Von Pflicht und Ehre von Deloran ================================================================================ Kapitel 1: Ysop --------------- Von Pflicht und Ehre 1. Ysop In meine Alpträume mich retten, in Abgründe stürzen und den schrecklichsten Schatten mich opfern, das wollte ich – denn nichts mehr konnte schlimmer sein als die Realität. Oder war es eher so, als ob der bedrohlichste aller Nachtmahre selbst zur Realität geworden war? Nein, nein. Aus einem solchen Traum wäre ich gewiss nicht mehr aufgewacht. Denn ist es nicht so, dass im Traum selbst das scheinbar Unmögliche wahr wird? Das Unmögliche, dass ich in eben jenem Augenblicke fühlte, als ich glaubte, mein Herz höre auf zu schlagen. Ich weiß nicht, was es war, dass mich taub, blind, stumm zurückweichen ließ. War es die Zurückweisung? Der Schock? Die bodenlose Enttäuschung? Nein. Ich glaube, am ehesten war es noch der Schock. Die Enttäuschung kam erst sehr viel später – erst, als mir klar wurde, was diese Zurückweisung bedeutete, was ich verloren hatte. Und dass ich keine Zukunft mehr hatte. Dabei hatte der Tag so wundervoll angefangen! Er hatte mich am Vortag mit ernster Mine eingeladen und mich auf eine Verabredung gebeten. Er! Mich! Auf eine Verabredung gebeten! Das schmeckte herrlicher als saftige, reife Erdbeeren im Sommer, frischer als das erste Schneegestöber in einer Menge lachender Gesichter. Wie aufgeregt ich war! Wie verzückt von dem Gedanken, dass er sich mir endlich zuwenden wollte! Und wie einfältig, beschränkt und naiv. Schritt um Schritt sollte ich es büßen. Was tat ich also in meiner dümmlichen Glückseligkeit? Ich machte mich hübsch zurecht, schlüpfte in mein schönstes Sommerkleid und machte mich auf den Weg zur Eisdiele, in der wir uns treffen wollten. Die Sonne strahlte vom lachend blauen Himmel herab und erwärmte das Gemüt der Leute – nichts warnte mich vor dem, was mir widerfahren sollte. Die Natur blühte auf, ihre Blüten reckten sich gegen Himmel und öffneten ihre farbenfrohe Pracht der ganzen Welt, auf dass sie süßen Nektar trank und Schönheit atmete. Überall ein Lächeln, ein Glitzern, überall Leben in den verschiedensten Formen und Düften. Und ich mittendrin! Dem Schicksal wollte ich dafür danken, dass es mich auf seinen wirren Wegen an diesen Ort verschlagen hatte - ohne zu wissen, dass ich es nur wenige Zeit später noch verfluchen würde. Ich sah mich selbst als schöne Blume, die in sich das pure Leben vibrieren spürte und sich endlich, endlich nach all den langen Wintern der Einsamkeit, des Wartens, des Verlangens, entfalten durfte. Wie jung und schön ich mich fand! Pulsierend mit Energie, übermütig, toll vor Glück, bereit, Dämonen und Götter zugleich herauszufordern, machte ich mich auf den Weg zu unserem Treffpunkt, einer nahen Eisdiele. Ich glaubte, unbesiegbar zu sein. Ich glaubte, nichts könne mich zerstören. Wie falsch ich lag. Sein Lächeln war dasselbige des Vortages – eingefroren, aufgesetzt. Doch an diesem Tage erkannte ich in seinen Augen auch diese Unsicherheit – eben jene Schwäche, welche ich an ihm hassen lernen sollte. Zuerst wollte er mir nicht die Wahrheit sagen. Zu feige, mein Herz direkt in Stücke zu reißen, ließ er mich einfach nur plappern. Wie war ich glücklich, dass er mich endlich auserkor, mich endlich erhörte. Hätte ich nicht fragen müssen, warum die dunkle Mine an so einem hellen Tag, warum diese Unsicherheit, die doch keine verliebte Nervosität war, warum er nicht glücklich war, mich zu unserer Verabredung erscheinen zu sehen. Warum zweifelte ich nicht? Ich glaubte, er hätte sich endlich zu mir bekannt. Ich glaubte, er wolle mich endlich mit seiner Liebe zu einer Göttin krönen. Mein Erdbeereis mit extra viel Sahne schmeckte zuerst so köstlich und süß – und dann so bitter, als die Worte zwischen seinen Lippen hervorstolperten und wie Asche auf mich hernieder regneten. Wahrscheinlich konnte er die Wahrheit nicht länger zurückhalten. Er unterbrach mich einfach mitten in der Schilderung irgendeiner belanglosen Anekdote, die ich nur deshalb erzählte, da ich in seiner Stille das Chaos der Laute bedeuten, ihn aus seiner erstarrten Zurückhaltung herausreißen wollte... und da ich mir so langsam unsicher wurde. Warum nur hatte er bisher nichts gesagt? Aus dem einfachen Grunde, da er sich allen Mut, alle Bedeutung für diese wenigen Worte aufgehoben hatte. Die Worte, die mich wie Lanzen durchbohrten und mich auftaumeln ließen. Ich flehte ihn tonlos, atemlos an, diese Worte noch einmal zu wiederholen, und meine Hände krallten sich um die Tischkante unseres kleinen Freiluftplatzes während ich mich ein wenig zu ihm vorgebeugt hatte. Im Grunde genommen hatte ich ihn schon beim ersten Male verstanden. Mag es nun Masochismus oder mein stiller, hoffnungsvoller Wunsch, mich verhört zu haben, gewesen sein, der diese pathetischen Worte aus mir herauspresste. Wie sehr ich mich heute für meine Schwäche hasse! Aber in eben jenem Moment war mir, als ob mein Brustkorb fest eingeschnürt in ein Korsett aus Angst und boshafter Hoffnung wäre. Ich rang nach Atem, und versuchte seine Lippenbewegungen, als er sich wiederholte, so umzudeuten, dass sie nicht zu seinen Worten passten. Es gelang mir nicht. So sehr ich mich auch bemühte, es wollte mir nicht gelingen. Sie blieben dieselben – zerstörerisch in ihrer Bedeutung, grausam in der Entschlossenheit, die sie hervorbrachte. Jedes einzelne von ihnen traf mich, tief irgendwo dort, wo ich in jenem Moment mein Herz vermutete – sicher sein konnte ich mir nicht, da es sich anfühlte, als ob es aufgehört hätte zu schlagen. Dort, wo dieser beißende Schmerz sich durch mein Fleisch wühlend wütend an die Oberfläche meines Bewusstseins riss, mich zerriss, dort vermutete ich mein Herz. Einen Kadaver giftiger Fäulnis, dessen Seuche aus eisiger Verzweiflung meinen Verstand benebelte. Ich bemerkte gar nicht, dass sich meine Hände von den Tischkanten gelöst hatten. Auch bemerkte ich nicht, dass ich immer weiter zurückwich. Hinter dem dichten Schleier brennender Tränen war die Welt um mich herum verblichen – Geräusche, Farben, Gerüche. Meine Sinne waren überlastet. Sie waren damit beschäftigt, den Sinn seiner Worte zu erfassen, deren Wucht mich mit jeder Silbe einen Schritt weiter zurück drängte. Einen Schritt weiter zurück, in mich selbst... Erbärmlich? Krank? Ich? In Frieden lassen? Was mochte das bedeuten? Alles in mir wehrte sich, die Bedeutung seiner schnell hervorgespienen Sätze zu erschließen. Einen Schritt weiter... und noch einen, der mich vor den hupenden Kleintransporter bringen sollte. Da war etwas. Ein rhythmisches Geräusch, nein, ein Ton. Aber kein Ton einer menschlichen Stimme. So rhythmisch... Ich verlor mich darin, seine Frequenz zu zählen. Zu kraftlos, um meine Augen zu öffnen, sank ich schon bald wieder in die warmen, einladenden Arme der Bewusstlosigkeit. Als ich erneut erwachte, begrüßte mich eine Welt aus Schmerzen. Wieder hörte ich diesen rhythmischen Ton, der mich sehr irritierte. Was war nur geschehen? Wo war ich bloß? Ich versuchte, meine Augen zu öffnen, aber bald schon merkte ich, dass dieses Unterfangen noch mehr Schmerzen bedeutete. Warum nur durchlitt ich diese Höllenqualen? Und warum war meine Wahrnehmung so getrübt? Mein Verstand so langsam? Durch den Nebel, der meine Sinne umwaberte und alles dämpfte, hörte ich das Klacken von Absätzen auf einem Boden, der nicht Holz noch Stein war. Hatte ich Watte in den Ohren? Ich wollte mich aufrichten, stöhnte aber bei dem Versuch laut auf vor Anstrengung und Pein. Die Laute, die mein Mund formulierte, klangen unmodelliert und auch ein wenig lallend – so, als ob ich der Person in meiner Nähe einen Klumpen Ton hinwarf, in der sicheren Erwartung, sie wüsste, dass es sich bei diesem Klumpen noch feuchten Tons um einen Krug mit griechischem Olivenzweigrelief handelte. Diese Person sagte etwas zu mir, aber ich verstand nicht, was sie mir mitteilen wollte. Es musste eine Frau sein, soviel schloss ich aus der hohen Tonlage, die beruhigend klang – so, wie man auch zu einem kleinen Kind spricht, dass hingefallen ist, als es die neuen Inlineskater ausprobieren wollte, die Oma und Opa ihm zum Geburtstag geschenkt haben, und sich die Knie aufgeschürft hat. Ich versuchte mich noch einmal aufzurichten, da ich so langsam wütend wurde. Was sollte das?! Was machte ich dort? Warum schmerzten meine Glieder so? Warum konnte ich nicht mehr richtig sprechen, war mein Verstand so erschreckend langsam, und wie leergefegt, bar jedes klaren Gedankens? Mit den Schmerzen verblassten auch der rhythmische Ton und die Stimme der Frau. Alles versank in einem schwarzen Meer aus traumlosem Schlaf. „Verband wechseln... So ein hübsches Mädchen!“ „... für immer entstellt sein...die Narben!“ Stimmen? „... mehr Schmerzmittel, Herr Doktor?...“ „...aufwachen... Verband wechseln...“ Wo bin ich? „... ihr Augenlicht?“ „...herausfinden...“ Was?! Ich kann mich nicht bewegen... Alle meine Glieder scheinen ermattet, gefesselt in Hilflosigkeit bin ich durch ihre Unfähigkeit... Warum kann ich meinen Arm nicht heben? Warum kann ich meine Augen nicht öffnen? Und warum nagt dort Schmerz, am Rande meines Bewusstseins, der auf mich lauert? Da ist jemand... Und dieser jemand berührt meinen Kopf und... Was macht sie da?!! Es muss eine Frau sein... Ein Mann trägt kein solches Parfüm... Wo bin ich?! Was soll das alles? Warum kann ich mich nicht erinnern? Doch halt! Da ist etwas. Ein Becher mit Eiskreme? Mir ist klar, dass ich mich schnellstmöglich erinnern muss, jedoch scheint es auch andere Prioritäten zu geben. Der Versuch, mich zu erinnern, ist mit einem sehr unangenehmen Gefühl verbunden. Da ich bereits mit immer heftiger werdenden Schmerzwellen zu kämpfen habe, setze ich mich ersteinmal mit der Frage auseinander, was die Frau da macht. Sie löst etwas von meinem Kopf – ein Band? Moment, da hatte doch eine der Stimmen von einem Verband gesprochen... Warum trug ich einen Verband um meinen Kopf? Wenn ich mich darauf konzentrierte, wurde zwar der Schmerz ebenfalls mehr präsent, jedoch konnte ich die Textur des Mullstoffes auf meiner Haut und den Druck um meinen Kopf und... auf meinen Augen? Spüren. Meine Augen? Warum war der Verband auch über meine Augen gelegt? Angst erfasste mich. Was war mit mir? Was war nur geschehen? War ich im Krankenhaus? Natürlich, das musste ich sein. Verband, ein Doktor, Schmerzmittel... Das alles ergab einen Sinn. Warum war ich im Krankenhaus? Und vor allem: was war mit mir? War etwas... mit meinen Augen? Ich versuchte die Panik niederzukämpfen – doch dann formierte sie sich zu Eis in meinem Magen. Was war wenn ich... wenn nicht nur meine Augen, sondern... wenn mein Körper... Die letzte Lage des Verbandes wurde gelöst. Anhand der unterschiedlichen Lichtverhältnisse konnte ich erkennen, dass noch etwas auf meinem rechten Auge lag. „So, jetzt nur noch die Kompresse... Junges Fräulein, sind Sie wach?“ Mein Versuch, ein Nicken meines Kopfes zu vollführen, war kläglich. „Können Sie vielleicht versuchen, einmal ihr linkes, und danach ihr rechtes Auge zu öffnen?“ Ich versuchte es – aber mein Körper wollte mir nicht recht gehorchen. Schließlich gelang es mir, mein linkes Auge einen Spalt breit zu öffnen, bevor ich es schnell wieder schloss – geblendet von dem hellen Tageslicht. Mein rechtes Auge zeigte keine Reaktion – dass diese Region meines Gesichtes noch zu meinem Körper gehörte, registrierte ich lediglich durch den beißenden Schmerz, der von dort über meine Nervenbahnen zu meinem bereits sehr beanspruchten Schmerzzentrum jagte. Es schien unmöglich für mich, festzustellen, von wo überall die Wellen der Pein stammten – mein gesamter Körper schien entflammt zu sein in einer alles verzehrenden Flamme. „Hmm... Wir müssen wohl warten, bis die Schwellung zurückgegangen ist, um näheres zu sehen. Junges Fräulein, erinnern Sie sich an das, was passiert ist?“ Die Stimme der Frau – ich schätze, dass es eine Krankenschwester war – klang weit entfernt. Doch selbst, wenn ich sprechen hätte können, hätte ich wohl kaum mehr als ein Kopfschütteln zustande gebracht. So furchtbar müde... Tag ging in Nacht über, Nacht in Tag und immer fort in dem gleichen, repetitiven Spiel. Wie viel Zeit verstrich, weiß ich nicht. Dass sie mir zwischen meinen klammen Fingern wie Sand zerrieselte, das war mir nur deshalb bewusst, weil sich Wandel vollzog. Wandel vollzieht sich nur mit Zeit... Die Menschen um mich herum wurden unfreundlich, auch wenn sie nie die höfliche Distanz verloren. Denn so sind die Japaner nun mal. Mir wurden meine Mahlzeiten geliefert, die Verbände gewechselt... und irgendwann konnte ich sogar versuchen, mein rechtes Auge zu öffnen. Die Erleichterung, die mein Herz hätte beflügeln müssen, als ich die Welt um mich herum erkannte, brandete nur kurz an und versank daraufhin wieder in dem dumpfen Sumpf aus Nichts, aus Gefühlsleere, Einsamkeit und Monotonie. Warum mich nicht die Erleichterung in Ekstase versetzte? Vielleicht lag es daran, dass die Welt, die mich stets aufs Neue begrüßte, öffnete ich meine Augen, in ihrer widerlichen Sterilität, unfreundlichen Kälte und omnipräsenten Fremde abstieß. Wahrscheinlicher ist aber, dass es für mich von keiner Relevanz mehr war, zu sehen. All diese Bemühungen der Ärzte, mich zusammenzuflicken, nahm ich einfach hin. Sie wollten mich retten, also taten sie es. Es war nicht so, als ob mir etwas an diesem Leben lag. In der Nacht, in meinen Träumen blitzten immer wieder Erinnerungsfetzen auf, die mich hochschrecken ließen – und so langsam gelang es wohl meinem Verstand nicht mehr, den quälenden Splitter, welcher in meiner Seele steckte, zu vergessen, zu verdrängen. Eine eiternde Wunde, die mich nicht mehr schlafen ließ. Der weiße, hupende Kleintransporter, die quietschenden Bremsen... eine Explosion aus Schmerz, Schreie... sein erschrockenes, fassungsloses Gesicht, als er untätig dastand und mich nur anstarrte... Schwärze, Leere. Mein Leben – warum bemühte man sich so um mich? Die Ärzte, die Krankenschwestern, obwohl ich ihre Ablehnung förmlich spüren konnte. Weil es ihre Pflicht war. Mir war klar, dass ich ihnen eigentlich hätte dankbar sein müssen – immerhin hatten sie mir wohl das Leben gerettet. Aber ich konnte keine Dankbarkeit empfinden. Tag für Tag vegetierte ich einfach nur vor mich hin. Versuchte ich, einen Sinn in dem zu finden, was in Scherben vor mir lag und einfach keinen Sinn mehr hatte. Meine Existenz – wozu das alles noch? Was soll man tun, wenn man weit, sehr weit gelaufen ist – mit frohem Herzen und Vorfreude, endlich bald das ersehnte Ziel zu erreichen – und wenn es in Sichtweite ist, mit gierigen Händen fortgerissen wird, sich in giftigem Nebel und erstickender Asche auflöst? Man steht auf dem schmalen, unebenen Pfad, der zum Gipfel des Berges führt – und nur noch ein Schritt fehlt bis zur Spitze – doch dann bricht eben jene weg. Was tut man dann? Viel zu weit ist man schon gekommen, um noch umzukehren. War es fair, zu springen? Ich war der Ansicht, dass es das einzig richtige war. Und doch blieb ich untätig. Schaute diesen Menschen zu, die mir Essen brachten, mich mit reservierter Höflichkeit behandelten und meinen Körper pflegten. Stetig ging es meinem Körper besser – man verrichtete gute Arbeit an mir. Jedoch blieb all dies ohne Belang für mich. Selbst die Enttäuschung, dass ich selbst von denen, die ich eigentlich als meine Familie erachtete, keinen Besuch empfing, kümmerte mich nach einer Weile nicht mehr. Wie auch? Wie sollte ein Schnitt schmerzen, den man einem abgetrennten Arm zufügt? Schmerzt es eine Leiche, wenn man ihren Körper entstellt? Es war mir zuwider, über das Geschehene nachzudenken – es war mir zuwider, überhaupt etwas zu denken. Warum auch? Es würde zu sehr weh tun, mehr noch als all die Verletzungen, die nun langsam wieder heilten. All die Zeit besuchte mich niemand – bis zu jenem Tag, an dem sie hereinschneite. Ich wusste nicht, was ich von ihrem Besuch halten sollte. Wir hatten uns früher nie sonderlich gut verstanden – beide wollten wir das selbe, beide konnten wir es nicht haben. Von daher verwunderte es mich, dass ausgerechnet sie an meinem Krankenbett auftauchte. Schadenfreude traute ich ihr nicht zu. Auch sie hatte das einzige verloren, was sie je wollte. Außerdem war sie ein zu guter Mensch dafür. Wir mochten einst Rivalinnen gewesen sein, hielten aber keine persönliche Abneigung gegen die andere – zumindest erging es mir so, ich weiß nicht, wie sie es empfand. Bislang hatte ich sie immer zu ignorieren versucht, da ich glaubte, sie stellte keine wirkliche Konkurrenz für mich dar. Ukyo war einfach ein zu lieber Kerl – oder Mädchen, wie man’s nimmt. Ich hatte immer belächelt, dass sie sich einst immer wie ein Junge gekleidet hatte und nie ihre feminine Seite vollends akzeptierte. Doch auch dies war nur ein vager Schemen der Vergangenheit. Warum jedoch besuchte sie mich jetzt? Das erste Mal seit, Wochen? Monaten? Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist..., fühlte ich eine Regung in mir. Neugier? Nein, das war es nicht – um Neugier zu empfinden, war ich innerlich noch zu leblos, zu teilnahmslos an der Wirklichkeit. Es war mildes Interesse – was führte sie zu mir? Sie trat zögerlich näher; ruhig, gefasst, und doch mit einem Hauch der Melancholie. Ich hielt ihr zugute, dass sie in ihren Augen kein Mitleid zeigte – warum auch? Sie selbst hatte die gleichen Schmerzen zu ertragen wie ich. Wir waren Schwestern in der Qual – auch wenn ich bislang das Glück gehabt hatte, eine Weile des Vergessens, des Verdrängens und der Übertünchung meines inneren durch das physische Leid erfahren zu dürfen, sodass ich nun nur noch eine bittere Leere in mir spürte. „Hallo Shampoo.“ Ihre Stimme war leise – ich musterte sie kurz, flüchtig, und blickte dann wieder aus dem Fenster. Ich sah keinen Grund zur Höflichkeit – auch wenn wir keine Rivalinnen mehr waren: Freundinnen waren wir noch lange nicht. Außerdem hatte ich gesehen, wie sich ihre Augen kurz geweitet hatten, als sie mein Gesicht sah. Man musste ihr lassen, dass sie sich gut unter Kontrolle hatte – aber perfekt war sie noch lange nicht, und ich sah mich nicht bereit, ihr jetzt schon dafür zu Verzeihen. Immerhin wusste ich, wie ich aussah. „Was du wollen?“ Meine Stimme klang ebenso leblos, wie ich mich fühlte. Von meinem Bett aus konnte ich sehen, wie der Wind sachte mit den Blättern des Kirschbaumes spielte, der seine Äste zu meinem Fenster hinreckte. Sie antwortete mir ebenfalls nicht, zumindest nicht direkt, sondern zog sich einen Stuhl an mein Bett. Ich sah sie nicht an, spürte aber, wie ihre Augen mein Gesicht nach irgendwelchen Regungen abtastete und beobachtete. Mir ist nicht klar, was sie dort suchte – Trauer? Verzweiflung? Tränen vielleicht? Auch weiß ich nicht, ob sie das fand, was sie suchte. Das einzige, was ich fühlte, war Leere und diese Spur milden Interesses. „Wie geht es dir?“ Zwar fand ich die Frage an sich nicht witzig, hätte aber beinahe humorlos gelacht, wüsste ich noch, wie man Laute des Lachens produziert. Wie sollte es mir schon gehen? Ich lag im Krankenhaus, mein Körper, mein Leben und meine Zukunft in Trümmern. Wie glaubte sie, mochte es mir wohl gehen? Aber ich wollte nicht ungerecht sein. Immerhin war sie die einzige meines „Bekanntenkreises“, die mich als wert erachtete, besucht zu werden – auch wenn ich nicht glaubte, dass sie diesen Besuch freiwillig leistete. Für eine freiwillige Wohltätigkeit musste sie sich zu unangenehm fühlen, wenn man ihre versteifte Haltung deuten durfte. Außerdem war Ukyo nicht der Typ dafür. Sie selbst war wie ich eine Kämpferin – und wusste, wie Kämpfer durch ihren Stolz mitleidsgetriebene Wohltätigkeitsbesuche aufnehmen würden. Vielsagend sah ich sie an und versuchte einigermaßen höflich zu klingen. Lange schon hatte ich nicht mehr viel gesprochen, außer beispielsweise den Ärzten geantwortet oder dergleichen. Meine Stimme klang kratzig, unbenutzt. „Wie es soll mir gehen mit gebrochen Bein, paar Bänderriss, Prellung, Quetschung, entstelltes Gesicht und verkrüppeltes Arm? Aber sie sagen, ich Glück gehabt haben.“ Ukyo zögerte. Offensichtlich wollte sie noch etwas sagen, war sich jedoch nicht sicher, ob sie dies tatsächlich tun sollte. Ebenso offensichtlich hatte sie beschlossen, den direkten Weg zu wählen und einfach blatant zu sein. „Eigentlich wollte ich wissen, wie es dir psychisch geht.“ Ach wirklich? Und eigentlich wollte ich darauf nicht antworten. Was ging es sie an? „Diese Ärzte sein verdammtes Rassistenpack, wenn merken, dass du nicht Japanerin sein. Nicht unhöflich sein, wenn merken, aber kalt wie Hundeschnauze werden. Aber ein Nachtschwester nett sein. Mir manchmal Kekse bringen.“ Sie sah, dass ich ihrer eigentlichen Frage betont auswich, schließlich war Ukyo nicht dumm. Soweit ich wusste, war sie sogar recht intelligent. Zumindest intelligent genug, um zu erkennen, dass ich jetzt nicht darüber sprechen wollte, sprechen konnte. Noch wollte ich mich der Qual nicht stellen – und doch spürte ich bei der bloßen Erinnerung, wie sich die immer noch glühenden Bande frisch geschmiedeten Eisens, die sich mir an jenem Tag um mein Herz gelegt hatten, verengten und das bisschen Leben, dass noch in ihnen gefangen war, zu erdrücken versuchten. Nicht dran denken, Shampoo. Nicht dran denken... Auch wenn du kein Morgen siehst, irgendwann muss auch die einsamste Nacht zuende gehen. „Du magst also Kekse, ja?“ Nun wich mein Blick nicht mehr von dem ihren. Ich suchte nach einer Falle, nach Heimtücke – doch ich fand nichts. Warum fragte sie, ob ich Kekse mochte? Das ging sie nichts an! Das interessierte doch niemanden. Sollte sie doch wie alle anderen auch endgültig aus meinem Leben verschwinden, mich alleine lassen, mich zurücklassen in meiner Rüstung aus bitterem Selbstmitleid. Trotzdem nickte ich misstrauisch – wer weiß, vielleicht suchte sie einfach nur verzweifelt nach einem Thema. „Welche magst du am liebsten?“ Fragend hob ich eine Augenbraue. Die linke. Hätte ich versucht, meine rechte Gesichtshälfte ab dem Mund aufwärts zu verziehen, so hätte ich mir auch gleichzeitig ein wenig Benzin darauf kippen und jenes entzünden können – die siedende Algesie wäre die gleiche gewesen. Ukyo war ein seltsamer Mensch. Aber wenn es sie glücklich machte, würde ich ihr eben antworten. Vielleicht würde sie dann verschwinden. Vielleicht handelte sie ja doch nur nach einem ungeahnten Samariterdrang und wollte ein gutes Werk tun. Jeden Tag ein gutes Werk. Vielleicht war das ja ihr gutes Werk für diesen Tag. Vielleicht. „Schokoladenkekse.“ Sie lächelte freundlich, wenn auch melancholisch und verschwand nicht. Nun verstärkte sich, ohne, dass ich es wollte, mein bislang mildes Interesse. Warum besuchte mich meine einstige Rivalin, wenn nicht einmal mehr meine Familie etwas mit mir zu tun haben wollte? Was wollte sie wirklich? „Weswegen du sein hier? Bestimmt nicht sein wegen Fürsorge.“ Forschend sah ich sie an. Ich erwartete gar nicht, dass sie es leugnete, dass sie ein anderes Motiv als denn Fürsorge hatte. Für ihre Ehrlichkeit war ich ihr dankbar; ich wusste, dass ich Heuchelei in diesem Moment nicht vertragen hätte, da ich ganz genau wusste, dass sie nicht meinetwillen hier war. Wegen was, oder wem, dann? Wir schuldeten einander nichts. Alle Rechnungen waren beglichen und wir uns fremd. Sie holte tief Luft und sah mich einen Moment lang gequält an. Ja, selbst Ukyo konnte nicht all ihre Emotionen maskieren. „Ranma schickt mich.“ Mein Magen krampfte sich zusammen, als diese eisige, stechende Kälte sich wieder in mir ausbreitete. Ich war noch nicht bereit, diesen Namen zu hören. Ich war noch nicht bereit, mich zu erinnern. In diesem Moment wollte ich Ukyo hassen – dafür, dass sie seinen Namen aussprach. Aber die Kälte betäubte mich. Ich lächelte, obwohl ich keine Emotion empfand, welche ihren Ausdruck in einem Lächeln hätte finden können, denn ich empfand nichts. „Er sich machen nicht etwa Sorgen?“ Unmerklich verzog das Mädchen mit den langen, braunen Haaren ihr Gesicht, als sie meine Frage hörte. Die Worte hatte ich in meinem mir jetzt eigenen, neutralen Ton ausgesprochen, bar jeglichen Gefühls, und doch war die Ironie in ihnen so deutlich, dass sie mein Gegenüber wohl etwas mehr quälten. Das jedoch war mir egal. Sie war hier, offensichtlich als eine Art Bote. Hatte sich dazu degradieren lassen, wie ein kleiner Hund seinem Herren zu gehorchen, auch wenn dieser Herr ihn tritt. Wieder spürte ich etwas in mir – etwas seit langem Fremdes. Verachtung. Ja, ich glaube in diesem Moment verachtete ich Ukyo, obwohl ich an ihrem gequälten Gesichtsausdruck erkennen konnte, wie sehr sie sich selbst in diesem Moment verabscheute. Auch wenn sie es hasste, diesen Botengang zu machen, so hatte sie sich doch von ihm benutzen lassen. War ich ein Masochist dafür, dass ich mich beinahe schon darauf freute, seine Botschaft zu hören? Worte von ihm, der mich umbrachte, Worte von ihm, der mein Leben zerstörte, Worte vor ihm, der sich noch nicht einmal traute, jetzt vor mir zu stehen und mir das, was er zu sagen hatte, in mein entstelltes, hässliches Gesicht zu flüstern. Worte von ihm, den ich liebte. „Sein er zu feige, persönlich zu mir zu kommen?“ Ukyo schloss kurz die Augen und holte tief Luft, bevor sie noch einmal zu sprechen ansetzte, um mir seine Nachricht zu übermitteln, aber eben diese Geste war mir Antwort genug. Meine Gefühle schienen zurückzukommen. Erst Interesse, dann Verachtung und nun... Wut. „Er sagte, es täte ihm Leid was passiert ist-“, ich schnaubte, ließ sie jedoch fortfahren, „aber dass ihn keine Schuld treffe und du ihm keine Vorwürfe machen sollst. Er hätte sogar den Krankenwagen für dich gerufen. Allerdings solltest du dich von ihm und... ihr fernhalten, und sie in Ruhe lassen, wenn du aus dem Krankenhaus rauskämst. Er hätte dir lediglich die Wahrheit gesagt, und nicht ahnen können, dass du so „überreagieren“ würdest.“ Sie schwieg. Ich ebenfalls. Hätte ich meinen Mund geöffnet, so hätte ich sicherlich Ukyo angeschrieen, und das wollte ich nicht – schließlich war nicht sie es, die diese Worte an mich gerichtet hatte, auch wenn sie sich von ihm benutzen und herumkommandieren ließ. Außerdem konnte ich sehen, wie sehr sie selbst diese Worte schmerzten, da sie nicht nur an mich gerichtet waren – sie wusste, dass, auch wenn er mich als Adressatin auserkoren hatte, so hatte auch sie sich an ihren Inhalt zu halten. Nicht nur ich war ein Störfaktor. Doch wie gerne wäre ich in eben jenem Augenblick unfair gewesen, hätte meiner Wut, meiner Enttäuschung und meiner Trauer Luft gemacht! Ukyo stand auf und ging zur Tür. Ihre Aufgabe war erledigt. Sie hatte sich noch nicht einmal ihre leichte Sommerjacke ausgezogen. Nun verschwand sie tatsächlich. Eines jedoch wollte ich noch wissen, bevor sie ging und mich nun endlich, endlich, wie alle anderen auch, für immer alleine lassen würde. „Du wissen was sein mit meiner Familie?“ Ukyo zögerte. Ihr Rücken war mir zugewandt, sodass ich ihre Mimik nicht deuten konnte. Sie senkte ein wenig den Kopf und sprach dann in einer leisen, traurigen Stimme. Offensichtlich bedauerte sie es, mir solche Dinge sagen zu müssen. „Als du nicht heimgekommen bist, fragte deine Urgroßmutter bei den Tendos, wo du seiest, da sie wusste, dass du mit Ranma... an dem Tag deines Unfalls eine Verabredung hattest. Ranma... traute sich nicht recht zu sagen, was passiert ist, und schwindelte ein wenig. Er sagte ihr, du seiest zu einer Trainingsreise nach China aufgebrochen, nachdem Akane dich in einem Kampf besiegt hätte, da du die Schmach nicht ertragen hättest. Cologne ist dir nachgereist. Mousse hütet euer Restaurant, weiß allerdings auch nicht, dass du hier bist. Soll ich es ihm...?“ „Nein.“ Das war alles, was ich in diesem Moment noch hervorbringen konnte. Ukyo nickte leicht und verließ mich dann. Meine Gedanken waren jedoch nicht bei ihr. Wie konnte er nur? Wie konnte er es wagen? Zwar hatte er mich nicht direkt vor den Wagen gestoßen – aber seine Worte. Seine Worte und seine ungeschickten Beschwichtigungsversuche. Ich weiß, dass ich mich nicht in diese Abgründe begeben sollte, da man leicht droht, sich in ihnen zu verlieren... Doch meine neue, masochistische Ader ließ mich dieses innerliche, quälend langsame Absterben genießen. In vollen Zügen, exzessiv – denn nichts anderes war mir noch geblieben als mein Leid. Nichts anderes mehr empfand ich. Nach all den Wochen der Taubheit spürte ich nun endlich wieder etwas – die Lähmung war von mir gefallen, und ich begrüßte die Qualen als Zeichen dafür, dass ich immer noch lebte. Es zeriss mich und hielt mich bei Bewusstsein, knapp über der alles verschlingenden Oberfläche der Verzweiflung, flößte es mir giftige Dämpfe ein, die mich nicht direkt, sondern verzögert sterben ließen. Tränen liefen mir heiß über die Wangen, und endlich spürte ich, das meine Gesichtsmuskulatur nach all den Wochen der absoluten Regungs- und Ausdruckslosigkeit doch noch funktionierte, indem sie sich zu einem verzerrten Lächeln verzog. Schritt um Schritt... Ich erinnere mich... das Erdbeereis, mit extra viel süßer, cremiger Sahne... mein absolutes Glück... seine fliehenden Augen, die meinen auswichen... Schritt um Schritt... die Erkenntnis, der Schock, der mich erstickende Schmerz... mein schneller Atem, seine immer eindringlicheren Versuche, mich zu beruhigen, mir zu sagen, ich solle nichts Dummes tun und sie in Frieden lassen... er wird eindringlicher, ich weiche zurück... Schritt um Schritt der Straße näher... alles ertrinkt in einem grauen Nebel aus Farblosigkeit, es sind Tränen, die mich blenden! Ich erinnere mich!, chaotische Bewegungen, war ich denn nicht vollkommen allein in eben jenem Moment?, das Trommelfell zerfetzende Stille, warum, warum hörte ich nicht mehr mein Herz schlagen?... Schritt um Schritt. Er streckt die Hand nach mir aus, sagt noch viele Dinge, die ich nicht mehr hören will... Und da ist er, nein sie. Der Bordstein und die Bordsteinkante. Ich verliere das Gleichgewicht, als mein Fuß, je mehr ich zurückweiche, auf die Kante auftritt. Ich verliere das Gleichgewicht, als ich vor ihm fliehen will. Ich spüre den Fall... und in diesem Moment stürmt alles auf mich ein. Der laut hupende Transporter, der noch auszuweichen versucht, die quietschenden Bremsen, der stechende Geruch nach verbranntem Gummi, die Schreie der Leute, wie sie zu mir eilen, mir zu helfen versuchen... Nur er steht einfach nur da. Er ist blass. Aber er rührt sich nicht. Kommt nicht zu mir, um mir zu helfen. Ich schmecke Blut, kann mich nicht mehr bewegen... Überall Schmerz... Er steht einfach nur da und sieht mich an. Vor meinen Augen wird alles schwarz... und das letzte, was ich sehe, ist, wie er feige davonläuft. Dieser gottverdammte Bastard hat mein Leben zerstört! Ich wimmere, ich heule und versuche, mich so gut es mit meinen verletzten, wehen Gliedmaßen geht, einzurollen. Die Kanüle in meiner rechten Hand drückt unangenehm, als ich mich zu hastig bewege und Zug darauf kommt, meine andere Hand fühlt sich fremd an meinem Körper an, steif, kalt und unbeweglich. Unter dem Gips meines rechten Beines empfinde ich nur noch ein dumpf schmerzendes Pochen... und doch werde ich endlich meiner Lage bewusst. Hier liege ich, verstümmelt, verkrüppelt und entstellt, nur wegen ihm. Mein ganzes Leben lang wollte ich nichts mehr, als eine richtige Amazone sein und meinen Stamm stolz zu machen. Und was habe ich getan? Wie ein dummer, treudoofer Hund bin ich diesem Feigling hinterhergerannt, habe ihm so viel Zeit und Zuneigung geopfert in der törichten Annahme, er könne mich lieben. War ich denn nicht schön genug? Nicht stark genug? Nicht klug genug? Glaubte er, ich wäre nicht in der Lage, gute Nachkommen zu zeugen? Glaubte er, ich sei keine gute Mutter, und schwache Kinde würden aus unserer Verbindung resultieren? Glaubte er, ich würde ihn zwingen, mit mir in mein Dorf zurückzukehren, so, wie es der Brauch verlangte? Nein! Ich bin nicht schwach! Und für ihn hätte ich alles aufgegeben. Habe ich mich denn nicht schon für ihn aufgegeben? Ihm habe ich das Wichtigste in meinem bisherigen Leben geschenkt, meinenStolz, und er hat mich achtlos liegen lassen. Schritt einfach gleichgültig über mich hinweg, als ich, glücklich, vor seinen Füßen kauern zu dürfen, wehrlos in meiner Naivität vor ihm lag. Warum? Bin ich denn nicht schön genug? Selbst wenn ich es war – jetzt bin ich es nicht mehr. Bin ich denn nicht stark genug? Selbst wenn ich es war – nie wieder würde ich stark genug sein, um eine gute Mutter sein zu können. Was hatte ich nur getan, um so etwas zu verdienen? Ich hatte ihm doch wirklich alles gegeben, was ich besaß – mein Herz, meinen Stolz und meine Ehre. Und all das hatte er restlos vernichtet! Mein Herz, als er mich zurückließ, meinen Stolz, als er mich eine Belästigung und Schlimmeres nannte und meine Ehre... indem er meiner Großmutter in seiner eigenen Feigheit nicht die Wahrheit sagen konnte, sondern mich demütigte, verleumdete und entehrte. Indem er sagte, diese kleine, schwache Hure hätte mich, mich besiegt. Ich würde es ihm beweisen! Mein Blick fiel auf die merkwürdige Gerätschaft, welche mir die Krankengymnastin in meinem Zimmer gelassen hatte, damit ich einige Übungen mit meiner unbeweglichen Hand ausführen könne. Man hatte mir keine Hoffnungen gemacht. Nie wieder würde ich diese Hand vollständig benutzen können. Man gab mir optimistisch die Chance, ich könne maximal 15% ihrer ursprünglichen Funktion wiedererlangen. Etwas anderes als das Leid empfand ich – und es sollte zur Triebfeder meines Ehrgeizes werden. Hass loderte in mir auf, und ich ließ mich von ihm verzehren. Denn was hatte ich noch? Nichts. Doch ich wusste, was ich wiedererlangen wollte. Mein Herz war auf immer unwiederbringlich dahin – aber meine Ehre konnte ich vielleicht wiederherstellen. Denn auch wenn man mir alles nahm – ich war immer noch eine Amazone. Und doch weinte ich bitterlich. War es wegen meiner Trauer um eine Liebe, die ich mir immer erwünscht hatte und die mir stets verwehrt geblieben war? War es wegen meinem Selbstmitleid – dass trotz vollkommener Selbstaufgabe und Hingebung mein einziger Wunsch auf dieser Welt verwehrt worden war? Ehrliche, aufrichtige Zuneigung? War es, weil ich Ranma immer noch liebte? Oder war es verletzter Stolz? Es war mir gleich. Nur noch dieses eine Mal wollte ich mir erlauben, zu weinen. Denn an diesem Tage sollte Shampoo, das kleine, verliebte naive Mädchen sterben und aus ihrer Asche eine aus ihren Knochen neu geschmiedete Amazone auferstehen – mit ihrem durch gefühlinduzierter Schwäche vergifteten Blut geweiht. Auch wenn ich ihn liebte, und diese Zurückweisung, diese Einsamkeit in meinen Träumen mich innerlich zeriss, so würde dies nun ein abruptes, grausames Ende finden. So gnadenlos wie die Einsicht, dass alle je gehegte Hoffnung nur törichte Träumerei gewesen waren und er mich wahrscheinlich nie geliebt hätte. Natürlich nagte nachts der Zweifel an mir, all die Male, nach denen ich ihn umwarb, mich an ihn schmiegte, nur um fortgestoßen zu werden. Nie jedoch wollte ich den Glauben aufgeben, dass er mich eines Tages vielleicht doch würde lieben können. Ein Fehler. Ein Fehler, welchen ich nie wieder begehen würde. Nachdem ich die offenen Rechnungen beglichen hätte, wäre er für mich gestorben, beschloss ich. Ich erwartete keinen weiteren Besuch – und deshalb war ich umso erstaunter, als ich Ukyo einige Tage später noch einmal durch die Tür zu meinem Zimmer treten sah – obwohl es nicht mein Zimmer war. Die Zeit und Gewohnheit hatten in mir fast das Gefühl des Zuhauseseins geweckt. Zimmer 405. Doch nicht mehr lange würde es dauern, bis ich endlich die Station 9 verlassen können würde. Meine Brüche heilten gut, an meiner linken Hand ließ sich nicht mehr retten, als es mit intensiver Krankengymnastik möglich wäre und die Wunden, welche mir das meiste Leid zufügten, die konnte ohnehin keiner heilen. Meine Überraschung ließ ich mir nicht anmerken – wahrscheinlich musste sie noch einen Botengang erledigen. Vielleicht ist Ranma ja aufgefallen, dass er die Entschuldigung vergessen hatte, mitzusenden. Die Entschuldigung dafür, dass er mein Leben zerstört hatte – oder es zuließ, dass ich es mir zerstörte. Die Entschuldigung dafür, dass er es zuließ, dass ich mich in ihn verliebte oder vernarrte, je nachdem, wie man es sah. Die Entschuldigung dafür, dass er mich durch eine Hölle der Qualen wandern ließ. Die Entschuldigung dafür, dass er glücklich sein konnte, wenn ich in meinem Inneren weinte und schrie. Die Entschuldigung dafür, dass ich ihn zu sehr liebte, um ihn hassen zu können. Die Tränen drohten wieder, mich zu verraten, und so konzentrierte ich mich auf Ukyo. Ich wollte doch stark sein! Ich musste stark sein! Sie lächelte schüchtern und trug Blumen bei sich, Ysop, und... ich runzelte die Stirn. Eine Packung Kekse. Beim näheren Hinsehen stellte es sich heraus, dass es Schokoladenkekse waren. Unweigerlich musste ich an unser letztes Aufeinandertreffen denken und fühlte mich in einer Woge des Erstaunens sprachlos. Eine Begrüßung war hinfällig. Ukyo zog sich einen Stuhl heran, setzte sich und lächelte unsicher. Schüchtern. Ich musterte sie und wartete darauf, dass sie sich, ihr Verhalten und ihren Besuch erklärte. Stillschweigend legte ich den kleinen Gymnastikball zur Seite, mit welchem ich seit einer geraumen Weile versuchte, ein wenig Leben in meine unbewegliche Hand zu bekommen. Ich hatte es noch nicht einmal geschafft die Fingerspitzen so zu beugen, dass sie die abgerundeten Noppen des igelartigen Gummiballes berührten. Seltsam – aber ich empfand Neugier. Warum auch nicht? Auch wenn ich es nicht gern zugeben mochte: Wenn man tagtäglich immer nur die selben Leute sah, so freute man sich doch gewissermaßen über jede noch so geringe Abwechslung. Und sei sie auch nur da, um mir noch weiteren Schaden zuzufügen. Vorerst jedoch beschloss ich, abzuwarten – und nach kurzer Zeit wurde ich belohnt. „Hier... ich habe dir Kekse mitgebracht. Schokoladenkekse. Und Blumen...“ Meine Augen huschten von ihrem Gesicht kurz zu den Keksen, die vielversprechend lecker aussahen, hin zu dem kleinen Strauß Blumen. Unwillkürlich legte ich meine Stirn ein wenig in Falten, was Ukyo ein wenig zu verwundern schien. „Ähm... Ich wusste nicht, welche Blumen du magst... Aber ich dachte mir, dass man das ja bei Krankenbesuchen normalerweise so macht. Du weißt schon... Ein bisschen Leben ins kahle Zimmer bringen.“ Meine Augen kehrten wieder zu Ukyos Gesicht zurück. Sie lächelte schwach, unsicher. Wie schon beim letzten Mal hielt sie sich tapfer – aber ihr Körper konnte mich nicht belügen. Sie sah sehr müde aus, und ihre Augen waren noch immer leicht von Tränen gerötet. Ich verstand sie. Ich verstand sie nur zu gut. „Sein das die Blumen, die du an das Grab deiner Liebe für ihn bringen?“ Ihr Lächeln verflog wie eine Prise Sand im Wind, und einen Moment lang sah sie mich mit einem blanken Gesichtsausdruck an, während in ihren Augen Unsicherheit, Trauer, leichte Wut, vor allem aber Enttäuschung rangen, bis schließlich Resignation ihr Augen abstumpfte. Ihre Lippen verzogen sich erneut zu einem Lächeln. Tapfer. „Wie meinst du das? Findest du sie nicht schön?“ Still deutete ich auf die hellblauen Scheinähren und antwortete ihr dann. „Das sein Ysop. Schöne Pflanze, aber bedeuten Gram.“ Ich zögerte. Ukyo schwieg. „Mir gefallen gut, danke!“ Daraufhin lächelte sie. Zwar immer noch gequält, aber freundlich. Ich entschied mich dafür, noch ein wenig zu warten und ihre Anwesenheit, die mich von meinen tristen Gedanken ablenkte, zu genießen. Sie würde mir noch früh genug den Grund ihres Kommens unterbreiten. Schuldete ich Ranma denn noch Geld? „Die Krankenschwestern hier Blumenvasen haben...“ Sie nickte, lächelte und verschwand aus der Zimmertür, nur, um kurze Zeit später mit einer Vase zurückzukehren. Während sie selbstvergessen die Blumen arrangierte, besah ich mir verwundert die Kekspackung ein wenig genauer. „Woher du wissen das sein mein Lieblingsfirmakeks?“ Sie hielt einen Moment lang fast schon erschrocken in ihren Bewegungen inne, so, als habe sie meine Anwesenheit bereits vergessen. So, als ob ihre Gedanken weit, weit weggedriftet wären. Ich wusste zu wem. Mir war klar, zu wem ihre Gedanken gewandert waren – wie ein getretener, geprügelter Hund, der trotzdem immer wieder zu seinem Herren mit dem Stock zurückfindet. Und sie konnte mir dankbar sein, dass ich sie in die Realität zurückbrachte. In dieser schillernden Traumwelt, indem unsere Wünsche wahr werden und selbst eine verlorene Liebe noch eine Chance hat, war es gefährlich – man verlor sich viel zu leicht in ihr und fand nie wieder heraus. Im letzten Moment hatte man mich damals herausgerissen – grausam, schmerzhaft. Nie würde ich diese Momente vergessen, denn jedes Mal, wenn ich in den Spiegel sah, erinnerten mich die hässlichen Narben, die mich entstellten, an all das Leid, das mich auch jetzt noch quälte. Ukyo errötete ein wenig und verbeugte sich leicht, entschuldigend, so, als habe ich sie dabei ertappt, wie sie sich unerlaubt einen Apfel vom Obstbaum des Nachbarn pflückte. „Du hast mir doch von dieser Nachtschwester erzählt... Ich habe mich ein wenig nach ihr erkundet und sie gefragt, welche Sorte du am liebsten magst. Es gibt ja so viele Arten von Schokoladenkeksen. Mit knackigen Schokostückchen, mit etwas weicheren, Vollmilchschokolade, weiße Schokolade, Bitterschokolade...“ Daraufhin schwieg ich. Was gab es da zu sagen? Eigentlich kannte ich die junge Frau vor mir ja nicht – und ich wusste auch nicht, warum sie mich an diesem Tage besuchte. Es war nicht so, als ob wir Freundinnen waren. Vielmehr waren wir gefangen in ein und demselben Leid – nur dass sie noch schön war, dass sie nicht ihren Clan und all das, was ihr einmal wichtig war, verraten hatte, dass sie sich ihre Ehre gegen denjenigen wiedererkämpfen müssen würde, den sie am meisten liebte. „Woher weißt du denn über diese Blumen Bescheid? Ich fand sie einfach nur schön...“ Ihr Gesichtsausdruck war entrückt, ihr Ton und ihr Lächeln melancholisch. Sie war einsam. Sonst würde sie nicht so nach jedem Strohhalm, nach jeder Gesprächsmöglichkeit suchen. Sie konnte die Stille nicht ertragen. So langsam begriff ich. Ranma hatte ihr wohl keine weiteren, taktlosen Neuigkeiten mit auf den Weg gegeben. Sie war einfach nur einsam und glaubte, ich könne sie verstehen. Glaubte, ich sei selbst einsam und würde mich nicht von ihr belästigt fühlen, wäre dankbar für ihre Gesellschaft. Normalerweise hätte mich dieser Egoismus geärgert, wäre ich furchtbar wütend gewesen aufgrund der Tatsache, dass man mich schamlos ausnutzte, und glaubte, dass ich auf ihre Unterhaltung angewiesen sei. Wahrscheinlich hatte sie einfach niemand anderen gefunden. Jedoch konnte ich ihr gegenüber keine wirkliche Abneigung empfinden. Ja, ich verachtete sie ein wenig – aber es war ja nicht so, als ob ich sie nicht verstehen könnte. Einsamkeit, Verzweiflung... Angst, alleine sein zu müssen und niemanden zu haben, der einen von diesen schrecklichen Gedanken und dem Verlust ablenken konnte. „In meinem Dorf... sich einiges Schwester mit Pflanzen beschäftigen. Heilpflanzen, Giftpflanzen... alles mögliche. Mir beigebracht haben, dass Blumen eigenes Sprache sprechen. Ysop sein nicht nur Heilpflanze und zum Würzen gut. Ysop schmecken wie Gram bitter, also Ysop stehen für Gram und wie sagen? Ahja. Kummer.“ Sie lächelte, angestrengt um Freundlichkeit bemüht – in der Hoffnung selbst welche zu ernten. Warum sie ausgerechnet nun zu mir kam, um nicht einsam sein zu müssen, das kann ich nur vermuten. Wahrscheinlich glaubte sie tatsächlich, ich würde sie verstehen. Immerhin hatten wir ein und demselben Mann geliebt und standen nun vor den Scherben unserer Herzen, die er achtlos zertrümmert und zurückgelassen hatte. Vielleicht war ich die einzige, die nicht nachfragte, wenn sich ihre Augen mit Tränen zu füllen begannen, so, wie in eben jenem Moment, in welchem sie vor mir stand. Fehl am Platze, und doch so bemüht, einen Platz für sich zu finden. Vielleicht vertraute sie mir, ihrer ehemaligen Feindin mehr, als ihren eigentlichen Freunden. Hatte sie Freunde? Erstaunt wurde ich mir dessen bewusst, dass ich keine Antwort auf diese Frage geben konnte. Praktisch wusste ich nichts weiter über sie, als dass sie meine Konkurrentin um Liebe und Kundschaft war. Über sie persönlich war mir kaum etwas bekannt, obwohl ich sie nun schon so lange kannte. War sie ein eher sozialer Mensch, hatte sie Freunde? Für einen Moment lang glaubte ich, ein erneutes Aufflackern von Schmerz in ihren Augen zu sehen. Wie dem auch sei – sie war ein sehr verletzlicher und verletzter Mensch. Die ganze Woche lang über hatte ich nichts von meiner einzigen Besucherin gehört, und ich glaubte, sie habe mich vergessen oder wollte mich einfach nicht mehr sehen. Der Gedanke, dass ich sie vermissen könnte, war unerträglich und inakzeptabel – und doch wäre es eine Lüge gewesen, hätte ich behauptet, keine Enttäuschung empfunden zu haben bei der Vorstellung, auch sie habe mich verlassen. Dann allerdings, am Samstag, öffnete sich meine Zimmertür, und das Gesicht, welches mich begrüßte, war nicht das alte, mürrische Gesicht der Pflegerin, welche für gewöhnlich um diese Uhrzeit Schicht hatte, sondern Ukyos etwas müdes, dafür aber freundliches Gesicht. Heute trug sie ihre Haare offen und begrüßte mich ehrlich erfreut, mich zu sehen. Ich verriet meine eigene Freude durch ein strahlendes, möglicherweise etwas beängstigendes Lächeln. Irgendwo habe ich gehört, dass Japaner es als Drohung auffassen, wenn das Lächeln zu viel strahlt und man zu viel Zähne zeigt – auch wenn sie noch so gut gepflegt sind. Meine unausgesprochene Frage, warum sie mich nicht schon vorher besucht hatte, beantwortete sie von sich aus. „Es tut mir Leid, dass ich nicht früher kommen konnte – aber jetzt, wo deine Urgroßmutter nicht mehr ihre köstlichen Nudelsuppen verkaufen kann, läuft mein Laden geradezu über mit hungrigen Kunden.“ Stimmt – sie musste arbeiten. Ich hatte völlig vergessen, dass es da noch ein Leben außerhalb dieser kalten, weißen Wände und der kalten, blassen Gesichter gab. War das Erleichterung? Erleichterung darüber, dass wenigstens ein Mensch mich nicht vergessen hatte? Wieder musste ich lächeln und ihr natürlich stolz berichten, wer für die Zubereitung der Suppengerichte zuständig war. „Ich machen immer Nudelsuppe – das sein mein Spezialität!“ Ukyo lächelte und grinste mit einem Mal schelmisch. „Soso, muss ich dich dann abwerben?“ Ich lachte leise – zum ersten mal seit langer Zeit. Dieser Laut hörte sich befremdlich für mich an, aber ich fühlte mich ein wenig befreit. Auch sie lachte – obwohl das nun wirklich keine außergewöhnlich lustige Bemerkung gewesen war. Es war so seltsam. Wie ein Sonnenstrahl, der durch die dunklen, bedrohlichen Sturmwolken über einem schwarzen Meer bricht. Dieses Meer zeigt keine Regung; alles Leben ist unter einer dicken Eisdecke der Gleichgültigkeit erstarrt. Nur dieser schmale Streif aus Licht. Wie schön er doch war! Schmal, ungreifbar - jedoch stieß er wie ein mächtiges Schwert gewaltig durch die Massen aus lebloser, eingefrorener Einsamkeit, durch das schwarze Eis. Irgendwo darunter trieb mein Körper, driftete weiter in die Tiefe. Unter mir, nichts als Kälte und Leere. Und doch... wärmte dieser kleine, himmlische Ritter meine Augenlider. Um sich nun die Zeit zu vertreiben, die Stille des leeren Herzens zu verdrängen oder sogar aus reinem Interesse, fragte sie mich mit jedem Besuch immer mehr Fragen. Über meine Schwestern, über mein Dorf, wie es denn so gewesen sein mochte, als Amazone aufzuwachsen. Je mehr ich erzählte, desto mehr Neugier schien in ihr zu erwachen, und schon bald unterhielten wir uns angeregt, diskutierten darüber, ob es denn tatsächlich pädagogisch sinnvoll sei, Kinder schon in so jungem Alter zu trainieren, wie in meinem Fall - in welchem das Training mit 4 Jahren begann. Zu meiner eigenen Überraschung war ich sehr an ihrer Meinung interessiert. Schon lange hatte ich mich nicht mehr mit einem Menschen wahrhaftig unterhalten – vielmehr hatte ich oft nur oberflächlich Informationen, mal ein Lächeln, mal ein hohles, bedeutungsloses Lachen der Höflichkeit ausgetauscht. Nun jedoch fand ich mich hier vor, in einem kalten, sterilen Raum, in welchem unsere Argumente hin und herflogen, sodass es mir vorkam, als dass nicht 2 Menschen debattierten, sondern 10. Allerdings war es keine irritierende, nervenaufreibende Debatte – es war ein interessanter Meinungsaustausch. Wie ich herausfand, stammte die junge Frau vor mir aus gänzlich anderen, und doch so gleichen Verhältnissen. Zwar vollkommen anders erzogen, spielte Kampfsport auch in ihrem Falle in jungen Jahren eine große Rolle. Ihre Begeisterung dafür war mit ihrer Verehrung ihres starken, selbstsicheren Vaters, dem Mangel an einer dieser typischen, lieben, japanischen Mütter und dem Rachedurst an ihrem getürmten Verlobten, pardon, Exverlobten gewachsen. Sie interessierte sich ebenso für meine Welt, wie ich ein Interesse für ihre Kultur entwickelte – auch wenn ich das nicht zu glauben gedacht hatte, da mir die japanische Kultur oft als verklemmt und viel zu bieder erschienen ist. Wenn man als wilde, freie Amazone aufgewachsen ist, ist es schwer, für eine solche Gesellschaft wie die japanische Verständnis aufzubringen. Mit der Zeit jedoch glaubte ich zu begreifen, dass die Gesetze, an die ich seit meiner Geburt gebunden war, ähnlich den unausgesprochenen, dafür aber scheinbar überlebenswichtigen Gesetzen der Japaner waren. Verschieden und immer noch teils unsinnig für mich, ja – aber nicht mehr gar so sehr zuwider. Schneller, als ich es vermutet hätte, war die Besuchszeit um, und Ukyo wurde von einem höflichen Krankenpfleger gebeten, zu gehen. Sie verschwand jedes Mal mit einem verlorenen, traurigen Lächeln. Den Abend würde sie alleine verbringen müssen. Allein gelassen in ihrer Erinnerung, in der verlorenen Hoffnung. Mir war unbegreiflich, wie die Zeit bei jedem ihrer Besuche so schnell verfliegen konnte – und nicht ein Mal hatte ich während dieser ganzen Zeit wirklich an Ranma denken müssen. Natürlich waren da noch diese sensiblen Themen, in die sich unsere Gespräche zeitweilig entwickelt hatten – Themen, die uns beide in irgendeiner Form an ihn erinnerten. Wie hätte sich so etwas aber vermeiden lassen können? Ich denke, ich spreche auch für Ukyo, wenn ich sage, dass sich unser bisheriges Leben in großen Teilen, möglicherweise sogar hauptsächlich um ihn gedreht hatten. Wie könnte der Mond einem Kometen, der ihn streift, Geschichten aus seinem Leben erzählen, ohne ein einziges Mal die Erde zu erwähnen? Es machte mich wütend, dass ich so abhängig von ihm gewesen war – und wenn ich ehrlich zu mir war, in diesen Momenten auch noch war. Abhängig von ihm, der mich so herzlos behandelt hatte, mein Leben zerstört und mir alles, was mir einst wichtig war, genommen hatte – von ihm, den ich hassen wollte, aber immer noch liebte. Von ihm, von dem ich immer noch träumen wollte, bevor ich mich dem Schlaf hingab. Träumen von einer gemeinsamen Zukunft, in der er die Arme einladend öffnete und mich ganz fest umschloss, mich nie wieder loslassen wollte. In einer Zukunft, in welcher nichts anderes für ihn existierte außer mir – in einer Zukunft, in der er mit leicht geröteten Wangen zu schüchtern war, um dem fast unerträglichen Verlangen nachzugehen, mich zu küssen. Eine Zukunft, die nie real werden würde. Diese Einsicht war schmerzlich, quälend. Ich wollte nicht ohne ihn sein. Ich wollte keine Zukunft ohne ihn, da ein Leben ohne ihn keinen Sinn für mich bereit hielt – das wusste selbst meine in ihrer Ehre gekränkte, gedemütigte und Rache dürstende Amazonenseele. Dass ich stark war und niemanden brauchte, wollte ich mir einreden. Und obschon in demselben Augenblick, in welchem mir diese Gedanken von Stärke und Unabhängigkeit kraftlos durch den trägen, immer noch gelähmten Verstand trieben, so wusste ich, dass ich mich selbst täuschte. Meine Augen irrten oft zu den Straßenlaternen, welche in der Dämmerung flackernd ansprangen und kaltes, weißes Licht streuten, und jedes Mal wurde mir klar, dass ich auch diese Nacht einsam und verlassen verbringen würde. Ich wollte nicht alleine sein. Noch heute denke ich oft an diese Momente zurück. Diese Momente, in denen ich im Krankenhaus lag. Ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre, hätte Ukyo nicht Ranma diesen einen Gefallen, einen Gefallen der Freundschaft – dies, sagte Ukyo mir später, habe er besonders betonen wollen, so, als ob sie schwer von Begriff sei – noch getan. Am Anfang war da nichts gewesen – nichts als Leere mit ihrer Monotonie der stillen Grausamkeit, der erbarmungsflehenden Einsamkeit. Sehr gut erinnere ich mich. Tagelang habe ich regungslos dagelegen und einfach nur den Regen aus meinem Fenster beobachtet; mir vorgestellt, hinter diesen verschwommenen Farbklecksen verberge sich eine Welt, die mir freundlicher gesinnt war. Ein stetes, immer fortwährendes Tropfen. Ich fühlte mich diesem Wasser verbunden, frisch, klar – so weit weg von all diesen menschlichen Dingen, denn oft weinte ich im Schlaf, oft wachte ich schweißgebadet auf und oft fühlte ich mich in einem Strom innerer Unruhe hin- und hergerissen zwischen dem einfachen Wunsch des Sterbens, der Aufgabe, und den Gelüsten des Hasses, und ja, auch der Liebe. Ich konnte ihn nicht vergessen, wenn Ukyo nicht bei mir war, um meine Gedanken zu zerstreuen. Nichts wünschte ich mir sehnlicher, als ihn endlich vergessen zu können. Das Glück vergessen zu können, dass ich empfand, als ich ihn umarmte, als ich noch in meiner kleinen, schönen Traumwelt leben konnte. Nichts anderes als eine Traumwelt war es gewesen – ein von meiner Verzweiflung konstruiertes und konzipiertes Traumschloss und Gefängnis zugleich aus törichter, naiver Hoffnung. In meiner Sehnsucht nach Anerkennung, nach Zuneigung, hatte ich mir eingebildet, ich habe Chancen – habe mir eingeredet, er könne mich lieben lernen, wenn ich nur hartnäckig genug wäre. Um seine Liebe zu gewinnen kochte ich für ihn, wollte ihn verführen und demütigte mich dabei, versuchte, ihn zu verhexen und ging schließlich sogar so weit, ihn zu erpressen. In all diesen Momenten hatte es sich richtig angefühlt; obwohl ich mir wahrscheinlich alle Chancen, seine Liebe zu gewinnen – wenn ich denn je welche hatte – mit meinen Intrigen, mit meinen Bedrängungen zerstört hatte. Es hatte sich richtig angefühlt – aus dem einfachen Grunde, weil ich glaubte, dies sei die einzige Möglichkeit, ihn für mich zu gewinnen. War ich denn nicht schön genug für ihn? War ich nicht stark genug? Glaubte er, ich könne keine guten Erben produzieren? Wusste er denn nicht, dass er verpflichtet war, mich zu lieben? Wusste er nicht, was ich alles ihm zuliebe aufgab und freiwillig von meinem Herzen fortriss, nur für ihn? Heute weiß ich, dass es nicht fair war, ihm Vorwürfe dafür zu machen, dass er sich nicht für mich, sondern für sie entschieden hatte. Schönheit machte ihm wohl nicht so viel aus – auch, wenn er mich nicht als schön erachtete: er hätte schönere Mädchen als sie haben können. Heute weiß ich, dass es ihm gar nicht um Erben, um Stärke oder irgendwelche Verpflichtungen ging. Der Irrationalität der Gefühle ist jeder Mensch ausweglos unterworfen. Seine Entscheidung zu akzeptieren, fiel mir sehr schwer – schwerer jedoch war zu glauben, dass ich mich die ganze Zeit tatsächlich getäuscht und in meinen Träumen gelebt hatte. In ihm hatte ich mich getäuscht. Er war nicht der strahlende, starke, mutige und edle Kämpfer, dem sich eine Amazone ohne schlechtes Gewissen ihrer Tradition gegenüber hingeben konnte. Und erst recht nicht konnte er mich lieben. Ein normaler Mensch, und nicht mehr, das war er. Ein überheblicher kleiner, in sich zutiefst verunsicherter und ja, auch feiger, Junge. Ich kann nicht sagen, ob ich mit ihm glücklich geworden wäre. Vielleicht. Ich weiß nur, dass ich es jetzt bin. Wahrscheinlich ist es... in einer gewissen Weise sogar richtig gewesen, dass ich vor ihm zurückgewichen bin, das Gleichgewicht in diesem dummen Moment verlor und vor den Kleinlaster stürzte. Ich hatte Glück gehabt – ich hätte tot sein können. Und auch wenn ich es mir später zeitweise gewünscht hatte, tot zu sein, der Verantwortung für mein Handeln entfliehen zu können, so hatte ich doch Glück gehabt. Zwar war es ein langer, beschwerlicher Weg, den ich gehen musste, um wahres Glück zu finden, und doch... ich bin dankbar. Ich bin nicht mehr so schön. Ich bin entstellt. Und doch bin ich froh, zu leben – ich habe das entdeckt, was für mich wirklich wichtig ist. Der Weg war beschwerlich, und oft begleiteten mich die Weggefährten Verzweiflung, Trauer und Angst. Und doch bin ich ihn gegangen – auch manchmal gekrochen, wenn es erforderlich war. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)