Quicksand von Meggy-Jo ((~ GaaraXYuka~)) ================================================================================ Kapitel 5: Todeskälte --------------------- „Sag bloß, du willst dich hier freiwillig weiterbilden? Dass ich das noch mal erleben darf!“, lachte Rachel und kam noch einen Schritt näher, um mein neues Outfit genauer betrachten zu können. Ihr konnte unmöglich entgehen, wie verkrampft ich war, doch offenbar interpretierte sie das nur als Verlegenheit darüber, dass sie mich zusammen mit einem Jungen erwischt hatte. Falls man Gaara überhaupt als Jungen bezeichnen konnte. Reflexartig biss ich mir auf die Unterlippe und schüttelte den Kopf. Das sollte eine Warnung sein, doch wieder verstand Rachel nicht, sondern zwinkerte mir verständnisvoll zu, ein verschwörerisches Lächeln auf dem Gesicht. „Ich versteh schon“, sagte sie und warf einen viel sagenden Seitenblick auf Gaara. Wie viel Falsches konnte man in diese Situation nur hineininterpretieren? Rachel brach diesbezüglich sämtliche Rekorde, denn sie lächelte fröhlich weiter und klatschte dann kurz in die Hände. „Ach, übrigens, kennst du schon die neuesten News? Es ist was echt Irres passiert! Halt dich besser fest; das glaubst du nicht! Nächsten Monat kommt wirklich und wahrhaft Johnny Depp nach Frankfort!“ Der Stimmungsunterschied in der stickigen Bibliothek war förmlich mit Händen zu greifen; Nervosität und trügerische Ruhe schwangen um in grenzenlose Begeisterung, die mich binnen Sekunden in Besitz genommen hatte. Gaara und der kurz bevorstehende Sturm von Polizisten waren vergessen. „Das ist nicht dein Ernst!“, quietschte ich schrill und schlug mir eine Hand vor den Mund. Rachel nickte übermütig mit dem Kopf und ihre Augen begannen zu glitzern. So beherrscht und ruhig sie auch sonst war – bei Johnny Depp wurde selbst sie zum kreischenden Fangirl. „Doch!“, rief sie und drängte sich an den PC. Mit fliegenden Fingern öffnete sie eine Fan-Homepage zu Johnny Depp und deutete dann auf den Bildschirm. „Guck, hier ist es offiziell angekündigt! Nächsten Monat macht Johnny Depp eine Autogramm-Tour quer durch Kentucky, weil er ursprünglich auch hier aus der Gegend stammt!“ Jetzt war es endgültig um mich geschehen. Johnny Depp, wirklich der Johnny Depp aus Fluch der Karibik und From Hell! Mister „Klar soweit?“ und seines Zeichens geilster Schauspieler alive! In unserer Stadt, zum greifen nah! Mit einem hysterischen Aufschrei beugte ich mich zu dem Computer und las den kurzen, aber prägnanten Text, auf dem tatsächlich eine Tour durch ganz Kentucky angekündigt war. „Oh mein Gott!“, kreischte ich und fiel mir mit Rachel in die Arme. Gemeinsam drückten wir uns die Nase am Bildschirm platt, denn dort war sogar noch ein Bild von ihm in seiner Rolle als Jack Sparrow zu sehen. „Der Typ ist einfach zu genial, um noch menschlich zu sein!“ Rachel ließ sich nicht lange bitten, in mein Jubelgeschrei einzustimmen und all ihre sonstige Beherrschtheit über Bord zu werfen. „Johnny, heirate mich!“ „Ich will ein Kind von dir!“ „Oder gleich zwei!“ „Johnny Depp for ever!“ Ein ohrenbetäubend lauter Knall ließ den Fußboden erzittern und holte mich unsanft in die Realität zurück. „Das Gebäude ist umstellt! Lassen Sie die Geiseln frei!“, dröhnte eine metallisch verstärkte Stimme durch die Halle und der Schock fuhr mir in alle Glieder. Hektisch wirbelte ich herum, Rachel noch immer halb untergehakt, und starrte zum Eingangstor der Bibliothek, das nunmehr zerstört war. Draußen auf der Straße hatten sich mindestens zwei Dutzend Polizisten mit schussbereiten Waffen versammelt, allerdings keine normalen Polizisten. Ich kannte diese schwarze Kleidung und Schutzwesten aus diversen Filmen: Das war eine SWAT-Einheit. Agenten, die nur auf wirklich gefährliche Aufträge geschickt wurden, die die Sicherheit des ganzen Landes betrafen. Ich verstand gar nichts mehr; hatte ich etwa wirklich Recht mit meiner Vermutung, dass Gaara ein staatlich organisiertes Experiment war, oder wieso fuhren sie gleich derartig große Geschütze für eine gewöhnliche Entführung auf? Ein breitschultriger Mann mit Megaphon schob sich aus der Menge heraus und blickte starr ins Innere der Bibliothek. „Ich wiederhole: Kommen Sie mit erhobenen Händen heraus, dann geschieht Ihnen nichts! Andernfalls eröffnen wir das Feuer!“ Ich hatte nicht die Zeit, auch nur mit der Wimper zu zucken; schon stand Gaara vor mir und hatte seine Umhängetasche geöffnet. Seine gefrorenen Augen ließen nichts Gutes verheißen und ich musste schlucken. Unterbewusst fasste ich Rachels Arm fester. „Ja, genau Sie!“, rief der Polizist, jetzt an Gaara gewandt. „Wir wissen über diese Entführung Bescheid! Nehmen Sie die Hände hoch und kommen Sie ganz langsam heraus!“ Gaara hatte nicht mal ein müdes Schulternzucken für die SWAT-Einheit übrig. „Ihr nervt…“, knurrte er finster und sein schmaler Körper spannte sich an. Er hasste es, Befehle erteilt zu bekommen und da baute sich auch schon hellbrauner Sand um ihn herum auf und ich wusste, was geschehen würde. Im selben Augenblick verschwand die fröhliche, aufgedrehte Yuka Ashihira und machte Platz für mein neues Ich, Gaaras Sklavin (wenn man so wollte), die in einer aussichtslosen Schlacht verzweifelt zu retten versuchte, was nicht mehr zu retten war. „Ray, schnell, komm!“, zischte ich, packte sie am Arm und zerrte sie mit mir. Wir waren kaum unter einem der Schreibtische verschwunden, da brach der Sturm schon los. Sand sauste durch die Luft, es krachte und Menschenknochen brachen. Im Gegenzug begannen die Polizisten zu schießen – unerträglich laut prasselten die Gewehrkugeln durch die Luft, doch keine einzige traf ihr Ziel, das wusste ich, ohne hinsehen zu müssen. Stattdessen schrieen die vielen Schützen, sie schrieen all ihre Todesqualen zum Himmel hinaus, die wie eine gigantische Welle auf Rachel und mich niederzubrechen schienen. „Was zur Hölle ist das? Was ist da los?“, kreischte Rachel in schriller Panik und reckte sich, um sich aus meinem Griff zu befreien und unter dem Tisch hervorzublicken. Da rollte der abgetrennte Kopf der Bibliothekarin an uns vorbei; die leeren, giftgrünen Augen der dahingemetzelten Frau blickten starr ins Leere und Rachels Hand streifte versehentlich ihre eiskalte – todeskalte – Wange. Ein spitzer Schrei ertönte, von dem ich mir nicht sicher war, ob er von mir oder meiner Freundin gekommen war, und ich schnellte blitzartig vorwärts und zog sie wieder zu mir unter den schützenden Tisch. „Sieh nicht hin! Gott, Ray, schau mich an! Mich, nur mich! Alles okay, uns passiert nichts!“, sagte ich ebenso hektisch wie beschwörend, obwohl mein gesamter Körper zitterte wie Espenlaub. Ich war am Ende, absolut fertig und hatte kaum noch Kontrolle über meinen Körper, aber eins war fest und unwiderruflich in meinen Verstand eingebrannt: Ich musste Rachel beschützen. Rachel starrte mich an, aus großen, ungläubigen Augen, die tausend stumme Fragen stellten. Bisher war immer sie die Ruhige, Überlegene gewesen, die mich beschützte, doch jetzt war es genau umgekehrt. „Es ist alles in Ordnung!“, beteuerte ich und drückte sie an mich, völlig egal, ob ich damit mich selbst oder sie beruhigen wollte. „Alles wird wieder gut! Er tut uns nichts, ich versprech es dir! Aber mach die Augen zu, Ray, bitte!“ Ich spürte ihren zierlichen Körper in meinen Armen zittern und wimmern, viele schreckliche Minuten lang. Dieses Blutbad schien länger zu dauern, als das letzte im Polizeirevier, und ich versuchte krampfhaft sowohl meine Augen als auch meine Ohren davor zu verschließen. So viele unschuldige Menschenleben – Wie hatte ich das nur zulassen können? Wir schienen eine endlose Zeit dort unter dem Schreibtisch zu hocken, verkrampft die Arme umeinander geschlungen, als könnten wir das Unheil so voneinander abhalten, und ich wünschte mir wirklich nichts sehnlicher, als Rachel aus der ganzen Angelegenheit herauszuhalten. Es genügte, dass Gaara mich da hineingezogen hatte, doch meine Freunde ging das absolut nichts an! Erst nach einer Ewigkeit, wie es mir schien, verhallten die gellenden Schmerzensschreie und das Spritzen des Blutes. Mein Instinkt befahl mir, in meinem sicheren Versteck zu bleiben, doch mein Verstand wusste es besser: Gaara sah mich als sein Eigentum und als Solches hatte ich anwesend zu sein. Immer. Ob es mir gefiel, oder nicht. Und er würde zweifellos nur noch wütender werden, wenn ich mich danebenbenahm. Also blieb mir nichts anderes übrig, als meinen gefühllosen Körper in die Höhe zu zwingen und auch Rachel mitzuziehen. Je näher sie bei mir blieb, umso besser konnte ich sie beschützen, so glaubte ich. „Alles wird gut, glaub mir“, flüsterte ich ihr beschwörend zu, als ich ihr unter die Arme griff und ihr auf die Beine half. Ich riskierte einen flüchtigen Blick in die Bibliothek und spürte, wie mein Magen sich bei diesem Anblick umdrehte. Verstümmelte Menschenkörper, so weit das Auge reichte. Nicht mal die SWAT-Einheit hatte Gaara nur das Geringste entgegenzusetzen. Er selbst stand noch immer bewegungslos inmitten des Gemetzels, das er angerichtet hatte; seine Arme hingen schlaff zu beiden Seiten hinab und er hielt den Kopf gesenkt. Fast schien es mir, als wolle er einen Augenblick lang innehalten, um das Ergebnis seiner Taten zu genießen. Es fröstelte mich bei der bloßen Vorstellung, doch zugleich war ich erleichtert, dass es nun vorbei war. Er hatte sich jetzt bestimmt genug abreagiert. Alle Polizisten waren tot und die möglicherweise angeforderte Verstärkung würde wohl lange genug auf sich warten lassen, um uns die Flucht zu ermöglichen. „Wir … sollten jetzt abhauen…“, sagte ich leise und lächelte nervös, als Gaara sich noch immer nicht regte. Er schien geradezu in einer Art Trance zu sein. Zaghaft trat ich ein paar Schritte auf ihn zu und vergaß Rachel dabei völlig, die eingeschüchtert hinter mir zurückblieb. „Oder … Gaara? Komm, wir gehen, bevor die Verstärkung kommt. Wir sollten…“ Die Worte blieben mir im Hals stecken, als er sich ruckartig zu mir wandte und mich mit seinen eiskalten Augen anstarrte. „Dieses Mädchen…“, knurrte er kaum hörbar und sein Blick glitt weiter zu Rachel. „Was soll das? Ich habe es dir gesagt: Keine Gefühle, keine Freunde, keine Liebe. Nur ich.“ So schnell ich konnte, baute ich mich vor Rachel auf und breitete beschützend beide Arme aus. „Gaara, hör auf!“, widersprach ich energisch und schüttelte den Kopf. „Ich kann doch nichts dafür, dass ich sie getroffen hab! Und sie ist keine Bedrohung, wirklich nicht!“ „Geh aus dem Weg.“ „Hast du sie noch alle?! Verdammt, komm doch mal wieder runter! Ray hat keinem etwas getan! Lass sie in Ruhe; ich warne dich! Wenn du meinen Freunden etwas antust, bekommst du ernsthafte Probleme mit mir! Du bist ein Monster!“ Seine Augen verengten sich und einen schrecklichen Herzschlag lang zog er zischend die Luft ein. Er war wütend, sehr viel wütender als ich ihn je zuvor erlebt hatte. Und dann hörte ich Rachels Schrei. Laut und gellend und schmerzverzerrt. Blitzartig fuhr ich herum und streckte die Arme aus, um sie festzuhalten und zu beschützen, doch meine Hände gingen im Meer von spritzendem Blut unter. Es lief nicht alles in Zeitlupe ab, wie es in Filmen immer der Fall war, allerdings war mein Gehirn durch den Adrenalinstoß in der Lage, ein paar kurze Momentaufnahmen zu machen. Ich sah schokoladenbraunen Augen – weit aufgerissen und von roten Krampfadern durchzogen, dann knickte ihr Kopf nach hinten um und wurde vom Meer ihrer schwarzen Haare verdeckt. Scharlachrotes Blut spritzte aus ihrem Unterleib hervor und überzog ihre helle Haut mit tausend Flecken; dann fiel ihr Oberkörper völlig von ihrem Becken ab und wurde nach hinten gegen ein Bücherregal geschleudert. Schlaff fielen die abgetrennten Beine vor mir zu Boden und gingen in einer Blutlache unter. Bücher fielen aus dem Regal und prasselten auf den Körper meiner Freundin hinab; ein Bildband über Wüsten öffnete sich genau über ihrem Kopf und dann war es still. Rachels abgetrennter Oberkörper lag blutverspritzt unter einem Berg Bücher. Unbarmherzige Kälte fraß sich durch meine Glieder und lähmte mich. Ich fühlte mich wie eine eiskalte Statue aus Stein, ebenso bewegungsunfähig wie nutzlos. Kein einziger Gedanke wollte mehr durch mein Hirn fließen; es war, als wäre mir das Leben entrissen worden und zurück blieb nichts als diese Kälte und Starre. Alles ist okay, uns passiert nichts, hatte ich gesagt. Ich hatte sie angelogen. Meine Sandkastenfreundin Rachel. Mein Teamkapitän. Meine Vermittlerin bei jedem Streit mit Kim. Der freundlichste und friedliebendste Mensch der Welt. „…Nein…!“ Ich schnellte vorwärts, so schnell, dass ich über meine eigenen Beine stolperte und direkt neben ihr zu Boden fiel. Meine Hände zitterten zu sehr, als dass ich irgendetwas hätte greifen können, also beugte ich mich über ihren Körper und schob mit beiden Armen die vielen Bücher beiseite. Als wolle das Schicksal sich auch noch über mich lustig machen, waren es allesamt Werke über Wüsten, schrecklich weite Sandwüsten – wie sehr ich sie hasste! „Rachel! Ray, Rachel, sag was!“, flehte ich hektisch und meine Stimme überschlug sich in ihrer schrillen Tonlage; ich konnte mich selbst nicht mal mehr verstehen. Hastig schob ich ihr die langen Haare aus dem Gesicht und versuchte das Blut abzuwischen, das an ihrem Mund hinabfloss, doch meine ungeschickten Bewegungen verschmierten alles nur noch weiter. Ich wusste nicht, was ich tun sollte – Wie funktionierte eine Herzrhythmusmassage? Konnte ein Mensch mit abgetrennten Beinen überleben? Gab es dort unten irgendwelche lebenswichtigen Arterien, die jetzt zerstört waren? Oder konnte sie noch ein halbwegs gutes Leben im Rollstuhl führen, wenn ich mich genug beeilte? Die Panik verschleierte mein Hirn und ich konnte kaum mehr einen klaren Gedanken fassen. Ich musste die Blutung am Unterleib stoppen, ich musste den Notarzt rufen, ich musste eine Mund-zu-Mund-Beatmung machen. Hastig ergriff ich ihr dünnes Handgelenk und fühlte den schwachen Puls. Aber wenigstens hatte sie noch Puls, das gab mir einen Vorsprung. „Ray, keine Panik! Alles okay, ich rette dich! Alles wird gut, ich kann das! Wirklich! Aber du darfst nicht einschlafen, bleib wach!“ Ich schlug leicht gegen ihre leichenblasse Wange und erst dann entdeckte ich das Blut, das sich an ihrem Rücken immer schneller ausbreitete. Ich konnte deutlich das Loch in ihrem Rücken erkennen, aus dem irgendetwas Bläuliches herausragte. Einer der beiden Lungenflügel, wie ich vermutete. Mein Inneres gefror erneut, denn mir war klar, was das bedeutete. Das menschliche Lungengewebe ist extrem empfindlich und allein das Reißen einer einzigen Lungenvene oder –arterie genügt schon, um das ganze Organ kollabieren zu lassen. „Yu…ka…“ Mühsam bewegte Rachel die bläulichen Lippen und hustete gleich darauf. Ein neuer Schwall Blut floss dabei aus der herausstehenden Lunge und ihre Lieder flatterten, doch sie hielt die Augen mühsam einen kleinen Spalt breit geöffnet. Ich schüttelte hektisch den Kopf und nestelte an meiner Armstulpe herum, um sie zu zerreißen und anschließend als Verband benutzen zu können. „Sprich nicht, halt einfach nur still! Du musst dich schonen, sonst kann ich dich nicht retten!“, murmelte ich vor mich hin. Ich wollte es mir selbst einreden, mich davon überzeugen, diesen winzig kleinen Strohhalm der Hoffnung nicht loszulassen. Doch auch Rachel wusste, dass es diesen Strohhalm nicht mehr gab. „Lass es…“, presste sie leise hervor und sah mir direkt in die Augen. Erneut schüttelte ich den Kopf, noch heftiger als zuvor. „Nein, Ray! Ich lass dich nicht hängen! Ich…“ „Lauf weg...so schnell...du...kannst...“ Und dann schlossen ihre zitternden Lieder sich endgültig und ihr Kopf kippte zur Seite, während das scharlachrote Blut sich um ihren Körper herum verteilte. Ich sackte in mir zusammen, kraftlos, als wäre meinen Muskeln jegliche Energie entzogen worden. Schlaff fielen meine blutigen Hände in meinen Schoß; die in aller Eile abgenommene Armstulpe segelte sanft hinab und blieb auf Rachels Brustkorb liegen. Stille legte sich über die verwüstete Bibliothek, und einen schrecklichen Augenblick lang war ich unfähig, auch nur zu atmen. Ich fühlte nichts mehr, weder Kälte noch Schmerz, noch irgendetwas. Ich war einfach nur leer. „Was … hab ich falsch gemacht…?“ Die Worte kamen von selbst aus mir heraus und gehörten nicht zu mir. Sie waren zu metallisch und zittrig, um ein Teil von mir zu sein – wie eine defekte Maschine. Ich schloss die Augen, doch selbst dann verschwand das Bild Rachels nicht aus meinem Kopf. Ununterbrochen sah ich ihr leichenblasses Gesicht vor mir, das Blut an ihrem Mundwinkel, den herausragenden Lungenflügel, ihre zusammengekniffenen Augen, denen langsam der Glanz entwich… Ich hatte sie nicht retten können. Ich war einen knappen Meter von ihr entfernt gewesen und hatte gewusst, in welcher Gefahr wir schwebten. Dennoch hatte ich nichts getan, um sie zu schützen. Es war alles meine Schuld. Ich hatte meine Freundin umgebracht. Ruckartig setzte ich mich auf und schüttelte den Kopf so heftig, dass meine Haare mir schmerzhaft ins Gesicht peitschten. Es war mir unmöglich, das zu glauben: Rachel würde nie wieder zurückkommen und es war allein mein Fehler. Weil ich so dumm gewesen war, mich mit einem Mörder einzulassen. Glühend heiß explodierte diese Erkenntnis in mir und schoss wie ein Feuer quer durch meinen Körper. Ich fuhr in die Höhe, wandte mich ab und vergrub beide Hände in meinen Haaren. „Nein … Nein, Scheiße! Ray, nein!“, entfuhr es mir in unkontrolliert schriller Lautstärke und ich begann mit abgehackten Schritten auf der Stelle kreisend zu laufen. „Das wollt ich nicht! Ich hab doch selbst nicht gewusst, was ich machen soll … das war doch nicht meine Absicht … ich meine … Rachel, bitte! Hilfe! Ray! Ray! Ray, ich…“ Ich warf meine Haare nach hinten, ohne mich darum zu kümmern, dass ich mir dabei mit meinem Nietenarmband die Wange aufschlitzte. Ich konnte schlicht und ergreifend nicht glauben, dass ich allein für Rachels Tod verantwortlich war – das ging nicht! „Du! Du verdammter Scheißkerl!“, schrie ich und fuhr zu Gaara herum. Ich bebte am ganzen Körper und konnte kaum mehr einen klaren Gedanken fassen, nur eins wusste ich noch: Es war sein Verdienst, dass ich das zugelassen hatte. Ich war nicht alleine Schuld. Und er besaß diese absolute Gefühllosigkeit, ohne die geringste Regung dortzustehen und mich nur anzustarren, er war sich nicht einmal dessen bewusst, was er gerade getan hatte! Das war der Augenblick, in dem ich das erste Mal vollkommen die Kontrolle über mich verlor, und all die Verzweiflung und der Hass mich wie eine meterhohe Welle unter sich begruben. Ich spürte den blutverspritzten Boden unter meinen Stiefeln beben, als ich blindlings losrannte, bis ich direkt vor Gaara stand und dann mit beiden Armen ausholte. „Das ist alles deine Schuld, deine gottverdammte Schuld! Sie hatte niemandem etwas getan, verdammt noch mal! Ich hasse dich! Ich HASSE dich, elendes Monster!“, kreischte ich und meine unnatürlich hohe Stimme schmerzte mir selbst in den eigenen Ohren. Unkoordiniert schlug ich mit beiden Fäusten auf ihn ein und schrie einfach weiter. Ich wusste nicht einmal, was ich ihm alles an den Kopf warf, die Worte quollen unkontrollierbar aus mir heraus, wie ein Spiegel meiner gebrochenen Seele. Es kümmerte mich nicht einmal, dass sein Sand mich abwehrte und sämtliche Schläge an der Sandwand abprallten, während er selbst unversehrt blieb. Dieses Chaos an Verzweiflung, Hilflosigkeit, Angst und Selbstverachtung musste irgendwie raus, ob es etwas brachte, oder nicht. Ich schlug blindlings weiter auf ihn ein und kniff die Augen fest dabei zu, um ihn nicht mehr ansehen zu müssen. Er, die Verkörperung meiner persönlichen Hölle! Er hatte alles kaputtgemacht, mein normales, ruhiges Leben, und er hatte mich dazu gebracht, Rachels Tod zuzulassen! Nur wegen ihm war ich so schrecklich nutzlos und eine Gefahr für meine Umwelt! Und von dieser Bestie hatte ich zeitweise geglaubt, er könnte ansatzweise so etwas wie Gefühle entwickeln! „Ich hasse dich, so sehr! Verpiss dich doch einfach, fahr zur Hölle, aber lass mich endlich in Ruhe! Du sollst sterben! Hörst du, sterben! Du hast es doch nicht anders verdient! Kratz ab! Dich vermisst doch eh keiner! Du sollst in der Hölle schmoren, für immer und ewig!“ Wäre ich aufmerksamer gewesen, wäre mir das unheilvolle Knurren aufgefallen, das in diesem Augenblick erklang, doch ich hatte mich längst von meiner Umwelt abgekapselt, ich wollte das alles nicht mehr! Ich wollte nicht mehr in das Gesicht des Mörders meiner Freundin sehen oder all die Leichen und das Blut sehen müssen. Es sollte endlich aufhören! Ich wollte wieder Yuka Ashihira sein, ein ganz normales Highschool Girl! In dem heillosen Chaos all meiner Gefühle spürte ich nur noch diesen Wunsch, endlich von hier wegzukommen. Gaara würde mich nicht freilassen, es würde alles nur so weitergehen. Als Nächstes würde er Kim töten, dann meine Eltern, dann meinen Bruder im Irak… Ruckartig stoppten meine Schläge auf die Sandwand, die mittlerweile um einiges stärker als zuvor vor Gaara wucherte, und zog mein Messer aus der Rocktasche. Viel konnte ich nicht gegen ihn ausrichten, doch ich wollte mich ihm nicht mehr unterordnen. Meinetwegen würde ich bei dieser Aktion draufgehen, aber ich musste es versuchen. „Ja, sterben sollst du!“, wiederholte ich schrill und wollte mich gerade mit aller Kraft auf die Sandwand stürzen, als ich urplötzlich zu Stein erstarrte. Dieses Wesen hinter der schützenden Sandwand, das war nicht mehr mein Kidnapper Gaara. Sein Gesicht hatte sich verändert: Die komplette linke Gesichtshälfte war von bröckelndem, hellbraunen Sand überzogen, der sich immer weiter seine Haut entlang zu ziehen schien. Statt seines linken Ohrs hing an seinem Kopf nur noch ein groteskes, ebenfalls aus Sand geformtes Gebilde, das an Dämonen einer Schauergeschichte erinnerte. „Sei … doch endlich still! Du … bist … meine … Beute! Genau wie jeder andere auch, hörst du! Du! Bist! Meine! Beute!“, zischte er mit schrecklich lauter und verzerrter Stimme und ging leicht in die Knie. Er machte sich zum für mich todbringenden Angriff bereit, das bemerkte ich, doch mir blieb keine Zeit zum reagieren, denn noch bevor ich den Anblick seines ungeheuerlich missbildeten Gesichts halbwegs verarbeitet hatte, ertönte ein Knall, der meinen ohnehin schon verwirrten Kopf beinahe platzen ließ. Instinktiv ließ ich das Messer in meiner Hand fallen und warf mich zu Boden, als ich eine gewaltige Explosion ganz in meiner Nähe ausmachen konnte. Gaaras neue, hohe und verzerrte Stimme schrie – ein grauenvoller Schrei, den ich nie wieder vergessen würde – und aus den Augenwinkeln heraus sah ich, dass die Explosion ihn direkt getroffen hatte. Der Sprengkörper war so präzise, dass er nur auf einen kleinen Radius wirkte, doch auch ich blieb von der Sprengung nicht unversehrt. Mitten in meinem Fall zu Boden, zwischen Gaaras Schrei, seiner grotesk verzogenen Fratze und dem Schmerz der Explosion, erhaschte ich einen letzten Blick auf Rachel. Ihr misshandelter Körper lag noch immer unter einigen Büchern und einen Herzschlag lang war mein einziger Wunsch, dass das nicht ihr Grab bleiben würde. Dann wurde es schwarz um mich herum und sowohl Gaara als auch Rachel waren weg. Zurück blieb nur eine männliche, energische Stimme, die ununterbrochen auf mich einzureden versuchte, obwohl ich nur die Hälfte ihrer Worte verstand. Es war ein chaotisches Wirrwarr an Buchstaben und Lauten, deren Sinn ich nicht entschlüsseln konnte. „Sicherheit … Deine Eltern … Hauptquartier … CIA … Atomsprengsatz…“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)