Die Welt im Wandel von Nochnoi (Oneshot-Sammlung zu "Dunkelheit/Vergeltung") ================================================================================ Kapitel 1: Von Kindern und Wölfen --------------------------------- Florenz, Italien (1984): „Du willst uns umbringen, oder?“ Sharif knirschte mit den Zähnen, während er Necroma vorwurfsvoll musterte. Diese saß auf einer furchtbaren neongrünen Couch und betrachtete interessiert ihre Haarspitzen. Sharifs stechenden Blick nahm sie überhaupt nicht zur Kenntnis. „Will ich das?“, fragte sie unbekümmert. Sharif war kurz davor auszurasten. Es geschah selten oder im Grunde so gut wie gar nicht, dass er mal die Beherrschung verlor, aber Necroma war einfach jemand, der die Nerven seines Gegenübers extrem reizen konnte. Normalerweise ließ sich der Ägypter eigentlich nicht von ihr aus der Ruhe bringen, wie verrückt oder seltsam sie sich auch manchmal benahm, doch nun war sie eindeutig zu weit gegangen! „Du kannst doch nicht einfach ein Kind entführen!“, meinte Sharif wütend. Sein Blick fiel auf den etwa fünfjährigen Jungen, der neben Necroma saß und diese mit offenem Mund musterte. Es war nicht ganz zu ersehen, ob er sie für wahnsinnig oder für faszinierend hielt, aber auf jeden Fall hatte er schon seit mehreren Minuten nicht den Blick von ihr wenden können. „Ich entführe doch niemanden“, entgegnete Necroma. Sie lächelte den Jungen an und strich ihm sanft über die Haare. „Ich habe Jake gefunden und mitgenommen.“ Jake sagte daraufhin nichts, immer noch starrte er Necroma unverhohlen an, als hätte er noch nie zuvor in seinem Leben etwas Vergleichbares gesehen. Sharif seufzte bloß auf. Als Tessa, eine von Necromas Clanmitgliedern, ihn vor gut einer halben Stunden angerufen und ihn gebeten hatte, sofort zu der kleinen Wohnung zu kommen, die sie und ihre Sippe besetzt hatten, war der Vampir bereits stutzig geworden, aber auf der anderen Seite auch nicht allzu überrascht. Necroma war in Mailand auf Sharifs Gruppe gestoßen – ganz sicher nicht zufällig, soviel stand fest – und hatte sie bis hierhin nach Florenz begleitet. Sharif war von Anfang an klar gewesen, dass Necroma in der Nähe zu haben gleichbedeutend war mit den Ärger magisch anzuziehen, aber dennoch hatte er sich von ihren großen Puppenaugen einwickeln lassen, als sie darum gebeten hatte, mit ihm mitkommen zu dürfen. Sich zu weigern hätte sowieso nichts gebracht. Man konnte Necroma sagen, sie solle nach rechts schauen und sie würde nur zu Boden blicken und dabei wahrscheinlich noch einen Handstand machen. Kurzum: Sie tat nur selten das, was man ihr sagte. So war sie schon immer gewesen. Wochenlang war die Zeit in Florenz ereignislos geblieben und Sharif hatte sich bereits in Sicherheit gewähnt, aber nun war mal wieder alles anders gekommen. Necroma hatte ein süßes Kind auf der Straße entdeckt und sich einfach unbeschwert über alle Regeln und Gesetze hinweggesetzt, wie sie es auch sonst immer tat. Und sie hatte sich nicht bloß einen gewöhnlichen Jungen gegriffen. Nein, sie musste sich ja unbedingt einen kleinen Werwolf unter den Nagel reißen! „Die Familie des Jungen wird sicher nicht erfreut sein, wenn sie ihren kleinen Augapfel bei Vampiren entdecken“, versuchte Sharif es erneut. Er hatte wirklich wenig Lust, sich mit einem Rudel Werwölfe zu streiten. Besonders die italienischen Exemplare hatten einen schrecklichen Ruf und galten als ausgesprochen temperamentvoll. Außerdem, so hatte Sharif vor nicht allzu langer Zeit erfahren, hatte es in Florenz vor etwa einem Monat eine größere Auseinandersetzung zwischen Werwölfen und den hier einheimischen Vampiren gegeben. Der Konflikt hatte mehrere Opfer gefordert, darunter unter anderem ein hohes Alpha-Tier, das von den Wölfen geradezu verehrt worden war. Somit war es kein großes Wunder, dass diese Wesen im Moment nicht besonders gut auf Untote zu sprechen waren. „Wenn sie ihre ‚Augäpfel’ einfach so auf die Straße setzen, ist das ihr Pech“, meinte Necroma schulterzuckend. „Die sollten besser auf ihre Kinder aufpassen.“ Sharif massierte sich stöhnend die Schläfen. Irgendwann, so war er sich ziemlich sicher, würde er wegen dieser Frau noch einen Gehirnschlag kriegen. „Necroma, denk doch mal bitte über das Ganze nach“, bat er sie. „Was willst du denn mit dem Kind anstellen? Es die ganze Zeit mitschleppen?“ „Warum nicht?“ Sie strich dem Jungen eine Strähne aus dem Gesicht und lächelte ihn an, woraufhin Jake wie benommen blinzelte. „Er ist doch so ein goldiger Spatz. Ich werde ab jetzt seine Mutter sein. Und du könntest sein Daddy sein, Sharif.“ Der Ägypter knurrte leise. „Nein, danke. Kein Bedarf.“ Aber Necroma hatte ihm nicht weiter zugehört, sondern sich hinüber zu Jake gebeugt. „Na, was sagst du dazu, mein Süßer? Ich gebe zu, Sharif kann manchmal etwas mürrisch sein, aber er ist wirklich ein lieber Kerl. Er wird ein toller Daddy.“ Sharif seufzte. So wie es aussah, stellte sich Necroma mal wieder quer. Er würde wohl schwerere Geschütze auffahren müssen, um sie von ihrem wahnwitzigen Vorhaben abzubringen. „Denkst du wirklich, Asrim wäre darüber sehr begeistert?“, hakte er deshalb nach. Asrim wenigstens hatte diese verrückte Lady unter Kontrolle und würde es ihr ausgesprochen schnell ausreden können, ein Werwolfkind zu adoptieren. „Asrim liebt mich“, meinte Necroma trotzig. „Er würde mir nie einen Wunsch abschlagen.“ Mit diesen Worten stand sie auf und wandte sich in Richtung Hausflur, Jake an der Hand gepackt. „Wo willst du denn jetzt hin?“, fragte Sharif genervt. „Was denkst du wohl?“ Necroma schnaubte. „Ich habe keine Lust hier zu sein, wenn es gleich ‚Bumm’ macht.“ „‚Bumm’?“ „Ja, ‚Bumm’.“ Necroma musterte ihn, als hielte sie ihn für geistig zurückgeblieben. „’Kawumm’, ‚Peng’, ‚Puff’ oder wie auch immer du das nennen willst. Ich kann dir auch gerne ein Bild zeichnen, damit du es dann vielleicht besser verstehst.“ Nicht nur Sharif starrte die Vampirin verwirrt an, auch Jake schien nicht so recht zu begreifen, was seine neue Mutter damit meinte. Er öffnete gerade den Mund und wollte offenbar nachfragen, worauf sie nun eigentlich hinauswollte, doch Necroma ließ ihm dazu keine Gelegenheit. Unvermittelt packte sie den Jungen und stieß ihn in den Hausflur. Jake schrie überrascht auf und strauchelte, sehr um Gleichgewicht bemüht, wie ein Betrunkener über den Teppich. Necroma rief ihm hastig eine Entschuldigung hinterher, ehe sie die Tür zuschlug und somit den kleinen Werwolf von ihnen abschottete. „Was sollte das nun wieder?“, wollte Sharif wissen. „‚Bumm’“, sagte Necroma bloß. Und bereits im nächsten Augenblick ließ ein ohrenbetäubender Knall den Vampir zusammenzucken. Die Fensterscheiben zerbarsten in tausend Teile und verteilten sich im ganzen Zimmer. Mehrere Blumentöpfe, die Couch und auch der Fernseher wurden arg in Mitleidenschaft gezogen, als die Scherben wie kleine Pfeile durch den Raum zischten. Sharif brummte übellaunig, während er in den Schatten tauchte, um den Geschossen auszuweichen. So etwas hatte er kommen sehen. Necroma hatte ihm mal wieder nichts als Ärger beschert. Es gab wahrlich nicht viele Geschöpfe, die sich unbemerkt an Untote anzuschleichen vermochten, doch Werwölfe waren wirkliche Meister darin. Geräusche verursachten sie keine, wenn sie es nicht wollten, und sie konnten ebenso gut eins mit der Dunkelheit werden wie Vampire. Nur allein an ihrem unverkennbaren Geruch hätte man sie ausmachen können, weswegen diese Wesen auch sehr penibel darauf achteten, sich immer einem potenziellen Opfer gegen den Wind zu nähern. Auch Sharif hatten sie auf diese Weise täuschen können. Er hatte die Anwesenheit der Werwölfe, die sich offenbar im gegenüberliegenden Appartement aufgehalten hatte, nicht bemerkt. Ungehindert hatten sie ihren kleinen Überraschungsangriff planen können. Und nun sahen sich die Vampire mit sechs äußerst wütenden Werwölfen konfrontiert. Drei hockten wegen des etwas spärlichen Platzes im Wohnzimmer wie Vögel auf den Fensterbrettern, während die restlichen sich im Raum verteilten und die Sa’onti umkreisten wie Raubtiere. Feindselig beäugten sie ihre Widersacher. „Überrascht?“, fragte einer der Werwölfe nach. Allesamt hatten sie ihre menschlichen Erscheinungen noch beibehalten, aber bei diesem einem waren schon die ersten Züge einer Verwandlung zu erkennen. Seine Augen glitzerten übernatürlich und auch die Haare an seinen Unterarmen waren zahlreicher und zotteliger, wie man es gewöhnlich von Menschen kannte. Sharif vermutete in ihm das Leittier. Zumindest wirkte er sehr autoritär und bestimmend. Auch die Tatsache, dass die anderen Wölfe ihm immer wieder kurz Blicke zuwarfen, um nachzuschauen, was er gerade tat und wie er sich verhielt, deutete darauf hin. „Wir sind keineswegs überrascht.“ Necroma hatte die Hände in die Hüften gestemmt und machte nicht den Eindruck, als ob zersprungene Fensterscheiben und offensichtlich hochgradig kampfbereite Werwölfe etwas Außergewöhnliches wären. Im Gegenteil, sie wirkte sogar recht gelangweilt. „Ihr hättet euch auch ruhig etwas beeilen können. Wie lange habt ihr jetzt schon dieser Wohnung gehockt und eure Strategie besprochen? Zwanzig Minuten? Meine Güte, ich dachte immer, ihr wärt so spontane Geschöpfe. Ich hätte nie angenommen, dass ihr dermaßen pläneschmiedend und trantütig sein könnt.“ Die uneingeladenen Gäste musterten Necroma aufmerksam und schienen nicht so recht zu wissen, ob sie nun irritiert oder verärgert sein sollten. Die Vampirin verstand es wirklich gekonnt, mit nur ein paar wenigen Worten selbst den stärksten Mann aus dem Konzept zu bringen. „Du wusstest, dass wir dort drüben sind?“, fragte das Alphatier schließlich nach. Seine Stimme war tief und erinnerte an die eines Bären, der gerade unsanft aus dem Winterschlaf gerissen worden war. „Wieso hast du dann nichts unternommen?“ Necroma zuckte bloß mit den Schultern, während sie gleichzeitig mit höchster Konzentration Dreck unter ihrem Fingernagel entfernte. „Ich wollte auf euren tollen Auftritt warten. Und ihr wart gar nicht so schlecht, Jungs, das muss ich ehrlich zugeben. Das nächste Mal wäre aber etwas mehr Zerstörung angesagt. Immerhin wollt ihr doch Angst und Schrecken verbreiten, nicht wahr?“ Der Alphawolf runzelte daraufhin bloß die Stirn. „Sag mal, bist du verrückt?“ „Aber natürlich“, meinte Necroma seufzend. „Was denkst du denn?“ Er war für einen Moment ehrlich verwirrt und wusste augenscheinlich nicht, was er angesichts dieses offenen Geständnisses erwidern sollte. Dann aber räusperte er sich vernehmlich und meinte: „Wo ist Jacobo?“ Necroma erhob tadelnd ihre Zeigefinger. „Also wirklich, was ist das denn für ein Benehmen? Hat dir deine Mutter denn nicht beigebracht, dass es unhöflich ist, einfach so mit der Tür ins Haus zu fallen?“ Nach einem Blick auf die zahllosen Glasscherben verbesserte sie sich rasch: „Oder auch mit dem Fenster ins Haus zu fallen. Kommt im Grunde aufs selbe hinaus. Auf jeden Fall könntest du etwas mehr Respekt zeigen. Wie wär’s zum Beispiel mit einem freundlichen ‚Hallo’? Und dann könntest du uns vielleicht auch deinen Namen verraten.“ Allmählich schien der Alphawolf zu glauben, dass Necroma ihn gewaltig auf den Arm nehmen wollte. Und an seiner wutverzerrten Miene war deutlich zu erkennen, dass ihm solch eine Behandlung nicht sonderlich gefiel. „Weißt du, Miststück …!“, zischte er aufgebracht. Necroma jedoch ließ ihn nicht aussprechen. „Okay, okay, schon gut. Vergessen wir das mit dem ‚Hallo’. Und dass dein Name Aros ist, weiß ich natürlich auch schon längst. Ich dachte nur, du willst dich womöglich selbst vorstellen.“ Sie schüttelte bloß seufzend den Kopf und murmelte: „Bei Hera und Athena, da will man nur mal freundlich sein und schon wird man angeblafft. Männer!“ Aros knirschte mit den Zähnen und schien sehr um Selbstbeherrschung zu ringen, war aber gleichzeitig, so erkannte Sharif, unsicher angesichts der Tatsache, dass Necroma seinen Namen kannte und darüber hinaus keinerlei Angst zeigte. Wahrscheinlich kam es außergewöhnlich selten vor, dass sich jemand dermaßen schnippisch ihm gegenüber verhielt. Vermutlich taten dies nur Lebensmüde und diejenigen, die ein Ass im Ärmel hatten. Und Aros fragte sich sicherlich gerade, zu welcher Kategorie Necroma hinzuzuzählen war. „Hört mal zu, Freunde.“ Sharif trat einen Schritt vor und hob beschwichtigend die Hände. „Wir wollen wirklich keinen Ärger. Die Sache mit Jacobo … ist nur ein dummes Missverständnis.“ „Ein Missverständnis?“ Aros schnaubte abfällig und seine fünf Kameraden taten es ihm gleich. Sie alle musterten die Vampire mit unverhohlener Verachtung. Offenbar saßen die blutigen Ereignisse vor gut einem Monat noch immer tief in ihren Knochen. Und auch wenn Necroma und Sharif zu jener Zeit gar nicht in Florenz zugegen gewesen waren, machte das für die Werwölfe keinen großen Unterschied. „Ihr habt den Jungen einfach mitgenommen!“, zischte Aros. „Wie könnt ihr es nur wagen? Habt ihr denn keine Ahnung, mit wem ihr euch da anlegt?“ Du hast offenbar auch keine Ahnung, mit wem du dich gerade anlegst, dachte Sharif bei sich, sprach es aber nicht aus. Er wollte den eh schon kurz vor der Explosion stehenden Mann nicht noch mehr aufregen. „Wir hatten wirklich keine bösen Absichten“, schwor Sharif. „Necroma hat den Knaben einfach gesehen und aufgelesen. Sie ist … na ja, absolut verrückt, wie ihr sicherlich bemerkt habt.“ Aros wirkte wenig beschwichtigt. „Und das soll deine Entschuldigung sein, Blutsauger? Eure ganze Brut ist so furchtbar arrogant und –“ Er hielt plötzlich mitten im Satz inne, seine Stirn nachdenklich in Falten gelegt, während er Necroma betrachtete. Schließlich fragte er zögerlich: „Necroma? Etwa … die Necroma?“ „Ganz recht.“ Die Vampirin warf Aros ein breites Lächeln zu. „Schön, dass du von mir gehört hast. Hoffentlich nur Gutes, ich bin nämlich wirklich ein ganz liebes Lämmchen. Nicht so schrecklich, wie vielerorts behauptet wird. Und Sharif ist auch ein ganz braver Bursche.“ Die Blicke der Werwölfe wanderten zu dem Ägypter. In ihren Augen war nun Unsicherheit zu lesen. Ganz offensichtlich hatten sie nicht erwartet, es mit derartig hochrangigen Vampiren zu tun zu haben. „Ihr seid wirklich … die Sa’onti?“, hakte der Wolf rechts von Aros vorsichtig nach. Er wirkte nun ein wenig blass um die Nase. Offenbar hatte er schon viele Geschichten über die Großen Sieben gehört. „So ist es.“ Necroma kicherte wie ein kleines Mädchen, als sie den Kopf schief legte und die Eindringlinge ausgiebig musterte. „Ihr wisst sicherlich, wozu wir fähig sind. Also bildet euch bloß nicht ein, ihr könntet uns in irgendeiner Weise beeindrucken. Jake bleibt bei mir und da gibt es nichts dran zu rütteln!“ Ohne eine Antwort abzuwarten, hob Necroma unvermittelt ihre Arme und richtete ihre Handinnenflächen auf die Werwölfe. Diese rissen entsetzt die Augen auf, als sie begriffen, was die Vampirin mit ihnen vorhatte. Und auch Sharif war völlig überrumpelt. Er wollte Necroma zwar noch hastig aufhalten, aber es war bereits zu spät. Eine riesige Magiewelle schoss aus ihren Händen direkt auf die Wölfe zu. Diejenigen auf den Fensterbänken ließen sich schnell nach hinten fallen und nahmen lieber einen Sturz aus dem vierten Stock in Kauf, als sich von Necromas Attacke frontal treffen zu lassen. Aros und seine zwei Freunde im Wohnzimmer hatten diese Chance hingegen nicht. Wie Stoffpuppen wurden sie von den Füßen gerissen und aus den Fenstern geschleudert, durch die sie vor keinen fünf Minuten noch uneingeladen hereingeplatzt waren. Mit einer ungeheuren Wucht trafen sie auf die Steinwände des gegenüberliegenden Appartementhauses, ehe sie wie Mehlsäcke zu Boden stürzten, gefolgt von der ehemaligen Inneneinrichtung des Wohnzimmers. Unten auf der Straße war daraufhin das Quietschen von Autoreifen zu hören, als ein Fahrer zu dieser nachtschlafenden Zeit von den herabregenden Wölfen und Möbeln überrascht wurde und rasch ein Ausweichmanöver einleiten musste. Der darauffolgende Knall ließ vermuten, dass er mit seinem Wagen in ein anderes Auto gerast war. „Was, zur Hölle, sollte das?“, fuhr Sharif Necroma an. Er trat nah an die Fenster heran und schaute hinab auf die Straße. Dort herrschte ein heilloses Chaos: verstreute Körper, eine zerstörte Couch, ein zersprungener Fernseher, noch allerlei anderes zerschmettertes Mobiliar und beschädigte Autos. „Was denn?“ Necroma blinzelte unschuldig. „Sie haben es verdient, glaub es mir. Sie hätten uns trotz alledem angegriffen. Ich konnte es in ihren Gedanken lesen.“ Sharif funkelte die Vampirin wütend an. „Und das alles wegen des Jungen? Beweist die Hartnäckigkeit der Werwölfe nicht, wie viel ihnen Jake bedeutet? Willst du ihn wirklich von seiner Familie trennen?“ Necroma zog beleidigt ihre Mundwinkel nach unten. „Spiel nicht den Moralapostel, Sharif. Du weißt, dass ich das nicht leiden kann.“ Bevor Sharif darauf in irgendeiner Weise reagieren konnte, öffnete sich zögerlich die Tür zum Hausflur. Jake steckte seinen Kopf durch den Schlitz und weitete erstaunt die Augen, als er das Durcheinander erblickte. „Was ist passiert?“, fragte er verdutzt. „Mommy hat nur ein bisschen gespielt, das ist alles“, meinte Necroma lächelnd. Sie trat an den Jungen und hob ihn auf ihren Arm. Jake ließ dies widerstandslos über sich ergehen und schlang sogar die Arme um Necromas Hals, den Blick ohne Unterlass auf das leicht umgestaltete Wohnzimmer gerichtet. „Was war das für ein Krach?“ Auch Tessa, Necromas engste Vertraute, tauchte wie aus dem Nichts auf. Im Gegensatz zu Jake schien sie aber alles andere als überrascht zu sein, als sie die Bescherung erblickte. „Hast du wieder die Wohnung in die Luft gesprengt, Necroma? Haben wir dir nicht schon tausendmal gesagt, du sollst das sein lassen?“ Die Angesprochene zog einen erstklassigen Schmollmund. „Es ist wie eine Sucht.“ Tessa stöhnte daraufhin bloß auf und machte auf dem Absatz kehrt. In die Wohnung hinein rief sie: „Leute, wir müssen umziehen.“ „Wieso?“, ertönte die Stimme eines weiteren Clanmitglieds aus den Tiefen des Appartements. „Hat Necroma etwa wieder das Haus in die Luft gejagt?“ Sharif hob eine Augenbraue. Offenbar kam solcherlei gar nicht so selten vor. Im Grunde hätte ihn bei einer Frau wie Necroma eigentlich nichts mehr überraschen können, aber dennoch schaffte sie es immer wieder, ihn in Erstaunen zu versetzen. Als er seinen Blick wieder auf die besagte Person richten wollte, merkte er, dass sie verschwunden war. Einen Moment lang verblüfft nahm er rasch ihre Spur auf, um eine noch größere Katastrophe zu vermeiden. Er folgte ihrem Weg übers Treppenhaus bis hinunter auf die Straße. Vom Nahen sah das Chaos noch verheerender aus. Die Möbel waren in hundert Stücke zersprungen, allein an der Couch konnte man noch erkennen, welchen Verwendungszweck sie vor ein paar Minuten noch gehabt hatte. Auch zahllose zersprungene Vasen, Keramikfigürchen und zerfledderte Zeitschriften verteilten sich auf dem Boden. Und dazwischen befanden sich die Werwölfe, die sich langsam wieder aufgerappelt hatten. Bis auf Aros hatten sie nun alle ihre Gestalt gewechselt. Riesige Wölfe starrten ihn nun mit mordgierigen Augen an. Auf ihren zwei Beinen stehend waren sie gut und gerne drei Meter hoch, ihre spitz zulaufenden Ohren nicht mitgerechnet. Ihr Fell war, typisch italienisch, in einem dunklen Braun gehalten. Die Werwölfe in Ägypten beispielsweise wiesen eher einen sandfarbenen Pelz auf, während ihre Brüder in verschneiten Gebieten wie etwa Nepal durch und durch weiß waren. Die wenigen Menschen, die sich noch auf den Straßen befunden hatten oder nach dem lauten Getöse neugierig nach draußen gekommen waren, nahmen nun einer nach dem anderen beim Anblick dieser riesigen Geschöpfe Reißaus. Schreiend rannten sie um ihr Leben, überall wurden hastig Fenster und Türen verschlossen. Von irgendwo hörte Sharif auch das typische Piepen von Handytasten. Offenbar benachrichtigte jemand die Polizei. Länger als nötig wollte Sharif hier nicht mehr verweilen. Zumindest hatte er keine Lust, sich mit Gesetzeshütern anzulegen. Allein schon die ganze Situation machte ihn unruhig. Immer war den magischen Geschöpfen viel daran gelegen gewesen, sich diskret zu verhalten und wenig Aufmerksamkeit zu erregen. Nur Necroma hatte von diesem Konzept noch nie viel gehalten. „Die großen Sa’onti oder nicht, wir wollen den Jungen wiederhaben!“, grollte Aros zornig. Seine fünf wölfischen Kumpanen knurrten daraufhin bedrohlich und funkelten Necroma, die inmitten von Einzelteilen eines zerstörten Regals stand und Jake immer noch auf ihren Arm hielt, herausfordernd an. Necroma hingegen kümmerte sich nicht um die feindseligen Werwölfe. Viel interessanter fand sie die zahlreichen Scherben auf der Straße. Es machte fast den Anschein, so erkannte Sharif, als würde sie sie durchzählen, vergnügt und unbekümmert wie ein Kind. „Hast du nicht gehört?“ Aros war drauf und dran, die Kontrolle über sich selbst zu verlieren. In seinen Augen loderte ein Feuer auf, welches deutlich machte, dass auch er bald seine Gestalt verändern und zum Angriff übergehen würde. Sharif seufzte und trat an Necroma heran. „Komm schon, Kleines“, drängte der Ägypter sie. „Gib ihnen den Jungen zurück.“ „Auf keinen Fall“, antwortete sie, ihren Blick immer noch fasziniert auf den Boden gerichtet. „Sie haben nicht mal ‚Bitte’ gesagt.“ Nun, zumindest hatte Necroma den Werwölfen doch zugehört. Das war immerhin ein Fortschritt. Doch das reichte für Aros nicht aus. Er stieß ein Brüllen aus, das an ein ganzes Rudel wütender Wölfe erinnerte. Seine Begleiter machten daraufhin einen gewaltigen Satz und rasten in einer Spitzengeschwindigkeit auf die Vampire zu. Ihre Körper bewegten sich dabei wie eine Einheit, beinahe so, als wären sie ein einziges, lebendiges Wesen. Sharif schluckte kurz bei diesem Anblick, aber Necroma ließ sich davon weiterhin nicht stören. Ihren Blick nun endlich von der Straße erhoben, lächelte sie amüsiert und schwenkte kurz mit der Hand. Fast zeitgleich schossen aus dem Boden riesige Wurzeln, die sich kraftvoll durch den Zement gebohrt hatten und die Werwölfe zu fassen bekamen. Mitten im Angriff wurden die großen Geschöpfe plötzlich abrupt gestoppt und versuchten winselnd, den Wurzeln, die sie immer weiter einwickelten, irgendwie zu entkommen. Doch je mehr sie sich bewegten, desto fester wurde ihre Verschnürung. Necroma lachte auf. „Das habe ich das letzte Mal im Zweiten Weltkrieg mit einer Gruppe von Nazis gemacht. Das war echt witzig.“ Die Werwölfe schienen das hingegen alles andere als amüsant zu finden. Sie grollten und knurrten aufgebracht, wahrscheinlich Necroma gerade tausend Flüche an den Kopf schmeißend. „Wir hassen es, wenn man sich über uns lustig macht“, zischte Aros. Er hatte bereits seinen langen Mantel abgestreift, offenbar bereit, sich ebenfalls zu verwandeln. Necroma aber schüttelte entschieden den Kopf. „Lass das lieber, Aros!“, sagte sie. „Du machst alles nur schlimmer.“ Der Alphawolf ballte seine Hände zu Fäusten. „Du dreckige Kindesentführerin! Wie kannst du es nur wagen, uns so zu behandeln? Hast du keinen Respekt vor uns?“ „Natürlich hab ich den“, meinte Necroma. Sie strich Jake, der sein Gesicht in ihrer Halsbeuge vergraben hatte, sanft über den Kopf. „Aber ihr seid nur zu blind, um ihn zu sehen. Ebenso wie ihr zu blind seid, um Jakes wahre Gefühle zu erkennen.“ Aros knirschte mit den Zähnen. „Wovon sprichst du, Miststück?“ „Er hat Angst vor euch“, erklärte Necroma nachdrücklich. „Seine Eltern sind bei den Kämpfen vor einem Monat umgekommen, nicht wahr? Und ihr habt ihn bei euch aufgenommen, immerhin seid ihr seine Familie. Aber ihr merkt gar nicht, wie sehr ihr ihn verängstigt. Er will nur jemanden, der ihn liebt, aber ihr seid durch den Hass auf die hiesigen Vampiren dermaßen aufgestachelt und aggressiv, dass ihr keine Augen für ihn habt.“ Die in den Wurzeln eingewickelten Werwölfe stellten ihren Widerstand ein und starrten Necroma einfach nur an. Auch das hasserfüllte Flackern in Aros’ Augen erlosch, als er ihre Worte hörte. „Ihr merkt gar nicht, wie sehr ihr ihn verletzt“, fuhr Necroma fort. „Nach dem Tod seiner Eltern hätte er Liebe und Zuneigung benötigt, aber ihr seid viel zu sehr von eurem Rachedurst besessen. Ihr redet von Schlachten, Blut und zerfetzten Vampirkörpern, während ihr den armen Jungen ganz allein gelassen habt.“ Aros schaute auf den kleinen Knaben in Necromas Armen, „Jacobo“, murmelte er. „Ist das wahr?“ Der Kleine wandte seinen Blick zu Aros. In seinen Augenwinkeln sammelten sich ein paar Tränen, als er schwach nickte. Die Wölfe winselten daraufhin jämmerlich auf und auch Aros machte den Eindruck, als wäre seine ganze Welt zusammengebrochen. „Oh, Jacobo …“, flüsterte er. „Es tut uns so furchtbar leid. Wir wollten doch nicht …“ Ihm versagte die Stimme. Schuldbewusst schaute er drein und wirkte plötzlich gar nicht mehr wie ein stolzes Alphatier, sondern wie jemand, der sich soeben eines großen Fehlers bewusst geworden war und alles dafür getan hätte, um diesen wieder rückgängig zu machen. „Tja, eure Erkenntnis kommt leider zu spät.“ Necroma drückte Jake noch enger an sich. „Der Junge bleibt jetzt bei mir. Das soll euch eine Lehre sein.“ Aros’ Blick verfinsterte sich daraufhin wieder. Sharif lehnte sich schnell zu Necroma herüber und sagte: „Jetzt sei doch nicht so, Necroma. Siehst du denn nicht, wie sehr sie es bereuen?“ Die Vampirin schnaubte. „Mir egal. Ich habe Jake gefunden und ich werde ihn auch behalten.“ Sharif musterte den Jungen, der sichtlich verwirrt schien. Auf der einen Seite hatte er Necroma offenbar sehr ins Herz geschlossen, aber auf der anderen Seite wollte er auch seine Familie nicht missen. Traurig schaute er hinüber zu Aros, nicht sicher, was er als nächstes tun sollte. „Du wirst damit einen Krieg heraufbeschwören“, meinte Sharif. „Die Werwölfe würden uns das nie verzeihen. Stell dir vor, einer von ihnen käme eines Tages und nähme Tessa mit, nur weil sie allein auf der Straße gestanden hat. Würdest du das einfach auf dir sitzen lassen?“ Necroma zog eine Schnute, schien aber nicht mehr ganz so halsstarrig zu sein. Offenbar hatte sie den Blick bemerkt, mit dem Jake Aros bedachte. Mitleid stieg in ihr auf, sosehr sie es augenscheinlich auch zu unterdrücken versuchte. „Nein, das würde mir nicht gefallen“, gab sie widerwillig zu. „Und du willst doch bestimmt nicht wirklich dieses kleine, lärmende Wölfchen behalten, oder? Im Moment ist er ja noch ein ganz ruhiger Geselle, aber irgendwann wird er herumschreien und auf deinem Bett herumhüpfen.“ Nun sah Necroma alles andere als begeistert aus. „Ich hasse es, wenn jemand auf meinem Bett herumhüpft.“ „Und er ist ein Karnivore“, fuhr Sharif fort. Ein Lächeln bildete sich auf seinen Lippen, als er merkte, wie Necromas Widerstand nach und nach brach. „Er frisst Fleisch ohne Ende.“ „Ich hasse totes Fleisch“, sagte sie daraufhin. „Es redet immer mit mir. Ich höre dauernd die Geister der verstorbenen Tiere, die mich vollquatschen. Es ist furchtbar.“ Sharif grinste, als er merkte, wie sich Resignation bei ihr breitmachte. Wie so oft hatte sie keinen Gedanken an die Konsequenzen ihrer Handlungen verschwendet. So mächtig sie auch war und so viel sie auch wusste, ab und zu war sie schlichtweg wie ein Kind, das einfach nur das tat, was es wollte, ohne an das Hinterher zu denken. Sie seufzte schwer, als sie den Jungen auf den Boden absetzte. „Wie sieht’s aus, Jake? Gibt’s du diesen Idioten noch eine Chance?“ Jake lächelte. „Ich mag dich, Mommy Necroma. Du bist echt lustig.“ Er umarmte die inzwischen in die Hocke gegangene Vampirin einmal kurz. „Aber Onkel Aros braucht mich.“ Necroma warf dem besagten Werwolf einen gehässigen Blick zu. „Stimmt. Ohne dich ist er aufgeschmissen.“ Jake grinste, als er sich von Necroma löste. Er schenkte ihr einen letzten, dankbaren Blick, ehe er sich Sharif zuwandte. „Tschüss, Daddy Sharif.“ Dieser schmunzelte. „Wiedersehen, Kleiner.“ Offenbar nun zufrieden mit sich und der Welt stürmte der Junge los, direkt in Aros’ Arme. Der große Werwolf hob den kleinen Knirps hoch und presste ihn so fest an sich, als wollte er ihn nie wieder loslassen. Auch die anderen traten zu der Szene hinzu, nachdem Necroma sie nach einem vorwurfsvollen Blick vonseiten Sharifs seufzend aus den Wurzeln befreit hatte. „Du hast das Richtige getan, Necroma“, meinte Sharif, als er der Vampirin den Arm um die Schulter legte und sie gemeinsam den Werwölfen den Rücken zudrehten. „Kinder sind am besten bei ihrer Familie aufgehoben.“ Necroma hatte die Arme vor der Brust verschränkt und musste sich augenscheinlich ziemlich beherrschen, sich nicht noch mal umzudrehen. „Beim nächsten Mal fällst du mir nicht so brutal in den Rücken, wenn ich etwas in Herz geschlossen habe, verstanden?“ Sharif schnaubte. „Also erstens bin ich dir sicherlich nicht in den Rücken gefallen. So etwas nennt man schlicht und ergreifend Schadensbegrenzung. Du bist nun mal völlig durchgeknallt, mein Herz, und tust dauernd irgendwelche verrückten Dinge, die nicht gut für dich sind.“ Er drückte Necroma enger an sich. „Und zweitens schließt du beinahe täglich irgendjemanden oder irgendetwas in dein Herz. Warst du nicht erst vor ein paar Tagen völlig besessen von einer Gänsefeder? Und wie war das damals mit dieser Polstergarnitur in Euskirchen? Du bist in das Möbelgeschäft eingestiegen und hast dabei die Fensterscheibe wie ein dreister Dieb zerstört, erinnerst du dich?“ Necroma verzog zornig ihr Gesicht. „Ich hasse dich.“ Sharif lächelte. „Ich liebe dich auch, Necroma.“ Die Vampirin knirschte verärgert mit den Zähnen, während ihr Begleiter nichts anderes konnte, als schief zu grinsen. Necroma konnte einem wirklich oft genug auf den Geist gehen und einem regelrecht zur Verzweiflung treiben, sodass man mehr als einmal beinahe den übermächtigen Wunsch verspürte, seinen Kopf gegen eine harte Wand zu donnern. Sie war wie ein Kind mit viel zuviel Macht: unberechenbar und gefährlich. Aber eines war ebenso sicher: Mit ihr wurde es nie langweilig. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)