The Fallen Ones von JoeyB (Eine Wichtelgeschichte für Hoellenhund) ================================================================================ Kapitel 1: The Fallen Ones -------------------------- Es war ein drückend warmer Tag. Die Sonne schien erbarmungslos auf das Dorf mit den umliegenden Feldern hinab und selbst in den wenigen Schatten erschien die Luft unerträglich. Mateo wischte sich mit einem schmutzigen Tuch den Schweiß von der Stirn, während er durch die verlassene Gasse zwischen den kleinen Hütten ging. Dieses Jahr hatten schon zwei der Hütten Feuer gefangen und vermutlich würden es noch mehr sein; die Dächer waren aus Stroh gefertigt, schließlich lebten hier bloß einfache Bauern. Je näher Mateo dem Dorfplatz kam, desto wärmer wurde es. Und lauter. Er hatte den Lärm schon außerhalb des Dorfes gehört, als er noch auf dem Feld gewesen war. Trotz der schmerzenden Hitze hatten die Menschen einen Scheiterhaufen errichtet. Darauf sollte der Vampir brennen. Mateo wusste nicht, ob der Mann wirklich ein Vampir war. Ob es Vampire wirklich gab. Aber eines war auch ihm klar: Irgendetwas Unheimliches geschah hier. In den letzten Wochen waren mehrere Menschen gewaltsam zu Tode gekommen; in ihren Körper befand sich kein Tropfen Blut mehr. Und gestern hatte das Dorf endlich den Schuldigen gefunden: Juan, ein Mann mittleren Alters, der wie sie alle jeden Tag auf das Feld hinaus ging, um seine Familie zu ernähren. Man hatte ihn dabei erwischt, wie er ein junges Mädchen angefasst hatte, und verurteilt, auch die anderen Taten begangen zu haben. „Das Blut hat er ihnen ausgesaugt!“, konnte Mateo die Rufe des Pfarrers hören. „Um dem Teufel zu huldigen!“ Die Schreie des Mannes gingen beinahe in den Rufen der Dorfbewohner unter. Am Rand stand die Frau, die schon sehr bald eine Witwe sein würde. Ihre Augen waren tränenleer, ihr Gesicht blass. Als Witwe eines Ketzers, eines Vampirs, würde sie es schwer haben, jemals wieder wie ein normaler Mensch unter ihnen zu leben. Und mit ihrem Mann starb auch die einzige Einnahmequelle, die sie hatte. Ihre Kinder waren noch klein; nicht kräftig genug, um zu arbeiten. Mateo blieb eine Weile am Rand stehen. Er war zu erschöpft, um mit den Menschen zu jubeln, aber er spürte, wie sich langsam ein Stein von seinem Herzen löste, als Juans Schreie verstummten und ihn das Feuer immer weiter auffraß. Auch Mateo hatte in den letzten Wochen um seine Familie gebangt. Es hatte ihn erschrocken, dass Juan, mit dem er oft geredet hatte, die Morde begangen haben sollte, aber man hätte ihn sicher nicht verurteilt, wenn es nicht wahr gewesen wäre. Und das bedeutete, dass das Dorf nun, da Juan unschädlich gemacht worden war, sicher war. Mateo löste sich von der Menge und wischte ein weiteres Mal mit dem Tuch über seine Stirn. Er ging ein Stück über den Dorfplatz und bog dann in eine Gasse ab. Seine Hütte lag am anderen Ende des Dorfes, sodass es noch ein paar Minuten dauern würde, bis er nach Hause kam. Er atmete tief ein und aus, während er ging. Diese letzten Meter, die ihn von seiner Frau und den beiden Kindern trennten, waren immer die schönsten am Tag. Er hatte von früh morgens bis in den Abend hinein hart gearbeitet und konnte nun langsam und entspannt gehen. Und er wusste, dass sie ihn erwarteten und ihm unbedingt von ihrem Tag erzählen wollten. Tino und Eva, seine beiden Kinder unterbrachen sich immer gegenseitig und stritten sich dann, wer als Erster erzählen durfte. Und seine Frau Carmen deckte leise lächelnd den Tisch für ihr gemeinsames Abendessen. Mateo ging lächelnd weiter, doch plötzlich erstarrte er. Irgendetwas war falsch an dem Bild, das sich ihm bot. Er stand einige Schritte von der Heimat seiner Familie entfernt. Die Tür war wie immer geschlossen, ebenso das Fenster, das wegen der Hitze zusätzlichen Schutz von den Fensterläden erhielt. Doch etwas stimmte nicht. Er ging langsam weiter, bis er es bemerkte: Vor dem Haus stand der Eimer, in den er heute Morgen Wasser aus dem Brunnen geschöpft und vor der Haustür abgestellt hatte. Das tat er jeden Morgen, bevor er zur Arbeit ging. Und für gewöhnlich holte seine Frau, die später aufwachte als er, diesen Eimer in ihr Haus. Wieso hatte sie ihn nicht hinein geholt? Mateo öffnete die Haustür und trat in das Haus. Es war dunkel und überraschend kühl. „Carmen?“, fragte er leise und stieß die Tür vollends auf, damit Licht in die Wohnstube fallen konnte. Er fühlte sich, als sei sein Leben in diesem Moment zu Ende gegangen. Sein Herzschlag setzte aus und seine Augen waren vor Schrecken geweitet – genau wie die seiner Frau, die auf dem staubigen Boden lag, die Glieder unnatürlich von sich gestreckt. „Carmen“, hauchte er fassungslos und ließ seinen Blick weiter schweifen. Da lag auch Eva, reglos und leichenblass. Nur Tino kauerte schluchzend und mit bebenden Schultern in einer Ecke. Mit drei Schritten war Mateo bei ihm und kniete sich vor ihn. „Tino!“, sagte er und schüttelte seinen Sohn. Dieser blickte langsam zu ihm auf. Er hatte sich verändert. Mateo konnte nicht sagen, was anders an ihm war, aber er spürte es. Es war nicht die Veränderung, die ein kleiner Junge erlebte, wenn er Mutter und Schwester sterben sah; nein, es war mehr. „Papa“, wimmerte Tino und löste sich aus seiner starren Haltung. Er lehnte sich gegen seinen Vater, der ihn vorsichtig in den Arm nahm. „Papa“, schluchzte der Junge und drückte sich an seinen Vater, der ihn schützend umarmte. Mateo spürte etwas Warmes und Zähes an seiner Wange und löste sich von Tino. Er strich über sein Gesicht und erstarrte ein weiteres Mal. Es war geronnenes Blut. „Du bist verletzt“, sagte er bestürzt. Er ließ seine Hand über Tinos Hals fahren. Eine Wunde, aus der Blut geflossen war. „Sie sind tot“, sagte Tino leise. „Ich konnte nichts tun.“ Seine Stimme klang hohl und unnatürlich hoch. „Wer hat das getan?“, fragte Mateo und ließ den Blick wieder über die beiden leblosen Körper auf dem Boden gleiten. Er kniff schmerzerfüllt die Augen zusammen und spürte, dass Tino der einzige Grund war, dass sein Herz nicht völlig leer war und weiterhin schlug. Tino schüttelte leicht den Kopf. „Ich weiß es nicht“, sagte er leise und schluchzte wieder. „Ein Mann. Ich kannte ihn nicht.“ Er wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht. „Bring' mich hier weg.“ Mateo hob das Kind auf seinen Arm und ging, den Blick starr nach oben gerichtet, zur Tür. Er verließ das Haus und sofort drückte die Hitze auf ihn. Tino stöhnte qualvoll. „Es ist zu hell“, sagte er wimmernd. Mateo setzte ihn auf dem Boden ab und Tino ging ohne zu zögern in den schützenden Schatten des Hauses zurück. Der Vater blickte sich hilfesuchend um. Hier war niemand. Er war völlig allein. Sollte er Hilfe holen? Er konnte doch sein Kind nicht länger bei den leblosen Körpern seiner Familie lassen. „Hilfe!“, rief er. Zumindest hatte er rufen wollen; das, was seine Stimme freigab, war nicht mehr als ein jämmerliches, ängstliches Flehen. „Hilfe!“ Er spürte, wie sich nun auch seine Augen mit heißen Tränen füllten, als ihm langsam bewusst wurde, was geschehen war. Seine Frau war ermordet worden, ebenso seine kleine Tochter! „Sie haben einen Unschuldigen verbrannt“, flüsterte er leise und blickte über Dächer, wo noch immer der dichte Rauch vom Scheiterhaufen hing. „Er war unschuldig.“ Es fiel ihm leicht, darüber nachzudenken, dass Juan diese Menschen nicht getötet hatte, schließlich hatte er Juan kaum gekannt. Und es lenkte ihn davon ab, dass sein Leben an diesem Abend einen Wendepunkt erreicht hatte. Er wollte sich noch keine Gedanken darüber machen, was nun geschehen würde. „Hilfe“, flüsterte er beinahe lautlos und ließ sich auf den trockenen Boden fallen. Er wischte sich über die Augen und versuchte, die Tränen zu unterdrücken. „Tino“, sagte er laut. „Was ist?“, fragte eine Stimme aus dem Haus. „Du musst raus kommen“, entgegnete Mateo. „Du kannst nicht im Haus bleiben.“ „Die Sonne ist zu hell“, hörte er ein weiteres Mal Tinos kindliche Stimme wimmern. „Sie tut mir weh.“ „Wir müssen zum Dorfplatz gehen und Pater Claudio holen.“ Mateo stand auf und ging zum Hauseingang zurück. Tino kauerte wieder in derselben Ecke wie zuvor. „Ich will da nicht raus“, sagte er leise. „Du kannst nicht hier bleiben“, beharrte Mateo. „Ich kann nicht da raus gehen“, jammerte Tino und zog die Beine noch enger an den Körper. Mateo war zu müde und fühlte sich zu matt, um seinen Sohn zu schimpfen. „Dann warte hier“, sagte er. Er erwartete, dass sein Sohn ihn anflehen würde, ihn nicht allein zu lassen, doch das blieb aus. Tino kauerte nur in seiner Ecke und starrte seine Knie an. Mateo blieb einen Moment lang in der Tür stehen und beobachtete den Jungen, der sich nicht mehr regte. Ja, er war verändert. Und Mateo hatte das unbestimmte Gefühl, dass diese Veränderung keine gute war. „Ich komme gleich wieder“, versprach er, doch Tino reagierte gar nicht darauf. Er wippte nun leicht vor und zurück, als sei er in einen tiefen Gedanken versunken. Mateo entfernte sich langsam ein paar Schritte von dem Haus, in die Stille lauschend. Hätte er gehört, dass Tino weinte, wäre er zurück gegangen. Und schon nach wenigen Metern war er sich sicher, dass er seinen Sohn nicht alleine lassen konnte. Er blieb in der Gasse stehen und blickte zögernd zu der geöffneten Tür ihrer Hütte. „Ist hier irgendjemand?“, rief er, doch seine Rufe gingen in dem Lärmen vom Dorfplatz unter. „Ich bin hier“, antwortete eine ruhige Stimme hinter ihm. Mateo wirbelte herum und sah, wie sich ein Schatten von der Hauswand löste. Es war ein Fremder, was Mateo nicht bloß an seinem Äußeren, sondern auch an seinem Akzent erkannte. Er hatte erstaunlich helles Haar und als er ins Licht trat, erblickte Mateo die beeindruckendsten Augen, die er in seinem Leben sehen würde. Sie waren hell, doch sie leuchteten nicht. Und sie waren ausdruckslos. Schon in naher Zukunft würde Mateo merken, dass der Mund des Mannes lächeln konnte, seinen Augen dieses Privileg jedoch verwehrt blieb. Der Vater warf einen raschen Blick zu der noch immer offen stehenden Tür. Zwei Morde, ein verletztes Kind. Und ein fremder Mann mit unheimlichen Augen. „Fass' meinen Sohn nicht an“, drohte Mateo dem Fremden und bewegte sich vorsichtig auf die Tür und damit auch auf den Mann zu. Dieser lächelte ein schiefes Lächeln, welches offen ließ, ob es freundlich oder spöttisch gemeint war. „Ich werde ihm nichts tun“, sagte der Mann. „Und ich habe ihm bisher auch nichts getan, falls das deine Befürchtung ist.“ Er bewegte sich nicht, beobachtete Mateos Bewegungen jedoch aus den Augenwinkeln. „Du bist der Vampir“, sagte Mateo und stellte sich schützend in den Türrahmen. Er spürte, wie Tränen der Wut in ihm aufstiegen. Bloß die Angst um seinen Sohn hielt ihn davon ab, den Mann anzugreifen. Denn er wusste, dass er schwächer war als der Fremde. Und wenn er tot wäre, würde nichts zwischen dem Fremden und Tino stehen. Er musste es schaffen, Tino aus dem Haus zu bringen. Bloß – wie? Der Mann strich durch sein glattes Haar. „Du hast doch keine Ahnung, wovon du sprichst“, sagte er. „Ich weiß, dass du hier nicht hingehörst“, sagte Mateo und warf einen raschen Blick zurück. Die Gasse war noch immer menschenleer. Er war völlig allein. Auf sich gestellt. „Und ich weiß, dass außer dir niemand von mir weiß“, entgegnete der Mann tonlos. „Sie werden dich hier finden und dir vorwerfen, zwei Morde begangen zu haben. Und genau wie den Anderen werden sie dich verurteilen und brennen lassen.“ Er zuckte leicht mit den Schultern. „So sieht dein Schicksal aus, Mateo.“ Wären Mateo nicht tausend andere Gedanken durch den Kopf gegangen, so hätte er den Fremden vielleicht gefragt, woher er seinen Namen kannte. Doch in diesem Moment fiel ihm nichts anderes ein, als die Wahrheit zu sagen: „Ich verstehe nicht.“ Der Mann lachte trocken. „Die Leute hier haben heute schon einen Mann getötet. Glaubst du, vor dir würden sie Halt machen? Was passiert wohl, wenn man dich hier findet? Mit Blut an den Händen“, Mateo blickte fassungslos auf seine Hände, an welchen tatsächlich das Blut seines Sohnes klebte, „und vor den Leichen deiner Frau und Tochter? Sie werden dich beseitigen, weil sie Angst um ihre eigenen Familien haben werden. Verstehst du es jetzt?“ Mateo schluckte trocken und wischte sich über seine schweißnasse Stirn. „Nein“, sagte er leise. „Ich werde deinen Sohn mitnehmen“, beschloss der Fremde. „Er muss nicht sterben. Noch nicht.“ Er ging auf Mateo zu, der sich rasch in die Hütte zurückzog und die Tür von innen schloss. Er eilte durch den Wohnraum und schob den Holztisch in Richtung Tür, als diese auch schon aufschwang. Der Schatten der Mannes fiel lang und bedrohlich in den Raum. Mateo wich zurück, in die Richtung seines Sohnes, der noch immer reglos dasaß. Er blickte sich verzweifelt um. Wie sollte er den Fremden abwehren? Doch noch bevor er etwas gefunden hatte, das ihm als Waffe dienen konnte, spürte er, wie seine Knie nachgaben. „Was...?“, fragte er, als er langsam und ohne verletzt worden zu sein, aus seinem Bewusstsein glitt. Als er zu Boden fiel, konnte sehen, dass die nun nur noch schemenhafte Gestalt über ihn hinweg stieg, in die Richtung seines Sohnes. Als Mateo langsam die Augen öffnete, war es dunkel in seiner Hütte. Er versuchte langsam, sich aufzurichten, wobei er gegen die hölzerne Platte des Tisches stieß, der quer ihm Raum stand. Mateo blieb eine Weile reglos in dem Raum stehen und versuchte, seine Orientierung zurückzugewinnen. Was war passiert? Wer war dieser Fremde gewesen? Und... wo war Tino? „Tino?“, fragte er laut in den Raum hinein, erhielt jedoch keine Antwort. Er spürte, wie sich seine Augen mit Tränen füllten, als er wieder auf den Boden zurück sank. „Du kannst mich nicht auch verlassen haben“, wisperte er leise und tastete sich auf dem Boden voran, bis er bei dem leblosen Körper seiner Frau kniete. Er streichelte hilflos über ihr schwarzes Haar und versuchte, in der Dunkelheit wenigstens schemenhaft ihre Gestalt auszumachen. Die Grübchen auf ihrer Wange und die wenigen Sommersprossen, die ihre Nase zierten. Nach einer Weile meinte er tatsächlich, ihre Umrisse erkennen zu können, doch schon ein wenig später musste er sich eingestehen, dass das eine Täuschung war. Er sah gar nichts. „Was soll ich tun?“, fragte er leise in die Stille hinein. Dass sie ihn noch nicht gefunden hatten, so wie der Fremde prophezeit hatte, lag vermutlich daran, dass die Tür zu ihrer Hütte fest verschlossen war. Nur so konnte sich Mateo die Tatsache erklären, dass er die Hand vor Augen nicht sah. Sonst hätte doch zumindest der Schein des Mondes und der Sterne ihm geleuchtet. Aber morgen früh würden sie kommen, wenn sie merkten, dass sich hier nichts regte. Sollte er hier bleiben, bei den Leichen seiner Familie? Sollte er darauf warten, dass die Leute ihn festnahmen? Sollte er ohnmächtig geschehen lassen, dass sie ihn verbrannten? Wofür war sein Leben denn noch lebenswert? Alles, was ihm etwas bedeutet hatte, war fort. Seine ganze Familie. „Was soll ich tun, Carmen?“, fragte er ein weiteres Mal. Noch leiser. Er schloss die Augen und versuchte, sich das Bild seiner Frau vor Augen zu rufen. Wie sie auf der kleinen Bank vor ihrem Haus saß und Evas lange Haare zu Zöpfen flocht. Wie sie erschöpft am Essenstisch saß und müde lächelte, während ihre Kinder munter erzählten. Wie sie tot vor ihm auf den Boden lag. Mateo schluckte und strich sanft über ihre Wange. Bilder von Carmen, als sie in ihrer Jugend aus Protest ihre Haare schief abgeschnitten hatte. Als sie mit Eva schwanger war. Als sie Tino wiegend in den Armen hielt. Tino... Als habe Carmen ihm einen strikten Befehl gegeben, hielt er inne. Er beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie sanft auf die kalte, glatte Stirn. Ebenso Eva, die er nach wenigen Augenblicken auf dem Boden ausgemacht hatte. Dann stand er auf und tastete sich zur Tür. Sobald er sie geöffnet hatte, fiel klares Mondlicht auf ihn hinab. Es war nicht Vollmond, aber schon bald würde es so weit sein, weshalb er in der warmen, klaren Nacht eine gute Sicht hatte. Er schloss die Tür wieder und warf einen letzten, bedauernden Blick auf sein ehemaliges Zuhause, bevor er leise seufzte, sich umdrehte und mit entschlossenen Schritten los ging. Sein Weg führte ihn den Weg zwischen den Hüten entlang, an dem Dorfplatz vorbei und hinaus auf die Straße, die er jeden Tag entlang ging, wenn er zu seiner Arbeit auf das Feld musste. Doch auch an den weiten Feldern ging er vorbei. Seine Schritte beschleunigten sich. Es gab bloß einen Weg, der von ihrem Dorf wegführte, da es an der Küste lag und sehr klein war. Aber sobald die beiden den Nachbarort erreicht haben würden, konnten sie auf zwei Wegen gehen und er hätte sie verloren. Der Weg dorthin betrug etwa einen halben Tag. Er schätzte ihren Vorsprung auf zwei oder drei Stunden ein. Und Tino würde sicherlich nicht die gesamte Strecke über laufen können, wohingegen er selbst keine Last zu tragen hatte. Sein schneller Schritt verfiel allmählich in ein Laufen, wobei er bewusst darauf achtete, gleichmäßig zu atmen und eine Geschwindigkeit beizubehalten, mit der er es länger aushalten konnte. Er lief die ganze Nacht hindurch und auch, als die Sonne langsam aufging, gab er nicht auf. Doch nun hatte auch er eine zusätzliche Last zu tragen, nämlich die Hitze. Schon bald wurde er langsamer, bis er schließlich nur noch schnell ging. Doch obwohl ihm wieder der Schweiß auf der Stirn stand, hielt er nicht an. Er konnte es sich nicht erlauben, eine Pause einzulegen. Es ging immerhin um das Leben seines Sohnes. Falls dieser noch lebte. „Hätte er ihn töten wollen, hätte er das auch gleich tun können“, redete er sich selber ein und wischte mit seinem Tuch über die Stirn. Die Hitze wurde Stunde um Stunde immer drückender, bis die Sonne schließlich im Zenit stand und Mateo doch erschöpft auf den Boden sank. Der Weg, auf dem er nun saß, befand sich zwischen jungen Feldern, weshalb er davon ausging, dass der nächste Ort nicht mehr weit weg war. Doch seine hauptsächlichen Gedanken kreisten sich um die unausweichliche Hitze. Es gab nirgends Schatten und obwohl er seinen Sohn einholen wollte, hoffte er für ihn, dass er schon im Nachbarort war. Vielleicht in einer Schutz bietenden Hütte. Nach ein paar Minuten, in denen er ruhig dasaß, gestand er sich schließlich ein, dass diese Pause sinnlos war. Unter der brütenden Sonne konnte er sich nicht erholen, die Hitze drückte ihn nur noch mehr nach unten und sein Gewissen fühlte sich auch nicht gerade wohl. Also rappelte er sich wieder auf, in der Gewissheit, bald den Ort erreicht zu haben. Und tatsächlich konnte er nach etwa einer weiteren Stunde die ersten Häuser des Dorfes sehen. Diese waren größer als in seinem Dorf und teilweise nicht mit Stroh, sondern ebenfalls mit Stein abgedeckt. Als Mateo zwischen den ersten Häusern erschöpft ein weiteres Mal auf den Boden sank, eilten sofort zwei Frauen in dem Alter von Carmen zu ihm und halfen ihm wieder hoch. „Du bist aus dem Nachbardorf, oder?“, fragte eine der Frauen. Sie führte ihn in eines der größeren Häuser, wo er dankbar im Schatten auf einen Stuhl sank. Der Raum, in dem er sich befand, diente augenscheinlich bloß zum Essen. Eine Treppe an der Seite führte in das obere Stockwerk. Mateo hatte bisher noch nie eine Treppe gesehen, wenn man von der in ihrem Rathaus absah. Die Frau stellte sich als die Schwester von Aurelia, einer Nachbarin heraus, die vor einigen Jahren in die hiesige Dorfgemeinschaft eingeheiratet hatte. Wenn Mateo genau zurückdachte, konnte er sich sogar an ein Mädchen erinnern, das damals fortgegangen war. Vielleicht war es tatsächlich Aurelias Schwester gewesen. „Das hier ist unsere Gastwirtschaft“, erklärte die Frau freundlich. „Mein Mann betreibt sie.“ „Ist hier ein kleiner Junge?“, fragte Mateo müde und schloss einen Moment lang die Augen, um in sich gehen zu können. Er atmete nun etwas ruhiger als zuvor. „Ahh, der kleine Celestino“, lächelte die Frau breit. „Dein Sohn?“ Mateo blickte überrascht zu ihr auf. „Woher...?“ „Wir haben uns gedacht, dass dieser Mann nicht sein Vater sein kann“, erwiderte sie und dämpfte leicht die Stimme. „Um ehrlich zu sein, fanden wir ihn alle ein wenig unheimlich. Ich würde mein Kind niemals mit so einem Menschen fortziehen lassen.“ Und ein wenig lauter setzte sie noch hinzu: „Die beiden haben ein Zimmer genommen und schlafen.“ Sie deutete nach oben. Mateo seufzte lautlos. „Darf ich hoch?“, fragte er und stand, ohne auf eine Antwort zu warten, auf. Die Frau führte ihn die Treppe hinauf und durch einen Gang, an dem mehrere Türen angrenzten. Schließlich pochte sie laut an eine dieser Türen, bevor sie sie öffnete. Der Raum lag völlig abgedunkelt vor ihnen und Mateo spürte, wie Unbehagen in ihm aufstieg. Es war, als führe der Fremde einen Schwall von Angst mit sich herum, den er bei Belieben auf die Menschen loslassen könne. „Señor Viktor“, sagte die Frau laut in den Raum hinein und trat einen Schritt zurück, als wolle sie der Angst entgehen. Mateo hörte nicht, wie er sich bewegte und auf sie zu kam, doch mit einem Mal stand der fahlhäutige Mann vor ihnen. „Mateo“, stellte er fest und ein leises, spöttisches Lächeln umspielte seine Lippen. „Ich habe mich schon gefragt, wann du kommst. Dein Sohn hat dich vermisst.“ „Wo ist er?“, fragte Mateo gereizt und hob die Stimme: „Tino?“ Er versuchte, an dem Fremden vorbei zu gehen, doch das wollte ihm dieser nicht gestatten, indem er sich direkt vor den Türrahmen stellte. „Er schläft“, sagte er ein wenig träge. „Wir haben einen langen Weg hinter uns, wie du sicherlich weißt, und wollen bei Sonnenuntergang weitergehen.“ „Du glaubst doch wohl nicht wirklich, dass ich dich mit meinem Sohn weggehen lasse“, sagte Mateo gereizt und ballte die Hände zu Fäusten. Er war eigentlich ein sehr friedfertiger Mensch, doch seine Geduld war langsam am Ende. Und hätte er nicht eine solche Angst vor dem Fremden gehabt, hätte er ihn mit Sicherheit schon geschlagen. Der Mann blickte über Mateos Schulter hinweg zu der Frau, die interessiert im Gang stand und zuzuhören schien. Noch immer zierte dieses unheimliche Lächeln seine Lippen. „Wir reden allein darüber“, beschloss er und verließ das Zimmer. Er schloss die Tür hinter sich und setzte sich in den Flur. „Verzeihung“, murmelte die Wirtin, die etwas rot angelaufen war, und hastete die Treppe hinunter. „Setz' dich doch“, bat ihn der Fremde und deutete auf den Boden. Mateo ließ sich ihm gegenüber auf den Boden sinken. „Was willst du von ihm?“, fragte er angespannt. „Ich heiße Viktor“, lenkte der Mann das Gespräch um. „Und ich will deinem Sohn nichts Böses. Im Gegenteil. Würde er in diesem Dorf bleiben...“ Er schnaubte verächtlich. „Das wäre sein baldiger Tod. Er ist zu jung, um alleine damit fertig zu werden.“ „Womit?“, fragte Mateo und blickte wie gebannt die Tür an. „Hast du es denn nicht gemerkt?“, fragte Viktor. „Dein Sohn ist nicht mehr der, der er einmal war.“ Mateos Kopf senkte sich und er schwieg. Er wusste, dass Viktor Recht hatte, doch er wagte nicht, ihn zu fragen, was passiert sei. „Und wo willst du ihn hinbringen?“, fragte er schließlich leise. „Nach Florenz“, erwiderte Viktor. „Dort wird entschieden, was mit ihm passiert.“ Wieder sprach Mateo die Fragen, die ihm auf der Zunge lagen, nicht aus. „Ich werde mitkommen“, sagte er. Viktors Lächeln wurde ein wenig schwächer. „Das habe ich mir gedacht“, sagte er. „Du darfst uns gerne begleiten, Mateo. Aber erwarte nicht zu viel von ihm.“ „Wann gehen wir?“, fragte Mateo stur. „Sobald die Dämmerung hereinbricht.“ Der Mann erhob sich. „Solange sollten wir uns alle noch ein wenig ausruhen.“ „Es ist üblich für Leute wie dich, nachts zu reisen, hm?“ Wenn Viktor die Herausforderung in Mateos Stimme gehört hatte, so zeigte er es nicht. Stattdessen lächelte er wieder. „Tagsüber ist es mir momentan einfach zu heiß“, gab er zurück. „Dir etwa nicht?“ Und damit verschwand er wieder in dem Zimmer. Mateo blieb vor dem Zimmer sitzen und lauschte auf Geräusche. Er fragte die Wirtin nicht nach einer eigenen Schlafstätte, weil er sich sicher war, dass Viktor nicht auf ihn warten würde. Daher genoss er den kühlen Schatten der Steinwände und schloss erschöpft die Augen, um sich ein wenig auszuruhen. Sie verließen tatsächlich, nachdem sie gegessen hatten, bei Anbruch der Dunkelheit das Dorf, um auf einem der Wege weiter zu gehen. Viktor ging schweigend voran, Tino hinterher. Mateo ging eine Zeit lang neben seinem Sohn, aber als Tino mehrfach nicht auf eine Ansprache reagiert, ließ sich Mateo noch ein Stück zurückfallen. Er beobachtete seinen Sohn, der vor ihm über den Weg ging. Langsame, etwas schlurfende Schritte; nicht mehr der fröhlich-hopsende Gang von früher. Die schwarzen Haare des Jungen wirkten dumpfer als vorher und er ließ die Schultern hängen. Vampir war das erste Wort, das Mateo in den Sinn kam. Er kannte die zahlreichen Mythen und Legenden. Er hatte selber miterlebt, wie Menschen vorgeworfen war, zu morden und das Blut ihrer Opfer zu trinken. Und er hatte Tino neben den toten Körpern seiner restlichen Familie liegen gesehen. Kein Blut, abgesehen von dem an Tinos Hals. Was, wenn er verwandelt worden war? Wenn dieser Viktor ebenfalls ein Vampir war? „Du solltest dir nicht zu viele Gedanken machen“, sagte eine ruhige Stimme neben ihm und Mateos Herz machte einen kleinen Sprung. Viktor hatte sich zurückfallen lassen und ließ Tino nun vorlaufen. Er machte ein nachdenkliches Gesicht, während er Tino betrachtete. „Was ist mit ihm passiert?“, fragte Mateo. Die Antwort kam zögerlich, aber deutlich: „Es hat mit ansehen müssen, wie seine Mutter stirbt. Welches Kind würde das nicht zerstören?“ „Es ist etwas anderes“, beharrte Mateo, dessen Herz wieder ein wenig schwerer wurde. „Warum hast du so ein Interesse an ihm?“ „Ich habe deiner Familie nichts getan“, wechselte Viktor das Thema. „Und Celestino auch nicht.“ „Danach habe ich dich nicht gefragt“, stellte Mateo bissig fest. „Du glaubst mir also?“, fragte Viktor. „Das ist schön.“ Mateo blickte ihn ein wenig verärgert von der Seite her an, doch Viktors Gesicht glich einer Maske und noch bevor sich der Mann fragen konnte, ob er nicht doch lieber wieder dieses unheimliche Lächeln sehen wollte, wandte der Andere sein Gesicht ab, um die Berge, die einige hundert Meter von ihnen entfernt hinter den Felder zu ihrer Seite auftaten, genauer zu betrachten. „War war es dann?“, fragte Mateo beharrlich. „Du musst keine Rache nehmen“, sagte Viktor. „Das habe ich schon getan.“ Verdutzt hob Mateo eine Augenbraue. „Du rächst dich dafür, dass meine Familie ermordet wurde? Sehr nobel.“ „Deine Familie ist mir egal“, gab Viktor kaltherzig zurück. „Ich kümmere mich nur um meine eigenen Angelegenheiten.“ Und damit ging er wieder ein wenig schneller, um Tino einzuholen, der zu ihm auf sah und ihn etwas zu fragen schien. Mateo beschleunigte ebenfalls seine Schritte, doch sobald er die beiden erreicht hatte, verstummte das Gespräch. „Wir können den morgigen Tag in einer Höhle in den Felswänden verbringen“, sagte Viktor nach einer Weile. „Und woher weißt du, dass dort eine ist?“, wollte Mateo wissen. „Muss wohl schwarze Magie sein“, sagte Viktor ein wenig entnervt. „Ich bin nämlich damals zu eurem Dorf geflogen.“ Sie schafften es die ganze Nacht über ohne Rast zu wandern und schließlich, kurz vor Sonnenuntergang, führte sie Viktor über das Feld und mit einer unheimlichen Genauigkeit zu einer kleinen Höhle im Fels. Darin befanden sich zwei abgekühlte Schlafstätten aus Stroh, vermutlich aus dem angrenzenden Feld. „Bist du müde, Tino?“, fragte Mateo fürsorglich. Er hatte es mit Erstaunen beobachtet, dass sein Sohn offensichtlich keinerlei Probleme gehabt hatte, stundenlang zu gehen. Vermutlich war das der Grund dafür, dass Viktor und Tino in der vorherigen Nacht so schnell vorangekommen waren; Tino war nicht die Last, für die Mateo ihn gehalten hatte. Tino schüttelte leicht den Kopf. „Ich habe Hunger“, sagte er und schaute Viktor ein wenig vorwurfsvoll an. Viktor zuckte leicht mit den Schultern. „Wir haben hier nichts. Leg' dich hin und schlaf'.“ Tino verengte die Augen zu Schlitzen. „Wir haben hier nichts?“, wiederholte er spöttisch. Mateo fröstelte leicht, als ihm gewahr wurde, dass Tino nicht mit ihm, sondern nur mit Viktor redete. Betrachtete er Mateo etwa als... Beute? Er wusste nicht, was er sagen sollte. Sollte er mit Tino schimpfen? Er konnte sich doch eigentlich denken, dass dies jetzt genau das Falsche gewesen wäre. „Möchtest du am Eingang schlafen?“, fragte er behutsam. „Viktor“, sagte Tino mit schneidendem Ton. „Leg' dich hin und gib Ruhe“, befahl Viktor mit düsterem Blick und verließ die Höhle wieder. Mateo setzte sich auf die harte Schlafstätte am Eingang und schaute hinaus. Viktor verschwand schon bald aus seinem Blickfeld. Er war allein mit Tino. Plötzlich spürte er, wie eine kalte Gänsehaut seinen Rücken hinauf schlich. Das war nicht mehr der Sohn, den er kannte. Und beschämt musste er sich eingestehen, dass er sich nicht wohl dabei fühlte, mit ihm allein zu sein. Tino legte sich hin und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. Mateo seufzte lautlos. Was hätte Carmen an seiner Stelle getan? Hätte sie versucht, mit Tino zu reden? „Ist dir das ganze Wandern nicht zu viel?“, fragte Mateo also, um ein Gespräch zu beginnen. Tino blickte ihn einen Moment lang aus ausdruckslosen Augen an, verzog leicht das Gesicht und schaute wieder weg. Eine Antwort gab er seinem Vater nicht. „Was ist los mit dir?“, fragte Mateo gepresst. „Gibst du mir etwas die Schuld für das, was passiert ist?“ Wieder erwiderte Tino nichts. „Rede gefälligst mit mir!“, forderte ihn Mateo gereizt auf. „Ich bin immer noch dein Vater!“ „Nicht mehr“, sagte Tino und legte sich auf die Seite, um Mateo den Rücken zuzuwenden. Mateo hatte seine beiden Kinder nie geschlagen und eigentlich hatte er vorgehabt, es auch nie zu tun. Doch in diesem Moment verspürte er ein unbeschreibliches Verlangen, dem Jungen Schmerzen zu bereiten. Doch er beherrschte sich, nicht zuletzt weil Viktor wieder in die Höhle trat, wo er sich aus der Ernte, die er eingesammelt hatte, eine eigene Schlafstätte zu bereitete. Mateo legte sich nun ebenfalls hin und schloss die Augen. Er fühlte sich zerbrochen. Seine Frau war tot, ebenso seine Tochter. Und sein Sohn wollte nichts mehr von ihm wissen. Und auch wenn Viktor es nicht offen zugegeben hatte, so war sich Mateo doch sicher, dass die beiden keine Menschen mehr waren. Das spürte er einfach. Und sie würden eines Tages Menschen töten, was zumindest Viktor vielleicht schon getan hatte. Mateo konnte Tino kein Vater mehr sein. Wie denn auch? Er hatte ihm doch nichts mehr zu geben. Keine Heimat, keine richtige Familie und ganz besonders das nicht, was Tino jetzt zu brauchen schien. Es war, als sei der Junge nicht mehr sein Sohn. Und trotzdem stand Mateo nicht auf und verließ die Höhle, um sein Leben zu retten. Nein, er blieb ruhig liegen und wischte sie die Tränen aus seinen Augen. Die Nächte wurden für die kleine Gruppe zum Tag und die Tage zur Nacht. Mateo fragte sich oft, warum er die beiden - insgeheim nannte er sie Vampire - noch begleitete. Er wusste, dass es für ihn sicherer wäre, einfach zurück zu gehen oder in einem der Dörfer zu bleiben, an denen sie vorbei kamen. Doch jedes Mal, wenn er diesen Entschluss gefasst hatte, war es, als höre er die mahnende Stimme seiner Frau. Natürlich würde sie nicht wollen, dass Mateo ihren Sohn allein ließ, auch wenn Tino sich von ihm gestört zu fühlen schien. Viktor hingegen verhielt sich ihm gegenüber freundlich. Natürlich war er kein fröhlicher Mensch und Mateo schauderte trotzdem oft, wenn ihm der Mann ihn mit einem seiner unheimlichen Blicke bedachte, doch insgesamt gab sich Viktor offensichtlich Mühe. Schließlich war es soweit und Mateo beobachtete Viktor, wie er ein Tier einfing, um dessen Blut zu saugen. „Wenn du das brauchst“, sagte er kühl und trat von hinten an Viktor heran, „warum vergreifst du dich nicht an mir? Menschenblut schmeckt doch bestimmt besser.“ Viktor ließ überrascht das tote Tier wieder zu Boden fallen und blickte Mateo mit Blut in den Mundwinkeln an. Es war helllichter Tag, die Zeit, zu der Mateo und Tino in der Regel schliefen. Doch Mateo war schon öfter aufgefallen, dass Viktor sie allein ließ, und nun war er ihm gefolgt. offenbar begründet. „Ich will dich nicht töten“, sagte Viktor schließlich und wischte sich die Blutreste aus den Mundwinkeln. Mateo verengte die Augen leicht zu Schlitzen. „Ach, und warum nicht?“, fragte er zynisch. Viktor zögerte. „Du bist immerhin sein Vater“, sagte er dann nach einiger Zeit des Überlegens. „Ich bin kein Vater mehr für ihn, sondern ein Beutetier“, gab Mateo gereizt zurück, schließlich hatte ihn Viktor schon mehrfach darauf hingewiesen, dass Tino ihn nicht mehr als seinen Vater ansah. „Gib' ihm doch auch mal ein paar tote Ratten, dann schaut er mich vielleicht nicht mehr so gierig an!“ Er hatte eigentlich erwartet, dass sich wieder dieses schiefe Lächeln auf Viktors Gesicht schleichen würde, das sich nie auf die Augen ausweitete. Doch er hatte sich geirrt. Viktor blieb ernst. „Er darf kein Blut trinken, bis entschieden wurde, was aus ihm werden soll“, wich er aus. „Und ich bitte dich inständig, ihn nicht auf die dumme Idee zu bringen, es zu tun. Du würdest ihn damit nur bekräftigen.“ „Ihr seid also wirklich Vampire“, stellte Mateo fest. „Wenn du uns so nennen willst“, winkte Viktor ab. „Und warum darf er kein Blut trinken?“, fragte Mateo. Viktor schien zu überlegen, ob Mateo es wirklich wert war, um eingeweiht zu werden. Schließlich schien er sich entschieden zu haben: „Ein... Vampir, der kein Blut trinkt, ist schwach. Das ist der Grund, weshalb Tino sich mir so unterwirft. Er hat keine Ahnung, was für eine Macht er haben kann. Und da er ein Kind ist, wäre er auch nicht dazu in der Lage, diese Kraft zu kontrollieren. Das ist der Grund dafür, dass es uns verboten ist, Kinder zu beißen.“ „Und warum wurde er gebissen?“, fragte Mateo aufgebracht. „Das weiß ich nicht.“ Viktor verschränkte die Arme vor der Brust und blickte ungeduldig zur Seite. „Wer wird entscheiden, was aus Tino wird?“, stellte Mateo nun eine andere Frage. „Und was könnte passieren?“ „Sie werden ihn nicht töten, keine Sorge“, gab Viktor zurück. „Vermutlich wird ihm jemand zur Seite gestellt, der ihm beibringt, sich zu beherrschen.“ „Du vielleicht?“ Viktor lachte auf. „Ich? Nein, vermutlich nicht.“ Er bewegte sich nun wieder in die Richtung des Weges, vermutlich um zu der kleinen Stadt zurück zu kehren, in der Tino noch immer schlief. „Ich mag keine Kinder“, erzählte er schließlich. „Und der einzige Grund, weshalb ich mich um den Kleinen kümmere, ist das Gesetz, dem ich folgen muss.“ Mateo, der neben ihm ging, nickte langsam. „Schön, dass wenigstens einer von uns beiden ihn mag“, sagte er. „Er ist nicht mehr der Sohn, den du mal hattest, Mateo“, erzählte ihm Viktor zum wiederholten Male. „Und ich wette mit dir, dass er dich vergessen würde, sobald er mal einen Monat lang keinen Kontakt zu dir hätte.“ „Und das hast du vor“, warf ihm Mateo vor. „Ihn von mir trennen und von einem blutrünstigen Monster zu einem Mörder heranziehen lassen.“ Viktor lächelte schief. „Natürlich. Du hast die Lage erfasst.“ Er schüttelte leicht resignierend den Kopf und murmelte leise etwas unverständliches. In Mateos Ohren klang es ziemlich nach einer Beleidigung. „Mal im Ernst: Der Junge wird zum Mörder, egal was jetzt passiert. Er wird früher oder später auf den Geschmack von Blut kommen und Menschen töten müssen. Von Tierblut können wir nicht länger als ein paar Wochen leben. Das Einzige, was wir tun können, um Tino zu helfen, ist ihm jemanden zur Seite zu stellen, der ihm beibringt, sich zu mäßigen.“ Mateo blieb stehen und blickte dem Vampir hinterher, der ein paar Schritte ging, bevor er sich zum ihm umdrehte und ihn zu sich winkte. Doch der Mann war wie betäubt. Er hatte nicht auf eine solch direkte Weise erfahren wollen, dass sein Sohn zum Mörder werden musste. Und ihm war klar geworden, dass auch Viktor Menschen töten musste. Was hätte er sonst in ihrem Dorf gewollt? „Ihr seid zu zweit gewesen“, sagte er mit gedämpfter Stimme, als ihm die beiden ungemütlichen Schlafstätten in der Höhle einfielen. „Und der, der bei dir war, hat uns das angetan.“ Obwohl Viktor ihm nicht antwortete, wusste er, dass es stimmte. Und obwohl Viktor seiner eigenen Familie vielleicht nichts angetan hatte, so hatte er doch andere Dorfbewohner getötet. Er war mit der Absicht in ihr Dorf gekommen, sich leichte Beute zu holen. Und er hatte es dabei in Kauf genommen, dass ein Unschuldiger für verbrannt wurde. „Nachdem der Scheiterhaufen brannte, hätten wir das Dorf verlassen sollen“, sagte Viktor kühl. „Aber du hast ja selbst feststellen dürfen, dass Ilia das nicht wollte.“ Er drehte sich wieder um und warf einen ungeduldigen Blick über die Schulter zu Mateo zurück. „Wenn du mich jetzt entschuldigst – die Sonne vernichtet uns zwar nicht, wie die Legenden sagen, aber ich möchte trotzdem zurück in den Schatten.“ Und damit ging er den Weg entlang und ließ Mateo alleine stehen. Der Mann sank auf den Boden und blickte den trockenen Weg unter sich an. Festgetretene, heiße Erde. Es war später Nachmittag und Mateo wusste, dass sie in nur wenigen Stunden wieder aufbrechen würden, aber er hatte keine Lust dazu, sich in der Gaststätte auszuruhen. Er könnte jetzt sowieso nicht schlafen. Wann war ihm sein Leben eigentlich so entglitten? Er hatte sich noch nicht einmal um eine anständige Bestattung für seine Frau und seine Tochter gekümmert. Aber vermutlich hatte Viktor Recht, wenn er sagte, dass Mateo in seinem Dorf sowieso keine Zukunft mehr gehabt hätte. Die hätten ihn brennen lassen. Dafür, dass ihm Frau und Kinder genommen worden waren. Und schon bald würde man ihm Tino endgültig entreißen. Wie konnte Mateo ihm denn noch helfen? Tinos Schicksal war quasi besiegelt; er würde lernen, zu töten. Und er würde Mateo, seinen eigenen Vater vergessen. Er würde Carmen vergessen und Eva, mit der er sich immer so herrlich gestritten hatte. Durfte Mateo es eigentlich zulassen, dass so etwas geschah? Hatte er nicht die Pflicht als Vater, diese schwierige Situation einfach zu beenden? Als Mateo in die Gaststätte kam, saß Viktor alleine in der unteren Stube und trank Wein aus einem Krug. Der Wirt lag reglos hinter einem der Tische, leichenblass. Ein Anblick, wie Mateo ihn schon einmal gesehen hatte. „Tut mir Leid“, sagte Viktor. „Ich konnte nicht anders. Ich werde die Leiche gleich wegbringen, keine Sorge.“ Mateo zwang sich, den Wirt nicht anzusehen, als er sich neben Viktor an den Tisch setzte und ihm den Wein weg nahm. Er trank selbst zwei Schlucke, bevor er den Krug abstellte und langsam sagte: „So kann das nicht weitergehen.“ Viktor nickte leicht. „Ich wusste, dass du das irgendwann sagen würdest.“ Er nahm den Krug in die Hnd und trank selber noch einen Schluck daraus. „Es war mir klar, seit du uns in diesem kleinen Dorf eingeholt hast. Du bist niemand, der Sachen unbeendet lässt.“ Er schob den Krug wieder zu Mateo, der ihn jedoch nicht anrührte. „Genau wie ich.“ Eine Zeit lang schwiegen die beiden sich an, bis Mateo schließlich mit gedämpfter Stimme fragte: „Wie hast du Ilia umgebracht?“ „Ihm einen Pflock ins Herz gejagt“, sagte Viktor. „Ach, der Teil der Geschichte ist also wahr?“, fragte Mateo und konnte es sich nicht verkneifen, leicht zu grinsen. Viktor nickte leicht. „Oh ja“, murmelte er in Gedanken versunken und verzog leicht das Gesicht. „Dabei ist es die Hölle, allein zu sein. Wir waren lange Zeit Freunde... oder so etwas in der Art. Er hätte kein Kind verwandeln sollen.“ „Du bist nicht allein“, sagte Mateo und trank nun doch wieder einen Schluck. Er leerte den Krug und stellte ihn auf den Tisch. Er zögerte leicht, bevor er fragte: „Viktor, darf ich dich um einen Gefallen bitten?“ „Soll ich den Kleinen für dich töten?“, fragte Viktor leicht amüsiert, doch Mateo erkannte, dass das bloß gespielt war. „Du weißt, dass ich das nicht zulassen würde“, entgegnete Mateo und atmete tief ein. „Hilf' mir, wieder ein guter Vater für ihn zu sein.“ „Und ein Freund für mich?“, fragte Viktor leise. Mateo nickte. „Ja, und ein Freund für dich.“ Er lächelte, bevor ihn der Schmerz das Bewusstsein verlieren ließ. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)