Quicksand von Meggy-Jo ((~ GaaraXYuka~)) ================================================================================ Kapitel 13: Das letzte Sandkorn ------------------------------- „Willkommen im größten und bedeutendsten Stück amerikanischer Geschichte! Hier haben wir die schlecht gelaunte, unterbezahlte Putzfrau zu unserer Rechten, die vergammelten Zierpflanzen zu unserer Linken und den Gestank von Frittierfett und verbrannten Pommes allumfassend!“ Gaara starrte mich derart unbeeindruckt an, dass ich nicht anders konnte, als laut loszulachen. Welche andere Reaktion hatte ich auch von einem Ninja erwartet, der zum ersten Mal ein McDonald’s Restaurant von Innen sah? Mit raschen Schritten drängte ich mich an der Putzfrau vorbei, die nach meiner kleinen Ansprache noch weitaus schlecht gelaunter ihren Wischmopp über den Linoleumboden schwang. Mein Magen knurrte, seit wir das Fabrikgelände verlassen hatten, und ich konnte es ihm nicht verübeln. Schließlich hatte ich seit den paar Äpfeln heute Morgen nichts mehr gegessen und in der Zwischenzeit mehrere Überlebenskämpfe bestritten. Gaara dagegen wirkte eher angewidert, als er neben mir an der Theke des Fast Food Restaurants stand, wo der Geruch nach gegrilltem Fleisch schon übermächtig in der Luft lag. Ich machte mir gar nicht erst die Mühe, ihn zu fragen, was er essen wollte – eine Antwort würde ich sowieso nicht bekommen. Stattdessen kramte ich meinen Geldbeutel aus der Hosentasche und wandte mich mit einem strahlenden Lächeln an den jungen Verkäufer. „Guten Abend! Wir hätten gern zwei Big Mac, zwei Cheeseburger und einen Chickenwrap. Dazu zwei Portionen Pommes und zwei große Cola!“ Diese – zugegeben wirklich große – Bestellung füllte ein komplettes Tablett und ich hatte Mühe, es zu einem der schlecht geputzten Tische zu transportieren. Das hielt mich allerdings nicht davon ab, meiner fantastischen Stimmung Luft zu machen, indem ich ein paar Drehungen um die eigene Achse machte, ehe ich mich lachend auf einen Stuhl fallen ließ. „Komm schon, Gaara! Pflanz dich hin!“, rief ich und trat gegen den zweiten Stuhl. Seinem abschätzenden Blick nach zu urteilen, war er nicht gerade angetan von der Situation, doch er folgte meiner Aufforderung nach kurzem Zögern. Ich spürte, dass er mich keine Sekunde aus den Augen ließ. „Ach, mach dir keine Sorgen! Ich fress’ dir schon nicht alles weg! Welchen Burger willst du?“ Ich hielt ihm die beiden verschiedenen Varianten unter die Nase, doch Gaara starrte mir nur weiterhin direkt ins Gesicht, als hätte ich einen überdimensionalen Pickel. Schulterzuckend stellte ich die Schachtel mit dem Big Mac vor ihm ab und nahm mir selbst den Cheeseburger. „Jetzt tu nicht so, als wärst du Vegetarier, oder so was! Das ist echt nicht schlimm! Das ist nur Fleisch mit Brot und Salat und Tomaten und irgendeiner Soße und…“ Meine restlichen Erklärungen waren nicht mehr zu verstehen; ich war zu sehr mit Kauen beschäftigt. Mir war egal, dass ich wie ein Schwein aussah, als ich in Rekordzeit zwei Burger inklusive Pommes verdrückte und dabei mein komplettes Gesicht mit Ketchup und der undefinierbaren Big Mac Soße beschmierte. Gaara registrierte Letzteres lediglich durch eine leichte Falte auf seiner brauenlosen Stirn, ansonsten starrte er mich unverwandt an und zeigte nicht das geringste Interesse am Essen. Ich musste mir unwillkürlich vorstellen, was er wohl von meinen mangelhaften Tischmanieren hielt, und brach in Gelächter aus. „Wehe, du kommst jetzt mit einem Kommentar, dass ich mich nicht wundern soll, dass kein Kerl mich will, wenn ich wie ein Kleinkind esse!“, lachte ich mit halb vollem Mund und griff nach einer Serviette, um zu retten, was noch zu retten war. Er bewegte den Kopf ganz leicht und ich war mir nicht sicher, ob das ein Kopfschütteln darstellen sollte. Einige Sekunden schwieg er, bis ich mit einem erneuten Lachen den Kampf gegen mein hoffnungslos verschmiertes Gesicht aufgab und mich stattdessen dem Chickenwrap widmete; dann lehnte er sich leicht zurück und kniff die Augen prüfend zusammen. „Wie kannst du das tun?“, fragte er. Ich hob den Kopf und fing eine Tomatenscheibe auf, die mir dabei aus dem Mund fiel. „Was? Essen?“ „Nein. So fröhlich sein, als wäre alles in allerbester Ordnung.“ Seine Stimme klang hart und auch die Falte fraß sich tiefer in seine Stirn. „Warum sollte ich mich nicht freuen? Es ist alles wieder okay, meine Familie ist in Sicherheit, ich kann in mein altes Leben zurück – Happy End würd’ ich mal sagen.“ Die Falte verwandelte sich in einen regelrechten Grand Canyon und das gefiel mir gar nicht; sein Gesicht war glatt und unbewegt eindeutig ansehnlicher. „Dir scheint da etwas nicht ganz klar zu sein.“ Er beugte sich nach vorn und stützte sich mit den Ellbogen auf dem Tisch ab. So aus der Nähe betrachtet blitzten seine Augen vor Kälte und das war genau das, was er hatte erreichen wollen. „Ich bin nicht der Held. Nicht der strahlende Retter, der alles glücklich enden lässt. Ich bin das Monster, dein allerschlimmster Alptraum. Und du bist nichts weiter als eine unwichtige Figur auf meinem Schachbrett“, raunte er und ich hätte schwören können, dass die Zimmertemperatur bei diesen eisigen Worten um mindestens zehn Grad fiel. Ganz, ganz langsam legte ich den Chickenwrap beiseite und beugte mich ebenfalls über den schmalen Tisch zu ihm hin. Nur noch wenige Zentimeter trennten uns und ich hatte alle Mühe, seinem Blick stand zu halten. „Und was würdest du sagen, wenn ich dir das nicht glaube, Monster?“, sagte ich ebenso leise und versuchte cool auszusehen. So cool, wie man mit Ketchup auf der Nase eben wirken konnte. „Dass es nichts an deinem Tod ändern wird.“ „Hättest du Interesse daran, dass ich verrecke, hättest du ausreichend Gelegenheit dazu gehabt. Weißt du, was ich glaube?“ Ich lächelte möglichst selbstsicher, um mir meinen frenetischen Pulsschlag nicht anmerken zu lassen. „Du kannst mir überhaupt nichts antun. Sonst hättest du dich nie so sehr ins Zeug gelegt, um mich zu schützen.“ Das war was ich hoffte, nicht, wovon ich überzeugt war. War die Falte auf seiner Stirn bis dahin ein Grand Canyon gewesen, so nahm sie nun die Ausmaße des Mount Everest an. Seine Kiefer pressten sich aufeinander und ich konnte sehen, wie er die Hände an der Tischkante verkrallte. „Irrtum“, murmelte er gepresst und ich fühlte, wie alle meine Instinkte mir zur Flucht rieten. Seine Stimmungsschwankungen waren immer gefährlich. „Das Monster hat höchstens eine besonders anziehende Beute gefunden. Eine Beute, die es besessen macht. Der Gedanke, das zarte Fleisch dieser Beute zu zerreißen … all ihre Träume und Zukunftspläne zu zerstören … ihre Familie verzweifelt zu machen … Das ist so viel reizvoller, als einen dahergelaufenen Niemand zu töten.“ Ein eiskalter Schauder kroch meinen Rücken hinab und ich wich reflexartig einen Zentimeter zurück. Doch obwohl es mit Sicherheit klüger und auch gesünder für mich wäre, sofort davonzulaufen – egal, ob sein Sand etwa zehnmal so schnell war wie ich – verharrte ich auf dem Stuhl und verwandte all meine Energie darauf, nicht zu zittern. Was er sagte, machte mir fürchterliche Angst, doch zugleich war ich auch fasziniert von seiner mörderischen Erhabenheit. Wie eine Maus, die nicht anders konnte, als in die tödliche Falle zu tappen, weil der Käse einfach zu verlockend war. „Definiere den Begriff besessen“, hauchte ich und war mir fast sicher, dass meine Stimme bebte. Er schwieg für die Dauer weniger Herzschläge, die viel zu schnell in meiner Brust pochten, und als er seine Stimme wieder erhob, klang sie dunkler als je zuvor. „Sie ist hübsch, dein kleines Mädchen, und sie hat Mumm in den Knochen. Stell dir nur mal vor, in was für ein zitterndes, hilfloses Nervenbündel du sie verwandeln könntest. Es sieht doch wunderschön aus, wenn sie weint und sich zusammenkauert. Gib es zu, du magst das. Du würdest es genießen, diesen unerschütterlichen Ausdruck von ihrem Gesicht zu wischen und sie endgültig zum Spielball unserer Macht zu machen. In den vielen hundert Jahren, die ich schon existiere, habe ich selten eine so reizende Beute gesehen, also opfere sie mir endlich! Zerschlage ihren wunderschönen Körper, brich jeden Finger dieser filigranen Hände, nimm den Glanz aus ihren lebhaften Augen, lass ihre Haut von Blut befleckt sein – dann kann sie uns keiner mehr wegnehmen!“ In meinem Kopf begann sich alles zu drehen und ich konnte nicht anders, als ihn aus geweiteten Augen anzustarren, wie er sich nun zurücklehnte und die Arme ganz ruhig vor der Brust verschränkte. „Das ist es, was Shukaku mir ununterbrochen einredet.“ Da verstand ich, wie naiv ich gewesen war. All seine Bemühungen, mein Leben zu schützen, hatten nur diesen einen Hintergrund gehabt. Er wollte selbst Derjenige sein, der mich tötete, nur darum hatte er mich beschützt. Darum hatte ich keinen Grund, gut gelaunt zu sein, denn meine Frist war abgelaufen. In Sekundenschnelle überschlug ich meine Chancen, jetzt sofort aufzuspringen und zur Tür hinaus zu flüchten, bevor er mich festhalten und mit dem Sand in Stücke reißen konnte. Panik wuchs in meiner Brust an, denn ich wusste genau, dass mir das nie gelingen würde. Ich saß in der Falle. Mein Tod war beschlossene Tatsache. Mir wurde schwindelig und ich musste mich am Tisch festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. „Ach so … verstehe…“, presste ich heiser hervor. „Das hast du vorhin gemeint, als du mich als hübsch bezeichnet hast. Du findest mich als Leiche hübsch.“ Sein Blick war Antwort genug. Blitzschnell senkte ich den Kopf und starrte auf die Tischplatte. Das Blut rauschte mir in den Ohren und ich musste mich dazu zwingen, das Atmen nicht zu vergessen. Es kostete mich unendlich viel Kraft, mich aufrecht auf dem Stuhl zu halten, während die Gedanken wie ein verstricktes Knäuel durch meinen Kopf wirbelten. In den vergangenen Tagen war ich so oft mit dem Tod in Kontakt gekommen, dass es mich kaum mehr überraschen sollte, dass mein Ableben erneut in greifbare Nähe rückte. Doch die Art, wie es vor sich gehen würde… „Und … bevor du gehst, wirst du zulassen, dass er sich…“ Ich schloss die Augen und zwang mir die folgenden Wörter über die Lippen. „…an mir austobt…“ Ich konnte meine viel zu lebhafte Fantasie kaum davon abhalten, sich auszumalen, was für Qualen ein außer Kontrolle geratener Dämon mir zufügen konnte. Stille legte sich über den Tisch, bis sie von einem lauten Knarren durchbrochen wurde. Das ließ meine Panik endgültig überschwappen. Ich konnte nicht anders, als mit einem halblauten Aufschrei die Arme um meinen Oberkörper zu schlingen und mich auf dem Stuhl zusammenzukauern. Doch zu meiner Überraschung griff Gaara nicht an, sondern machte seinem Ärger lediglich mit einem mühsam unterdrückten Knurren Luft. „Halt endlich die Klappe und komm mit!“ Ich presste mein Gesicht an meine angezogenen Knie und versuchte meine Stimme wieder zu finden, was mir nur mit äußerster Mühe gelang. „Wo- … wohin?“, brachte ich wimmernd über die Lippen. Wenn ich ohnehin sterben musste, warum dann nicht gleich hier und jetzt? „Irgendwohin, wo mehr Platz ist.“ Mir wurde schlecht bei der bloßen Vorstellung, wofür er mehr Platz benötigen würde. Ich wollte ihm nicht folgen – mal abgesehen davon, dass ich ohnehin nicht glaubte, dass meine Beine mich noch tragen würden – und ich wollte ihm gerade den letzten patzigen Kommentar meines Lebens an den Kopf werfen, als mir ein furchtbarer Gedanke kam. Wir befanden uns in einem Fast Food Restaurant. Außer uns waren noch viele weitere Gäste anwesend, inklusive dem Personal. Und es stand außer Frage, dass jeder einzelne von ihnen ebenfalls sterben würde, wenn Gaara seinen Dämon hier und jetzt seine Macht entfalten ließe. Das war etwas, was ich niemals zulassen konnte. Blitzschnell war ich auf den Beinen und steuerte äußerst ungelenk auf die Tür zu. Ich musste mich an der Wand festhalten, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, doch irgendwie gelang es mir, aus dem Restaurant zu stolpern. Das Herz schlug mir bis zum Hals und ich schwitzte, obwohl die Sonne längst untergegangen war. Gaara schien all dies nicht zu bemerken, oder einfach zu ignorieren. Er lief einen guten Meter vor mir den Gehweg entlang und doch war mir klar, dass er mich dennoch im Blick hatte. Als ich zwei Straßenecken vom McDonald’s Restaurant entfernt kurz in Richtung einer Haustür torkelte – ich hatte gesehen, dass sie einen Spalt breit offen stand und hatte geglaubt, wenn ich schnell genug ins Haus käme und ihm dann die Tür vor der Nase zuschlagen würde, wäre ich vielleicht gerettet – wandte er nur einmal ganz kurz den Kopf zu mir um und durchbohrte mich mit seinen Augen. Da gab ich es auf und schleppte mich mit zusammengebissenen Zähnen hinter ihm her. Ich hatte bereits geahnt, dass sein Ziel die unwegsamen Felder außerhalb Frankforts waren. Als Kind hatte ich dort oft gespielt, doch an diesem Abend wirkte selbst die vertraute Umgebung bedrohlich auf mich. Die knorrigen Bäume wiegten sich im Wind; rauschend bewegten sich die Blätter im Takt dazu. Und auch mein Herz schien sich der leichten Sommerbrise anzupassen, indem es heftig in meiner Brust flatterte, statt normal zu schlagen. Ein Teil von mir wollte den Mund öffnen, um Gaara vielleicht doch von seinem Vorhaben abzubringen, doch allein der furchterregende Anblick seiner feinen Silhouette mit den funkelnden Jadeaugen im Mondlicht hinderte mich daran. Und er ließ sich Zeit. Zuerst holte er in aller Ruhe das Gerät von Professor Mercury aus seiner Hosentasche und setzte es mit ein paar Knopfdrücken in Betrieb, dann warf er es zu Boden und betrachtete, wie der violette Lichtkreis an der Oberfläche immer greller wurde. Ich überlegte gerade, ob ich vielleicht doch versuchen sollte in den anliegenden Wald zu flüchten, als der Wind plötzlich auffrischte und mir die Haare schmerzhaft ins Gesicht peitschte. Rasch sah ich auf und bemerkte mit Schrecken, dass Gaara sich mir zugewandt hatte. Das Gerät entfaltete seine Wirkung und er hatte jetzt wohl vor, die verbleibende Zeit mir zu widmen. Ich wollte schreien, ich wollte meine tauben Beine zur Bewegung zwingen – ich wollte alles, um nicht hier und jetzt auf bestialische Weise sterben zu müssen. Doch es gab etwas, das sowohl Gaara als auch ich selbst nicht einkalkuliert hatten, und das war Mercurys Gerät, das sich selbstständig zu machen schien. Binnen weniger Sekunden verwandelte es die eben noch laue Sommerbrise in ein Unwetter ohnegleichen und konzentrierte all die heftig peitschenden Windstöße auf einen Punkt, an dem sich ein gigantischer Wirbelsturm in die Höhe schraubte. Zumindest glaubte ich, dass es ein Wirbelsturm war, obgleich er sich farblich nur durch die violett zuckenden Blitze an der Oberfläche vom blauschwarzen Nachthimmel abhob, und gleich darauf alles viel zu schnell vor sich ging. Ich verlor das Gleichgewicht und wurde als Spielball der mächtigen Windmassen mitgerissen. Alles um mich herum drehte sich und ich hörte schrilles Kreischen, das wohl mein eigenes war. Ich hatte keine Ahnung, was genau hier vor sich ging, doch was auch immer es war, es konnte zumindest nicht so schlimm sein wie von einem Sanddämon zerfleischt zu werden. Dennoch nagte die Panik an mir und mein Instinkt schrie mit aller Macht, dass ich mich irgendwo festhalten musste, und tatsächlich fanden meine Finger Halt an irgendeinem groben Stoff. Doch der Stoff wurde noch viel stärker als ich selbst herumgewirbelt und bevor ich loslassen konnte, befand ich mich im Innern des Wirbelsturms. Mein Körper glich einer Puppe in der Waschmaschine und ich krallte mich mit aller Macht an diesem Stoff fest, um zumindest etwas Halt zu haben. Langsam vernebelte der heftige Wind mein Bewusstsein und kurz bevor mir endgültig schwarz vor Augen wurde, erhaschte ich einen letzten, halbwegs klaren Blick auf etwas Wunderschönes. Meine Heimatstadt Frankfort lag dort – wie mir schien weit unter mir – im Dunkel der Nacht. All die Häuserdächer waren beleuchtet wie die Sterne am Horizont, doch mit dem Unterschied, dass mir der Horizont entglitt. Er entfernte sich von mir, ebenso wie mein Bewusstsein schwand, und ich konnte nicht einmal den Versuch machen, ihn festzuhalten. Denn meine Hände waren fest in diesen rätselhaften Stoff gekrallt und ließen sich nicht mehr lösen. Genau denselben Stoff spürte ich noch immer an meinen Handflächen, als ich wieder zu mir kam. Und noch zwei Dinge fielen mir sofort auf: Erstens war es heißer und stickiger, als ich es je in Frankfort erlebt hatte, und zweitens war mein Mund voller Sand. Das ließ für mich nur zwei Erklärungen zu. Entweder hatte Gaara mich bereits angegriffen und ich lag nun schwer verletzt mit Fieberkrämpfen auf dem Feld. Das würde die Hitze erklären. Kein sehr schöner Gedanke, aber vielleicht bedeutete das auch, dass Gaara schon weg war, und ich überleben könnte. Die zweite Möglichkeit bereitete mir schon größere Übelkeit, denn eigentlich ging sie über meinen Verstand hinaus. Falls dieser Wirbelsturm aus Mercurys Gerät gekommen war und er mich ebenso wie Gaara mitgezogen hatte, dann befand ich mich jetzt irgendwo, wo ich nicht sein sollte. Je nachdem, wie das Gerät funktioniert hatte… Ich schluckte und musste mich dazu zwingen, die Augen zu öffnen und nachzusehen. Auf jeden Fall war es nicht mehr Abend; die Sonne blendete mich sofort ganz fürchterlich und ich musste blinzeln. Es war so hell, eigentlich viel zu hell, doch das kannte ich auch von zu Hause. Was allerdings nicht zu meiner Heimat gehörte, waren die ungeheuren Sanddünen, die meine gesamte Umgebung bedeckten. Das war definitiv nicht Frankfort also hatte Mercurys verdammte Teufelsmaschine mich tatsächlich mitgenommen. Wohin auch immer. Ich blinzelte mehrere Male, da ich meinen Augen nicht trauen wollte, doch das Bild blieb bestehen: Ich befand mich auf irgendeiner menschenleeren, riesigen Fläche, die über und über mit Sand bedeckt war. Eine absolut perfekte Wüste, wie aus einem Bild eines Reisekatalogs. Das hier musste Ägypten sein oder Afrika oder irgendein anderes weit entferntes Land. „Endlich aufgewacht?“ Selbst diese Stimme, die wie aus dem Nichts hinter mir erklang, fühlte sich so rau wie Sand in meinen Ohren an. Ich fuhr herum, so gut das in halb sitzender Haltung möglich war, und versteinerte gleich darauf. Er wirkte wie ein völlig fremdes Wesen, wie er so inmitten der Sandmassen stand und gänzlich mit der Silhouette der unendlich weiten Wüste zu verschmelzen schien. Die heißen Sonnenstrahlen ließen sein feuerrotes Haar genau so aufleuchten wie bei unserer ersten Begegnung, doch es war mir, als wäre er damals nicht real gewesen. Erst jetzt, als er wieder in der für ihn bestimmten Umgebung war, war er wieder ganz und gar der Ninja Gaara. Der Sand schien sich ganz von selbst an seinen schmächtigen Körper zu schmiegen, um seinem Herrn und Meister nah sein zu können, und er selbst … Ich hätte ihn mir nie unmenschlicher vorstellen können als genau in diesem Moment, wie er so in derselben braunen Kleidung, die er bereits bei seiner Ankunft getragen hatte, dort stand. Ich rang nach Atem und ballte die Hände unbewusst zu Fäusten. Dabei zerknüllte ich das Stück Stoff, das ich noch immer festhielt, und bemerkte erst jetzt, dass es das schwarze Muskelshirt war, das ich mit ihm gestohlen hatte. Er hatte es ausgezogen und das war auch richtig so. Mein Kidnapper Gaara war wieder Sabaku no Gaara – das konnte er nur hier sein. Seine schmalen Schultern hoben und senkten sich einmal, als atme er genießerisch die staubige Luft ein. Dann sah er auf mich hinab und kräuselte ganz leicht die Lippen. Ich wusste nicht, ob das der Versuch eines Lächelns sein sollte, doch ich hatte keine Chance, das herauszufinden. „Nun ist es also soweit. Zeit, mir ein paar Wünsche zu erfüllen“, flüsterte er. Da war sie wieder, die glühend heiße Panik, die durch meine Adern jagte. Ich schoss in die Höhe und stolperte ein paar Schritte rückwärts. Entweder war es die für ihn schier heilige Umgebung oder Shukakus wachsende Ungeduld, die ihn plötzlich anstachelten – ich wusste es nicht und verstand auch nicht weshalb. „Was soll das denn jetzt?!“, rief ich aus und merkte, dass meine Stimme eine Oktave höher als gewöhnlich war. „Ich meine … Die Sache ist offenbar schief gelaufen, also müssen wir jetzt eine neue Möglichkeit suchen, dich nach Hause zu bekommen!“ Ich zweifelte keine Sekunde daran, dass wir noch immer in meiner Welt waren, denn für ein Paralleluniversum war es hier einfach zu normal. Er musterte mich kurz und schüttelte dann beinahe amüsiert den Kopf. Es beunruhigte mich, dass er so entspannt war. Mercurys Gerät hatte offenbar nicht richtig funktioniert, also hatte er doch eher Grund, sauer zu sein, oder etwa nicht? Langsam trat er auf mich zu und ich wich erneut zurück. Beinahe wäre ich über einen Felsen gestolpert. „Es gibt kein wir“, sagte er nur bedächtig. In seiner Stimme lag irgendein Unterton, der mir gänzlich unbekannt war und mich trotz der Hitze schaudern ließ. Erneut glitt sein Blick fast genießerisch über meinen Körper und feine Sandkörner tanzten um ihn herum in der Luft. „Es gibt nur ein Ich – den Jäger. Und ein Du – die Beute.“ Bei jedem Wort kam er einen Schritt näher und ich versuchte unbeholfen auf Abstand zu bleiben. Mein Herz raste und ich überlegte verzweifelt, wie ich ihn beruhigen könnte. Das dunkle Funkeln in seinen Augen war überwältigend intensiv. Es passte nicht zu meinem Kidnapper Gaara und erst jetzt nicht zu dem mutterlosen Jungen, mit dem ich mich beinahe schon angefreundet hatte. Es hatte nichts mit der Brutalität gemein, die ich von ihm kannte. Es war tausendmal schlimmer und ich begann zu zittern. „Hey, das ist doch bescheuert. Du weißt doch, dass ich dir noch nützlich sein kann“ krächzte ich, verzweifelt nach stichhaltigen Argumenten für mein Weiterleben bemüht. „Wo auch immer wir hier gelandet sind, wirst du nicht allein klar kommen. Das hier ist vielleicht Ägypten oder Südamerika, da verstehen die Leute nicht mal Englisch.“ Irgendetwas an meiner panischen Tonlage musste ihm sehr gefallen haben, denn seine Schritte wurden schneller und er leckte sich über die Lippen. „Gut so, sehr gut! Wehr dich! Kämpfe, das ist genau, was ich von dir erwarte!“ Er starrte mich an und sein Gesicht war von einem schrecklich irren Grinsen entstellt. Meine Augen weiteten sich, bis es schmerzte. „Hör sofort auf!“ Das war schon fast ein Schrei. Ich wusste, dass es sinnlos war, und doch fuhr ich herum und begann zu rennen. Der Sand unter meinen Füßen rutschte davon und ich kam kaum vorwärts, doch ich konnte nicht anders. Ich musste hier weg, ich wollte noch nicht sterben! Ich wollte nur noch einmal Lacrosse spielen, nur noch einmal meinen Eltern beim Streiten zusehen, nur einmal die Chance bekommen, Matt eine in die Fresse zu schlagen. Mein Ziel war eine kleine Felsengruppe nur wenige Meter entfernt gewesen, doch es war zwecklos, ihm in seinem Element entkommen zu wollen. Irgendetwas griff nach meinen Beinen, schabte erst kurz über meine Haut und dann fühlte ich einen stechenden Schmerz. Ich schrie auf, als ich vornüber in den Sand fiel. Das war kein Schrei vor Überraschung gewesen, sondern ein Schmerzensschrei. Reflexartig tastete ich mit einer Hand nach meinen Beinen; mein Magen drehte sich um, als ich warmes Blut spürte. Zwar hatte sein Sand nur leicht nach mir geschnappt, aber das hatte schon genügt, um die obersten paar Hautschichten zu durchritzen. Ich wusste, dass ich mit diesen Verletzungen nicht mehr laufen konnte, darum zog ich lediglich die Beine an den Körper, kauerte mich auf dem Boden zusammen und starrte aus angstgeweiteten Augen nach oben. Gaara stand bereits neben mir. Ihm gefiel, was er sah, das erkannte ich am Zittern seiner Hände. Lange würde er sich nicht mehr beherrschen können, seine Kontrolle über Shukaku schwand immer mehr. Ich sog Luft in meine brennenden Lungen und suchte nach meiner Stimme. Als ich sie endlich fand, hatte ich nicht das Gefühl, dass sie noch zu mir gehörte; sie zitterte viel zu sehr. „Nein … bitte … E-Es muss d-doch auch anders gehen! Ich mach auch, was du willst! Ich kann für dich schreien oder mir den Arm ritzen, damit du mein Blut siehst, oder…“ „Als würdest du hier weiterleben wollen … oder überhaupt können…“, raunte er heiser. Die Worte klangen etwas gepresst, da er sich zusammenreißen musste. „Natürlich will ich das! Ob ich jetzt in Afrika oder sonst wo gelandet bin…“ Er unterbrach mich mit einem sonderbar prustenden Laut. Bei einem normalen Menschen hätte ich das als unterdrücktes Lachen interpretiert, nicht aber bei Gaara. „Sag bloß, du hast noch nicht gemerkt, wo du hier bist.“ Auch seine Stimme klang auf eine skurrile Art amüsiert, als er mich prüfend musterte. Ich wusste es natürlich nicht genau und das stand mir ins Gesicht geschrieben. Zusammen mit der Panik und der Angst um mein Leben. Er hob die Hände und ich zuckte schon zusammen, doch er deutete nur mit einer allumfassenden Geste auf all die Sanddünen um uns herum. „Das hier…“, sagte er genießerisch und tat, als bemerke er nicht, dass ich versuchte rückwärts davon zu krabbeln. Er schien zu wissen, dass ich diesen jämmerlichen Fluchtversuch ohnehin gleich von selbst abbrechen würde. „…Das hier … ist meine Heimat. Die Wüste Sunas.“ Meine schmerzenden Beine gefroren und auf einen Schlag saß ich still. Eine sandige Brise fuhr mir durch die Haare und als ich den Sand auf meiner Haut spürte, traf mich die Erkenntnis wie eine riesengroße, tonnenschwere Abrissbirne. Ich war zigfach weiter von zu Hause entfernt, als ich mir je hatte vorstellen können. Und der Weg zurück war blockiert. Meine eben noch panisch angespannten Muskeln fielen in sich zusammen und hinterließen nichts weiter als ein schweres Gefühl von Taubheit. Die Hoffnungslosigkeit meiner Situation war so allumfassend, dass ich sie gar nicht komplett wahrhaben wollte; ich wusste überhaupt nicht mehr, was ich wollte. „Nein … nein…“, murmelte ich mechanisch und starrte hinab auf meine Hände. Das Bild verschwamm vor meinen Augen, sehr schnell und unaufhaltsam. „Also bringen wir es zu Ende!“, knurrte Gaara, doch seine Stimme verhallte zur Hintergrundmusik. Erst der Schmerz drang wieder zu mir durch. Irgendetwas hatte mir die Wange aufgeschrammt und ich hob hauptsächlich aus Gewohnheit den Kopf. Gaara zitterte nun am ganzen Körper und war bis in die letzte Zelle hinein angespannt. Ein durch und durch tödliches Monster. Der Sand wehte heftig um ihn herum und schoss immer wieder auf mich zu. Ich kauerte mich unter den zahllosen Treffern zusammen und rang vergebens nach Atem. Hatte ich überhaupt noch eine Lunge? Und wenn ja, wozu brauchte ich sie noch? „Schrei! Schrei, verdammt noch mal und mach irgendwas!“, hörte ich Gaaras verzerrte Stimme wie aus weiter Ferne und ich spürte, dass auch die Schläge mit dem Sand härter wurden. Wie tausend glühende Peitschenhiebe auf meinen gesamten Körper. Ich sah keinen Grund jetzt noch zu schreien, wo mein Leben endgültig ein Scherbenhaufen war, außer einen einzigen: Es sollte schnell vorbei sein. Mit jedem Treffer bröckelte das taube Gefühl mehr und die Schmerzen drangen intensiver zu mir durch. Ich hatte keine Chance, dem Tod zu entgehen, also konnte ich lediglich dafür sorgen, dass es schnell vor sich ging. „Ich will nach Hause!“ Das war das Erstbeste, was mir einfiel, und ich spürte, wie mir dabei heiße Tränen in die Augen traten. Wenigstens war mein Zuhause geschützt, ebenso wie Kim und meine Eltern und sie würden nie erfahren, wie schrecklich ich hier gestorben war. „Ich will meine Ruhe! Ich will wieder normal leben! Ich will wieder zur Schule gehen und zum Lacrossetraining und kleine Kinder verprügeln!“ Der nächste Treffer schien meine Beine von meinem Unterleib abzutrennen, und mir brach die Stimme weg. Es ging nicht mehr, ich hatte keine Kraft mehr, weder zum Kämpfen noch zum Schreien. Doch glücklicherweise fühlte ich schon den sanften Schleier der Ohnmacht, der sich langsam über mich legte, und das ließ den Schmerz verblassen. Gott sei Dank. Endlich ging mein Höllentrip zu Ende. Ich wusste nicht, wie ich darauf kam, doch plötzlich fragte ich mich, wie mein Leben wohl verlaufen wäre, wenn ich Gaara nie an diesem verhängnisvollen Tag begegnet wäre. Ob ich je in eine Boutique eingebrochen wäre? Ob ich je einen Menschen getötet hätte? Ob ich Matts Brief wohl wirklich besser aufgenommen hätte? Ein kleiner Stich durchdrang mein Herz beim Gedanken an meine längst verflossene Sandkastenliebe, die ebenso unerreichbar geworden war wie meine gesamte Welt. Das war der letzte Schmerz, den ich empfand, bevor die Schwärze mich mitriss. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)