Die Geschichte des Mörders von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 3: Drei --------------- Wieder da. Schon wieder. Sie hatte ihm etwas mitgebracht. Tatsächlich. Zahnbürste und Zahnpasta lagen in seiner Hand. Er hatte gewartet, bis sie wieder gegangen war. Luca war ein höflicher Mensch. Seine Zähne glänzten, auch wenn er sie nicht sehen konnte. Sie fühlten sich sauber an und schmeckten nach Minze. Einen Spiegel besaß er nicht. Er wollte auch keinen. Menschen sahen sich selbst jeden Tag. Ein bekanntes Gesicht. Jede Falte begrüßt dich jeden Tag von neuem. Man begibt sich auf die Suche nach dem ersten grauen Haar, nach dem letzten Pickel. Sitzt das Make-up oder ist die Rasur gründlich. Luca hat es geschafft, sich auch ohne Spiegel zu rasieren, seine Haare waren gekürzt. Einen Rasierer und eine Schere hatte sie auch mitgebracht. Geschenke. Luca konnte sein Gesicht nicht jeden Tag beobachten. Alles was er hatte, war eine Erinnerung, wie ein altes Foto. Sein Gesicht war nicht deutlicher als das von Peter oder Liz. Die Erinnerung an Tote. Er wollte nicht wissen, wie er aussah, mit zerzausten Haaren und einer nicht sehr gründlichen Rasur. Was Sofie wohl sah, wenn sie wiederkam? Von allen Gesichtern, die er je gesehen hatte, war ihres am deutlichsten, die jüngste Erinnerung. Ihre Haare waren jetzt rot, ihre Augen noch immer blass blau. Sie hatte starke Arme, auch ihre Beine würden schlank und muskulös sein. Ihre Lippen waren rot und voll und lächelten immer. Zumindest ein wenig lächelten sie immer. Wie ein Delfin, oder eine Katze. Luca kannte sie schon ewig, so lange kam es ihm vor. Er kannte sie. Ein wenig. Sophie war schön. Und sie hatte keine Angst vor ihm. Auf der ganzen Welt war Sophie die einzige, die sich nicht vor ihm fürchtete. Der Herbst zerrte inzwischen an den letzten braunen Blättern, die verzweifelt versuchten sich noch an den Bäumen festzuhalten. Das Fallen ging schnell. Es kam der erste Frost und wenn man genau hinsah, schon die ersten Knospen. Bäume waren sehr hartnäckig. Bald würde es auch zum Schwimmen zu kalt sein. Luca wusste nicht, wie viel Zeit seit seiner Flucht vergangen war, oder wie lange es her war, sein Wiedersehen mit Sophie. Er sah nur die Blätter fallen. Wie lange dauerte es von der letzten Sommersonne bis zum ersten Schnee im Winter? Die Zeit war ihm egal. Langsam wurde Luca jedoch bewusst, dass er im Winter kein Fallobst suchen konnte, oder Fische fangen. Nach so vielen Jahren wurde die Zeit zu knapp. Luca konnte nicht nur warten. Henry würde nicht in die Stadt gehen, dort kannte er sich nicht aus. Henry würde im Internat sein. Es hatte verlassen ausgesehen, als Luca das letzte Mal dort gewesen ist. Er wusste weder den Grund noch den Zeitpunkt der Schließung. Es stand da, wie die verlassene alte Burg, die es ursprünglich auch gewesen ist. Luca wartete auf das schwache Kerzenlicht, dass eines Tages in einem der Fenster leuchten würde, auf den Müll, der dann im Hof liegt und den Gestank, den Henry überall hinterlassen würde. Und dann? Luca würde ihn nicht töten, das wäre dumm. Er konnte ihn nicht einfach festnehmen und zur Polizei bringen. Keiner würde ihm glauben. Luca wollte ihm in die Augen sehen, so wie am Anfang. Er wollte wahrscheinlich den Wahnsinn sehen, der Henry befallen hat. Luca wollte nur den Grund sehen. Vielleicht hatte er Glück. Manchmal stellte er sich vor, wie die Polizei kam, wie Henry erkannt werden würde und es zu einem neuen Prozess kam. Luca würde freigesprochen werden und alles zurückbekommen. Sein Leben. Das war unwahrscheinlich, aber zu schön, um nicht daran zu denken. Irgendeinen Grund musste es für den Ausbruch geben. Irgendetwas in Luca hatte wieder zu leben begonnen, aber es war nicht viel. Er hätte beim Ausbruch auch sterben können, es wäre ihm egal gewesen. Auf Sophie konnte er nicht die ganze Zeit zählen. Sie hatte ein eigenes Leben, sie hatte noch irgendwo eine Familie und sicherlich viel zu lernen. Luca stellte sich vor, wie sie jeden Tag zur Uni ging, im Hörsaal saß, zuhörte, vielleicht heimlich Zeitung las unter der Bank, so wie er das irgendwann einmal gemacht hatte. Sie würde mittags in der Mensa essen mit anderen Studenten, sie würden zusammen Hausaufgaben machen und abends würde Sophie ihr Radio laut drehen, bis irgendwann die Nachbarn an die Zimmerwand klopften. Nein, das würde sie nicht. Sophie war bestimmt ein sehr rücksichtsvoller Mensch. Luca hockte auf dem harten Holzfußboden in seiner Hütte und lauschte dem Wind. Er würde ihn wieder nicht schlafen lassen, wie immer. Der Wind war das einzige, was Luca jahrelang gehört hatte. Der Wind und Schritte auf dem Gang. Einmal am Tag wurde die Dusche angestellt in seiner Zelle. Die Dusche, die ein Loch in der Wand war. Er hatte sie jeden Tag benutzt. Der Wind könnte ihn wütend machen, wenn Luca noch Lust hätte wütend zu sein. Er hatte überhaupt keine Lust mehr. Sein Warten lief darauf hinaus, Henry noch einmal in die Augen zu sehen. Luca schloss die Augen. Schlafen konnte er trotzdem nicht. Sophie kam regelmäßig. Sie bewunderte seine neue Frisur und er hörte ihr gern zu. Luca ließ sich von den Vorlesungen und anderen Dingen erzählten. Er hörte Sophie sagen, dass es wohl ein sehr kalter Winter werden würde. Sophie wusste das. Sie konnte Schnee riechen, sagte sie. Luca glaubte ihr. Auch wenn er sonst niemanden glaubte, er wusste, dass sie ihn nicht belügen würde. Sophie gehörte zu den Menschen, die nicht lügen konnten, das war ihre Gemeinsamkeit. Aber Sophie konnte bestimmt auch schweigen, manchmal, in den richtigen Augenblicken. Sie fuhr oft Rad, so hatte sie ihn erst gefunden. Weite Strecken, an manchen Tagen konnten es hundert Kilometer werden. Warum sie das machte, erzählte sie auch. Sie fühlte sich frei, wenn der Wind ihr durch die Haare fuhr. Manchmal machte der Wind auch sie wütend, besonders, wenn er unerwartet kam. Aber man konnte auf den Wind nicht wütend sein, der konnte ja nichts dafür, Das waren alles nur thermodynamische Prozesse, Luftdruckausgleich. Wenn das Wetter zu schlecht war, was selten vorkam, boxte sie. In Ihrem Zimmer hing ein Sandsack, direkt vorm Fenster. Luca genoss ihre Worte, er atmete sie ein, wie Luft. Trotzdem blieben ihre Worte die einzige Verbindung. Sie saßen beide nebeneinander auf der Treppe, nie ganz nah beieinander und nie ganz voneinander entfernt. Luca fragte sich warum sie immer wieder kam. Er konnte ihr nichts geben, außer den Stunden, in denen er ihr zuhörte. Über ihn wusste sie nichts, außer dem, was in den Zeitungen stand und sie wollte auch nie etwas wissen, zumindest fragte Sophie nie. „Ich habe ein Leben. Das ist der Unterschied. Ich kann kommen und gehen, wann ich will. Ich rufe zu Hause an oder vergesse es. Das ist alles. Eigentlich sind wir uns sehr ähnlich.“ Luca hörte wie immer aufmerksam zu, wenn sie sprach. Sie hatte Recht. Ein Satz und dann nur noch Belanglosigkeiten. Als ob dann alles leichter werden würde. Es wurde leichter. Sie schien sich nicht für ihn zu interessieren, aber Sophie kam doch aus reiner Neugierde. Luca verriet sich selbst mit jeder seiner Bewegungen, mit den leisen Worten, die er manchmal sagte, dadurch wie er sie ansah. Ein Kriminalist kann manchmal Gedanken lesen, Sophie konnte es auf jeden Fall. Sie beobachtete. „Du willst zur Burg? Geh nicht.“ Aber worauf sollte er noch warten. „Es ist zu gefährlich. Du weißt doch selbst, dass sie alles überwachen. Gut, du kannst hin schwimmen, aber was machst du wenn du dort bist? Es ist nur noch eine Frage von Tagen, bis Henry hier auftaucht. Ich meine, wie lange braucht man von London bis hier her? Es ist seit Wochen bekannt, dass du ausgebrochen bist. Und glaub ja nicht, dass Polizisten dumm sind. Es gibt immer noch genug Leute, die das Internat überwachen. Schließlich hast du deine ganze Jugend dort verbracht.“ Im Prinzip wusste sie alles. Aber das störte Luca nicht. Er musste ihr sowieso vertrauen, und das tat er auch. „Ist das denn wichtig?“ fragte er. „Mir ist es wichtig. Ich hoffe, das weißt du. Ich will nicht, dass du wieder ins Gefängnis gehst. Das wollte ich von Anfang an nicht.“ Stille. Der Wind hatte aufgehört zu wehen. „Ich weiß, dass du das auch nicht willst. Ich glaube, dass du es nicht willst. Ich habe Angst um dich.“ Luca wusste nicht, ob er Angst hatte. Vielleicht. Wahrscheinlich nicht. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)