Himmel und Erde von matvo (Schatten und Licht, Interlude 1) ================================================================================ Kapitel 26: Bericht eines Augenzeugen ------------------------------------- Ich möchte euch von jenem Tag erzählen, an dem Sarion fiel, die mächtige Hauptstadt Chuzarios. Wer ich bin? Das ist nicht wichtig. Mein Schicksal ist das von Tausenden. Angefangen hatte es mit Plakaten, die eine Quarantäne über der gesamten Stadt verkündeten. Die Armee hatte diese eilig über all in den Straßen ausgehängt, daher wurde man schnell auf sie aufmerksam. Ich möchte in meiner Geschichte jedoch etwas später einsetzten, da ich mit dem Gedränge in Läden, das dann und wann in Schlägereien und Massen-Ringen ausartete, wohl kaum eure Aufmerksamkeit erringen könnte... Das Gewicht der Tasche drückte den Lederriemen schmerzhaft in meine Schulter, während ich mich mit gefühlten fünfzig Kilo an Lebensmitteln nach Hause schleppte. Um mich herum herrschte geschäftiges Treiben. Leute, meist Frauen, liefen eilig umher und verstopften die Eingänge aller Geschäfte, die irgendeine Art von Nahrung verkauften. Was sollte man angesichts der Quarantäne auch anderes machen. Geduldig lief ich die Nummern an den Türen der Reihenhäuser ab, bis ich die fand, nach der ich suchte. Erleichtert trat ich in den Hausflur. Einmal mehr war ich dafür dankbar im Erdgeschoss zu leben statt im fünften Stock, auch wenn hier der Lärm von der Straße lauter war als oben und ich dank der Laternen jede Nacht die Fensterläden schließen musste. Ich hatte kaum die Wohnungstür geschlossen, da wurde ich auch schon stürmisch von meiner Schwester begrüßt. Erleichtert schloss ich sie in meine Arme. Wieder einmal bewunderte ich ihr kastanienbraunes, seidenweiches Haar, auf das ich von oben einen wunderbaren Ausblick hatte. Ich versicherte ihr, dass alles in Ordnung sei. Sie war ein aufgewecktes Kind, nicht einmal fünf Jahre alt und doch merkte sie sofort, wenn etwas nicht stimmte. Ein Stuhl stand direkt vor einem der Fenster. Zweifellos hatte sie von dort aus die Menschen auf der Straße beobachtet. Eigentlich hätte ich sie nicht alleine lassen dürfen, doch jeder, dem ich sie hätte anvertrauen können, war ebenfalls unterwegs. Auf den Plakaten stand zwar, dass alles unter Kontrolle sei, doch die eigene Bevölkerung Sarions sorgte für das Gegenteil. Zweifellos ärgerte sich gerade mein Vater, der Mitglied der Armee war und sich gerade im Einsatz befand, über die hoffentlich unbegründete Panik unter den Leuten. Wenn doch nur meine Mutter noch am Leben wäre! Sie hätte einkaufen gehen können, während ich auf Emily aufgepasst hätte. Doch sie war bei der Geburt meiner Schwester gestorben und ich hatte mit zwölf lernen müssen einen Haushalt zu führen. Unterstützt worden war ich nur von einer alten Dame nebenan, die inzwischen tot war. Ich drückte Emily noch einmal fest an mich, ehe ich sie sanft von mir weg schob und sie fragte, ob sie mir beim Auspacken helfen wolle. Begeistert antwortete sie mit Ja und wir gingen zusammen die paar Schritte zur Vorratskammer. Nachdem ich den Beutel von meiner Schulter geholt und ihn geöffnet hatte, langte sie hinein und drückte mir das erste Glas in die Hand. Ich nahm es lächelnd entgegen und stellte es zielsicher in eines der Regale. Schnell entwickelte sich ein kleiner Wettbewerb zwischen uns und Emily grinste jedes mal über das ganze Gesicht, wenn sie etwas schneller aus dem Beutel holte, als ich einräumen konnte. Sie wusste, je mehr sie sich freuen konnte, um so mehr konnte sie später naschen. Nach getaner Arbeit rannte sie vergnügt zurück in das Wohnzimmer, das auch gleichzeitig unsere Schlafstube und das Esszimmer war. Mein Vater war Offizier, daher konnte er sich ein eigenes Schlafzimmer, eine Küche und ein Bad leisten und wir mussten die Wohnung nicht mit anderen Familien teilen. Plötzlich erstarrte Emily und ihre gute Laune verflog. Zweifellos hatte draußen etwas ihre Aufmerksamkeit erregt. Ich fragte, was los sei und sie antwortete mir mit weinerlicher Stimme, dass sie Angst hätte, aber nicht wüsste, wieso. Schon immer hatte sie diese seltsamen Stimmungseinbrüche, sodass ich mich längst daran gewöhnt hatte, doch heute schien es schlimmer als sonst zu sein. Mühsam hob ich sie hoch, ging zu meinem Bett und setzte sie dort auf meinen Schoß. Ich tröstete sie, ermutigte sie dazu, alles raus zu lassen, woraufhin sie ihre Tränen nicht mehr zurückhielt und sich an meiner Kleidung festhielt. Sie war ein starkes Mädchen und wollte auch als solches gelten, doch aus Erfahrung wusste ich, dass sie nach einen Anfall erst wieder lachen konnte, nachdem sie sich ausgeweint hatte. Schließlich floss die letzte Träne und ihr Griff wurde schwächer. Behutsam löste ich meine Umarmung ein bisschen. Ein Blick nach draußen auf den kleinen Streifen Himmel, der über dem Dach des gegenüber liegenden Hauses zu erkennen war, sagte mir, dass es bald dunkel werden würde. Ich erkundigte mich bei ihr, ob sie Hunger hätte, was sie mit einem Nicken bestätigte. Ein gutes Zeichen, fand ich und setzte sie auf das Bett. Emily packte die Decke und kuschelte sich in ihr hinein. So wie es aussah, war ihr Anfall noch immer nicht vorbei, was mir große Sorgen bereitete. Verstärkte der Trubel auf den Straßen ihre Angst? Mit dem Entschluss, es dieses Mal mit einer reichhaltigen Mahlzeit zu versuchen, betrat ich die Küche und hängte mir eine Schürze um. Frisch ans Werk, dachte ich mir und begann das Brot klein zu schneiden. Ich war erst bei der vierten Scheibe, als Emilys Schrei mir einen tiefen Schrecken versetzte. Sofort stürzte ich mich auf mein Bett. Sie lag zusammengerollt mit dem Gesicht auf der Decke und schluchzte. Wieder fragte ich nach ihrem Befinden, doch sie schien mich nicht einmal wahrzunehmen. Vorsichtig drehte ich sie an der Schulter auf ihren Rücken. Meine Hoffnung, dass sie sich beruhigen würde, wenn sie mich sah, löste sich in Nichts auf, als ich ihre Augen betrachtete. Sie starrten leer und von einem Wasserfilm bedeckt durch mich hindurch. Leise klagte Emily über Schmerzen, doch als ich fragte, wo es ihr weh tat, antworte sie nicht. Stattdessen weinte sie, bat ängstlich darum in Ruhe gelassen zu werden. Daraufhin ließ ich von ihr ab und überlegte, was ich tun konnte. Erst jetzt bemerkte ich den Lärm auf der Straße. Ich spähte nach draußen und sah eine Menschenmenge in Panik, die zu flüchten schien. Hastig ging ich vor die Haustür und beobachtete verwirrt die Leute, die alle in einer Richtung davonliefen. Ein Gesicht kam mir bekannt vor. Es war die freundliche Verkäuferin aus dem Gemüseladen. Todesmutig trat ich an den Rand der reißenden Masse und packte sie an ihrem Ellenbogen. Auf meine Frage was los sei, antworte sie mit einem Schwall aus Worten, von denen ich nur die Hälfte verstand. Eine Gruppe Bürger fielen angeblich über andere unbescholtene her. Die sonst so gefasste Frau berichtete verstört, dass eine ganze Wand von diesen Schlägern sich schnell nährte. Jeder, der in ihre Reichweite käme, würde von dieser verschluckt werden und bliebe reglos liegen. Sie sagte, wir müssten schleunigst verschwinden, und versuchte mich mit ihr zu zehren, doch ich wehrte mich. Ich erinnerte sie daran, dass Emily noch in der Wohnung war und ich sie holen musste, woraufhin sie in der Menge verschwand. So schnell ich konnte, kehrte ich zu meiner kleinen Schwester zurück. Dass Bürger panisch auf die Quarantäne reagierten, war abzusehen gewesen, doch mit einer organisierten Bande von Plünderern, die nur ihr eigenes Leben im Sinn hatten, hatte wohl niemand gerechnet. Natürlich wollte ich nicht warten, bis die Armee eintraf um für Ordnung zu sorgen. Eilig warf ich mir meinen Mantel über und presste die noch immer wimmernde Emily an meine Brust. So schnell ich mit ihr in meinen Armen laufen konnte, verließ ich das Haus und rannte mitten in eine Ansammlung vor Wahnsinn kichernder Münder und gierigen Augen. Menschen, von denen ich sogar jemanden kannte, rissen mich zu Boden. Die größte Wucht des Aufpralls fing ich mit einem Arm ab, während ich mit dem anderen verzweifelt meine Schwester festhielt. Ich legte meinen Körper über ihr wie ein Schild, während meine Kleidung in Fetzen gerissen wurde und spitze Eckzähne und Fingernägel durch meine Haut drangen. Plötzlich wurde alles in meinem Kopf schummrig und ich konnte kaum noch einen klaren Gedanken fassen. Mit dem kleinen Rest Bewusstsein, was mir blieb, hinderte ich Emily mit ganzer Kraft daran, den schützenden Kokon zu verlassen und Opfer der nach ihr greifenden Händen zu werden. Ganz plötzlich hörte der Ansturm auf... Keuchend stand Merle in einer riesigen Markthalle einem Gezeichneten gegenüber. Bewaffnet mit ihren zwei elegant geschwungenen Dolchen musterte sie ihren Gegner, während drei Kommandoeinheiten ihr den Rücken deckten und die Halle von den Dienern säuberte. Zu ihm vorzustoßen war bisher die größte Herausforderung gewesen, seitdem die Kämpfe um Sarion begonnen hatten. Im Unterschied zu ihren vorigen fünf Opfern hatte dieser Gezeichnete nicht nur Zeit genug gehabt, seine Position zu sichern, er hatte diese auch genutzt. Massen seiner Diener rannten gegen den Ring an, den die Armee um die von ihm kontrollierten Straßen gelegt hatte. Kein Wunder, dachte Merle und musterte sein reich verziertes Schwert. Der Gezeichnete musste in seinem Leben als Mensch mal ein hochrangiger Offizier gewesen sein. Ein schwerer Kampf stand ihr bevor. Die Gezeichneten, die sie bisher getötet hatte, waren leichte Beute gewesen, da sie nur wenig Ausbildung in den Kampfkünsten erhalten hatten, wenn überhaupt. Mit eisiger Entschlossenheit kam ihr Gegner auf sie zu. Sein erster Schlag zielte nicht auf sie, sondern auf ihre bewaffneten Hände. Sie brachte seiner seitwärts geführten Klinge mit einem Dolch Widerstand entgegen, während der andere die sich zwangsläufig ergebende Lücke in der Verteidigung des Gezeichneten suchte. Mit einem Schritt zur Seite brachte er sich für einen Moment außerhalb der Reichweite ihrer Klingen, nur um nochmals anzugreifen. Er führte einen mächtigen Hieb gegen ihren Kopf, den sie mit beiden Dolchen über Kreuz parierte. Zähneknirschend hielt Merle dem Druck auf ihre Arme stand, bis der Gegner plötzlich seine Klinge löste und herumwirbelte. Dort, wo er noch eben gestanden hatte, zischte ein Bolzen auf sie zu. Aus reinem Instinkt ließ sie sich auf ihren Rücken fallen und das Geschoss sauste über sie hinweg. Der Gezeichnete packte die Gelegenheit beim Schopf und stieß seine Klinge auf ihre Brust zu. Eine Drehung im rechten Winkel brachte Merle knapp in Sicherheit und die Klinge drang neben ihr in den Steinboden ein. Ihre Hand, die ihrem Gegner am nächsten war, rammte sie einen Dolche in dessen Schwertarm, an dem sie sich hochzog und ihn dann mit der verbleibenden Klingen durch einen gezielten Stich in den Hals niederstreckte. Wie schon so oft an diesem Tag ergoss sich Blut über ihren schwarzen Kampfanzug. So gut sie konnte wrang Merle angeekelt ihre Kleidung aus. Dann schaute sie sich um. Die Einheit, die direkt für Sicherheit verantwortlich war, hielt um sie herum Wache, während die restlichen Männer die herrenlosen, und somit verwirrten, menschlichen Diener töteten. „Wer hat den Bolzen abgeschossen?“, fragte sie mit harter und gebrochener Stimme. Einer der Männer, der deutlich jünger war als seine Kameraden, verließ seine Position, die ein anderer daraufhin mit übernahm, und kniete vor ihr nieder. „Ich tat es, euer Hoheit.“, gestand er mit angespannter Stimme. Merle ahnte, dass er dafür bereits von seinem Vorgesetzten gerügt worden war. „Dass ihr einen Fehler begangen habt, brauche ich euch nicht sagen.“, mahnte sie ihn streng, lächelte dann aber anerkennend. „Habt Dank für den Fehler. Er hat mir das Leben gerettet.“ Innerlich grinsend sank sie auf ihre Knie und küsste den jungen Mann auf seine Stirn. Während sie an ihm vorbei trat, klopfte sie ihn außerdem auf seine Schulter, die er ihr samt seinem Nacken angeboten hatte. „Wie hoch sind unsere Verluste?“ „Zwei Soldaten sind tot, ein Kommandeur hat sich geschnitten. Er ist nach eigenen Angaben auf dem Weg zum Verteidigungsring.“, meldete einer der Offiziere. „Wir ziehen ab!“, befahl Merle. „Die Besatzung des Ringes soll hier aufräumen.“ Verbissen kämpfte ich gegen den Nebel, der sich über meine Gedanken legte. Emily hatte unter mir gedroht zu ersticken, daher hatte ich sie heraus gelassen. Die Schläger waren scheinbar keine Gefahr mehr. Nur ein paar mal erkannte ich einen durch die trübe Suppe vor meinen Augen, wie er verloren umher wanderte. Als wären sie Geister. Besorgt wachte Emily an meiner Seite und ich war überglücklich über ihren Beistand. Ihre vertraute Stimme und ihre kleine Hand, die zwar unbeholfen, dennoch zärtlich durch mein Haar strich, hielten mich bei Bewusstsein. Sie redete mir, wie ich es tat, wenn sie Angst hatte, doch genauso wie sie war ich zur keiner Antwort fähig. Doch von einem Moment auf den anderen war ihre Hand weg und ihre Stimme verstummte. Stattdessen sah einen Stiefel kurz vor meinen Augen auftauchen. Ich hörte, wie jemand sagte, dass es ihm Leid tat. Ich erkannte die Stimme meines Vaters. Ehe ich raten konnte, was ihm Kopfzerbrechen bereitete, spürte ich einen scharfen Schmerz im Hals und dann nichts mehr. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)