lächelte leicht. „Du weißt doch ganz genau, weswegen wir hier sind, nicht wahr?“ Sharif verzog sein Gesicht. „Ja“, gab er schließlich zu. „Aber warum müssen wir uns darum kümmern? Immerhin ist es sein Schicksal, nicht unseres. Soweit ich mich erinnere, stand im Ty’lyar nirgends geschrieben, dass wir beide eine entscheidende Rolle bei dem Ganzen spielen würden. Wir wurden in der Passage nicht mal erwähnt.“ „Diskriminierend, ich weiß“, entgegnete Alec grinsend. „Aber Asrim musste nun mal spontan weg. Er hat irgendetwas von einem alten Freund erzählt, der in Schwierigkeiten steckt. Keine Ahnung, was da los ist.“ Asrim hatte sogar leicht besorgt gewirkt. Offenbar war ihm dieser Jemand, den er aufsuchen musste, ausgesprochen wichtig. „Und wir armen Schweine müssen jetzt die Stellung halten.“ Er klopfte Sharif aufmunternd auf die Schulter, erntete daraufhin aber nur einen verärgerten Blick. „Jetzt schau nicht so verdrießlich. Ich glaube, dass Asrim einfach Angst hat, dass in der Zwischenzeit hier in Theben irgendwas geschehen könnte. Wir sind hier als … Aufpasser.“ „Und was soll passieren? Greifen die Athener bald an? Oder wieder die Perser?“ Alec zuckte mit den Schultern. „Alles ist möglich.“ Sharif schnaubte bloß und wandte sich schließlich ab. Eine Weile saßen sie einfach stumm nebeneinander und beobachteten das Treiben der Thebaner. In einem solch heißen Land wie Griechenland wurden besonders die Morgen- und Abendstunden für die Arbeit genutzt, während man sich mittags zurückzog. Alec hatte sich erst an diesen seltsamen Rhythmus der Menschen gewöhnen müssen, stammte er selbst immerhin aus einem Land, wo es morgens und abends meistens viel zu kalt war, um sich aus dem warmen Bett zu quälen. Sharif hingegen hatte damit offensichtlich keinerlei Probleme, was aber bei einem Ägypter auch nicht weiter verwunderlich war. Zum Teil war er sogar noch extremere Temperaturen gewöhnt. „Lass uns unsere Beine was vertreten“, schlug Sharif schließlich nach einer Zeit vor. Er war bereits aufgestanden und blickte Alec erwartungsvoll an. „Asrim wird uns so oder so wiederfinden, ob wir hier nun warten oder uns ein bisschen umsehen.“ Alec nickte zustimmend, ehe er sich ebenfalls hochhievte und seinem alten Freund folgte. Gemeinsam schritten sie gemächlich durch die Straßen, betrachteten interessiert die hellenische Baukunst und machten keinen Hehl daraus, dass sie nicht aus Theben stammten. Einige musterten sie zwar argwöhnisch – in Kriegszeiten waren viele misstrauischer als in Perioden des Friedens –, aber niemand sprach sie direkt an. Entweder erweckten die beiden Vampire auf die Einheimischen einen recht harmlosen Eindruck oder sie spürten unterschwellig, dass sie sich mit den zwei Fremden besser nicht anlegen sollten. Auch Menschen konnten sehr sensibel auf ihre Umgebung reagieren, auch wenn sie es selbst nicht immer bewusst merkten. Alecs Blick ruhte gerade auf einer prächtigen, bunten Statue, als er laute Stimmen vernahm. Die Wortgefechte hallten durch die Gassen und ließen nicht nur die Vampire aufhorchen. Interessiert näherten sich Alec und Sharif dem Tumult und entdeckten eine Straße weiter eine kleine Gruppe von Menschen, die lebhaft miteinander diskutierte. Sie redeten wild durcheinander, sodass selbst Alec Probleme hatte, dem Gespräch zu folgen. „Wirklich traurig, das Ganze“, meinte plötzlich ein alter Mann neben ihnen seufzend. Er war, zusammen mit einigen anderen Schaulustigen, neugierig nähergetreten und musterte die Szenerie. Sein zerfurchtes Gesicht wirkte mitleidig, während er die streitenden Männer beobachtete. „Wisst Ihr, worum es bei diesem Streit geht?“, erkundigte sich Alec bei ihm. Der Alte schaute ihn einen Augenblick verwirrt an, beinahe, als hätte er die Anwesenheit der Untoten gar nicht bemerkt. Dann aber meinte er: „Seht Ihr diesen Mann? Das ist Alkeós. Er lebt in meiner Nachbarschaft und ist schon immer ein guter und ehrbarer Mann gewesen. Er war zwar niemals vermögend und kann sich nicht mal einen Sklaven leisten, aber das schien ihn nie gestört zu haben. Er kam mir trotz allem immer glücklich vor.“ Er hielt einen Moment inne und hustete leise. „Aber dann starb vor wenigen Jahren seine Frau. Und nun auch noch das.“ Alec musterte den besagten Mann. Er war etwas älter, hatte bereits zahllose grauen Strähnen in seinem Haar und trug einen gestutzten Vollbart. Er war muskulös und kräftig, was auf ein Leben voller harter Arbeit schließen ließ. Und sein Blick war über alle Maßen entschlossen, als er die Männer anschrie, die ihn den Weg in das hinter ihnen gelegene Gebäude versperrten. Alkeós machte den Anschein, als wollte er unter allen Umständen ins Innere gelangen. „Was ist das für ein Gebäude?“, fragte Sharif. „Eine Art Gefängnis“, erklärte der alte Mann. „Dort werden die schlimmsten Verbrecher wie Mörder und Verräter festgehalten, bis die hohen Herrschaften entschieden haben, was mit ihnen passiert.“ Alec hob eine Augenbraue. „Und ist in dem Gebäude jemand, den Alkeós kennt?“ Der Greis seufzte. „Seine Tochter.“ „Seine … Tochter?“ Alec warf einen Blick zu Sharif, der ebenso verwundert schien wie er selbst. Der Alte nickte bestätigend. „Ein armes Ding. Ein armes, kleines Kind. Alkeós liebt seine Euthalía über alles und ich kann ihn durchaus verstehen. Sie ist ein Sonnenschein, war immer sehr freundlich zu mir. Aber leider ist sie …“ Als er nicht weitersprach, hakte Alec nach: „Ist sie was?“ „Krank“, erwiderte er seufzend. „Schwach im Kopf. Schon immer gewesen. Viele fürchten sich vor ihr, halten sie für verrückt und wahnsinnig. Alkeós hat das Kind immer so gut wie möglich vor anderen beschützt, nun aber sind Dinge geschehen, die alles zum Einsturz gebracht haben. Diogénis ist tot und niemand kann ihn wieder zum Leben erwecken. Nicht mal Alkeós.“ Alec runzelte die Stirn. „Habe ich das gerade richtig verstanden? Ist diese Euthalía etwa für den Tod eines anderen Menschen verantwortlich?“ Der alte Mann seufzte schwer und stützte sich auf seinen Gehstock. „Ich kann es selbst nicht glauben, aber die Beweise sprechen eine unmissverständliche Sprache. Und wenn ich ehrlich bin, ist das Ganze nicht mal verwunderlich. Euthalía ist ein durch und durch ungewöhnliches Mädchen. Meistens erscheint sie harmlos, singt vor sich hin, versinkt in ihre eigene Traumwelt, aber manchmal … manchmal ist sie einfach nur unheimlich. Dann grinst sie wie Hades, der sich eine Seele in die Unterwelt geholt hat. Sie wirkt in solchen Augenblicken wie ein Dämon.“ Alec lächelte leicht. Das klang nach einer Frau ganz nach seinem Geschmack. Als jedoch der alte Mann seine bereits etwas trüben Augen erneut ihm zuwandte, setzte er wieder eine neutrale Miene auf. „Sie redet dauernd merkwürdiges Zeug“, fuhr der Alte fort. Obwohl seine Stimme gemächlich war, erkannte Alec, dass es ihm Freude bereitete, dies alles zu erzählen. Er gehörte offenbar zu der Sorte Mensch, die gerne Klatsch verbreitete und sich in der Neugierde der anderen sonnte. Es waren inzwischen sogar einige weitere Thebaner näher herangetreten, um der Geschichte interessiert zu lauschen. „Und vor wenigen Tagen hat sie die Warnung ausgesprochen, dass Diogénis sterben würde“, meinte der Greis. „Der Sohn eines ansässigen Händlers. Ein netter Mann, aber auch ziemlich streng.“ Er zog eine Grimasse, was Alec vermuten ließ, dass er mit dem Besagten in der Vergangenheit bereits unangenehm zusammengestoßen war. „Natürlich glaubte niemand Euthalías Geschwätz. Wieso auch hätten wir das tun sollen? Aber dann …“ „Dann wurde Diogénis tot aufgefunden“, mutmaßte Sharif. „In einer dunklen Gasse. Von hinten erstochen.“ Der Alte nickte kräftig. „Und selbstverständlich hat jeder sofort Euthalía in Verdacht gehabt. Woher sonst hätte sie es auch wissen sollen, wenn sie es nicht selbst geplant hat?“ „Aber warum hätte sie es dann vorher herausposaunen sollen?“, erkundigte sich ein kleiner Knabe, der zuvor fasziniert zugehört hatte. „Wer ist denn so dumm und verrät sich bereits im Voraus?“ „Wie gesagt, Euthalía ist schwachen Geistes“, sagte der alte Mann. „Sie hat sich wahrscheinlich nichts dabei gedacht. Im Grunde kann sich niemand vorstellen, was im Kopf dieses Mädchens vorgeht. Fakt ist jedoch, dass es einen Augenzeugen gibt. Kleantes, der Bruder des Opfers. Er schwört beim Leben der Götter, dass er gesehen hat, wie Euthalía Diogénis erstach.“ Mit diesen Worten deutete er auf einen kleinen, rundlichen Mann, der direkt vor Alkeós stand und ihm den Weg versperrte. Sein Haar war schüttern, sein Gesicht verkniffen und gerötet. Die Arme vor der Brust verschränkt, musterte er den verzweifelten Vater intensiv. In seinen dunklen Augen lag Verärgerung. Jedoch wahrscheinlich weniger wegen des Ablebens des Bruders, als vielmehr wegen der unnötigen Aufmerksamkeit, die Alkeós erregte. Ab und zu huschte sein unruhiger Blick über die Menge an Schaulustigen, die sich versammelt hatte. Alec trat unauffällig etwas näher an die Szene heran, dicht gefolgt von Sharif, der offenbar froh war, endlich ein bisschen Ablenkung zu haben und nicht beim Warten auf Asrim vor Langeweile zu vergehen. „Jetzt hör auf mit dem Theater, Alkeós“, meinte Kleantes soeben. Seine Stimme war schneidend, während er den Mann, der gut einen Kopf größer war als er selbst, scharf ins Visier nahm. „Deine Aufregung ist durch und durch unnötig und beleidigt außerdem das Ansehen meines Bruders. Wie kannst du es überhaupt wagen, dich auf die Seite einer Mörderin zu stellen?“ „Mörderin?“ Alkeós zischelte inzwischen dermaßen leise, dass nur Kleantes und die Vampire mit ihrem empfindlichen Gehör ihn noch zu verstehen vermochten. „Jeder hier weiß, dass du deinen Bruder gehasst hast. Dass du vor Neid zerfressen warst. Sein Tod kommt dir ziemlich gelegen, nicht wahr? Ich persönlich finde das ausgesprochen verdächtig, zumal du außerdem der einzige Augenzeuge bist.“ Kleantes lief bei dieser Anschuldigung rot an. „Sei vorsichtig mit dem, was du sagst! Die Götter bestrafen Lügner sofort.“ Alkeós lachte freudlos auf. „Dann muss sich ja jede Sekunde ein tiefer Abgrund unter dir auftun.“ Kleantes war offenbar kurz davor, die Beherrschung zu verlieren. Sein feistes Gesicht gewann zusehends an Farbe, sodass man fast hätte befürchten können, er würde in der nächsten Sekunde einen Herzanfall erleiden. Etwas, das sich anscheinend auch Alkeós erhoffte, wenn man seine Miene betrachtete. „Was hätte Euthalía für einen Grund gehabt, Diogénis zu ermorden?“, wollte dieser wissen. „Sie kannte ihn doch nicht mal wirklich. Sie haben höchstens ein paar Worte miteinander gewechselt.“ „Deine Tochter ist nun mal verrückt!“, stieß Kleantes aufgebracht hervor. „Sie braucht nicht mal einen Grund, sie hat es einfach getan. Oder kannst du mir sagen, aus welchem Grund sie immer so verträumt durch die Gegend schaut und mit Leuten redet, die gar nicht existieren?“ Er wartete einen Augenblick ab, ehe er fauchte: „Siehst du? Du magst deine Tochter vielleicht lieben, aber du verstehst sie nicht! Niemand tut das. Nicht mal deine Frau. Sie kam vor mehreren Jahren zu mir und klagte weinend ihr Leid, dass sie manchmal Angst vor ihrer eigenen Tochter hätte. Schon damals hätte ich erkennen müssen, dass sie eine Gefahr darstellt. Man hätte sie wegsperren sollen.“ Alkeós schrie wutentbrannt auf und wollte sich auf Kleantes stürzen, doch zwei der Wachtposten ergriffen ihn bei den Armen und hielten ihn zurück. Beruhigend redeten sie auf ihn ein, um seinen Zorn zu beschwichtigen. Kleantes derweil lächelte selbstzufrieden. „Euthalía ist geisteskrank, sieh es endlich ein! Schon seit wir sie gefangen genommen haben, erzählt sie ohne Unterlass irgendwelchen Quatsch. Davon, dass tote Menschen in der Stadt umherwandeln, dass Zauberwesen mit Namen Sharif und Alec sie retten würden …“ Alec spürte, wie Sharif unwillkürlich zusammenzuckte und schließlich einen verblüfften Blick mit seinem Freund wechselte. Einen Moment sahen sie sich nur schweigend an, dann aber zogen sie sich langsam zurück. Als sie die Menschenmenge schließlich hinter sich gelassen hatten, meinte Sharif: „Was hältst du davon?“ Alec legte den Kopf schief. „Ich denke, wir sollten dieser Euthalía einen Besuch abstatten.“ * * * Es war bereits stockdunkel, als die Vampire das Gefängnis betraten. Nichts und niemand stellte sich ihnen hierbei in den Weg. Zwar trafen sie vereinzelt einige Männer an – besonders schon etwas ältere, da viele der jüngeren in den Krieg gezogen waren –, aber da sich Alec und Sharif in den Schatten bewegten, nahm man sie nicht wahr. Alec ging sogar bloß wenige Zentimeter an einem Wächter vorbei, der daraufhin nicht mal blinzelte. Das Gebäude erwies sich als größer, als es von außen den Anschein gemacht hatte. Alec vermutete stark, dass es eigentlich nicht vorrangig als Gefängnis gedacht gewesen war. Dafür war die Ausstattung viel zu edel, die Architektur viel zu aufwendig. Wahrscheinlicher war einfach, dass das eigentliche Gefängnis zurzeit aus irgendeinem Grund nicht zur Verfügung stand und somit kurzerhand ein anderes Gebäude umfunktioniert worden war. Die Gefangene zu finden, war wahrlich nicht schwer. Alec folgte einfach dem Geruch, den er auch schon vage an Alkeós wahrgenommen hatte. Außerdem war Euthalía die einzige weibliche Person in dem Gebäude, was es für den Vampir nicht sonderlich schwer machte, ihre Spur aufzunehmen. Binnen weniger Augenblicke standen sie bereits vor einer schweren Eisentür, die man mit einem großen Riegel verschlossen hatte. Sharif schaute kurz den leeren Gang hinunter, ob nicht doch irgendwo ein unerwünschter Besucher auftauchte, ehe er mit Leichtigkeit das Schloss öffnete und die Tür aufstieß. Trotz der durchdringenden Dunkelheit konnte Alec das Innere des dahinterliegenden Zimmers bestens erkennen. Es war mit Marmor verkleidet, besaß einige extravagante Möbel und hohe Fenster. Dieser Raum war sicherlich normalerweise nicht dafür vorgesehen gewesen, Verbrecher zu beherbergen. Es war jedoch nicht die Inneneinrichtung, die Alecs Interesse weckte, sondern die zierliche Gestalt, die auf einer Decke auf dem Boden hockte und die Eintretenden neugierig musterte. Es handelte sich um eine Frau, etwa Mitte zwanzig, mit langen, dunklen Haaren und unglaublich intensiven Augen. Gehüllt war sie bloß in einen luftigen Chiton[2] und ein dünnes Mäntelchen, was den Schluss zuließ, dass man sie zu nachtschlafender Zeit unsanft aus ihrem Bett gezerrt hatte. „Ihr habt euch Zeit gelassen“, sagte sie, nachdem Sharif die Tür hinter sich wieder geschlossen hatte. Elegant stand sie auf und ging auf sie zu. Dabei fixierte sie sie genau, als würde sie die Finsternis nicht im Geringsten stören. Alec schenkte ihr ein breites Lächeln. Wenn alle geistesgestörten Damen dermaßen aufreizend waren, musste er dringend noch ein paar mehr kennenlernen. „Du hast uns also schon erwartet?“, erkundigte sich Sharif. Er verhielt sich völlig ruhig, als Euthalía vor ihm stehenblieb und ihm sanft über die Wange strich, als wollte sie in der Dunkelheit die Konturen seines Gesichts erahnen. „Ihr mich etwa nicht?“, fragte sie lächelnd. Sharif murmelte daraufhin etwas, doch Alec hörte ihm gar nicht zu. Stattdessen bemerkte er, wenig überrascht, die Aura der Magie, die Euthalía umgab. Offenbar handelte es sich bei ihr um eine Magierin, die die Ströme der Zeit zumindest ansatzweise fühlen konnte. Deswegen hatte sie auch den Tod Diogénis‘ vorausgesehen, obwohl sie selbst wahrscheinlich überhaupt nichts damit zu tun gehabt hatte. „Du bist eine Magierin“, stellte Alec fest, während er sich gleichzeitig wünschte, Euthalía würde auch mal zu ihm kommen und ihn in der Finsternis ertasten. Aber sie verharrte neben Sharif, als könnte nichts auf der Welt sie von ihm losreißen. „Gut erkannt, Alec“, sagte sie in einem Tonfall, als würde sie ein Kleinkind loben. „Schon mein Leben lang bin ich anders als die anderen. Sie halten mich für verrückt und irre, aber in Wahrheit sehen sie einfach nicht das, was ich sehe. Sie sind dumm, blind und bloß von beschränktem Verstand. Im Grunde bemitleidenswert.“ Alec wurde das Gefühl nicht los, dass sie dabei auch die Vampire nicht ausschloss. Eigentlich hätte er sich gekränkt fühlen müssen, doch er sah darüber hinweg. Ihr Lächeln war dermaßen bezaubernd und glich tatsächlich einem schadenfrohen Hades, sodass er ihr einfach nicht böse sein konnte. „Und du bist eine Sa’onti“, meinte Sharif plötzlich. „Der Prozess hat bei dir zwar gerade erst angefangen, aber ich kann es fühlen. Zumindest vage.“ Alec spürte zwar nichts, aber das verwunderte ihn nicht weiter. Sharif stand immerhin direkt neben Euthalía. Alec hingegen konnte nur ihre magische Aura wahrnehmen, die wahrscheinlich momentan ihre erwachten Fähigkeiten einer Sa’onti überschatteten, sofern man sie nicht aus nächster Nähe untersuchte. „Ich weiß, was ich bin“, meinte Euthalía. Sie klang sogar ein wenig beleidigt, als hätte Sharif in irgendeiner Weise ihren gesunden Menschenverstand angezweifelt. „Magierin, Sa’onti, Kind Asrims und der Schrecken der zukünftigen Welt. Und ich freue mich schon sehr darauf. Man wird vor mir erzittern.“ Sharif runzelte die Stirn und schien augenscheinlich nicht zu wissen, was er von der Frau halten sollte. Auch Alec musste zugeben, dass er ein wenig überfordert war. Mit so etwas hatte er einfach nicht gerechnet. „Na ja …“, meinte er schließlich zögernd. „Dann müssen wir dir ja wohl nichts mehr erklären, was? Eine angenehme Abwechslung.“ Hierbei kam ihm vor allen Dingen Oscar in den Sinn. Er war damals fast schon am Ende seiner Kräfte gewesen, halb wahnsinnig und kaum mehr als ein Schatten. Dennoch hatte er sich mit aller Macht gegen Asrims Worte gewehrt, hatte ihn als Dämon und Monster beschimpft. Asrim hatte lange gebraucht, um ihn zu überreden. Über mehrere Stunden hatte er neben dem leidenden Oscar gesessen und ihm alles erzählt: Das Wesen der Sa’onti, seine eigene Geschichte und die Verwandlung von Sharif und Alec. Auch Yasmine und die Zwillinge waren nicht so einfach zu überzeugen gewesen. Immerhin war es zunächst schwer zu verkraften, zu erfahren, dass man im Grunde für ein untotes Leben bestimmt war. Ebenso bei Alec hatte sich der Prozess länger hingezogen, auch wenn er sich ungern an seine menschliche Zeit erinnerte. Zuerst war er geschockt gewesen und hatte sich vehement gesträubt, ehe die Umstände seine Meinung geändert hatten. Euthalía hingegen machte nicht den Anschein, als würde sie sie für Dämonen und Monster halten. Im Gegenteil, sie strahlte sie überglücklich an. Alec war sicher, dass sich noch niemand jemals dermaßen gefreut hatte, sie zu sehen. „Also, wenn das so ist …“, begann Sharif, „dann würde ich sagen, dass wir von hier verschwinden. Asrim ist sicher gespannt, dich kennenzulernen.“ „Oh ja, bestimmt. Immerhin bin ich einzigartig.“ Euthalía kicherte wie ein kleines Mädchen. „Aber wir können noch nicht gehen.“ „Wieso nicht?“, hakte Alec nach. Euthalía musterte ihn daraufhin, als hätte er eine selten dumme Frage gestellt. „Na, weil mein Vater noch kommt“, erklärte sie in einem Tonfall, als würde sie mit einem begriffsstutzigen Kind reden. „Dein … Vater?“ „Natürlich.“ Sie rutschte etwas näher zu Sharif und schenkte ihm ein umwerfendes Lächeln, welches dieser jedoch nur gequält erwiderte. „Er kommt, um mich zu retten. Und ich will ihm den Spaß sicher nicht nehmen.“ „Aber wir können dich hier herausholen“, entgegnete Alec. „Dein Vater braucht sich wirklich nicht in Gefahr zu begeben. Das wäre völlig unnötig.“ „Ich weiß“, meinte Euthalía nickend. „Aber trotzdem muss es geschehen.“ Alec schaute mit gerunzelter Stirn zu Sharif, der nur hilflos mit den Schultern zucken konnte. „Aber … das ergibt keinen Sinn.“ „Ich weiß“, gab Euthalía zu. „Das Wenigste, was ich tue, wird für euch einen Sinn ergeben. Daran müsst ihr euch einfach gewöhnen.“ Sie schwieg kurz und wiegte ihren Kopf hin und her. „Mein Vater hat das Gefühl, mich retten zu müssen. Er denkt, es wäre alles seine Schuld. Er glaubt, mich niemals richtig geliebt, mir niemals die nötige Aufmerksamkeit geschenkt zu haben. Das ist zwar alles Quatsch, aber er ist davon besessen. Seine Schuldgefühle kann ich schon den ganzen Tag mehr als deutlich spüren.“ Sie wickelte eine Strähne ihres Haares um ihren Finger. „Er ist von dem Wunsch beseelt, mich zu befreien. Also lasse ich ihn gewähren. Um seinetwillen. Damit er vielleicht endlich wieder ruhig schlafen kann.“ Alec hob eine Augenbraue. „Aber das ist … völlig idiotisch!“ „Das ist es“, stimmte Euthalía zu. „Menschen verhalten sich oft ausgesprochen unlogisch. Und jetzt ab mit euch in die Ecke!“ Sie stieß Sharif wenig sanft gegen die Wand und zerrte auch Alec von seinem Platz fort. „Seid einfach still, in Ordnung? Wenn ihr brav seid, bekommt ihr nachher auch ein Leckerchen und Streicheleinheiten.“ Sie lachte auf und hüpfte summend zu ihrer Decke zurück. Alec hatte sich derweil zu Sharif gedreht und fragte, leicht beunruhigt: „Leckerchen?“ „Streicheleinheiten?“, erwiderte der Ägypter daraufhin. Alec schüttelte bloß seinen Kopf. „Bei allen Göttern, die Frau ist absolut wahnsinnig.“ „Das kannst du laut sagen“, meinte Sharif, während er bekräftigend nickte. Sein Blick ruhte unablässig auf Euthalía, die wieder im Schneidersitz auf dem Boden saß, sich durch ihr Haar strich und leise vor sich hinmurmelte. Alec konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. „Du stehst auf sie, nicht wahr?“ „Ach, halt die Klappe!“ Alec wollte mit seinen Sticheleien weiter fortfahren, verstummte aber, als plötzlich von außen jemand die Tür öffnete. Knarrend bewegte sie sich und eine große Gestalt schlüpfte in den Raum. Atemlos, mit einem erhöhten Herzschlag und sichtlich aufgeregt. Der Geruch von Unruhe und Nervosität stieg Alec sofort in die Nase. „Euthalía!“, flüsterte Alkeós, als er seine Tochter entdeckte. Sofort stürmte er zu ihr und nahm sie in den Arm. „Es tut mir leid. Es tut mir so leid.“ „Warum entschuldigst du dich denn?“, fragte Euthalía. „Du hast doch überhaupt nicht verbrochen.“ Sie lachte unterdrückt. „Du bist so merkwürdig, Vater. Willst du die Schuld der ganzen Welt auf dich nehmen?“ „Mich bezeichnest du als merkwürdig?“, hakte Alkeós ungläubig nach. Und auch Alec fand, dass dies eine überaus berechtigte Frage war. „Jeder in diesem Raum ist merkwürdig, abgesehen von mir“, meinte Euthalía mit einem verschlagenen Lächeln. Alkeós schüttelte bloß den Kopf und half ihr auf die Beine. Unruhig ließ er seinen Blick schweifen, konnte aber die beiden Vampire nicht erspähen, die sich in der Dunkelheit versteckt hielten. Im Irrglauben, völlig allein zu sein, hob er die Decke vom Boden und legte sie auf die Schulter seiner leicht bekleideten Tochter, ehe er sie zur Tür schob und mir ihr nach draußen ging. Sharif starrte den beiden derweil hinterher. „Und was machen wir jetzt? Trotten wir ihnen nach, bis dieser glückliche Vater-Tochter-Moment vorbei ist?“ Alec zuckte mit den Schultern. „Warum nicht? Hast du was Besseres vor?“ Sein Freund wusste darauf keine Antwort, sodass er sich wortlos in Bewegung setzte und den zwei Menschen unauffällig folgte. Auch Alec tat es ihm nach. Während sie sich auf dem Weg nach einem Ausgang befanden, veranstalteten Alkeós und Euthalía dermaßen viel Lärm, dass Alec bloß den Kopf schütteln konnte. Zwar waren sie für menschliche Verhältnisse wirklich extrem leise, doch der Vampir fragte sich immer wieder erneut, wie man dermaßen zurückgebliebene Sinne haben konnte, dass man solch einen Krach nicht zu hören vermochte. Das Rascheln ihrer Gewänder, das Schlurfen ihrer Sandalen, Alkeós‘ schnelle Atmung, sein laut klopfendes Herz … Und offenbar, sehr zu Alecs Überraschung, hatte man sie doch gehört. Sie standen direkt hinter der nächsten Biegung. Dermaßen aufgereiht und erwartungsvoll, dass man annehmen konnte, dass sie nur auf die Flüchtenden gewartet hatten. „Ich hatte mir schon gedacht, dass du eine Dummheit begehen würdest, Alkeós.“ Kleantes‘ Stimme troff geradezu über vor Gehässigkeit. Selbstzufrieden trat er einen Schritt nach vorne und betrachtete Vater und Tochter herablassend. „Du hättest es besser wissen sollen. Niemand schafft es, ungesehen von hier zu fliehen.“ Alkeós schnaubte, während er Euthalía schützend in seine Arme zog. „Ich musste es wenigstens versuchen. Man kann von einem Vater nicht verlangen, dass er tatenlos zusieht, wie sein Kind zu Unrecht bestraft wird.“ „Zu Unrecht?“ Kleantes lachte spöttisch auf. „Wir beide wissen sehr wohl, dass deine Tochter keine unschuldige Blume ist, wie ihr Name es vermuten lässt[3]. Sie ist eine Gefahr für sich und andere. Erzählt sie nicht immer wieder, dass sie die Menschen eines Tages in Angst und Schrecken versetzen wird?“ Alkeós verengte seine Augen zu Schlitzen, während Kleantes weiterhin überlegen lächelte und sich offenbar wie der König der Welt fühlte. Die versammelten Wachtposten hinter ihm sahen hingegen nicht allzu erfreut aus. Ihnen missfiel wohl der Gedanke, Alkeós seine Tochter aus dem Arm reißen zu müssen. Sie konnten wahrscheinlich sehr gut nachempfinden, was er in diesem Moment fühlte, und spürten im Gegensatz zu Kleantes bei dieser Vorstellung keine Genugtuung. „Du bist ein Narr, Kleantes.“ Euthalías Stimme klang wie ein scharfes Messer. „Ein dummer, fetter Narr.“ Der Angesprochene lief bei dieser Beleidigung rot an. „Wie kannst du es wagen, du mörderisches Miststück?“ Euthalía aber ließ sich nicht einschüchtern. Sie rückte ein Stück von ihrem Vater ab und musterte Kleantes von oben herab, als wäre er nur ein bedeutungsloser Wurm. „Denkst du wirklich, du könntest mich aufhalten? Du bist nur ein wertloses Stück Dreck, das es nicht verdient, dieselbe Luft wie wir anderen zu atmen. Deine Worte sind wie Gift. Schleichendes, schleimiges Gift.“ Das war eindeutig zu viel für Kleantes. Es machte den Anschein, als würde in der nächsten Sekunde sein Kopf explodieren, dermaßen aufgebracht war er. Er wollte das Kurzschwert eines Wächters packen und sich wohl ohne Rücksicht auf Verluste auf Euthalía stürzen, doch bevor er überhaupt dazu kam, den Griff zu packen, hielt er plötzlich inne. Wie zur Steinstaue erstarrt stand er dort, auf seinem Gesicht ein Ausdruck großen Erstaunens. „Du solltest mich nicht unterschätzen, Kleantes“, sagte Euthalía lächelnd. „Das bekommt dir nicht gut.“ Kleantes wollte etwas sagen, aber aus seinem Mund kamen keine verständlichen Worte. Dafür hatte ihn Euthalías Magie viel zu sehr im Griff. Sie hatte seinen Körper unter Kontrolle und hätte ihn wahrscheinlich dazu bringen können, in der Nase zu bohren oder einen Handstand zu vollführen. Es gab sogar Magier, die ihre Opfer dazu zu bewegen vermochten, von einer Klippe zu springen oder sich einen Dolch ins Herz zu jagen, doch so viel Macht besaß Euthalía nicht. Zumindest noch nicht. Wäre sie erst mal eine Vampirin, sähe das Ganze vielleicht schon anders aus. „Aber ich bin im Moment nicht dein Problem“, fuhr Euthalía fort. „Sondern vielmehr die Götter. Du hast eine schwere Sünde begangen und musst bestraft werden.“ Sie blickte auffordernd zu den Vampiren, die sie trotz alledem offenbar bestens erkennen konnte. Alec nickte verstehend und grinste teuflisch, ehe er Kleantes an der Schulter packte und in den Schatten zog. Der feiste Mann stieß einen überraschten Schrei aus, war aber ansonsten viel zu schockiert, um in irgendeiner Weise zu reagieren. Die anwesenden Menschen derweil blickten angesichts von Kleantes‘ plötzlichen Verschwinden erstaunt drein und wussten offenbar nicht, was vor sich ging. Nur Euthalía lächelte wissend und beobachtete amüsiert das Tun der Vampire. „Wer … wer seid ihr?“, fragte Kleantes erstickt. Mit zunehmender Panik musterte er die Untoten, während sein Körper unaufhörlich zu zittern begann. Die Menschen horchten inzwischen auf, als sie Kleantes‘ Stimme vernahmen. Zwar durch die Dunkelheit etwas gedämpft und bei weitem nicht so klar und dröhnend wie noch vorhin, dennoch hatten sie ihn deutlich gehört. „Wer wir sind?“, fragte Alec grinsend. „Hm, was denkst du denn, kleiner Mensch?“ Kleantes bebte, während er ängstlich Alecs Augen musterte, die denen eines hungrigen Raubtieres nicht unähnlich waren. Wahrscheinlich malte er sich gerade sehr fantasievoll aus, wie die Vampire ihn in tausend Stücke zerfetzten. Und wenn Alec ehrlich zu sich war, hätte er dazu nicht übel Lust gehabt. Solche niederträchtigen und skrupellosen Kerle waren ihm immer schon zuwider gewesen. „Dike[4] ist im Moment nicht besonders gut auf dich zu sprechen“, sagte Alec unheilvoll. Kleantes wimmerte beim Namen der Göttin der Gerechtigkeit auf. Offenbar konnte er sich sehr gut vorstellen, weswegen Dike verärgert sein könnte. „Hat … hat sie euch etwa geschickt?“, fragte Kleantes winselnd, während er panisch von einem zum anderen blickte. „Vielleicht“, meinte Alec, dem dieses Katz-und-Maus-Spielchen mit jeder Sekunde besser gefiel. Die furchtbare Angst dieses Mannes vor der göttlichen Strafe war unglaublich berauschend. „Aber um Dike geht es eigentlich nicht. Sie ist viel zu weise und gerecht, als dass es ein dreckiger Hund wie du verdient hättest.“ Er lächelte dämonisch. „Dafür hast du aber Tisiphones[5] Interesse geweckt.“ Kleantes zuckte zusammen. Er sah die Rachegöttin vermutlich deutlich vor sich, die nicht gerade für ihr Mitleid bekannt geworden war. „Du weißt ja, wie Tisiphone ist“, meinte Alec theatralisch seufzend. „Es fällt ihr unsagbar schwer, seelenlosen Mördern zu verzeihen, wie du einer bist. Schmutziges Gewürm wie dich verbannt sie normalerweise in die Tiefen des Hades, wo grausame Qualen auf die Verbrecher warten.“ Kleantes wimmerte leise, während er mit jedem Augenblick winziger zu werden schien. „Vielleicht wird sie dich zwingen, deine eigenen Innereien zu verspeisen.“ Alec zuckte mit den Schultern. „Oder sie wird dir bei lebendigen Leib die Haut abziehen, immer und immer wieder, bis die Schmerzen dich völlig wahnsinnig machen. Aber sie wird keine Gnade zeigen, sondern unaufhörlich weitermachen. Nicht mal der Tod wird eine Erlösung für dich sein.“ „Du wirst schreien und weinen und jammern wie ein Baby, doch niemand wird kommen, um dich zu retten“, stieg nun auch Sharif mit ein. Seine Augen leuchteten hell und bedrohlich. „Du wirst vollkommen alleine sein. Keinen wird dein Leid interessieren.“ „Und das bis in alle Ewigkeit“, schloss Alec lächelnd. „Und glaube mir, mein mörderischer Freund, die Ewigkeit ist lang. Unsagbar lang. Als würdest du Millionen Leben leben. Millionen schmerzerfüllte und unglaublich schreckliche Leben.“ Nun war es endgültig um Kleantes geschehen. Tränen der Furcht rannen seine roten Wangen hinunter, während seine Augen tiefe und blanke Angst widerspiegelten. „Wie … wie kann ich …?“ „… das Ganze widergutmachen?“ Alec legte den Kopf schief. „Mit der Wahrheit, Kleantes. Nimm die Schuld auf dich und gib Euthalía frei. Dann werden dir die Götter vielleicht noch verzeihen können.“ Kleantes schloss die Augen und nickte heftig. Alec ließ ihn daraufhin los und er stolperte aus dem Schatten, was er jedoch gar nicht wahrzunehmen schien. Stattdessen sank er auf die Knie und faltete seine Hände wie zum Gebet. „Ich bin ein Mörder und Lügner“, gestand Kleantes mit zittriger Stimme. „Ich habe meinen Bruder getötet! Ich ganz allein. Schon immer hat Diogénis mich übertrumpft, ich konnte es einfach nicht mehr ertragen. Lange schon habe ich mir ausgemalt, wie ich ihn umbringe. Als ich dann hörte, dass Euthalía den Tod meines Bruders vorhergesagt hätte, sah ich meine Chance gekommen. Ich erstach Diogénis und gab Euthalía die Schuld an allem.“ Er wimmerte leise. „Bitte vergebt mir!“ Die Götter sandten jedoch keinerlei Zeichen, das darauf hindeutete, ob sie dem Mann verzeihen konnten oder nicht. Stattdessen starrten die versammelten Menschen den am Boden knienden Kleantes entsetzt an. „Du hast was?“, stieß schließlich einer der Wächter fassungslos hervor. „Wie konntest du nur?“ „Dein eigener Bruder?“, meinte nun auch ein zweiter Mann geschockt. Einen Augenblick beratschlagten sich die Wachen noch untereinander, zeigten offen ihre Bestürzung und schüttelten immer wieder ungläubig ihre Köpfe. Dann aber zwangen sie Kleantes grob auf seine Beine und führten ihn davon, während sie zahlreiche Verwünschungen ausstießen. „Das war lustig“, meinte Euthalía amüsiert, die zusammen mit ihrem Vater völlig unbeachtet zurückgelassen worden war. „Lustig?“ Alkeós runzelte die Stirn. „Es war eher seltsam.“ Euthalía zuckte mit den Schultern. „Die göttliche Strafe folgt nun mal auf dem Fuße“, sagte sie gelassen. „Und jetzt muss ich gehen. Leb wohl, Vater.“ Sie hauchte dem überraschten Mann einen Kuss auf die Wange und wandte sich um, doch Alkeós packte sie noch rechtzeitig am Arm und zog sie wieder zurück. „Wovon redest du?“, fragte er verwirrt. Euthalía lächelte. „Wir haben doch oft genug darüber geredet. Und nun ist es soweit.“ Alkeós jedoch schien sie nicht zu verstehen und starrte sie weiterhin irritiert an, woraufhin Euthalía hinzufügte: „Asrim ist gekommen. Asrim und seine Kinder.“ Alec wechselte einen Blick mit Sharif. Diese Frau schien wirklich gut informiert zu sein. Bereits im Ty’lyar hatte er gelesen, dass sie über seherische Kräfte verfügen würde, aber niemals hätte er gedacht, dass diese ein solches Ausmaß annehmen würden. „As…rim?“ Alkeós wirkte geschockt, schien auf der anderen Seite aber genau zu verstehen, was das bedeutet. Euthalía hatte ihn wahrscheinlich schon lange vorher auf diesen Moment vorbereitet. „Ich habe dir doch gesagt, dass er bald kommen wird.“ Sie tätschelte seine Hand. „Und du weißt, dass ich gehen muss, nicht wahr? Wenn ich bei dir bleibe, werde ich nur einen grausamen Tod sterben. Und das willst du sicherlich nicht, oder?“ Alkeós wusste im ersten Augenblick nicht, was er sagen sollte, dafür war er von den Erlebnissen viel zu überwältigt. Schließlich aber schüttelte er schwach den Kopf. „Ich will … dass es dir gut geht“, sagte er leise. „Dann musst du mich gehen lassen“, meinte Euthalía. Alkeós machte nicht den Anschein, als würden ihn diese Worte sonderlich begeistern, andererseits konnte er aber auch nicht widersprechen. Er lebte sicherlich schon lange genug mit seiner Tochter zusammen, um zu wissen, dass alles, was sie vorhersagte, auch Wirklichkeit wurde. Und würde er Euthalía den Sa’onti vorenthalten, würde sie eher früher als später qualvoll zugrunde gehen. Ein Schicksal, dass kein Vater der Welt seinem Kind wünschte. „Ich werde nochmal wiederkommen“, versprach Euthalía grinsend. „Es ist nicht das letzte Mal, dass du mich sehen wirst. Ich kann dir auch gerne sosehr auf die Nerven fallen, dass du zu den Göttern betest, ich würde endlich verschwinden.“ Alkeós‘ Mundwinkel zuckten kurz nach oben. „Du kannst zu mir kommen, so oft und so lange du willst. Meine Tür steht dir immer offen.“ Er schwieg einen Moment, ehe er zögerlich hinzufügte: „Ich liebe dich.“ „Ich liebe dich auch, Vater“, meinte Euthalía schmunzelnd. Sie befreite sich sanft aus seinem Griff. „Ich komme morgen nochmal vorbei. Wir sehen uns.“ Sie winkte enthusiastisch wie ein Kleinkind, ehe sie sich den Vampiren umwandte und ihren Arm erwartungsvoll ausstreckte. Alec musterte sie zunächst etwas verwirrt, doch Sharif verstand sofort. Er ergriff Euthalías Hand und zog sie in den Schatten. Ihr Vater keuchte bei diesem Anblick zwar auf, blieb aber verhältnismäßig gefasst. Offenbar hatte Euthalía ihn tatsächlich sehr intensiv auf diesen Augenblick vorbereitet. „Ihr wart echt klasse, Jungs“, meinte sie lachend, an die Vampire gerichtet. „Kleantes war nur noch ein zitterndes Nervenbündel. Genauso, wie ich es in meinen Träumen gesehen habe.“ Alec nickte, bevor sein Blick wieder auf Alkeós fiel. Dieser starrte auf die Stelle, wo seine Tochter in die Dunkelheit gezogen worden war, und wirkte ziemlich mitgenommen. „Sorg dich nicht um ihn“, flüsterte Euthalía, die seinen Blick bemerkt hatte. „Er wird noch eine Weile traurig sein, aber schon bald wird ihm Tyche[6] wieder hold sein. Er wird eine nette Frau kennen lernen und mein Bruder wird samt seiner Familie zurück nach Theben ziehen. Er ist nicht lange allein.“ Sharif musterte sie wohlwollend. „Du bist wirklich erstaunlich, Euthalía. Gibt es überhaupt irgendetwas, das du nicht weißt?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Wenig“, meinte sie grinsend. „Aber nenn mich Necroma, denn das wird in Zukunft der Name sein, unter dem man mich lieben und fürchten wird.“ Alec lächelte. Das Ganze versprach zumindest eine recht interessante Zukunft zu werden. ___________________________________________ [1] Eine Anspielung auf den Peloponnesischen Krieg (431-404 v. Chr.) zwischen dem Delisch-Attischen-Seebund unter Führung Athens und dem von Sparta angeführten Peloponnesischen Bund. Sparta ging letztlich als Sieger aus dieser Auseinandersetzung hervor und konnte Athens Hegemoniebestrebungen Einhalt gebieten. [2] Chiton = in der griechischen Antike oft getragenes Unterkleid [3] Euthalía bedeutet übersetzt „Blume“ [4] Dike = Verkörperung der Gerechtigkeit [5] Tisiphone = Rachegöttin, die vorwiegend Mordtaten bestraft; gehört zur Gruppe der Erinnyen (in der römischen Mythologie als ‚Furien‘ bekannt) [6] Tyche = Schicksalsgöttin Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)